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Full text of "Geschichte der Ohrenheilkunde"

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GESCHICHTE 


DER 


OHRENHEILKUNDE. 


VON 


DR-  ADAM  POLITZER, 


O.  O.  PROFESSOR    DER    OHRENHEILKUNDE    AN   DER   WIENER    UNIVERSITÄT,   K.  K.  HOFRAT, 
VORSTAND    DER   K.  K.  UNIVERSITÄTSKLINIK    FÜR    OHRENKRANKE    IM    ALLG.  KRANKENHAUSE   IN    WIEN. 


ZWEI  BANDE. 


I.  BAND. 

VON  DEN  ERSTEN  ANFÄNGEN 
BIS  ZUR  MITTE  DES  NEUNZEHNTEN  JAHRHUNDERTS. 

Mit  31  Bildnissen  auf  Tafeln  und  19  Textfiguren. 


STUTTGART. 
VERLAG    VON   FERDINAND   ENKE. 

1907. 


Druck  der  Union  ]>.  utsche  Verlagsgesellschaft  in  Stuttgart. 


DEM  ANDENKEN  MEINES  VEREWIGTEN 
FREUNDES 

HOFRAT  PROF.  Dr.  HERMANN  NOTHNAGEL 


GEWIDMET. 


Vorwort. 


Die  Geschichte  der  Medizin  hat  bis  vor  kurzem  nur  wenig  Be- 
achtung gefunden.  Erst  in  neuerer  Zeit  hat  das  gesteigerte  historische 
Interesse,  das  sich  gegen  die  Neige  des  19.  Jahrhunderts  auf  allen  Ge- 
bieten kundgibt,  in  weiteren  ärztlichen  Kreisen  Eingang  gefunden.  Auch 
hier  beginnt  die  Ueberzeugung  durchzudringen,  daß  der  Arzt,  soll  sein 
Beruf  voll  erfaßt  und  nicht  zum  bloßen  Handwerk  herabgedrückt  werden, 
den  Entwicklungsgang  seiner  Wissenschaft,  wenigstens  in  ihren  Grund- 
zügen, kennen  muß. 

Was  von  der  Medizin  im  allgemeinen  gilt,  läßt  sich  mit  verschärf- 
tem Nachdruck  von  ihren  Spezialfächern  behaupten.  Wer  Anspruch 
darauf  erheben  will,  sein  Gebiet  nach  jeder  Richtung  hin  zu  beherrschen, 
muß  die  Leistungen  früherer  Epochen  kennen.  Nur  das  gründlicht' 
Studium  der  Fachliteratur  öffnet  ihm  den  Blick  für  wichtige  und  un- 
entbehrliche Vorarbeiten,  und  die  lebendige  Beziehung  zwischen  den 
Leistungen  einer  früheren  Zeit  und  den  Errungenschaften  der  Gegenwart 
werden  ihn  vor  Prioritätsansprüchen  schützen,  wo  es  sich  um  literarisch 
festgestellte  Leistungen  einer  früheren  Epoche  handelt. 

Der  Gesamtüberblick  über  das  geistige  Inventar  vergangener  Peri- 
oden gibt  uns  aber  außer  der  richtigen  Wertschätzung  abgeschiedener 
Geschlechter  auch  nützliche  Anregungen  für  eigene  Forschung.  Die  Ge- 
schichte einer  Spezialwissenschaft  soll  in  gewissem  Sinne  der  Leitfaden 
aus  der  Vergangenheit  in  die  Gegenwart  sein  und  die  Grundlage,  auf 
der  die  Wissenschaft  weiter  ausgebaut  werden  soll. 

Dies  ist  der  Grundgedanke,  der  mich  bei  der  Abfassung  der  vor- 
liegenden Geschichte  der  Ohrenheilkunde  geleitet  hat,  deren  Vorarbeiten 
mich  so  manches  Jahr  beschäftigt  haben.  Bedarf  es  eines  Beweises  für 
die  Berechtigung  einer  solchen  Arbeit,  so  sei  auf  die  Spezialgeschichten 
der  Anatomie,  Chirurgie,  Ophthalmologie,  Gynäkologie  und  Syphilidologie 
hingewiesen,  die  sich  als  vortreffliche  Nachschlagebücher  erwiesen  haben. 

Die  Sichtung  des  literarischen  Materiales  zur  historischen  Dar- 
stellung eines  Spezialfaches  erfordert  große  Opfer  an  Zeit  und  Mühe 
und  den  bewährten  Rat  befreundeter  Kollegen.    Von  diesen  nenne  ich  in 


y  |  Vorwort. 

. y 

erster  Reihe  Herrn  Prof.  Dr.  Neuburger,  dem  ich  für  seine  Ratschläge 
in  der  Anordnung  des  Stoffes  und  für  die  zahlreichen  Literaturnachweise 
zu  Dank  verpflichtet  bin.  Desgleichen  spreche  ich  meinen  Dank  aus 
Herrn  Prof.  De'me'trios  Demetriadis  in  Athen  für  die  Abschrift  des 
in  der  Bibliothek  zu  Athen  befindlichen  Manuskriptes  Nr.  1489,  und 
endlich  den  Herren  Vorständen  der  k.  k.  Hofbibliothek,  der  Universitäts- 
bibliothek und  dem  Vorstande  der  Handschriftensammlung  der  Bibliotheque 
Nationale  in  Paris  für  die  Bereitwilligkeit,  mit  der  sie  mir  die  zu  meiner 
Arbeit  nötigen   Werke  zur  Verfügung  stellten. 

I>;i-.  vorliegende  Buch  ist  fast  durchwegs  nach  den  Originalwerken 
bearbeitet.  Nur  dort,  wo  diese  in  den  Bibliotheken  fehlten,  mußte  zu 
den  älteren  Quellenwerken  von  Portal,  Sprengel,  Lincke  und  zu  dem 
Literaturwerk  St  anislaus  v.  Steins  gegriffen  werden.  Einzelne,  trotz 
um  fassender  Quellenforschung  nicht  zu  umgehende  Lücken  mögen  durch 
den  großen  Umfang   des   zu   bearbeitenden  Materiales   entschuldigt  sein. 

Möge  denn  dieses  Werk,  dessen  Abfassung  mir  bei  aller  Arbeit 
doch  auch  Stunden  reinster  Freude  gewährt  hat,  meinen  Fachgenossen 
nützliche  Anregung  zu  eigenen  fruchtbringenden  Studien  auf  dem  Felde 
unseres  Spezialfaches  bieten. 

A.  Politzer. 


Inhaltsverzeichnis. 


Die  Otiatrie  bei  den  alten  Völkern  des  Orients. 

Seite 

Aegypter 1 

Babylonier  und  Assyrier 4 

Juden 6 

Inder 7 

Anhang:   Die  Ohrenheilkunde  bei  den  Naturvölkern 10 

Die  Otiatrie  bei  den  Griechen  und  Römern. 

Stand  der  Otiatrie  bei  den  Griechen   vor  Hippokrates. 

Die  Philosopheme  über  den  Gehörsinn 11 

Pythagoras.  Heraklit.  Erupedokles.  Alkmäon.  Plutarch.  Diogenes  von  Apollonia. 

Demokrit.     Plato 12  u.  13 

Hippokrates 13 

Aristoteles 18 

Die  Ohrenheilkunde  im  Zeitraum  von  Aristoteles  bis  Galen. 

A.  Anatomie  und  Physiologie. 

Erasistratus.     Herophilus.     Rufus  von  Ephesus.     Cicero.     Lucretius  Carus     .     .  21 

B.  Pathologie  und  Therapie. 

Dioskorides.     Plinius  der  Aeltere.     Aulus  Cornelius  Celsus 22 

Heraklides  von  Tarent.     Asclepiades 24 

Archigenes.     Scribonius  Largus.     Diagoras  von  Cypern 25 

Galen 26 

Antyllus.    Philumenus.    Caelius  Aurelianus.    Marcellus  Empirius.    Cassius  Felix. 

Philagrios 30 

Die  Otiatrie  im  Mittelalter. 

a)  Die  Byzantiner. 

Alexander  von  Tralles " 31 

Aetius  von  Amida 36 

Paulus  von  Aegina 37 

b)  Die  Araber. 

Abul  Kasim 40 

Serapion.     Rhazes       41 


y  |  j  |  Inhaltsverzeichnis. 

Seite 

Haly  Abbas,     Avicenna 42 

Mesuc 43 

■  a  .     tfverroes 44 

c)  Die  Latinobarbaren. 

Benedetto  Crispo 45 

Ruggiero 48 

Arnaldus  de  Villanova 49 

Guilelmo  Saliceto 51 

Bernard  von  Gordon 53 

Henri  de  Mondeville 56 

Guj  de  Chauliac 58 

\  alescus  de  Taranta 60 

Nicola  Nicole 61 

Bruno  da  Longoburgo 63 

Pietro  d'Argellata.     Galeazzo  di  Santa  Sofia        C3 

Giovanni  Arcolano.     Giovanni  da  Vigo 64 

Jeban  Yperman.     Anglicus  Gilbertus.     Johannes  de  Kethani 65 

Zur  Anatomie  und  Physiologie  des  Gehörorgans  im  Mittelalter. 

Copho  junior 69 

Ricardus  Anglicus 70 

Mondino  de  Liuzzi 70 

Betrucci.    Mondeville.     Petr.  de  Argellata.     Bartolomeo  Montagnana   ....  71 

Die  Otiatrie  in  der  Uebergangsperiode  zur  Neuzeit. 

a)  Vorläufer  der  großen  Anatomen  Italiens. 

Achillini 73 

Berengario  da  Carpi 74 

Nicolaus  Massa       76 

Alessandro  Benedetti 76 

Zerbi 77 

Anhang:  Lionardo  da  Vinci 77 

b)  Die  Otiatrie  in  der  Renaissancezeit 77 

(16.  Jahrhundert.) 

I 80 

Giov.  Fil.   In^rassia 8<; 

Gabriele  Falloppio 89 

Bartholomeo  Eustachiu 94 

c)   Zeitgenossen   und  Nachfolger  der  großen  Anatomen  in  Italien  im 

16.  Jahrhundert 101 

hVnldo  Colombo 101 

Giulio  Cesare  Aranzio 103 

ConstantiuE  Varoliua 104 

Volcht-r  Koyter .106 

Fabrizio  ab  Aquapendente Hl 

Giulio  Casseiio jpg 


Inhaltsverzeichnis.  IX 

Seite 

d)  Stand  der  Ohranatomie  in  Deutschland  und  Holland  im  16.  Jahrhundert  122 

Felix  Plater 123 

Kaspar  Bauhin 125 

Saloinon  Alberti 126 

e)  Stand  der  Ohranatomie  in  Frankreich  im  16.  Jahrhundert   .     .  127 

(TÜnther  von  Andernach 127 

Charles  Estienne 128 

Vidus  Vidius 129 

Du  Laurent 132 

f)  Pathologie  und  Therapie  der  Ohrerkrankungen  im  16.  Jahrhundert  135 

Theophrastus  Paracelsus 136 

Johannes  Fernelius 137 

Hieronymus  Mercurialis 139 

Hieronymus  Capivacci 143 

Amatus  Lusitanus 144 

Petrus  Forestus 145 

Joh.  Heurnius 146 

Felix  Plater 147 

Ambrosius  Pare 148 

Fabricius  Hildanus 151 

Gaspai-  Tagliacozzi 1° ' 

Die  Otiatrie  im  17.  Jahrhundert. 

a)  Anatomie  und  Physiologie  des  Gehörorgans  im  17.  Jahrhundert. 

(Erste  Periode) 160 

Italien 161 

Caecilius  Folius 162 

Domenico  de  Marchetti 164 

Antonio  Molinetti 165 

D.  Bartoli '   ' 

Giovanni  Colle 166 

Giambattista   Cortesi.     Paolo  Manfredi 167 

Deutschlan  d. 

Johannes  Veslingius 1()' 

Michael  Lyser l''1,1 

J.  Heinrich  Glaser 171 

Johannes  Bohnius 1"' 

Theophile  Bonet l75 

Conrad  Victor  Schneider ' '  _' 

Theodor  Kerckring.     Johann  Rupr.  Sulzberger ! '  ' 

Tob.  Burckard.     Joh.  Jessen 1 '  ' 

Niederlande. 

Nicolaas  Pieters  Tulpius ^v 

Sylvius  de  le  Boe **° 


v  Inhaltsverzeichnis. 

Seite 

Adrian  van  Jen  Spieghel 179 

llils.     .loh.  Ant.   van   der  Linden.     Plempius.     Drelincourt.     Diemer- 

broeck.    Gerard  Blaes.    Deusing 180 

D  ä  n  e  in  a  r  k. 

Thomas  Bartbolinus.    Nikolaus  Steno 181 

Kaspar  Bartholinua 182 

E  n  g  1  a  n  d. 

Thomas  Willis 183 

Krane  Bacon  von  Verulam 185 

Walther  Charleton.    Allen  Müllen 186 

Pra  n  kr  eich. 

Jean  Kiolan  der  Jüngere 187 

Claude  Perrault 188 

Jean  Mery 192 

<i.   Lamy 195 

Nicolaus  Habicot.     Theophile  Gelee 195 

Duverney 19G 

Günther  Christoph  Schelhammer 210 

b)  Pathologie  ixnd  Therapie  der  Ohrerkrankungen  im  17.  Jahrhundert 

bis  Duverney 215 

Riolan  der  Jüngere 215 

Lazare  Riviere 217 

De  le  BoS  Sylvius 218 

Daniel  Sennert 220 

Conrad  Victor  Schneider 221 

Michael  Kttniiiller 223 

Antonius  Nuck 225 

Matth.  Gottfr.  Purmann 225 

Die  Otiatrie  in  der  neueren  Zeit. 

a)  Stand  der  Anatomie  und  Physiologie  des  Gehörorgans  im  18.  Jahrhundert  230 

Italien. 

Ant.    Mar    Val-.ilva 230 

Giovanni  Battista  Morgagni 243 

Giovanni  Domenico  Santorini 252 

Domenico  Cotugno 253 

Antonio  Scarpa 260 

Andrea  Comparetti 271 

Leop.  Mar.    Antonio  Caldani 272 

Floriano  Caldani 273 

F  rankreic  h. 

Raymond  Yicussens 275 

Nie.  Le  Cat 278 

Jean   P.   Palfyn ...  279 


Inhaltsverzeichnis.  XI 

Seite 

Jean  Bapt.  Senac 280 

Joseph  Lieutaud 281 

Etienne  Louis  Geoffroy 282 

Felix  Vicq  d'Azyr 284 

Etienne  Perolle 285 

M.  F.  X.  Bichat 287 

Niederlande.     England. 

Fredrik  Ruysch 289 

H.  Boerhaave 290 

J.  B.  Winslow 292 

Bernh.  Siegfr.  Albinus 293 

Fr.  Bernh.  Albinus 294 

John  Elliott 295 

Deutschland. 

Joh.  Friedr.  Cassebohm 297 

Theodor  Pyl 302 

Gottfried  Brendel 303 

J.  G.  Zinn 304 

Ph.  Fr.  Theod.  Meckel 305 

Aug.  Fr.  Walther 306 

Herrn.  Fr.  Teichmeyer 307 

Joh.  Andreas  Schmidt 309 

Wildberg 309 

Albrecht  von  Haller •     •  311 

Pathologie  und  Therapie  des  Gehörorgans  im  18.  Jahrhundert      .  315 

Uebersicht  des  Standes  der  pathologischen  Anatomie  des  Gehörorgans 

bis  zum  Ende  des  18.  Jahrhunderts 31G 

Pathologie  und  Therapie 319 

S  y  s  t  e  in  a  t  i  k  e  r : 

Friedrich  H.  Hoffmann 320 

Gerhard  van  Swieten 321 

De  Haen 322 

Maxim.  Stoll 322 

Chirurgen: 

Jean  Louis  Petit 322 

Lorenz  Heister 325 

Heuermann 326 

Die  Perforation  des  Processus  mastoideus 327 

Der  Katheterismus  der  Eustachischen  Ohrtrompete 331 

Die  künstliche  Perforation  des  Trommelfells 336 

Dissertationen    über   Pathologie    und    Therapie    des    Gehörorgans    im 

18.  Jahrhundert 339 

Martin  Naboth 339 

Joh.  Aug.  Rivinus 340 


^H  Inhaltsverzeichnis. 

Seite 

über  das  Foramen  Rivini 340 

Juli    Ileinr.  Hofmeister 342 

Georg  Daniel  Wibel 342 

Peter  Gniditech 342 

Wildberg 343 

Trampel 343 

Lesehevin  und  Lentis 344 

An  1i.mil;-:  Die  Ohrenheilkunde  bei  den  Chinesen  und  Japanern  ..:...  348 

China 348 

Japan 350 

Die  Otiatrie  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  .  355 

Stand   der   Ohranatomie    in   der   ersten   Hälfte   des  19.  Jahrhunderts  356 

Samuel  Thomas  Soemmerring 3ä6 

Emil  Husehke 358 

Everard  Home 362 

Henry  John  Shrapnell 363 

Friedrich  Cornelius 365 

Thomas  Buchanan 366 

Anthony  Carli&le 368 

Pappenheim 369 

Tourtual 371 

Guilbert  Breschet 374 

Stiit'ensand 377 

Job.  Georg  Ilg 378 

Friedr.  Christ.  Rosenthal 379 

L.  L.  Jacobson 381 

Friedr.  Arnold 381 

Guarini 383 

Ansichten  über  die  Verbreitung  und  Endigung  des  Hörnerven 384 

Ansichten  über  die  Endigung  des  Vorhofsnerven 385 

Vergleichende  Anatomie  des  <  u-hörorgans 388 

H.vrtl 388 

Literatur 392 

Entwicklungsgeschichte  des  Gehörorgans 394 

J.   Fr.  Meckel 394 

Carl  Ernst  von  Baer 395 

Günther 397 

Seydel 398 

Rathke 398 

Stand    der    Physiologie    des    Gehörorgans    in    der   ersten   Hälfte   des 

19.  Jahrhunderts 399 

Job.   Beinr.   Ferd.  v.  Autenrieth 399 

J.  B.  Venturi 4qq 

Francois  MaLrendie     ...          _  4Q2 

Johannes  Müller 4Q4. 

Felix  Savart 40g 

Marie  Jean  Pierre  Flourens    ...         409 


Inhaltsverzeichnis.  XI II 

Seiti 

Purkinje 411 

Marcus  Herz 411 

Wollaston 412 

Chladni 413 

Wheatstone '  •  413 

Ernst  Heinrich  Weber 414 

Polansky 416 

Literatur  der  Physiologie  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts     ....  417 

Uebersicht    der   pathologisch-anatomischen  Befunde   im   Gehörorgane 

in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts 418 

Literatur 422 

Uebersicht   der  diagnostischen  Hilfsmittel   in   der  ersten  Hälfte   des 

19.  Jahrhunderts 424 

Stand  des  Taubstummenunterrichtes  bis  zum  Ende  des  18.  Jahrhunderts  427 

Pathologie  und  Therapie  der  Ohrerkrankungen  in  der  ersten  Hälfte 

des  19.  Jahrhunderts 432 

England 432 

John  Cunningharn  Saunders 432 

John  Harrison  Curtis 434 

Thomas  Buchanan 435 

William  Wright 436 

Webster.     A.  Turnbull 437 

George  Pilcher 437 

John  Stevenson.     J.  Williams.     W.  Dufton       .     .          438 

James  Yearsley 438 

Frankreich 439 

I.  M.  G.  Itard 439 

Antoine  Saissy  .     .          444 

Nie.  Deleau  jeune 44 1 

Philippe 449 

Gairal.     Bonnet.     Petrequin.     Ducros 4o0 

Deutschland 450 

Karl  Joseph  Beck 451 

Joseph  Frank 


Literatur 


452 


Wilhelm  Kramer 456 

Gustav  Lincke t63 


Verzeichnis  der  Tafeln. 


Tafel 

Andreas  Vesalius 1 

Philippus  Ingrassia II 

Gabriel  Falloppius III 

Bartolomeus  Eustachius IV 

Volcher  Koyter V 

Fabricius  ab  Aquapendente VI 

Julius  Casserius VII 

Guilelm.  Fabricius  Hildanus VIII 

Thomas  Willis IX 

Joannes  Riolanus X 

Claude  Perrault XI 

Franciscus  Deleboe  Sylvius XII 

Antonio  Maria  Valsalva XIII 

Joann.  Bapt.  Morgagni XIV 

Domenico  Cotugno XV 

Antonio  Scarpa XVI 

Raymond  Vieussens XVII 

Samuel  Thomas  Soemmerring XVIII 

Emil  Huschke XIX 

Gilbert  Breschet XX 

Friedr.  Arnold XXI 

Joseph  Hyrtl XXII 

Carl  Ernst  v.  Baer XXIII 

Johannes  Müller XXIV 

M.  J.  P.  Flourens XXV 

Ernst   Heinrich  Weber XXVI 

Abbe"  de  L'Ep<§e XXVII 

John  Cunningham  Saunders XXVIII 

I.  M.  Gaspard  Itard XXIX 

Nie.  Deleau  Jeune XXX 

Wilhelm  Krämer XXXI 


Die  Otiatrie  bei  den  alten  Völkern  des  Orients. 


Aegypter.     Juden.     Inder. 

Die  Ohrenheilkunde  der  alten  Kulturvölker  bis  zu  den  Griechen 
kann,  wie  die  Medizin  jener  Epochen  überhaupt,  als  rein  empirische  be- 
zeichnet werden.  In  Ermanglung  jeder  anatomischen  und  wissenschaftlichen 
Grundlage  ist  sie  gleich  der  in-  und  externen  Heilkunde  ohne  Zweifel 
aus  der  Ueberlieferung  der  beim  Volke  sich  allmählich  eingebürgerten 
Heilmittel  hervorgegangen.  Gewiß  hatten  schon  die  Urvölker,  die  be- 
sonders manchen  Mineralien  und  Pflanzensäften  geheimnisvolle  Heilkräfte 
gegen  allerlei  menschliche  Gebrechen  zuschrieben,  auch  gegen  Ohren- 
schmerz, Ohrenfluß  und  Ohrgeräusche  mineralische  und  pflanzliche 
Substanzen  angewendet,  welche,  durch  Tradition  auf  die  Kulturvölker 
vererbt,  im  Laufe  der  Zeit  als  spezifische  Ohrmittel  galten.  Sind  doch 
jetzt  noch  verschiedene,  seit  Jahrhunderten  gebräuchliche  Pflanzensäfte, 
z.  B.  der  ausgepreßte  Saft  des  Sempervivus  tectorum  u.  a.,  beim  Volke 
als  Mittel  gegen  Ohrenschmerz  und  Ohrensausen  im  Gebrauche. 

So  geringes  Interesse  die  Otiatrie  der  alten  Kulturvölker  bietet,  so 
konnte  dennoch  aus  historischen  Gründen  auf  deren  Schilderung  nicht 
verzichtet  werden,  umsomehr  als  die  Otiatrie  der  Griechen  sich  von  der 
Ueberlieferung  der  älteren  Epoche  nicht  ganz  frei  zu  machen  vermochte. 

Aegypter. 

Die  vielseitige  ärztliche  Tätigkeit  der  alten  Aegypter,  welche  nach 
den  uns  überlieferten  Aufzeichnungen  die  Spezialisierung  der  Medizin 
in  extremster  Weise  durchführten,  mußte  sich  notgedrungen  auch  der 
Therapie  der  Ohrenleiden  zuwenden.  Es  läßt  sich  jedoch  aus  dem  vor- 
liegenden Materiale  nicht  feststellen,  ob  im  Pharaonenlande  neben  anderen 
zahlreichen  Spezialisten  auch  Ohrenärzte  tätig  waren,  da  solche  in  der 
übrigens  unzuverlässigen  Notiz  Herodots1)  neben  Augenärzten,  Zahn- 
ärzten, Aerzten  für  Kopf-  und  Unterleibskrankheiten  etc.  nicht  erwähnt 
werden.  Ob  sich  eine  eigene  Klasse  von  Leuten  mit  dem  Durchstechen  der 
Ohrläppchen  befaßt  hat,  ein  Eingriff,  «1er  bis  in  die  frühesten  Zeiten  zu- 
rückdatiert, ist  aus  den  alten  Schriften  nicht  zu  erweisen.  Als  bestimmt 
jedoch  kann  angenommen  werden,  daß  Mißbildungen  und  die  Verstümme- 
Politz er,  Geschichte  der  Ohrenheilkunde.    I.  1 


2  Aegypter. 

hing  der  <  Ihren  in  Aegypten  —  so  wie  später  bei  den  Juden  —  zum  Priester- 
beruf untauglich  gemacht  haben-').  Die  fremden  Gewährsmänner  über 
ägyptische  Beilkunde,  wie  Herodot,  Plutarch,  Diodor,  Plinius  u. a.', 

und  spätere  Autoren  lassen  uns  bezüglich  der  Uranfänge  unserer  Fach- 
wissenschaft im  unklaren.  Erst  seit  Entzifferung  der  medizinischen  Texte 
des  Papyrus  Brugsch*),  des  Papyrus  Ebers**)  und  des  Papyrus  Leiden 
348  besitzen  wir  eine  klarere  Vorstellung  über  den  Stand  der  Ohrtherapie 
bei  den  Aegyptern.  Die  verhältnismäßig  große  Anzahl  von  Rezeptformeln 
für  Ohrenleiden,  welche  sich  in  diesen  vorfindet,  gibt  uns  ein  über- 
raschendes Bild  von  dem  Bestreben  der  vor  mehr  als  drei  Jahrtausenden 
wirkenden  ägyptischen  Therapeuten,  die  mannigfachen  Beschwerden  der 
Ohrerkrankungen  zu  heilen.  Einem  wissenschaftlichen  Fortschritt  der 
Ohrenheilkunde  von  roher  Empirie  zu  rationeller  Methode  stand  indes  der 
gänzliche  Mangel  anatomischen  Wissens  entgegen.  Die  Kenntnisse, 
welche  gelegentlich  bei  der  Einbalsamierung  gewonnen  wurden,  be- 
schränkten sich  auf  die  Form  und  Umrisse  der  Eingeweide,  doch  waren 
auch  diese  zu  dürftig,  als  daß  sie  wissenschaftlich  in  Betracht  gekommen 
wären.     Das  Gehörorgan  scheint  nie  untersucht  worden  zu  sein. 

Wenn  an  einzelnen  Stellen  von  Gefäßsträngen  gesprochen  wird,  die 
zu  den  Ohren  hinziehen,  so  ist  dabei  zu  bemerken,  daß  als  Gefäßstränge 
nicht  nur  die  Blutgefäße,  sondern  auch  andere  röhrenförmige  Gebilde 
verstanden  werden,  die  mit  dem  Tracheensystem  der  Arthropoden  gewisse 
Aehnlichkeit  besitzen,  wras  z.  B.  aus  der  Zuzählung  der  Luftröhre  zu  den 
Gefäßen  hervorgeht.  Im  Papyrus  Ebers  werden  Nase  und  Ohr***)  gemein- 
schaftlich  abgehandelt.  Letzteres  führt  die  Bezeichnung  „mester".  Die 
Bedeutung  ..mester"  ist  durch  das  koptische  Wort  und  durch  Stellen  im 
Totenbuch,  wie  „Ich  bin  das  Auge,  das  sieht,  und  das  Ohr,  das  hört" 
oder  die  wiederholt  in  religiösen  Texten  vorkommende  Phrase:  „das  Ohr 
hört",  siehergestellt.  Sowohl  im  Papyrus  Brugsch  (Spalte  15,  Zeile  1 
bis  Spalte  16,  Zeile  5)  als  im  Papyrus  Ebers  (Tafel  103)  ist  das  für 
die  Ohrenheilkunde  in  Betracht  kommende  Buch  „Uchedu"  (über  ulcerum), 
eine  Urkunde  von  höchstem  Alter,  enthalten,  welches,  wie  es  in  der  Ein- 
leitung heißt,  in  Sechem  (Letopolis)  unter  einer  Anubisstatue  gefunden 
wurde.  Die  in  dieser  Urkunde  befindlichen  Notizen  über  das  Ohr  zeigen, 
welch  geringer  Wert,  trotz  der  weit  vorgeschrittenen  Kultur  der  alten 
Aegypter,    auf  Anatomie    gelegt   wurde.      So    lautet    eine    Stelle:    „Der 


*)  Recueil  de  monuments  Egyptiens.  21»e  Partie.  Planche  85—107,  p.  114 
u.  HS.  Leipzig  1862  u.  Allgem.  Monatsschrift  für  Wissenschaft  u.  Literatur  1853, 
p.  44—56. 

**)  Norske  Magazin  for  Lägevidenskaben  III.  R.,  Bd.  10, 1880  u.  Nordeskt  medicinskt 
Archiv  Bd.  12,  N.  11,  1880  (übersetzt  von  Lieblein). 

*)  Abschn.  37:  XCI,  2  bis  XCIf,  6,  Otologie. 


***! 


Aegypter.  3 

Mensch  besitzt  zwei  Gefäßstränge,  die  zu  seinem  rechten  Ohre  ziehen  und 
von  Lebenshauch  (Pneuma)  durchströmt  werden;  er  besitzt  zwei  Gefäß- 
stränge zu  seinem  linken  Ohre,  die  Todeshauch  (Wind  des  Todes, 
tödliche  Luft)  durchströmt."  Dem  Buche  Uchedu  geht  das  „Geheimbuch 
des  Arztes  vom  Herzen"  voraus,  welches  die  Verzweigung  der  Arterien 
(von  der  Nase  ausgehende  Pneumagefäße)  und  der  Venen  (vom  Herzen 
entspringend)  aufzählt.  Auch  hier  werden  dem  Ohre  je  zwei  Gefäße 
zugeschrieben.  „Es  sind  vier  Gefäßstränge  zu  seinen  beiden  Ohren;  dar- 
unter sind  zwei  Gefäßstränge  rechter  und  zwei  linker  Hand.  Es  strömt 
Lebenshauch  durch  das  rechte  Ohr  und  Todeshauch  durch  das  linke  Ohr." 

Ob  die  Tuba  Eustachii  als  einer  dieser  „ Gefäßstränge"  nach  Ana- 
logie der  Trachea  anzusehen  ist,  oder  ob  man  unter  den  zwei  Röhren 
den  Gehörgang  und  die  Tuba  zu  verstehen  hat,  bleibt  dahingestellt*). 
Man  würde  daher  zu  weit  gehen,  wollte  man  aus  dieser  eigentümlichen 
Textierung  schließen,  daß  die  Aegypter  bereits  die  Ohrtrompete  gekannt 
haben**). 

Reicher  ist  der  therapeutische  Inhalt  der  genannten  Papyrus. 
So  finden  sich  im  Papyrus  Brugsch  (Spalte  23,  Zeile  6  und  12)  Mittel 
gegen  die  „Schwere  des  Ohres"  und  gegen  „Unreinheit  (stercus)  des 
Ohres"  3).  Letzteres  ist  wohl  ein  flüssiges  Krankheitsprodukt,  das  mit  der 
Galle  verglichen  wird,  da  es  im  Texte  als  Galle  bezeichnet  wird.  Nach 
der  Lehre  von  den  Kardinalsäften  wäre  demnach  ein  Ohrsekret  zu  ver- 
stehen, das  dadurch  krankhaft  ist,  weil  es  zu  viel  Galle  enthielte.  Diese 
Stelle  ist  auch  deshalb  interessant,  weil  auch  noch  in  späteren  Jahrhun- 
derten das  Ohrenschmalz  wegen  seiner  Farbe  und  seines  bitteren  Ge- 
schmacks als  Derivat  der  Galle  gedeutet  wurde. 

Im  Papyrus  Ebers  wird  die  Therapie  der  Nasen-  und  Ohrenleiden 
(Nase  und  Ohr  waren  ja  nach  damaliger  physiologischer  Theorie  die  bei- 
den Eingangspforten  des  Pneuma)  zusammen  abgehandelt.  Von  den 
98  Tafeln  des  therapeutischen  Textes  enthalten  26  Zeilen  Ohrtherapie, 
diese  bildet  daher  den  sechzigsten  Teil  des  ganzen  Inhaltes,  woraus  auf  die 
Wichtigkeit  der  Ohrenheilkunde  bei  den  alten  Aegyptern  geschlossen 
werden    kann.      Hier    nur    einige    kurze    Beispiele:    „Beginn    von    den 


*)  Nach  Oefele  (briefl.  Mitteilung)  würde  die  Stelle  im  Papyrus  Ebers 
richtiggestellt  so  heißen:  Nach  dem  rechten  Ohre  geht  ein  Gelaßstrang  mit  Blut 
und  ein  Gefäßstrang  mit  belebendem  Pneuma  (0).  Nach  dem  linken  Ohre  gehtauch 
ein  Gefäßstrang  mit  Blut  und  ein  Gefaßstrang  mit  tödlichem  Pneuma  (C02). 

**)  Bei  der  Jahrtausende  alten  Sprache,  in  welcher  der  Papyrus  abgefaßt  ist, 
stößt  die  Deutung  der  anatomischen  Begriffe  selbstverständlich  auf  beinahe  unüber- 
windliche Schwierigkeiten.  Dazu  kommt  noch,  daß  verschiedene  Körperteile  mit 
gleichen  Bezeichnungen  belegt  werden ,  wie  z.  B.  die  Nasenmuschel  und  die  Ohr- 
muschel, wodurch  das  richtige  Verständnis  für  die  anatomischen  Kenntnisse  der 
Aegypter  noch  mehr  erschwert  wird. 


Babylonier  und  Assyrier. 


Mitteln  für  das  Ohr;  wenig  hört  es.  Eisenoxyd  (Hämatit)  und 
Schleim  von  Loranthus  (Mistelschleim)  fein  kontundieren  mit  frischem 
Harz.  Applizieren  in  das  eine  Ohr.  Anderes  für  das  Ohr:  Es  gibt 
stinkende  Flüssigkeit:  Weihrauch  in  Gänseschmalz,  Rahm  von  der 
Kuh,  „betet  hauit"  [ausgeschwitzter  Salpeter  (?)  oder  Borax  (?)]  fein  zer- 
tnahlen,  applizieren  in  das  eine  Ohr. 

Anderes  zur  Kühlung  des  Ohres.  Du  kannst  es  kühlen  mit 
Arzneien.  Damit  kühlt  sich  ihm  (dem  Ohre)  die  Hitze,  wenn  der  Puls 
hämmert  (Phlegmone'/).  Mache  du  ihm  einen  Teig  von  Grünspan,  zer- 
mahlen,  zum  Applizieren  darin  vier  Tage.  Bei  der  Bereitung  und  bei 
der  Anwendung  dieser  Medikamente  ist  im  Papyrus  Ebers  und  B  rüg  seh 
die  Anrufung  der  Gottheit  vorgeschrieben. 

Der  Papyrus  Leiden  348  enthält  Beschwörungsformeln  gegen 
Ohrenkrankheiten  l). 

Wenn  wir  mit  der  Ohrenheilkunde  der  Aegypter  begonnen  haben, 
so  geschah  dies  nur  aus  dem  Grunde,  weil  wir  über  die  Medizin  dieses 
alten  Kulturvolkes  verhältnismäßig  am  besten  orientiert  sind.  Viel 
schlechter  ist  es  um  unsere  Kenntnis  der  Medizin  der  alten  Völker  West- 
asiens und  der  mediterranen  Vorarier  bestellt,  v.  Oefele*)  hat  durch 
seine  eifrigen  Untersuchungen  wohl  einiges  Licht  in  die  vorhippokratische 
Medizin  gebracht.  Doch  bleibt  noch  viel  den  künftigen  Medikohistorikern 
voil »ehalten,  wenn  einmal  das  Dunkel,  in  das  die  Geschichte  dieser  Völker 
gehüllt  ist,  aufgehellt  sein  wird. 

Die  Medizin  der  Sumerer,  der  Kulturvorläufer  der  Babylonier 
und  Assyrier,  ist  uns  durch  ihre  Keilinschriften  einigermaßen  bekannt 
geworden.  In  dieser  Keilschriftliteratur  wird  das  Ohr  als  das  Organ 
des  Willens  bezeichnet. 

Was  die  vorarische  Medizin  Indiens  betrifft,  ferner  die  Medizin  der 
alten  nubischen  Völker,  der  Götterländer  und  Weihrauchländer,  der 
alten  Nonlwcstafrikaner,  der  Babylonier  etc.,  so  läßt  sich  ein  Bild  der 
medizinischen  Gebräuche  dieser  Völker  aus  den  notdürftigen  Behelfen, 
die  uns  heute  noch  zur  Verfügung  stehen,  schwer  konstruieren ;  noch  viel 
wriiiger  läßt  sich  über  unsere  Spezialwissenschaft  ein  Urteil  abgeben. 
In  einem  Geburtsprognostikum  aus  der  Zeit  des  Königs  Naramsin  aus 
Babylonien  (um  3750  nach  Nabonids  Datierung)  wird  geweissagt:  „Wenn 
eine  Frau  ein  Kind  gebiert,  das  Löwenohren  hat**),  so  wird  ein  starker 


)  Ihindbuch  der  (beschichte  der  Medizin  von  Puschmann,  herausgeg.  von 
Neuburger  und  Pagel.    I,  p.  52. 

|  Ob  es  Bich  bei  diesem  Ausdruck  um  eine  Ausgeburt  der  Phantasie  oder  um 
einen  Terminus  technicus  im  Sinne  unserer  „ Hasenscharte"  handelt,  kann  v.  Oefele 
nicht  entscheiden. 


Babylonier  und  Assyrier. 


König  im  Lande  sein.  Wenn  eine  Frau  ein  Kind  gebiert,  dem  das  rechte 
Ohr  fehlt,  so  werden  die  Tage  des  Fürsten  lang  sein.  Wenn  eine  Frau 
ein  Kind  gebiert,  dem  beide  Ohren  fehlen,  so  bringt  es  Trauer  ins 
Land  und  das  Land  wird  verkleinert.  Wenn  eine  Frau  ein  Kind  gebiert, 
dessen  rechtes  Ohr  zu  klein  ist,  so  wird  des  Mannes  Haus  zerstört 
werden." 

Auf  Tafeln  in  assyrischer  Schrift  finden  sich  Stellen,  welche  unter 
anderem  vom  ,, Löwenohr "**)  und  den  Ohren  des  Neugeborenen  handeln. 
—  Für  die  Medizin  der  Assyrier  kommen  die  in  letzter  Zeit  aus- 
gegrabenen Archive  babylonischer  Städte  in  Betracht,  deren  Verwertung 
für  die  Geschichte  der  Medizin  noch  nicht  möglich  war,  und  ferner  auch 
Tausende  von  Tafelfragmenten,  die  erst  zum  geringsten  Teil  heraus- 
gegeben wurden.  Ein  sogenanntes  19-Tafelwerk  enthält  auf  der  8.  Tafel 
eine  Abhandlung  über  das  rechte  Ohr  (K  4080  -f-  Sm  552).  Zwei 
medizinische  Serien  der  Bibliothek  Ninive,  welche  jedoch  kaum  Original- 
arbeiten enthalten  dürften,  behandeln  unter  anderem  otiatrische  Gegen- 
stände K  4023,  K  10498,  K  10767,  K  11027,  K  11788,  K  13492, 
Sm  379.  Die  Otitis  media  acuta,  als  „Feuer  im  Herzen  des  Ohres- 
bezeichnet, wird  besprochen  (K  10453);  außerdem  finden  sich  Notizen 
über  das  rechte  Ohr  und  Erkrankungen  des  inneren  Ohres  K  GG61. 
Wahrscheinlich  schrieben  auch  die  Assyrier  wie  die  Aegypter  den  beiden 
Ohren  verschiedene  Funktionen  zu.  Das  Ohrenschmalz  galt  als  Materia 
peccans,  durch  welche  schlechtes  Pneuma  und  schlechte  Säfte  entfernt 
werden*). 

1)  Herodot,  Musae  seu  Historiarum  libri  IX.  Euterp.  Cap.  84.  -\  2e  i-rjtpix-rj 
/.rj.'Jj.  ta8s  3<pl  osoa-w.  fK'fjs  voü~ot>  sxa-To;  tvjtpo?  lott  xai  ob  tcXeovouv.  Ilävta  3'  tYitpäiv 
loxl  rcXea"  ol  jj.lv  yctp  cxf&aXjj.tüv  lYjtpoi  xateaxeaot,  ol  21  xe<paXYK  öoovtcuv,  etc. 

2)  Erwähnung  des  Ohrrings  u.  a.  Pentateuch,  Genesis  Cap.  35  v.  4.  Ezechiel 
Cap.  16  v.  12.     Ilias  XIV,  182:  XVIII.  401.     Odyssee  XVIII,  297. 

3)  Das  Rezept  lautet  nach  Brugsch  (Archiv  f.  Ohrenheilk.  Neue  Folge. 
Bd.  I,  p.  54):  „Mittel,  um  zu  beseitigen  die  Schwere  am  Ohre. 

Die  Pflanze  ank  1 

Balsam  1 

die  Pflanze  ma    1 

past  (?)  1 

tierisches  Fett     lu 

Die  Zahlen  beziehen  sich  auf  eine  noch  nicht  fixierte  Gewichtseinheit. 

4)  Meyer  in  Schwartzes  Handbuch  der  Ohrenheilkunde  Bd.  II,  p.  863. 


I  Eine  Ohrenerkrankung  („Ohrenfluß")  eines  Assyrerkönigs  zwischen  700  und 
600  v.  Chi*,  ist  beschrieben  in  den  Zeilen  4  u.  fg.  des  Briefes  K  8509  aus  der  Biblio- 
thek Sardanapals  des  Assyrerkönigs  (nach  der  keilinschriftlichen  Reproduktion  in 
Bezolds  Catalogue  der  Cooyunjik  Collection;  vergl.  Oefele  in  Janus  1903,  p.  640). 


Juden. 


Juden. 


Die  Medizin  der  Juden  zerfällt  in  die  althebräische  und  in  die  tal- 
mudische.  Da  sie  ihrem  Wesen  nach  monotheistisch-theurgisch  war, 
traten  erst  in  einem  verhältnismäßig  späteren  Zeiträume  eigentliche 
Aerzte  auf.  Spuren  einer  Ohrfcherapie  finden  sich  in  der  Bibel,  die 
für  andere  medizinische  Fächer. als  Quelle  herangezogen  werden  kann, 
nicht  vor.  Dagegen  enthält  der  Talmud  einige  bemerkenswerte  Stellen, 
die  schon  auf  eine  nicht  unansehnliche  Therapie  hindeuten.  Da  bei  den 
Juden  die  Berührung  einer  Leiche  durch  die  Religionsvorschriften  unter- 
sagt war,  konnte  von  einer  Anatomie  des  Menschen  keine  Rede  sein. 
Nur  die  Beobachtungen  an  Opfertieren  führten  zu  einzelnen  anatomischen 
Kenntnissen,  welche  sich  jedoch  bloß  auf  das  äußere  Ohr  beziehen.  So 
werden  unter  den  Fehlern,  die  ein  Tier  zum  Opfern  ungeeignet  machten, 
aufgezählt:  Verletzung  des  Ohrknorpels  durch  Spaltung,  ein  noch  so 
geringer  Ausschnitt  im  Knorpel,  Verdoppelung,  Durchlöcherung,  Verdor- 
rung  des  Ohrknorpels  (so  daß  bei  einem  Stich  keine  Blutung  eintritt)  etc.1). 

Als  Leibesfehler,  die  zum  Priesteramte  unfähig  machten,  galten 
unter  anderem:  zu  kleine  Ohren,  Ungleichheit,  schwammige  Aufgedunsen- 
heit und  Herabhängen  der  Ohren2). 

Von  Wichtigkeit  ist,  daß  Taubstumme  in  religiöser  wie  in  juridi- 
scher Hinsicht   den  Minderjährigen  und  Irrsinnigen  gleichgestellt  waren. 

Die  Heilmittel  für  Ohrleiden  waren  ebenso  absonderlich  wie  bei 
anderen  Völkern,  vielleicht  zählte  zu  ihnen  auch  Mohnsaft,  der  öfter 
z.  B.  als  Medikament  gegen  Gift  und  gegen  Zauber  erwähnt  wird  und 
auch  von  griechischen  Aerzten  vielfach  verwendet  wurde. 

Einer  der  vier  im  Talmud  namentlich  angeführten  Aerzte,  Manjume, 
ein  Zeitgenosse  Rabbas  (um  280  n.  Chr.),  bezeichnete  alle  Flüssigkeiten 
für  das  Ohr  als  schädlich,  mit  Ausnahme  des  Saftes  von  Nieren. 

Es  heißt  nämlich  im  Traktat  Aboda  Sara  28  b:  Rabbi  Abahu  litt 
an  einem  Ohrenschmerz,  da  belehrte  ihn  Rabbi  Jochanan  über  ein  Mittel, 
das  ••••  anwenden  soll. 

Man  nehme  dir  Niere  einer  Ziege,  mache  in  sie  einen  Querschnitt, 
lege  sie  auf  Kohlenglut  und  tue  den  ausfließenden  Saft  in  lauem  Zustande, 
nicht   kalt   und    nicht    heiß,   ins  Ohr. 

Als  andere  Mittel  werden  bei  Mangel  des  obigen  empfohlen:  Fett 
eines  Käfers  mit  Namen  Chipuschuta  (?)  zu  schmelzen  und  ins  Ohr  zu 
geben;  oder  man  tue  Oel  ins  Ohr,  mache  sieben  Dochte  aus  Weizen- 
stroh, das  im  grünen  Zustande  abgemäht  wurde,  binde  sie  an  einem 
Ende  mit  dem  Grünen  von  Knoblauch,  bringe  das  andere  Ende  in  das 
Ohr  und  zünde  diese  Dochte  an,  lasse  einen  nach  dem  anderen  aus- 
brennen   und  verhüte   dann,   daß   Luft  ins  Ohr  kommt.     Oder  man  nehme 


Inder.  7 

hundert  Jahre  altes  Schilfrohr,  fülle  es  mit  Steinsalz,  verbrenne  es  und 
verstopfe  damit  das  Ohr.  (Bei  Ohrenfluß.)  Die  flüssigen  Mittel  sind  bei 
trockenen,  die  trockenen  Mittel  bei  fließenden  Ohren  anzuwenden 3). 

Im  Traktat  Sabbat  65,  a  wird  von  Baumwolleinlagen  gegen  .Ohren- 
schmalz gesj>rochen,  das  sich  bei  alten  Leuten  anhäufe.  Dort  heißt  es 
auch  (Seite  152  a),  daß  das  Alter  schwerhörig  macht. 

Nach  diesen  Stichproben  darf  man  wohl  die  talmudische  Kenntnis 
unseres  Fachs  auf  dieselbe  Stufe  mit  derjenigen  stellen,  die  andere  in 
medizinischer  Hinsicht  sonst  bedeutend  vorgeschrittenen  Völker  des  Alter- 
tums hatten.  Lief  doch  im  Altertum  und  Mittelalter,  wo  Anatomie  und 
Physiologie  die  vernachlässigten  Stiefkinder  der  Heilwissenschaft  waren, 
alles  auf  rohe  Empirie  hinaus. 

Im  Mittelalter  stellten  die  jüdischen  Aerzte  es  sich  bekanntlich  zur 
Aufgabe,  eigene  und  arabische  Heilkunst  dem  christlichen  Abendlande 
zu  vermitteln,  ein  Verdienst,  das  ihnen  auch  vom  Standpunkt  der  Ohren- 
heilkunde zugesprochen  werden  muß. 

Aus  der  mittelalterlichen  jüdischen  Medizin  wäre  namentlich  eine 
auf  den  Lehren  der  „ Mischnah''  beruhende  Anschauung  des  berühmten 
Moses  Maimonides  (1135 — 1205)  hervorzuheben.  In  seinem  Religions- 
kodex (IV.  Mamzim,  V.  6)  schreibt  er:  „Derjenige,  welcher  seinen  Vater 
aufs  Ohr  schlägt  und  ihn  taub  macht,  ist  des  Todes  schuldig,  da  es  nicht 
möglich  ist.  daß  er  ohne  Verwundung  taub  geworden,  sondern  es  ist  ein 
Tropfen  Blutes  in  das  Innere  des  Ohres  hineingezogen,  wovon  es  taub 
u'.  worden  ist."     (Vgl.  Baba  kamma  86a  und  98a.) 

'  i  Meimoni,  Terupelvorschriften. 

2I  Ibidem. 

:;)  Die  Lehre  Rabbi  Chaninas:  „Man  darf  die  Ohren  am  Sabbat  heben" 
(im  Jeruschalmi  Sabb.  14.  4  heißt  es  die  Töchter  der  Ohren),  welche  sich  vielleicht 
auf  eine  Phlegmone  bezieht ,  wurde  von  dem  Kommentator  Raschi  ausgelegt :  Das 
Geäder  der  Ohren  senkt  sich  so,  daß  die  Kiefer  auseinandergehen,  und  man  muß 
sie  heben,  da  sonst  eine  gefährliche  Krankheit  entsteht:  ob  dieses  Heben  mittels 
eines  Arzneimittels  oder  nur  mechanisch  mit  der  Hand  geschehen  soll,  ist  nicht 
erklärt. 

Inder. 

Obschon  die  neuere  Kritik  die  Entstehungszeit  der  ältesten,  uns 
erhaltenen  indischen  medizinischen  Werke  in  eine  wesentlich  jüngere 
Periode  verlegt,  als  man  nach  der  archaistischen  Form  annehmen  sollte, 
so  enthält  doch  namentlich  der  berühmte  Ayur-Veda,  das  Buch  des  my- 
thischen Susrutä,  gewiß  die  ältesten  Traditionen  und  bietet  ein  ebenso 
klares,  wie  unverfälschtes  Bild  des  altindischen  Heilwesens  x).  Was  wir 
darin  von  otiatrischen  Kenntnissen  finden,  gilt  für  einen  Zeitraum  von 
fast  zwei  Jahrtausenden.    Das  Charakteristische  der  indischen  Ohrenlicil- 


g  Inder. 

kund,  liegt  in  der  fast  unermeßlichen  medikamentösen  Therapie,  welche 
sich  die  reiche  Pflanzenwelt  der  Heimat  zu  Nutzen  machte,  und  in  der 
Pflege  der  Otoplastik.  Letztere  wurde  erst  in  der  zweiten  Hälfte  des 
L5.  Jahrhunderts  durch  den  sizilianischen  Chirurgen  Branca,  später  durch 
den   Bologneser  Tagliacozzi  in  Europa  bekannt. 

Diese  Kunst  nahm,  infolge  der  Strafe  des  Ohrabschneidens,  die  auch 
bei  den  Skythen,  Persern  und  in  den  älteren  Perioden  der  Hellenen  üblich 
war.  großen  Aufschwung.  Leider  ist  die  betreffende  Stelle  in  dem  Ayur- 
veda sehr  dunkel  gehalten2).  Sie  schließt  an  einen  Absatz  an,  der  mit 
großer  Weitschweifigkeit  vom  Durchbohren  der  Ohrläppchen 
handelt,  das  seit  alter  Zeit  zum  Zwecke  der  Ableitung  krankhafter 
Säfte  und  zum  Tragen  der  Ohrringe  ausgeführt  wurde. 

Diese  Operation  scheint  nur  von  den  Aerzten  unter  Beobachtung 
religiöser  Vorschriften  vollzogen  worden  zu  sein  mit  einer  Umständlich- 
keit, von  der  die  genauen  Angaben  über  die  bei  den  verschiedenen  Fällen 
notwendigen  Verbandarten  Zeugnis  geben3)*). 

Die  eigentliche  Ohrenheilkunde  entbehrte  ebenso  wie  die  übrigen 
medizinischen  Zweigwissenschaften  der  anatomischen  Grundlage.  Die 
anatomischen  Kenntnisse  beruhten,  da  religiöse  Vorurteile  hindernd  im 
Wege  standen,  auf  einer  eigentümlichen  Präparationsmethode,  die  darin 
bestand,  daß  man  den  Leichnam  im  fließenden  Wasser  liegen  ließ  und 
nach  sieben  Tagen  mit  Rinden  das  Erweichte  abrieb.  Immerhin  hatte 
diese  sonderbare  Art  anatomischer  Forschung  einen  größeren  Wert  als 
die  auf  legendarischer  Ueberlieferung  basierenden  Vorstellungen  über  den 
menschlichen  Körper  bei  anderen  Völkern.  In  dem  Buche  Sarirast'häna 
( Somatologie)  findet  sich  über  Ohranatomie  folgendes.  Bei  der  Aufzählung 
von  Knochen  wird  gesagt,  daß  die  Ohren  in  ihrer  Höhlung  Knochen  von 
zarter  Beschaffenheit  besäßen,  mit  gelenkiger  Verbindung.  Später  werden 
zwei  Ohrmuskeln  und  zehn  Ohrgefäße,  die  teilweise  den  Schall  leiten, 
erwähnt.  Endlich  spricht  Susruta  von  Nerven  (wahrscheinlich  identisch 
mit  Kanälen,  wie  das  griechische  Jtöpot),  welche  die  Perzeption  des 
Schalles  vermitteln. 

Die    Krankheiten    des    Ohres    werden    entsprechend    der    indischen 

*)  Nach  einer  Uebersetzung  von  Roth  (Tübingen),  die  sich  bei  Zeis  (Die 
Literatur  und  Geschichte  der  plastischen  Chirurgie.  Leipzig  1863.  p.  59)  findet, 
lautet  die  betreffende  Stelle  folgendermaßen:  „Demjenigen,  der  kein  Ohrläppchen 
hat,  kann  der  Arzt  eines  machen,  indem  er  (den  Stoff  dazu)  aus  der  Wange  nimmt, 
mit  lebendigem,  noch  anhängendem  Fleisch,  nachdem  er  zuvor  (die  Stelle)  wund 
gemacht  hat."  Gurlt  bemerkt  zu  dieser  Stelle,  es  gehe  aus  ihr  hervor,  daß  man 
zum  Ersatz  des  Ohrläppchens  nicht  die  Haut  hinter  dem  Ohre,  wie  es  später 
Tagliacozzi    tat.    sondern   vor  demselben   aus    der  Wange  entnahm. 

schichte  der  Chirurgie  Bd.  I.  48.    Vergl.  auch  Grundriß  der  indo-arischen 
Philologie,   begr.  von   S.  Bühler.    Bd.  111.     Jul.  Jolly,  Medizin.     Straßburg  1901. 


Inder.  9 

Pathologie,  soweit  sie  nicht  durch  Trauma  bedingt  sind,  von  Mißverhält- 
nissen in  den  Lehenselementen:  Luft,  Schleim  und  Galle  hergeleitet. 
Man  unterschied  l)  achtundzwanzig  Ohrleiden,  darunter  verschiedene  Arten 
von  Geschwülsten,  Entzündungen,  Hämorrhoidalknoten,  dann  Ohren- 
schmerz,  Ohrensausen,  Ohrenklingen,  Ohrenschmalz,  Ohrenfluß,  Ohr- 
eiterung, Ohrjucken,  Schwere  der  Ohren  u.  a.  m. 

Der  Ohrenschmerz  wird  z.  B.  durch  Eindringen  der  Luft  verursacht, 
die,  wenn  sie  länger  verweilt,  Ohrgeräusche  erzeugt.  Das  Jucken  im 
Ohre  wird  durch  Anhäufung  von  Schleim  veranlaßt.  Trocknet  dieser 
durch  den  Einfluß  der  Galle  (die  also  auch  bei  den  Indern  in  der  patho- 
logischen Erklärung  des  Ohrenschmalzes  eine  Rolle  spielt)  aus,  so  sammelt 
sich  Ohrenschmalz  an.  Ohreiterung  kann  mit  Schmerzen  verbunden  sein 
oder  schmerzlos  verlaufen.  Entzündliche  Geschwülste  können  durch  Ver- 
letzung oder  durch  Säfteverderbnis  verursacht  sein.  Eine  ausführliche 
Beschreibung  wird  den  Krankheiten  des  Ohrläppchens  gewidmet.  Als 
solche  werden  Härte  und  Geschwulst,  Schwere,  Jucken  und  Anschwellung 
hervorgehoben,  wobei  wieder  Luft,  Schleim  und  Galle  als  krankmachende 
Momente  herangezogen  werden. 

Als  allgemeine  Regel  bei  der  Therapie  der  Ohrenkrankheiten 
gelten  folgende  Vorschriften :  Trank  von  flüssiger  Butter,  Lebenselixir. 
Waschen  des  Kopfes,  keine  Ermüdung,  Beobachtung  der  brahmanischen 
Vorschriften  (brahmacharya)  und  Stille.  An  Ohrkrankheiten  leidende 
Personen  durften  nicht  baden. 

Die  Hauptbestandteile  der  indischen  Apotheke,  welche  besonders 
Pflanzenmittel  in  Anwendung  zog  und  über  einen  schier  unübersehbaren 
Heilschatz  gebot,  gelangten  auch  in  der  Otiatrie  zur  Verwendung.  Dem 
Charakter  des  Landes  entsprechend  wurden  pflanzliche  und  tierische  Fette. 
Oele,  Harze,  dann  Milcharten,  Honig  und  ZuckerstofFe  bevorzugt.  Die 
Form  der  Arzneien  waren  Salben,  Linimente,  Pulver,  Extrakte,  Oele  etc. 
Wie  bei  anderen  Völkern  wurden  unter  den  animalischen  Stoffen  Milch 
und  Urin  nicht  selten  bei  der  Zusammensetzung  von  Medikamenten  in 
Gebrauch  gezogen.     Die  Heilmittel  waren  meist  sehr  kompliziert. 

Bei  der  Ansammlung  von  Ohrenschmalz  und  zur  Entfernung  von 
Würmern  bedienten  sich  die  indischen  Aerzte  des  Ohrlöffels  oder  eines 
hörnernen  Instruments  5). 

Die  Physiologie  und  Pathologie  des  Gehörsinnes  wird  nur  spekulativ 
behandelt. 

Von  den  fünf  Elementen,  mittels  welcher  Brahma  die  Welt  durch- 
dringt (Erde,  Wasser,  Licht,  Luft  und  Aether),  ist  es  der  Aether,  der 
dem  Gehörsinn  als  Medium  entspricht.  Verwirrung  der  Sinne  deutet  auf 
baldigen  Tod:  im  Bereich  des  Gehörsinns  geben  folgende  Erscheinungen 
böses    Omen:  Wenn    einer   nicht    existierende    Töne    hört,    dagegen    den 


\Q  Naturvölker. 


wirkli«  ben  Schall  nicht  oder  andersartig  wahrnimmt,  durch  Mißtöne  er- 
t'ivut.  durch  angenehme  Klänge  aber  aufgeregt  wird  etc.,  so  kann  er 
nach  ärztlicher  Voraussicht  plötzlich  dahingerafft  werden. 

I   Wir   benützten  die  lateinische  Uebersetzung  von  Heß ler.     Susrutas  Ayur- 
id.  esl    Medicinae  Systema  a  venerabili  D'hauvantara  dernonstratum  a  Su.sruta 
discipulo    compositum.     Nunc    primum    ex    Sanskrita    in  Latinum    sermonem   vertit. 
Dr.  Fr.  Heß  ler.     Erlang.  1844—45.    T.  III.    Cap.  XX,  XXI.    Die  Angaben  über  die 
Entstehung  des  Ayurveda  schwanken  zwischen  1500  v.  Chr.  bis  500  v.  Chr. 
'-')  1.  c.  Siitrast'häna  cap.  XVI. 
)  Iliidem. 

irüa   (Ohr-)   süla  Schmerz,    praüada   (tönen),   karüa  sräva  Ohrfluß;    karüa- 
güt'ha  Ohrschmutz:  püti-karüa  Ohreiterung  etc. 

)  In  auris  cavitate  versatum  vermem  aut  madorem,  sordes  etc.  extrabat  peritus 
medicus  cornu  aut  auriscalpis. 

Anhang. 
Die  Ohrenheilkunde  hei  den  Naturvölkern. 

Wir  entnehmen  aus  Bartels  Arbeit  „Die  Medizin  der  Naturvölker"  *)  über 
Ohrenheilkunde  bei  den  Naturvölkern  folgendes: 

Nach  einem  eigentümlichen  Glauben  der  Annamiten  (Hinterindien)  wird  das 
Ohr  von  einem  kleinen  Tiere  (Conräy)  bewohnt,  welches  das  Ohr  beschützt  und  da- 
selbst auch  seine  Exkremente,  das  Ohrenschmalz,  absetzt.  Ohrenklingen  wird  hervor- 
gerufen, wenn  dieses  Tier  mit  anderen  eindringenden  Tieren  oder  Fremdkörpern 
in  Kampf  gerät.  Geht  das  Tierchen  verloren,  so  entsteht  Taubheit.  Bei  den  An- 
namiten ist  ferner  die  Ansicht  verbreitet,  daß  beide  Ohren  miteinander  in  Kom- 
munikation stehen:  deshalb  verschließen  sie,  wenn  ihnen  z.  B.  ein  Insekt  in  das 
eine  Ohr  dringt,  rasch  das  andere  und  glauben  dadurch  zu  bewirken,  daß  das 
Insekt  aus  Mangel  an  Luft  zum  Atmen  schnell  wieder  hinauskriechen  müsse.  Bei 
Ohrenerkrankungen  wenden  sie  Räucherungen  mit  der  Haut  einer  ungiftigen 
Schlangenart  an.  Die  Harrari,  ein  Volk  im  östlichen  Zentralafrika,  legen  gegen 
ohp'nschmerzen  und  Taubheit  eine  Pflanze,  die  nicht  näher  bekannt  ist,  auf  das  affi- 
zierte  Ohr.  Die  Aschanti,  ein  Negerstamm  in  Oberguinea  (Afrika),  bereiten  sich 
aus   versehiedenen   Pflanzen   einen   Saft,    den    sie    bei   Ohrenerkrankungen   ins   Ohr 

i.  Ferner  träufeln  die  Mittel  sumatraner  ihren  Kindern,  die  recht  häufig 
an  Ohrennüssen  nach  Mittelohrentzündungen  leiden,  ein  Mittel  ein,  welches  sie 
sich  durch  Kim  lim  VOn  Klapperöl  mit  dem  Milchsafte  einer  zu  diesem  Zwecke  an- 
gebauten Kaktuspflanze  bereiten.  Die  Taubheit  wird  von  ihnen  mit  einem  eigenen 
Namen  belogt ;  ein  Mittel  dagegen  kennen  sie  nicht.  Endlich  erwähnen  wir  noch 
den  Lei  den  .Marokkanern  absonderlichen  Gebrauch,  daß  der  Arzt  O'el  in  den 
Mund  nimmt  und  dieses  dem  an  Ohrenfluß  leidenden  Kranken  geschickt  in  den 
äußeren  Gehörgang  einspritzt. 


i   Max  Harteis.    Die  Medizin  der  Naturvölker.     Ethnologische  Beiträge   zur 
Geschichte  der  Medizin.    Leipzig  1893.    p.  212. 


Die  Otiatrie  bei  den  Griechen  und  Römern. 


Stand  der  Otiatrie  bei  den  Griechen  vor  Hippokrates. 

(Die  Philosopheine  über  den  Gehörsinn.) 

Die  Medizin  der  Hellenen  stand  in  ihren  Anfängen  zweifellos  unter 
dem  mächtigen  Kultureinfluß  der  Aegypter  und  der  orientalischen  Völker. 
Bald  jedoch  hat  sich  dieses  Kulturvolk  von  fremdem  Einfluß  zu  eman- 
zipieren gewußt,  um  auf  allen  Gebieten,  sowohl  in  der  Philosophie  wie 
in  der  Naturwissenschaft,  Originelles  zu  schaffen.  Diese  Umformung 
alter  Traditionen  war  nach  allen  Richtungen  eine  durchgreifende,  doch 
blieb  es  der  neuesten  Forschung  vorbehalten,  den  Anteil  der  Griechen 
von  jenem  der  älteren  Kulturvölker  zu  sondern. 

In  der  ältesten  Epoche  findet  sich  nur  äußerst  wenig,  was  auf 
Otologie  Bezug  hat.  In  Betracht  kommen  eine  Anzahl  von  Stellen  in 
der  Ilias  und  Odyssee,  wo  von  Verwundung  der  Ohren  und  ihrer 
nächsten  Umgebung  mit  oder  ohne  tödlichen  Ausgang  die  Rede  ist; 
ferner  Votivgaben*),  die  von  Geheilten  in  den  Tempeln  des  Asklepios 
gespendet  wurden. 

Tel  »er  den  Zustand  der  praktischen  Ohrenheilkunde  vor  Hippo- 
krates läßt  sich  nur  ein  höchst  unklares  Bild  gewinnen,  weil  die  voraus- 
gehenden medizinischen  Schriften  gänzlich  in  Verlust  geraten  sind  und 
die  Fragmente,  welche  von  den  ältesten  Naturphilosophen  in  Form  von 
Zitaten  noch  vorliegen,  begreiflicherweise  höchstens  das  Gebiet  der 
Ohranatomie  und  Gehörsphysiologie  streifen.  Nur  die  Tatsache  steht 
fest,  daß  es  bei  den  Griechen  keine  otologischen  Spezialisten  gab  und 
bei  dem  Mangel  an  sicheren  anatomischen  Kenntnissen  höchstens  von 
einer  roh  empirischen  Behandlungsweise  die  Rede  sein  konnte.  Immer- 
hin wäre  schon  dieser  Epoche  vieles  von  dem  zuzuschreiben,  was 
sich  an   praktischen  Kenntnissen  im   hippokratischen   Kanon  vorfindet. 

Was  die  anatomisch-physiologischen  Vorstellungen  der  griechischen 
Philosophen  anbelangt,  die  bekanntlich  zu  ihrer  Zeit  die  Stelle  der  Natur- 
forscher einnahmen  und  gelegentlich  Tierzergliederungen  vornahmen,  so 
wäre  darüber  folgendes  zu  berichten: 


::)  Unter  anderem  bezieht  sich  eine  aufgefundene  Weihinschrift  auf  die  Heilung 
eines  taubstummen  Knaben. 


\2  Die  griechischen  Philosophen  über  den  Gehörsinn. 


Pythagoras  (etwa  575  v.  Chr.  bis  zur  Jahrhundertwende)  dachte 
sich  das  Hören  als  einen  nach  außen  wirkenden  Akt  und  nahm  an,  daß 
von    der  Seele    ein   warmer,    feiner  Hauch    ausströme.     Heraklit  (etwa 

17:.  v.  Chr.)  und  Anaxagoras  (etwa  500—428  v.Chr.)1)  erklärten 
die  Sinnesempfindungen  aus  dem  Gegensatz  der  Elemente  in  den  emp- 
findenden Organen  und  dem  empfundenen  Objekt.  Das  meiste  ist  uns 
über  die  akustischen  Hypothesen  des  Empedokles  und  Alkm'äon  über- 
liefert. Empedokles  2)  (etwa  495 — 435  v.  Chr.)  soll  nach  Plutarch 
einen  schneckenförmigen  Knorpel  (xo/XwöStj?  /övSpo?)  im  Ohr  entdeckt 
haben,  der,  durch  die  Luft  erschüttert,  wie  eine  Glocke  einen  Ton  von 
sich  gebe.  Sinnesempfindungen  kämen  überhaupt  dadurch  zu  stände, 
wenn  sich  der  Elementarbeschaffenheit  nach  gleichartige  Teilchen  der 
Objekte  mit  den  entsprechenden  Emanationen  (owcoppoai)  der  Sinnesorgane 
in  den  ..Poren"  begegneten;  die  Wahrnehmung  selbst  erfolge  in  der  Seele. 
Der  Schall  beruhe  demgemäß  auf  dem  Zusammentreffen  der  Luftteilchen 
in  der  Ohrhöhle  und  hänge  in  seiner  Qualität  ab  von  den  Poren,  durch 
und  gegen  welche  er  sich  bewege.  Trotz  der  Erwähnung  des  schnecken- 
förmigen Knorpels  wäre  es  aber  gewagt,  Empedokles  daraufhin  für  den 
Entdecker  des  Ohrlabyrinths  zu  erklären.  Alkmäon3)  (um  500  v.  Chr.), 
zugleich  Philosoph  und  Arzt,  ein  Forscher,  der  anscheinend  auf  Grund 
von  Tiersektionen  über  ganz  ansehnliche  anatomische  Kenntnisse  ver- 
fügte, dürfte  auch  das  Gehörorgan  zum  Gegenstand  seiner  Untersuchungen 
gemacht  haben.  Eine  Stelle  bei  Aristoteles,  wonach  Alkmäon  be- 
hauptete ,  daß  die  Ziegen  durch  die  Ohren  atmen ,  berechtigt  allerdings 
noch  keineswegs  zur  Annahme,  daß  ihm  die  Tuba  Eustachii  bereits  bekannt 
gewesen  wäre,  aber  er  hatte  anscheinend  eine  Vorstellung  vom  Gehörgang, 
da  er  die  Sinneswahrnehmung  auf  dem  Wege  von  Gängen  (rcopot)  zum 
Gehirn  gelangen  ließ,  und  ebenso  deuten  die  Angaben  vom  xsvöv  t)  xoiXov 
auf  Kenntnisse  vom  inneren  resp.  mittleren  Ohr  hin.  Diogenes  von  Apol- 
lo nia  (etwa  430)  4),  der  sich  um  die  Gefäßlehre  im  allgemeinen  Ver- 
dienste erwarb,  beschrieb  zum  Kopfe  ziehende,  sich  kreuzende  Blutadern, 
die  jederseits  im  Ohre  endigen;  er  erwähnte  die  verschiedene  Größe  der 
Ohrmuschel,  kannte  den  Gehörgang  und  nahm  ebenso  wie  die  übrigen 
Philosophen  an,  daß  der  Hohlraum  des  Ohres  mit  Luft  erfüllt  sei.  Seiner 
Ansicht  nach  werde  bei  Entstehung  des  Schalls  zuerst  das  Ohr,  sodann 
die  im  Kopfe  befindliche  Luft  erschüttert,  —  Der  Zeitgenosse  des  Hippo- 
krates,  Demokrit  aus  Abdera,  stellte  eine  eigentümliche  Hörtheorie 
auf,  welch.'  dm  materialistischen  Lehren  dieses  Philosophen  getreu  ent- 
spricht. Wie  die  übrigen  Sinneswahrnchmungen,  beruht  nach  ihm  das 
Hören  auf  den  materiellen  Ausflüssen  (etöwXa)  der  Körper,  die  durch  die 
Sinnesorgane  zur  feurig-luftartig  gedachten  Seele  hinströmen  und  deren 
Atome  in  Bewegung  setzten.    Das  Eindringen  geschehe  jedoch  nicht  bloß 


Hippokrates.  13 

durch  die  Poren  des  Ohres,  sondern  durch  den  ganzen  Körper.  Daß  es 
aber  bloß  im  Ohre  zur  Schallwahrnehmung  kommt,  erklärt  er  daraus, 
daß  dort  ein  Hohlraum  vorhanden  sei,  durch  den  die  Teilchen  am  besten 
hindurchgetrieben  werden. 

Aus  der  sokratischen  Zeit  sind  uns  nur  dürftige  bedeutungslose 
Notizen  über  das  Hören  von  den  Sophisten  Protagoras  (489 — 404) 
und  Gorgias  (485 — 378)  überliefert. 

Plato5)  (427  —  347)  entwickelte  im  Timäos  seine  Lehrmeinung 
folgendermaßen:  „Ueberhaupt  wollen  wir  also  als  Ton  den  durch  die 
Ohren  hindurch  vermittels  der  Luft,  des  Gehirns  und  des  Blutes  sich 
bis  zur  Seele  verbreitenden  Stoß  bezeichnen,  als  Hören  aber  die  dadurch 
erfolgende  Bewegung  bestimmen,  welche  vom  Kopfe  beginnend  in  der 
Gegend  der  Leber  aufhört.4'  Daß  Plato  die  Wirkung  des  Gehörten  sich 
bis  zur  Leber  ausbreiten  läßt,  hängt  damit  zusammen,  daß  nach  seiner 
Ansicht  die  Gehörswahrnehmung  auf  die  ganze  Seele,  also  Denken,  Emp- 
finden und  Begehren,  einwirkt.  Sitz  dieser  Hauptfaktoren  des  Seelen- 
lebens sind  aber  nach  seiner  Theorie  Kopf,  Herz  und  Leber. 

Die  Theorien  der  Philosophen  übten  auf  die  ältesten  griechischen 
medizinischen  Schulen  einen  starken  Einfluß ,  namentlich  auf  Kos  und 
K nid os,  deren  Lehrmeinungen  sich  in  dem  Corpus  Hippocraticum  wider- 
spiegeln. 

')  Plutarch,  De  placitis  philosophorum.     v.  Dübner,  Paris  1841.     Cap.  16. 

2)  Plutarch.  ibid.     Cap.  16.  u.  Theophrast,  De  sensu.     Cap.  9. 

3)  Plutarch,  ibid.     Cap.  16. 

4)  Plutarch.  ibid. 

5)  Timäos,  29.  (Pia tons  sämtliche  Werke  übers,  v.  H.  Müller.  Leipzig  1857. 
VI.  Bd) 

Vergl.  ferner:  Gomperz,  Griechische  Denker.     Leipzig  1893. 
Das    mir  von  Dr.  Stylio  Dimitriades  in  Kopie    übersendete  Manuskript 
Nr.  14*9  der  Bibliothek  in  Athen  aus  dem  16.  Jahrh. 

Hippokrates 

(460—377  v.  Chr). 

Wie  die  meisten  Spezialfächer  der  Medizin  leitet  auch  die  Otiatrie 
ihre  systematische  Entwicklung  von  den  lange  fortwirkenden  Impulsen 
her,  die  der  große  Arzt  von  Kos  der  Heilkunde  gab,  da  er,  von  den 
naturphilosophischen  Spekulationen  abstrahierend,  der  nüchternen  Natur- 
betrachtung  zum  Siege  verhalf.  Medicinam  a  sapientiae  studio  separavit, 
sagt  Celsus.  Obschon  auch  seine  Otiatrie  auf  bloßer  Empirie  beruht,  s<> 
läßt  sich  doch  nicht  verkennen,  daß  ihn  die  sorgfältige,  wahrhaft  geniale 


i   Eu.ics8oxXyk  .  rjiv  ixoiiv  y'.vcoö-ai  xata  itpooittiuoiv  -vr'j|iatoc  t<ü  xoyXiu>öec  Sitep 
ipootv  l^iQpT'ÄoS'ot  i/'.'jz  toö  (»zbz  xa>8a>vo<;  oiy.-r(v  alu)po6{jLevov  xa<  xoitTOjisvov. 


]  j  Hippokrates. 

Beobachtung  der  Krankheitssymtome  stets  auf  die  Bahn  einer  nüchternen 
und  unsch  ä  d  1  i  c  h  e  n  Therapie  verwies.  Letzteres  gerade  bildet  ein  nicht 
gering  zu  schätzendes  Moment,  da  sich  früher  die  rohe,  mit  den  schäd- 
lichsten Mitteln  Unfug  treibende  Empirie  nirgends  mehr  als  in  der  Otia- 
trie  überbot.  Eine  Anzahl  sorgfältigst  geschriebener  Krankengeschichten, 
in  denen  scharfsinnig  auf  die  Wechselbeziehungen  zwischen  Ohr  und 
Gesanitorganismus  verwiesen  wird,  verraten  reiche  Erfahrung  und  ein  ge- 
iibtes  Urteil,  eine  Tatsache,  die  bei  den  mangelhaften  anatomischen  Kennt- 
nissen geradezu  überraschend  wirkt. 

Von  den  dürftigen  anatomischen  Bemerkungen  des  Hippokrates 
sei  einiges  hier  erwähnt.  Der  Gehörgang,  sagt  der  Verfasser  des  Buches 
.De  Carnibus"1),  führe  zu  einem,  sich  durch  besondere  Härte  auszeich- 
nenden Knochen  hin ;  der  das  Ohr  umgebende  Knochen  sei  von  Hohl- 
räumen durchsetzt.     Tö  os  öotsov  zb  vcotXov  knrf/tl  ota  toö  axXvjpoö. 

Hippokrates  wird  von  den  Historikern  für  den  ersten 
Autor  erklärt,  der  das  Trommelfell  als  Bestandteil  des  Ge- 
hörorgans hervorhob.  Er  sagt,  es  sei  dünn  wie  Spinngewebe 
und  durch  seine  Trockenheit  zur  Schallaufnahme  besonders  geeignet: 
Tö  Sepjia  tö  ~'/jz  xy  rj:/-rAi  npb<;  t(o  östsw  tw  oxXTjptp  Xstctöv  icttv  u>07csp 
äoä/v.ov.  ^pötatov  toö  aXXoo  Sspü.ato<;.  T=xu.7]pia  ok  rcoXXa  ov.  ^pöratov 
\-/y.  jjLdXiata. 

Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  den  Forschern  und  Aerzten  jener 
Periode,  die  gewiß  nach  Tiersektionen  die  Lage  der  inneren  Organe 
und  auch  den  primitiven  Bau  des  Auges  kannten,  die  selbst  zur  groben 
Zergliederung  des  Gehörorgans  erforderliche  Fertigkeit  gänzlich   abging. 

Nach  dem  vorliegenden  Quellenmateriale  kann  mit  Bestimmtheit 
angenommen  werden,  daß  Hippokrates  und  seine  Zeitgenossen  nur  sehr 
geringe  Kenntnisse  vom  Baue  des  Gehörorgans  besaßen.  Der  Vergleich 
des  Trommelfells  mit  einem  dünnen  Spinngewebe  zeigt,  daß  Hippo- 
krates zu  dieser  durchaus  irrigen  Angabe  nicht  durch  anatomische  Be- 
obachtung  gelangt  ist.  Denn  eine  noch  so  oberflächliche  Untersuchung 
des  Gehörorgans  an  Tieren  hätte  ihn  belehren  müssen,  daß  das  Trommel- 
fell eine  ziemlich  resistente  Membran  ist,  und  der  scharfsinnigen  Beob- 
achtungsgabe Hippokrates'  wäre  die  Verbindung  des  Trommelfells  mit 
dem  Hammer  nicht  entgangen,  dessen  erst  im  15.  Jahrhundert  Erwähnung 
geschieht.  Der  Vergleich  mit  einem  spinngewebigartigen  Häutchen  dürfte 
vielmehr  darauf  zurückzuführen  sein,  daß  Hippokrates  bei  Sonnenlicht 
in  der  Tiefe  des  Gehörganges  einen  Teil  des  glänzenden  Trommelfells 
sehen  konnte. 

Der  mangelhaften  anatomischen  Kenntnis  des  Gehörorgans  ent- 
spricht ;iuch  die  durchaus  irrige  Ansicht  des  Hippokrates  über  die 
physiologische    Funktion    des  Ohres.     Nach   ihm   beruht   das  Hören    auf 


Hippokrates.  1 5 

folgendem  Grundsatz:  Nur  Gleiches  kann  von  Gleichem  empfunden 
werden,  darum  diene  auch  nur  das  Harte  im  Organismus  als  Gehörorgan. 
Der  Schall,  welcher  durch  das  äußere  Ohr  und  die  trockene  zarte  Mem- 
bran eindringt,  hallt  an  dem  harten  Knochen  mit  seinen  Hohlräumen 
wieder.  Falsch  sei  die  Ansicht  einiger  zeitgenössischen  Naturforscher, 
welche  meinten,  das  Hirn  sei  es,  das  wiederhalle,  denn  dieses  sei  ja  von 
feuchter  und  weicher  Beschaffenheit,  während  doch  nur  Trockenes  und 
Hartes  tönen  könnte  *).  Die  Apperzeption  des  Schalles  dagegen  vollziehe 
sich  erst  im  Gehirn,  denn  der  in  den  Ohrräumen  widerhallende  Schall 
sei  bloß  verworrenes  Geräusch,  und  erst,  was  davon  durch  eine  in  der 
Hirnhaut  befindliche  Oeffnung  in  das  Hirn  gelange,  werde  deutlich 
gehört-)-    Aehnlich  lautet  auch  eine  Stelle  im  Buche  De  Morbo  sacro  3). 

In  der  Pathologie  des  Hippokrates,  in  der  wir  ihn  als  scharf- 
sinnigen Symptomatologen  bewundern,  werden  als  die  wichtigsten  Ur- 
sachen der  Ohrkrankheiten  die  vier  Kardinalsäfte,  namentlich  Schleim 
und  Galle,  angeführt.  Außerdem  gilt  für  die  Entstehung  oder  Ver- 
schlimmerung der  Ohrleiden  die  Art  der  Jahreszeit  und  der  Wind- 
richtung als  wichtig.  Ohrenflüsse  seien  im  Sommer  besonders  häufig, 
Südwinde  machen  wegen  ihrer  Feuchtigkeit  schwerhörig ;  trockene  Nord- 
winde dagegen  bessern  das  schlecht  gewordene  Gehör.  Auch  das  Alter 
sei  von  Einfluß  auf  die  Natur  der  Krankheit,  so  überwiegen  bei  Kindern 
Ohrenflüsse,  während  bei  älteren  Leuten  am  häufigsten  Schwerhörigkeit 
vorkomme 4). 

Von  den  Beziehungen  zwischen  Erkrankungen  des  Gehörorgans 
und  anderer  Organe  waren  Hippokrates  einige  bekannt.  So  wußte 
er,  daß  Entzündungen  der  Tonsillen  auf  die  Ohren  übergehen  können0), 
daß  Ohreiterung  oft  in  Konnex  mit  schweren  zerebralen  Leiden  stehe, 
und  auch  bei  Pneumonie  vorkomme,  daß  Schwerhörigkeit  oder  Taubheit 
manchmal  ein  febriles  oder  prämortales  Symptom  bilde. 

Im  7.  Buch  der  Epidemien  beschreibt  er  ein  bei  Spitzköpfigen  vor- 
kommendes Krankheitsbild,  bestehend  aus  Ohrenfluß,  Kopfschmerz,  hohe 
und  enge  Gaumenwölbung  nebst  unregelmäßiger  Zahnstellung,  ein  Sym- 
ptomenkomplex, der  von  Körner*)  als  Folgezustand  von  adenoiden  Vege- 
tationen gedeutet  wird.  Der  Gehörshalluzinationen  und  subjektiven  Ohr- 
geräusche wird  an  mehreren  Stellen  gedacht,  vorkommend  bei  Psychosen. 
Delirien,  bei  hohem  Fieber,  nach  erschöpfenden  Blutungen,  beim  Eintritt 
der  Menses6). 

Im  2.  Buche  De  Morbis  wird  auch  die  Entstehung  der  subjektiven 
Ohrgeräusche  auf  die  Wahrnehmung   der  Pulsation  in   den  Kopfgefäßen 


*)  Die   Ohrenheilkunde   des   Hippokrates.     Vortrag   in   der  07.  Vers,   deutsch. 
Naturf.  u.  Aerzte  1895.     Wiesbaden  1896. 


IQ  Eippokrates. 

zurückgeführt.  Die  dadurch  hervorgerufene  Schwerhörigkeit  wird  zum 
Teil  als  Folge  der  Geräusche,  zum  Teil  als  Folge  der  Kongestionen  ge- 
l'.lutfluß  aus  dem  Ohre  wird  in  einer  Krankengeschichte  des 
7.  Buchs  der  Epidemien  erwähnt,  wo  es  sich  wahrscheinlich  um  einen 
Fall  von  Basalfraktur  handelt. 

Auch  in  der  allgemeinen  Prognostik  und  Semiotik,  deren  un- 
vergängliches  Hauptergebnis  in  den  berühmten  Aphorismen  niedergelegt 
ist,  verwendet  Hippokrates  Ohrsymptome,  so  z.  B.  soll  süßes  Ohren- 
schmalz ein  Zeichen  des  nahenden  Exitus  bilden. 

In  der  Prognosestellung  der  Ohrenkrankheiten  fand  er,  daß  Taub- 
heit, die  auf  ein  Fieber  folgt,  durch  Nasenbluten  oder  Durchfall  geheilt 
werde,  daß  akute  Ohrentzündungen  oft  schon  am  dritten  Tag  letalen 
Ausgang  herbeiführen. 

Unter  den  Krankheitsbildern  findet  sich  im  hippokratischen  Kanon 
namentlich  die  Ohreiterung,  als  Folge  der  eitrigen  Mittelohrentzündung, 
ohne  jede  anatomische  Kenntnis,  mit  ihren  klinischen  Symptomen  be- 
schrieben. Die  falschen  Vorstellungen  vom  Baue  des  Gehörorgans  waren 
die  Ursache,  daß  Hippokrates  und  seine  Nachfolger  den  primären 
Sitz  der  Erkrankung  in  das  Hirn  verlegten,  wo  eine  übermäßige  An- 
sammlung von  Schleim  zum  Abfluß  aus  dem  Gehörorgane  führe,  ebenso 
wie  in  anderen  Fällen  durch  die  Nase  7).  Kommt  es  zum  Abfluß  durch 
das  Ohr,  so  wird  dies  als  günstiger  Ausgang  betrachtet;  wenn  nicht, 
so  tritt  der  letale  Ausgang  nicht  durch  die  Ohreiterung,  sondern  durch 
die  Hirnkrankheit  ein. 

Offenbar  rührt  diese  Auffassung,  wie  Körner  richtig  meint,  von 
der  Erfahrung  her,  daß  dem  Ausflusse  von  Ohreiter  häufig  schwere  Hirn- 
erscheinungen vorangehen.  „Alle  diejenigen  Schriften  der  hippokrati- 
schen Sammlung,  welche  sich  mit  den  akuten  Ohreiterungen  befassen, 
stimmen  darin  überein,  daß  ein  bestimmter  Komplex  schwerer  zere- 
braler Symptome  mit  hohem  Fieber  nach  Eintritt  einer  Ohreiterung 
schwindet,  oder,  wenn  keine  Ohreiterung  eintritt,  den  Tod  herbeiführt" 8). 
Nicht  die  Hirnsymptome  sind  Folgen  der  Ohreiterung  bei  Hippokrates, 
sondern  umgekehrt,  die  Ohreiterung  gilt  ihm  als  Folge  des  zerebralen 
Zustandes. 

Das  klinische  Bild,  welches  er  folgendermaßen  skizziert,  ent- 
spricht  im  allgemeinen  unserem  heutigen  Symptomenkomplexe  der 
akuten  eitrigen  Mittelohrentzündung.  Der  Kranke  wirft  sich  vor 
Schmerzen  hin  und  her.  fiebert  hoch  und  deliriert.  Anfangs  besteht 
intensiver  Schmerz  im  Ohre,  der  in  die  Schläfen  und  Vorderkopfgegend 
und  in  die  Augen  ausstrahlt.  Der  Kopf  erscheint  voll  und  schwer,  bei 
Bewegung  tritt  bisweilen  Erbrechen  ein.  Außerdem  kommt  Harndrang 
oder  Harnverhaltung  vor.    Der  Ohrenfluß  stellt  sich  am  5.,  7.  oder  8.  Tage 


Hippokrates.  1 7 

ein  und  beendigt  sofort  die  schweren  zerebralen  Hirnerscheinungen. 
Verhaltung  des  Ohreiters  führt  gewöhnlich  am  7.,  9.  oder  11.  Tage 
den  Tod  herbei.  Der  Ohrenfluß  ist  geruchlos,  bald  von  Anfang  an 
eitrig,  bald  im  Beginne  schleimig  oder  wässerig,  wird  später  durch  Zer- 
setzung eitrig. 

Die  akuten  Ohreiterungen  treten  entweder  als  selbständige  Erkran- 
kung oder  als  Komplikation  bei  Peripneumomie*),  Lipyrie**)  und  In- 
fluenza***) auf.  Von  einer  Miterkrankung  des  Warzenfortsatzes  findet 
sich  keine  Erwähnung,  wenn  nicht  die  vom  Ohre  stammenden  Knochen- 
eiterungen (owrJjX&ev  ürcep  toö  Coro?)  oder  manche  der  als  Parotitiden  be- 
zeichneten Geschwülste  ('ä  ~ao"  oo?)  als  solche  aufgefaßt  werden. 

Ebenso  wie  die  akuten  waren  dem  Hippokrates  auch  die  chro- 
nischen Ohreiterungen,  namentlich  bei  Kindern,  bekannt. 

Als  Symptome  der  otitischen  Meningitis  werden  von  Hippokrates 
und  später  auch  von  Paul  von  Aegina  und  Oribasios  Verengerung  und 
Trägheit  der  Pupillen,  Nackensteifheit,  Lichtscheu,  Schlafsucht  oder 
Schlaflosigkeit,  unregelmäßiger  Puls  und  Atembeschwerden  angegeben. 
(Dr.  Dimitrios  Dimitriades,  1.  c.  p.  67,  311.) 

Von  äußeren  Ohrenleiden  wird  einiges  über  Kontusion  der  Ohr- 
muschel und  Bruch  des  ( )hrknorpels  mit  ihren  Konsequenzen  mitgeteilt; 
es  sind  Verletzungen,  die  bei  den  Wettkämpfen  der  Faustkämpfer 
häufig   vorkamen. 

Auch  Schädel  Verletzungen  als  Ursache  von  Taubheit  werden 
bei  Hippokrates  erwähnt.  „Jemand,  der  eine  Kopfverletzung  durch 
einen  Stein  oberhalb  der  linken  Schläfe  erhielt,  verlor  nach  dem  dritten 
Tage  die  Stimme  und  hörte  nichts."     (Dr.  Dimitriades,  1.  c.  p.  75.) 

Die  Behandlung11)  gestaltet  sich  bei  Ohreiterungen  durchaus 
nicht  exspektativ,  sondern  teils  diätetisch,  teils  lokal.  Empfohlen  wird 
vor  dem  Durchbruch  des  Eiters  neben  magerer  Diät  Honigwasser, 
Gerstenschleim  und  verdünnter  Wein.  Auf  den  Kopf  des  Kranken  wurden 
mit  heißem  Wasser  getränkte  Schwämme  gelegt.  Die  lokale  Therapie 
bestand  darin,  daß  das  kranke  Ohr  über  Wasserdampf  gehalten  oder  in 
dasselbe  Mandelöl  gegossen  wurde.  Bisweilen  wurden  auch  Blutentzie- 
hungen  vorgenommen  oder  durch  Auflegen  reizender  Salben  auf  rasierte 
StelleD  der  Kopfhaut  eine  Ableitung  versucht.  Verträgt  der  Kranke  die 
warmen  UmschläLO'  schlecht.  s<>  wird  Kälte  angewendet.  Wenn  der 
Eiter  durchgebrochen,  darf  der  Kranke  wieder  kräftige  Nahrung  zu  sich 


|  Nach  Körner   wahrscheinlich    ein   mit  Pneumonie   und   Empyema  pleurae 
komplizierter  Gelenksrheumatismus. 

**)  Nach  Littre  eine  im  warmen  Klima  vorkommende  endemische  Kieberseuche. 
**)  Diese  Erkrankung   war   zu  Hippokrates'  Zeiten  in  der  Gegend  von  Korinth 
epidemisch. 

Politzer,  Geschichte  der  Ohrenheilkunde.    1. 


I  g  Aristoteles. 


nehmen.  So  lange  das  Ohr  stark  läuft,  läßt  man  es  in  Ruhe,  später 
werden  Injektionen  mit  warmem  Wasser,  süßem  Wein,  Frauenmilch  oder 
ranzigem  Oel  vorgenommen.  Bei  langdauerndem  Ohrenfluß  werden  Ein- 
streuungen  eines  feinen  Pulvers  von  Silberglätte,  Rauschgelb  und  Bleiweiß 
empfohlen.  In  der  Rekonvaleszenz  muß  noch  einige  Zeit  der  Aufenthalt 
in  Sonnenglut,  in  starkem  Wind  und  rauchgeschwängerten  Räumen  ver- 
mieden werden. 

Im  Buche  De  Morbis  vulgaribus  (Lib.  VI,  Sect.  5)  findet  sich  eine 
merkwürdige  Stelle,  welche  darauf  deutet,  daß  sich  Hippokrates  zu- 
weilen kleiner  suggestiver  Kunstgriffe  bediente.  Dort  heißt  es  nämlich: 
„Wenn  jemand  an  Ohrenweh  leidet,  so  wickle  man  etwas  Wolle  um  den 
Finger,  gieße  etwas  warmes  Oel  in  das  Ohr,  nehme  dann  die  Wolle  in 
die  hohle  Hand,  halte  sie  vor  das  Ohr,  damit  der  Kranke  glaube,  sie  sei 
aus  dem  Ohre  gekommen  und,  um  die  Täuschung  vollkommen  zu  machen, 
werfe  man  sie  gleich  darauf  ins  Feuer." 

In  der  Behandlung  der  Ohrwunden  10)  verbietet  er  jeden  drückenden 
Verband,  da  ein  solcher  schmerze  und  schade.  Höchstens  sei  eine 
leichte  Befestigung  der  Ohrmuschel  mit  Kleister  oder  Wachspfiaster  (tö 
fXioxpov  a)orjTOv)  zulässig.  Bei  eingetretener  Eiterung  an  der  Ohrmuschel 
kann  man  sich  des  Messers  oder  des  Glüheisens  bedienen.  Im  ersten  Falle 
muß  man  einen  nicht  zu  kleinen  Schnitt,  tief  und  ergiebig,  machen.  Will 
man  das  Glüheisen  benützen,  so  muß  man  die  Muschel  ganz  durchbrennen. 
Besonders  bemerkenswert  ist  die  Vorschrift,  nach  der  Inzision  den  eröffneten 
Abszeß  nicht  auszustopfen  und  keine  feuchten  Umschläge  zu  machen! 

')  Littresche  Ausgabe  der  Werke  des  Hippokrates  (Paris  1839 — 1861). 
")  De  locis  in  nomine  2. 

3)  De  rnorbo  sacro.    14. 

4)  Aphor.  III. 
De  gland.  7. 

c)  De  morbo  sacro  14;  Coact.  praenot  186,  190;  prorrh.  I,  143. 

7)  De  gland.  II. 

8)  Die  Ohrenheilkunde  des  Hippokrates  von  0.  Körner  (eine  vortreffliche 
Abhandlung).  Wiesbaden  1896,  p.  10. 

9)  De  locis  in  hom.  12;  de  morbis  II,  14,  16;  de  morbis  III,  2  u.  a.  and.  Stellen. 
10)  De  articulis  liber. 

Dr.  Stylio  Dimitriades  in  Athen.  AI  A'.ixttuyjv.xc«!  <J>AsY|J.ova!  toö  uiaoo 
üitbq  xat  ex  toötwv  aovenetaitpeoi?  eiti  usf^-fs^ia.  5Ev  'AtKjvaic  Iv.  toü.  0  xoKoyp&yeloo  rc.  8. 
SaxeXXaptou  1895. 

Gomperz,  Griechische  Denker.     Leipzig  1893. 

Fuchs,  Hippokrates'  sämtliche  Werke.     Leipzig  1900—1902. 

Aristoteles 

(384—322  v.  Chr.). 
Auch  durch  den  Philosophen  von  Stageira,  den  Lehrer  Alexanders, 
hat  die  Anatomie  und  Physiologie  des  Gehörorgans  nur  geringe  Förderung 


Aristoteles.  19 


erfahren.  Dies  muß  umsomehr  befremden,  als  Aristoteles  zahlreiche 
Sektionen  an  Tieren  vornahm  und  sich  eingehend  mit  dem  Hören  der 
Tiere,  besonders  der  Fische1),  beschäftigte.  So  hoch  aber  auch  die 
Verdienste  Aristoteles"  für  die  Medizin  im  allgemeinen  angeschlagen 
werden  müssen,  so  finden  wir,  daß  die  durch  seine  Autorität  gestützten 
Lehrsätze  eher  hemmend  auf  den  Entwicklungsgang  der  Otiatrie  gewirkt 
haben. 

Vom  menschlichen  Gehörorgan  waren  ihm  die  Ohrmuschel2)  und  der 
äußere  Gehörgang  bekannt.  Ob  er  anatomische  Kenntnis  vom  Trommel- 
fell besaß,  ist  zweifelhaft.  Wenn  es  gestattet  ist,  die  vagen  Beschrei- 
bungen genauer  zu  deuten,  dürfte  Aristoteles  an  Tieren  die  Ohr- 
trompete*) und  die  Schnecke  gesehen,  doch  wenig  beachtet  zu  haben.  Von 
der  Ohrmuschel  war  zur  Zeit  des  Aristoteles  bloß  die  Benennung  des 
Lobus  üblich,  die  übrigen  Teile  der  Ohrmuschel  waren  nicht  speziell 
benannt.  Es  heißt  nämlich  (De  animalibus  historiae,  Lib.  I,  Cap.  XI): 
Der  obere  Teil  des  Ohres  heißt  Ohrmuschel,  das  andere  Ohrläppchen; 
das  ganze  besteht  aus  Knorpel  und  Fleisch.  Im  Inneren  gleicht  seine 
Bildung  der  des  Strombos:  der  innerste  Knochen  aber  hat  Aehnlichkeit 
mit  dem  äußeren  Ohr(?)  und  in  ihn  gelangt  der  Ton  wie  in  ein  letztes 
Gefäß;  von  da  geht  ein  G#ng  in  die  Wölbung  der  Mundhöhle  (Ohr- 
trompete), aber  keiner  ins  Gehirn:  aus  dem  Gehirn  erstreckt  sich  eine 
Ader  dorthin  (nach  Aubert -Wimmer  Leipzig  18G8). 

Bezüglich  der  Hörfunktion  wird  von  Aristoteles  als  Träger  der 
Schallleitung  die  im  Ohre  befindliche,  von  der  äußeren  abgeschlossene 
innere  Luft  angenommen,  die  unbeweglich  sein  muß,  damit  ihr 
alle  Differenzierungen  des  Schalles  genau  und  deutlich  übertragen  werden 
können 3).  Sitz  des  Gehörs  ist  nach  ihm  das  Hinterhaupt,  welches  einen 
hirnlosen,  hohlen,  bloß  mit  Luft  gefüllten  Raum  darstellt.  Während  die 
Augen  mit  dem  Gehirn  in  Verbindung  stehen  durch  Gänge,  die  zu  den 
um  das  Hirn  befindlichen  Adern  hinführen,  verläuft  von  den  Ohren  ein 
Gang  nach  dem  Hinterkopf). 

Diese  sonderbare  Theorie  war  die  spekulative  Konsequenz  des 
Axioms:  Das  Ohr  ist  das  Organ  für  den  Luftsinn,  es  muß  demnach  die 
Natur  der  Luft  haben,  so  wie  die  Nase  die  des  Feuers,  das  Auge  die 
des  Wassers  etc.5).  Da  das  Gehör  aus  Luft  besteht,  so  mußte  sich  in 
logischer  Konsequenz  auch  im  Innern  des  Kopfes  Luft  befinden  und  zwar 
im  Hinterkopf,  weil  ja  ein  Loch  aus  dem  Felsenbein  dahin  sich  öffnet. 
Die  hohe  Autorität,  welche  sich  die  Lehren  des  Aristoteles 
das  ganze  Mittelalter  hindurch  bewahrt  haben,  waren  die  Ursache,  daß 


*)  Das  Ohr  ist  innen  mit  dem  Munde  durch  eine  Röhre  verbunden,    mit  dem 
Gehirn  jedoch  durch  eine  Ader.     Handbuch   der  Geschichte   der  Medizin  I,   p.  284. 


20  Aristoteles. 

noch  lange  nachher  seine  falschen  Schlüsse  über  das  Gehörorgan  als 
feststehend  angesehen  wurden.  Wurde  ja,  wie  wir  sehen  werden,  bis 
ins  18.  Jahrhundert,  zu  einer  Zeit,  wo  die  grob  anatomische 
Kenntnis  des  Gehörorgans  schon  gesichert  war,  noch  an  der  Aristotelischen 
Lehre  von  der  im  Ohre  befindlichen,  eingepflanzten  Luft  festgehalten  und 
mit  einem,  einer  besseren  Sache  würdigen  Scharfsinn,  mit  dem  ganzen 
Aufgebot  scholastischer  Spitzfindigkeit  die  Existenz  dieses  eigenartigen, 
von  der  äußeren  Luft  abgeschlossenen  „aer  innatus1"  verteidigt,  gestützt 
unter  anderem  auf  folgende  Stelle  des  Buches  De  anima,  Lib.  II, 
Cap.  VIII:  6  S'  sv  zolc  waiv  i"f/.autr/.ooö|j.r,Tai  7cpö<;  tö  äxivr^oc  elvai,  otcw? 
äv.v.ßwc  ai^D-avsTa'.  Traaac  xac  Sia^opac  zftc  y/.vr^ascos  (at  is  aer  qui  in 
auribus  est  collocatus,  insitus  est,  ut  sit  immobilis,  idque  propterea,  ut 
exacte  sentiat  differentias  omnes  motus). 

Von  weit  höherem  Wert  als  diese  unnatürliche  Hypothese  ist  das, 
was  Aristoteles  über  den  Schall  und  über  die  Bedeutung  des  Gehör- 
sinns für  das  intellektuelle  Leben  sagt ü),  doch  finden  sich  auch  hier  An- 
sichten, die  uns  in  Anbetracht  der  Bedeutung  des  Aristoteles  be- 
fremden müssen. 

In  der  reichhaltigen  fälschlich  unter  dem  Namen  des  Aristoteles 
gehenden  Sammlung  der  Probleme,  welche  sich  auf  die  Medizin  beziehen, 
findet  sich  auch  manches  auf  das  Ohr  Bezügliche.  Z.  B.  beantwortet  der 
Autor  die  Frage,  warum  das  Ohrenschmalz  bitter  ist,  damit,  daß  es  eine 
faulige  aus  Schweiß  stammende  Salzmasse  sei.  Ohrgeräusche  weichen 
bei  starkem  äußeren  Schall,  weil  stärkerer  Schall  den  schwächeren  ver- 
dränge. Das  Husten  beim  Kratzen  der  Ohren  erklärt  er  aus  der  Ver- 
bindung, die  das  Gehörorgan  mit  der  Lunge  und  Trachea  besitze7). 
Dieser  Verbindung  sei  auch  das  Zusammenvorkommen  von  Taubheit  und 
Stummheit  zuzuschreiben,  ebensowie  der  Uebergang  von  Ohrenleiden  auf 
Affektionen  der  Lungen*). 

')  De  animal.  histor.  Lib.  IV,  Cap.  8.  St.  v.  Stein.  Lit.  d.  Anat,  u.Physiolog.  1890. 

2)  De  animal.  histor.  Lib.  I,  Cap.  XI,  2.  'Axivyjtov  qe  tö  ol»?  avfl-pcurco?  I/ei 
u-övog  tö)v  iyovxojv  toöto  to  jj.6p:ov.  (Ornne  animal,  quodcumque  auriculas  habet,  eas 
movet,  praeter  hominem.) 

3)  De  anima.     Lib.  II,  Cap.  8. 

*)  De  partibus  animal.     Lib.  II,  Cap.  10. 

5)  De  sensu.     Cap.  II. 

6)  De  sensu.     Cap.  I.     (Schluß.) 

7)  Problemat.     Sect.  XXXII.     (Quae  ad  aures  pertinent.) 


iinstat   autem:    simul   enim   et  surdi   et  muti  fiunt,    et   morbi    aurium  in 
pulmonis  affectus  transeunt,  nonnullisque  tusses  superveniunt  scalpentibus  aurem. 


Die  Otiatrie  von  Aristoteles  bis  Galen.  21 


Die  Ohrenheilkunde  im  Zeitraum  von  Aristoteles  bis  Galen. 

A)  Anatomie  und  Physiologie. 

Die  Fortschritte  der  alexandrinischen  Schule  auf  anatomischem 
Gebiete  kamen  unserem  Fache  wenig  zu  gute.  Dieses  Urteil  basiert 
allerdings  nur  auf  den  Angaben  der  späteren  Autoren,  da  die  Schriften 
der  Alexandriner  nicht  auf  uns  gekommen  sind.  Nach  Galen1)  war  dem 
Erasistratus  (um  330 — 250  v.  Chr.),  der  zuerst  den  Ursprung  der 
Nerven  vom  Gehirn  feststellte,  bereits  der  Gehörnerv  genau  bekannt, 
und  mit  höchster  Wahrscheinlichkeit  läßt  sich  dasselbe  auch  von  Hero- 
philus  (ca.  335 — 280  v.  Chr.),  dem  Entdecker  des  Calamus  im  4.  Ven- 
trikel, annehmen2).  Eine  über  das  Wissen  des  Aristoteles  hinaus- 
gehende Kenntnis  vom  Gehörorgan  scheint  aber  auch  in  dieser  Epoche 
kaum  erworben  worden  zu  sein,  doch  dürfte  mancher  beim  Zerschlagen 
des  Schläfebeins  auf  den  verwirrenden  Anblick  der  zahlreichen  Gänge 
und  Löcher  gestoßen  sein,  welche  Galen  später  mit  einem  Labyrinth 
verglich.  Darauf  deutet  wenigstens  folgende  Stelle  beiCelsus  hin:  „In  aure 
quoque  primo  rectum  et  simpliciter,  procedendo  flexuosum,  juxta  cere- 
brum  in  multa  et  tenuia  foramina  diducitur,  per  quae  facultas  audiendi 
est"  3). 

Dagegen  finden  Avir  hier  bereits  spezielle  Bezeichnungen  der  einzelnen 
Erhabenheiten  und  Vertiefungen  der  Ohrmuschel,  welche  uns  Rufus  von 
Ephesus4)  (ca.  97  n.  Chr.)  übermittelt.  Diese  sind  in  griechischer  und 
lateinischer  Sprache  folgende :  Xößo?  (fibra),  xtspo^iov  (pinna),  IXt£  (helix), 
avftsX^  (anthelix),  v-ÖT/Ji  (concha),  xpayoc  (hircus),  ferner  a.vxfopa.fos,  avct- 
Xößtov. 

In  der  Physiologie  des  Gehörsinns  ist  auch  in  diesem  Abschnitt 
kaum  ein  Fortschritt  zu  verzeichnen.  Die  Theorien  behandelten  mit  Vor- 
liebe den  Schall  resp.  seine  Natur  oder  erläuterten  den  Nutzen  der  Form 
und  Stellung  des  äußeren  Ohres,  wobei  entweder  der  Standpunkt  der 
Stoa  oder  Epikurs  (geb.  341  v.  Chr.)  maßgebend  war.  Als  Beispiele 
wollen  wir  zweier  Römer,  des  Cicero  und  des  Lucretius  Carus 
(98  v.  Chr.  bis  55  n.  Chr.)  gedenken,  um  den  Gegensatz  recht  grell  zu 
beleuchten,  Cicero  spricht  in  seiner  Schrift  „De  natura  deorum"  über 
den  Nutzen,  welchen  das  Offenstehen  der  Ohren,  die  Krümmung  des 
Gehörgangs  (Resonanz)  und  das  Ohrenschmalz  (Hindernis  für  das  weitere 
Eindringen  kleiner  Tiere)  mit  sich  bringt  und  preist  die  feine  Differen- 
zierung des  Gehörs5).  Lucretius  Carus  dagegen,  fußend  auf  Epikurs 
Lehren,  verwirft  derartige  teleologische  Lehren  gänzlich  und  vertritt  fast 
moderne  Anschauungen,  wenn  er  sagt: 

Nil  adeo  quoniam  natum  est  in  corpore  ut  uti 
Possemus,  sed  quod  natum  est,  id  procreat  usum. 


22  Celsus. 

raultoque  creatae  sunt  prius  aures 

quam  sonus  est  auditus  et  ornnia  denique  menibra 
ante  fuere  ut  opinor  eorum  quam  foret  usus. 
(Titi  Lucretii  Cari,  De  rerum  natura,  Lib.  IV,  Vers  832—833;  837—840.) 
Die    Gehörswahrnehmung  entstehe   durch   den   Anprall   körperlicher  Teilchen 
auf  das  Sinnesorgan: 

Corpoream  quoque  enim  vocem  constare  fatendum  est, 
Et  sonitum ;  quoniam  possunt  impellere  sensus. 
(Ibidem  Vers  529,  530.) 

B)  Pathologie  und  Therapie. 

Die  Pathologie  war  vorwiegend  symptomatisch  und  dementsprechend 
erhob  sich  die  Therapie  nicht  über  die  rohe  Empirie.  Die  damals  herr- 
schenden pathologischen  Begriffe  waren:  Ohrschmerz,  Ohrentzündung, 
Ohrgeschwüre,  blutige  oder  eitrige  Ohrenflüsse,  Ohrpolypen,  Schwer- 
hörigkeit, Taubheit  und  Ohrgeräusche.  Die  hervorragenden  Aerzte  unter- 
schieden sich  von  den  übrigen  nur  dadurch,  daß  sie  auf  das  ätiologische 
Moment  größere  Rücksicht  nahmen  und  daher  die  Therapie  mehr 
individualisierend  rationeller  gestalteten,  ferner  dadurch,  daß  sie  dem 
Fache  durch  Heranziehung  der  Chirurgie  größere  Exaktheit  zu  verleihen 
suchten.  In  der  Tat  ist  in  dieser  Periode  in  chirurgischer  Beziehung 
manches  Neue  von  bleibendem  Werte  zu  verzeichnen.  So  finden  wir  eine 
größere  Anzahl  sinnreich  konstruierter  Instrumente  zur  Entfernung  von 
Fremdkörpern,  zur  Beseitigung  von  angeborenen  und  erworbenen  Atre- 
sien  u.  a.  m.  Auch  plastische  Operationen  wurden  ausgeführt,  was  in- 
sofern von  historischem  Interesse  ist,  als  dieselben  bald  völlig  in  Ver- 
gessenheit gerieten. 

Die  zu  jener  Zeit  in  Anwendung  gekommene  materia  medica,  von 
geradezu  überquellendem  Reichtum,  ist  uns  am  ausführlichsten  von  D  i  o- 
skorides")  (1.  Jahrhundert  n.  Chr.)  und  Plinius  dem  Aelteren7) 
(23 — 79  n.  Chr.)  überliefert.  Produkte  des  Tier-,  Pflanzen-  und  Mineral- 
reiches sind  darin  vertreten.  Mit  Vorliebe  wurden  ölige,  ätherische, 
harzige,  bittere,  scharfe,  zusammenziehende  und  betäubende  Mittel,  meist 
in  flüssiger  Form,  verwendet. 

Ein  übersichtliches  Bild  vom  Stande  der  Ohrtherapie  dieses  Zeit- 
raums gewährt  Aulus  Cornelius  Celsus*)8),  der  wohl  selbst  kein 
Arzt  war,  aber  mit  großem  Verständnis  die  vorausgegangene  medizinische 
Literatur  benützte**).     Celsus   empfiehlt  bei  Behandlung  der  Ohraffek- 


*)  Daten  aus  dem  Leben  dieses  Schriftstellers  sind  nur  spärlich  vorhanden. 
Sicher  scheint,  daß  er  zur  Regierungszeit  des  Tiberius  gelebt  und  sich  zeitweilig  in 
Rom  aufgehalten  hat. 

**)  In  Rom  gab  es  zu  dieser  Zeit  zahlreiche  Spezialärzte,  darunter  auch  Ohren- 
ärzte (auricularii). 


Celsus.  23 

tionen  die  größte  Vorsicht,  weil  diese  nicht  immer  auf  das  Organ  be- 
schränkt bleiben,  sondern  zuweilen  mit  Wahnsinn  oder  Tod  enden 
können. 

Außer  diätetischen  Vorschriften,  Purganzen,  Blutentziehungen  be- 
diente er  sich  bei  Ohren  sc  hm  erzen  verschiedener  Kataplasmen,  mit 
warmem  Wasser  getränkter  Schwämme,  endlich  mannigfacher  stets  lauer 
Einträufelungen  in  den  Gehörgang.  Als  solche  wurden  benützt  Oel,  in 
dem  Regeuwürmer  (lumbrici)  gekocht  wurden,  Saft  von  bitteren  Mandeln 
oder  von  Pfirsichkernen  (mali  persici),  mit  oder  ohne  Zusatz  von  Mohn, 
Myrrhe,  Krokus,  Bibergeil,'  Alaun  u.  a. 

Bei  Ohreiterungen,  bei  denen  die  Gefahr  des  Uebergreifens  auf 
das  Gehirn  hervorgehoben  Avird,  empfiehlt  er  Saft  des  Lauches  gemengt 
mit  Honig ,  mit  Zusatz  von  Myrrhe ,  Krokus ,  Bittermandeln  etc. ,  bei 
fließenden  Ohrgeschwüren  Ausspülungen  mit  in  Honig  gekochtem 
Grünspan. 

Zur  Entfernung  von  Würmern  diente  entweder  die  Sonde  oder 
Medikamente,  welche  geeignet  sind,  die  Würmer  zu  töten,  z.  B.  weiße  Nies- 
wurz in  Essig  zerrieben.  Um  eingekrochene  Flöhe  zu  fangen,  soll  man 
Wolle  mit  einer  klebrigen  Substanz,  z.  B.  Harz  oder  Terpentin,  tränken 
und  damit  das  Tier  herausziehen.  Um  Steinchen  und  andere  Fremd- 
körper zu  entfernen,  seien  Ohrlöffel,  Sonden  oder  ein  stumpfer  Haken, 
ferner  Niesmittel  oder  kräftige  Injektionen  mit  der  Ohrenspritze  (aut 
oriculario  clystere  aqua  vehementer  intus  compulsa)  anzuwenden.  Führen 
diese  Methoden  nicht  zum  Ziele,  so  soll  man  den  Kranken  mit  der  ent- 
sprechenden Seite  auf  eine  schwebend  aufgehängte  Tafel  legen  und 
mit  einem  Hammer  auf  die  äußersten  Enden  der  Tafel  schlagen,  um 
durch  die  Erschütterung  den  Fremdkörper  herauszubefördern  *). 

Ist  die  Schwerhörigkeit,  bei  der  man  immer  das  Ohr  näher 
besichtigen  müsse,  durch  Krusten  infolge  von  Geschwüren  ver- 
ursacht, so  sind  erweichende  Einträufelungen  mit  warmem  Oel  oder 
Lauchsaft  u.  a.  anzuwenden  und  danach  Ausspülungen  vorzunehmen;  Ceru- 
minalanhäufungen  sind  durch  die  Sonden  zu  entfernen,  was  durch  voraus- 
gehende Spülungen  erleichtert  wird. 

In  Fällen  von  Atresie  ist  ihre  Mächtigkeit  durch  die  Sonden- 
untersuchung festzustellen.  Oberflächliche  (Bildung  membranöser 
Septa)  sollen  mit  der  Sonde  durchbohrt  werden,  während  bei  in  die 
Tiefe  reichenden  Atresien  Skalpell,  Glüheisen  oder  Aetzmittel  in  An- 
wendung kommen.  Zum  Offenhalten  des  geöffneten  Ganges  wird  ein 
Federkiel   eingelegt,   dessen  Außenfläche  mit   einem  die  Vernarbung  be- 


*)  Außer  dem  Ohrlöffel  (specillutn  auricularium)  [VI.  c.  7.  §§  5 — 9]  führt 
Celsus  an  anderer  Stelle  noch  den  Striegel  (strigilis)  an,  welcher  dazu  dient,  flüssige 
Medikamente  ins  Ohr  zu  gießen  [VI.  c.  7]. 


24  Heraklicles  von  Tarent.     Asclepiades. 

fördernden  Mittel  bestrichen  ist.  Von  chirurgischen  Leiden  er- 
wähnt C eis us  noch  die  Durchreißung  des  Ohrläppchens  durch  schwere 
Ohrgehänge,  die  mittels  blutiger  Naht  geheilt  wird,  und  den  Bruch 
des  Ohrknorpels.  Bei  letzterem  und  anderen  Verunstaltungen  der  Ohr- 
muschel kam  die  berühmte  plastische  Methode  in  Betracht,  welche 
durch  Herbeiziehung  der  benachbarten  Hautdecke  das  Ver- 
lorene zu  ersetzen  trachtete.  Celsus  widerrät  die  Vornahme  dieser 
Operation  bei  sehr  alten  oder  kachektischen  Individuen,  weil  sie  bei  be- 
stehender Disposition  zu  krebsigen  Geschwüren  Anlaß  geben  könne. 

Dies  sind  die  Hauptmomente  der  Otiatrie  des  Celsus,  resp.  die 
kritisch  überarbeitete  Lehre  seiner  Vorgänger  und  Zeitgenossen. 
Celsus  zitiert  ebenso  wie  Galen  viele  Aerzte.  die  sich  als  Therapeuten 
in  der  Otiatrie  einen  Namen  gemacht  hatten. 

Zu  diesen  gehören:  Aelius  Gallus,  Andron,  Andromachus, 
Andronikos,  AntipaterArius,  Aristarchus,  Charixenes,  Clau- 
dius Damonicus,  Chrysanthus,  Crato,  Heras,  Kleon,  Kriton, 
Menophilus,  Musa,  Niceratus,  Themison,  Xenokrates  u.  a.; 
mehrere  dieser  Namen  sind  auch  auf  anderen  Gebieten  nicht  unbekannt. 

Von  bedeutenderen  Aerzten  seien  noch  folgende  erwähnt. 

Heraklides  von  Tarent9)  (Anfang  des  1.  Jahrhunderts  v.  Chr.) 
verwendete  ein  aus  Grünspan,  Kupferfeilen  und  Honig  zusammengesetztes 
Aetzmittel  gegen  wuchernde  Ohrgeschwüre.  Der  Herophileer  10)  Apol- 
lonius  (Mys),  um  30  v.  Chr.,  empfahl  eine  Menge  sehr  zusammen- 
gesetzter Mittel  gegen  eine  Reihe  von  Ohrleiden,  ohne  aber  dabei  rationell 
zu  verfahren.  Die  Formen,  in  denen  er  seine  Mittel  applizierte,  waren 
Collutiones  (z.  B.  warmes  Wasser,  Urin  und  Wein  gemischt),  Infusilia 
(Ziegen-  oder  Schafmilch  erwärmt  mit  Kuhmilch),  Resiccatoria  (Myrrhe 
und  Schwefel  mit  Oel  gemischt),  Insufflatoria  (Pfeffer  zerrieben  mit  Wein). 
Gegen  Schwerhörigkeit  empfahl  er  Fomente,  Instillationen  und  beson- 
dere Diät. 

Flöhe  und  Würmer  entfernte  er  durch  scharfe  Pflanzensäfte  oder 
durch  ein  Dekokt  von  Bittermandelöl,  während  er  fremde  Körper  mittels 
Ohrlöffeln,  Pinzetten,  Häkchen  und  Sonden,  die  mit  in  Terpentin  ge- 
tauchter Wolle  umwickelt  waren,  beseitigte.  Erhärtetes  Ohrenschmalz 
ließ  er  zuerst  durch  eine  Auflösung  von  Salpeter  in  Essig  erweichen, 
worauf  er  das  Ohr  mit  lauem  Wasser  oder  Oel  reinigte. 

Der  berühmte  Asclejjiades ir)  von  Bithynien  (Arzt  in  Rom  im 
1.  Jahrhundert  v.  Chr.)  setzte  ein  Mittel  zusammen,  welches  gegen  jed- 
wedes Ohrleiden  („ad  omnia  auriurn  vitia")  helfen  sollte.  Es  bestand 
aus  Zimmt,  Kassia,  Riedgrasblüte,  Bibergeil,  weißem  und  langem  Pfeffer, 
Amomum,  Myrobalanum,  Weihrauch,  Narde,  Myrrhe,  Krokus  und  Natrum 
in  Essigr  verrieben  und  vor  dem  Gebrauch  mit  derselben  Flüssigkeit  ver- 


Archigenes.     Scribonius  Largus.     Diagoras.  25 


dünnt.  Sein  Mittel  gegen  Ohrenschmerz  war  Einträufelung  von  Oel,  in 
dem  Kellerasseln  oder  eine  afrikanische  Schnecke  gekocht  waren.  Das 
letztere  Mittel  wird  nicht  wundernehmen,  wenn  man  bei  Plinius  liest, 
daß  zu  den  Ohrmitteln  auch  Taubenmist  und  die  Asche  von  Pferdemist 
gezählt  wurden. 

Archigenes12),  hochberühmter  Arzt  in  Rom  zur  Zeit  Trajans, 
empfiehlt  gegen  Ohrenschmerzen  nebst  Aderlässen  und  Klistieren 
auch  warme  Bähungen,  erweichende  Umschläge,  ölige  Einträufelungen. 
Zur  Entfernung  von  Fremdkörpern,  als  deren  Folge  er  zuweilen 
Konvulsionen  beobachtete,  empfahl  er  Erschütterung  des  Kopfes,  ferner 
Niesmittel,  wobei  Mund  und  Nase  verschlossen  wurde  und  die  in  das 
Ohr  eindringende  Luft  den  Körper  in  den  äußeren  Gehörgang  hinaus- 
drückt (Galen,  Comp.  sec.  loc,  Lib.  III).  Auch  soll  Archigenes  nach 
Galen  zuerst  das  von  Löwenberg  in  der  Neuzeit  vorgeschlagene 
Adhäsionsverfahren  (Anleimung  des  Fremdkörpers  an  einen  Pinsel) 
zur  Entfernung  von  Fremdkörpern  ausgeübt  haben.  Gegen  Ohren- 
sausen wird  eine  Mischung  von  Bibergeil,  Schierlingsamen  und  Essig 
angewendet.  Von  größtem  Interesse  aber  ist  seine  Bemerkung  über  die 
Behandlung  Schwerhöriger,  wobei  er  als  Reizmittel  starken  Schall 
anrät,  der  durch  eine  „tuba"  ins  Ohr  geleitet  werden  soll.  Die  schall- 
verstärkende Wirkung  von  in  den  Gehörgang  eingeführten  Röhren  war 
somit  schon  Archigenes  13)  bekannt. 

Endlich  sei  des  S er ib  onius  Largus  14),  eines  im  1.  Jahrhundert 
n.  Chr.  zur  Zeit  des  Kaisers  Claudius  lebenden,  römischen  Arztes,  gedacht, 
der  allerlei  Mittel  gegen  den  Ohrenschmerz  empfahl,  deren  bestes 
die  Flos  picis  (der  mit  Wolle  aufgefangene  Dunst  von  kochendem  Pech) 
mit  Oel  vermischt  wäre.  Fleischige  Exkreszenzen  (Polypen)  im  Ohre 
wurden  mit  Glüheisen  oder  mit  einem  aus  Alaun,  Grünspan  und  Atra- 
mentstein  zusammengesetzten  Mittel  zerstört. 

Es  lag  im  Geiste  der  damaligen  Zeit,  möglichst  künstliche  Mittel 
anzuwenden,  die  man  für  den  wesentlichsten  Teil  der  Arzneikunde  hielt. 
Dabei  wurde  ohne  kritische  Sichtung  und  ohne  Indikationsstellung  ver- 
fahren. Zu  den  größten  Verirrungen  dieser  Epoche  gehört  der  Mißbrauch 
mit  Opium,  der  schon  von  Diagoras  von  Cypern*)  15),  einem  Arzt,  der 
von  Plinius  in  seiner  Naturgeschichte  erwähnt  wird,  getadelt  wurde,  und 
der  Unfug  mit  scharfen  Mitteln.  Erzählt  doch  Galen,  daß  ein  Arzt  bei 
entzündlichem  Ohrenschmerz  Pfeffer  ins  Ohr  gebracht  habe,  worauf  die 
Patientin,  vor  Schmerz  rasend,  fast  zum  Selbstmord  getrieben  wurde. 
Weniger    drastisch,    doch    immerhin    schädlich    war    das   Eingießen   von 


*)  Unberechtigterweise  wird   er   von  manchen  mit  dem  bekannten  Diagoras 
von  Melos  identifiziert. 


26  Galen. 

kaltem  Wasser  ins  Ohr,  worüber  Archigen  es  berichtet.  Zu  welch' 
ekelhaften  Mitteln  (Rindsurin,  Ziegenurin  etc.)  zuweilen  gegriffen  wurde, 
davon  geben  die  obigen  Auszüge  genugsam  Zeugnis. 

*)  Galen,  Comment  de  placit.     Hippocrat.  et  Plat.     Lib.  VI,  Cap.  6. 

2)  Galen,  De  anat.  administr.     Lib.  IX. 

3)  De  medicina  lib ri  octo.    Lib.  VIII,  Cap.  1. 

4)  De  appellationibus  part.  corp.  buni.     Lib.  I,  Cap.  VI. 

5)  Cicero,  De  natura  deorum.     Lib.  II,  Cap.  57  u.  58. 

6)  De  materia  medica  libri  sex. 

7)  De  re  medica.     Lib.  I,  Cap.  9 — 12. 

8)  De  medicina  libri  VIII.    Lib.  VI,  Cap.  7 ;  Lib.  VII,  Cap.  8  u.  9. 

9)  Galen,  De  conipos.  medic.  sec.  loc.     Lib.  III,  Cap.  1. 
10)  Galen,  ibidem. 

n)  Galen,  ibidem;  Celsi,  De  med.  libri  VIII.     Lib.  VI,  Cap.  7. 

12)  Galen,  De  comp.  med.  sec.  loc.     Lib.  III,  Cap.  I. 

13)  Postea  vero  acutis  vocibus  assiduis  et  vicissim  gravibus  inclamamus  et  per 
tubam  sonitu  inmisso  malum  depellere  conamur.     Galen,  ibidem. 

14)  Compositiones  medicae.  Cap.  V  (ad  aurium  dolorem). 

15)  Dioscorides,  De  materia  medica.  Lib.  IV,  Cap.  65:  'Epaahtpaxo;  uivtoc 
Atocfopav  tpfjolv  äKOOov.i\xä^t'.^  auxoü  tyjv  ypyjstv  litt  t(I)v  tuxa'kh(VttßV  v.al  öcpO-a'/.juomojv, 
Stä  tö  ajxßXocuitli;  etvat  v.al  xapamv.ov. 

16)  Aetii  medici  Tetrabiblos  IL     Sermo  I,  Cap.  120. 

Von  den  bei  Ausgrabungen  gefundenen  antiken  chirurgischen  Instru- 
menten, welche  otiatrischen  Zwecken  dienten,  erwähnen  wir  hier  nach  Gurlt  fol- 
gendes: Freudenberg  führt  in  den  Jahrbb.  des  Vereins  von  Altertumsfreunden  im 
Rheinlande  XXV,  1857,  S.  106  nebst  anderen  Instrumenten  auch  kleine,  nur  6 — 8V2  cm 
lange  Ohrlöffel  und  Sonden  an,  welche  im  Bette  des  Rheins  bei  Bonn  1856  auf- 
gefunden wurden :  die  eine  Sonde  besaß  einen  winklig  abgebogenen  Griff. 

In  dem  Altertumsmuseum  zu  Homburg  befinden  sich  ca.  30  ohrlöffelartige 
Instrumente,  die  am  anderen  Ende  spitzig  wie  Zahnstocher  sind.  Ohrlöffel  und  Ohr- 
sonden finden  sich  ferner  in  der  römischen  Abteilung  des  Paulusmuseums  zu  Worms 
und  im  Antiquarium  des  Neuen  Museums  in  Berlin.  In  neuerer  Zeit  wurden  ähn- 
liche Instrumente  in  größerer  Anzahl  in  Rom  selbst,  auf  der  Tiberinsel  (inter  duos 
pontes)  aufgefunden.  (Die  Ohrlöffel  wurden  außer  zur  Entfernung  des  Ohren- 
schmalzes auch  zur  Entfernung  von  Fremdkörpern  aus  dem  Ohre  oder  anderen 
Kanälen  gebraucht.) 

Anschließend  seien  noch  die  bei  Ausgrabungen  in  Griechenland  und  Italien 
(Veji)  in  den  Aeskulapheiligtümern  aufgefundenen  Ohrmuscheln  aus  Terrakotta 
erwähnt,  welche  als  Weihgeschenke  (donaria)  für  die  erfolgte  Heilung  oder  als 
Wunschgeschenk  für  die  erflehte  Genesung  eines  Ohrenleidens  dem  Aeskulap  dar- 
gebracht wurden    1. 

Galen 

(130—200  n.  Chr.). 
Galen,   dessen  Schriften  fast  vierzehn  Jahrhunderte  hindurch   die 
Medizin    beherrschten    und    den    wissenschaftlichen    Fortschritt    vermöge 


*)  G.   Alexander    (Wien),    Zur    Kenntnis    der    etruskischen    Weihgeschenke. 
Anatomische  Hefte  1905. 


Galen.  27 

ihrer  starren  Autorität  lähmten,  verdankt  die  Otiatrie  verhältnismäßig 
nur  weniges.  Seine  Anatomie,  nur  an  Tieren  (Hunden  und  Affen)  ge- 
übt, hat  wenig  dazu  beigetragen,  das  bisherige  Dunkel  im  Baue  des 
inneren  Ohres  zu  erhellen.  Der  von  ihm  in  die  Ohranatomie  eingeführte 
Terminus  ..Labyrinth"  für  das  innere  Ohr  ist  bezeichnend  für  seine  Un- 
kenntnis der  anatomischen  Details  des  Gehörorgans.  Seine  Therapie 
basierte  auf  der  Tradition  der  Vorgänger,  die  allerdings  einer  mehr  ratio- 
nellen Kritik  unterworfen  wurden. 

Anatomie  und  Physiologie.  Im  Buche  „De  usu  partium"  erörtert 
er  teleologisch  die  Gründe,  weshalb  die  Ohrmuscheln  knorpelig  seien, 
und  welche  Nachteile  es  hätte,  wenn  sie  aus  knöcherner  oder  fleischiger 
Substanz  beständen,  und  spricht  über  den  Nutzen,  welchen  die  Buchten 
und  Biegungen,  sowie  die  Unbeweglichkeit  oder  geringe  Beweglichkeit 
des  menschlichen  Ohres  mit  sich  brächten.  Wären  die  Ohren  des  Men- 
schen so  groß  wie  z.  B.  bei  Pferden,  Eseln,  Hunden  und  anderen  Tieren, 
die  große  Ohren  besitzen,  so  müßte  dies  zu  großen  Unbequemlichkeiten 
führen,  da  die  Kopfbedeckung  durch  Hüte,  Helme  u.  a.  erschwert  wäre1). 

Die  Teile  des  Schläfenbeins  finden  sich  im  Buche  „De  ossibus  ad 
tirones"  sehr  dürftig  beschrieben  2),  doch  erwähnt  er  bereits  den  Warzen- 
fortsatz, den  Proc.  styloideus  und  zygomaticus. 

Vom  Trommelfell  scheint  Galen  kaum  eine  auf  Anatomie  basierte 
Vorstellung  gehabt  zu  haben3).  Der  äußere  Gehörgang  erstreckt  sich 
nach  ihm  bis  zur  Dura  mater  und  tritt  mit  dem  Hörnerven  in  Berührung4), 
welcher  durch  die  zwischen  dem  Gehörgang  und  dem  Nerven  liegende 
harte  Knochenmasse  gegen  die  Wirkung  zu  starken  Schalles  geschützt 
wird.  Von  seiner  krassen  Unkenntnis  der  Ohranatomie  zeugt  seine  An- 
sicht, daß  er  die  vor  dem  Nerv  liegenden  Teile  des  Gehörorgans  mit 
der  Kristallfeuchtigkeit  des  Auges  vergleicht 5). 

Die  einzige  positive  Leistung  der  Galenischen  Ohranatomie  be- 
steht in  der  Unterscheidung  des  Gehör-  und  Antlitznervs,  die  als  Zweige 
des  von  Marin us  ,J),  dem  Lehrer  Galens,  aufgestellten  fünften  Nerven- 
paares gedacht  sind,  und  die  Beschreibung  des  Verlaufs  des  N.  facialis. 
Die  eigentliche  Ausbreitung  des  N.  acusticus  vermochte  Galen  jedoch 
nicht  festzustellen.  Was  den  Verlauf  des  Facialis  anbetrifft,  so  wußte 
Galen,  daß  dieser  Nerv  nach  dem  Eintritt  in  den  inneren  Gehörgang, 
den  die  Alten  das  blinde  Loch  (Foramen  coecum)  nannten,  durch  einen 
für  ihn  bestimmten  gekrümmten  knöchernen  Kanal  zieht,  um  dann  aus 
dem  Griffelloche  hervorzutreten  7). 

Das  innere  Ohr,  dessen  einzelne  Teile  ihm  als  unentwirrbar  erschienen, 
wird,  wie  schon  erwähnt,  mit  einem  Labyrinth  verglichen  8). 

Zu  den  oben  mitgeteilten  physiologischen  Bemerkungen  wollen  wil- 
der Vollständigkeit  halber  noch  hinzufügen,    daß  Galen  durch  das  be- 


28  Galen. 

kannte  Beispiel  Hadrians,  der  wegen  Schwerhörigkeit  die  hohle  Hand 
hinter  dem  Ohre  zu  halten  pflegte,  den  Nutzen  der  Ohrmuschel  für  die 
Schallaufnahme  illustriert 9).  Aufgabe  des  Gehörnervs,  der  weder  zu  den 
harten,  noch  weichen  Nerven  gehöre,  sei  es,  die  Schalleindrücke  zum 
Gehirn  fortzuleiten 10).  Am  zuträglichsten  für  das  Ohr  ist  die  mensch- 
liche Stimme  und  Sprache11). 

Pathologie.  Die  Ohrkrankheiten  werden  von  Galen  in  fünf  Klassen 
eingeteilt:  'ikaXyia,  auris  dolor;  BapOYjXofa,  auditus  gravitas;  Kw'f&atc,  sur- 
ditas;  Ilapaxooots,  obauditio;  ITa(oaxo6a;iaTa,  auditus  hallucinationes*) 12). 
Wie  Hippokrates,  beobachtete  auch  Galen  eitrige  Ohrentzündungen 
bei  Infektionskrankheiten.  An  einer  anderen  Stelle  spricht  er  von  den 
Ohrenschmerzen  (ex  frigiditate,  ex  aqua  medicata,  ex  inflammatione, 
ex  flatulento  spiritu  aut  crassis  et  viscosis  humoribus),  von  Ohr- 
geschwüren, Schwerhörigkeit  und  0 h r e n k  1  i n g e n  1 3).  Schwer- 
hörigkeit und  Taubheit  können  durch  eine  L'äsion  des  Gehörorgans  selbst 
oder  des  Hörnervs  oder  endlich  durch  eine  Läsion  des  Ursprungs  des  Hör- 
nerven im  Gehirne  bedingt  sein.  Aus  einer  Bemerkung  Galens  scheint 
hervorzugehen,  daß  die  mit  Facialparalyse  komplizierten  Hörstörungen 
seiner  Beobachtung  nicht  entgangen  sind  und  er  erwähnt  auch  die  dabei 
zuweilen  auftretende  Sensibilitätsstörung  an  der  betreffenden  Gesichtshälfte. 

Therapie14).  Das  wichtigste  Grundgesetz  ist  nach  Galen,  in 
jedem  Fall  zu  individualisieren,  ein  Prinzip,  das  die  meisten  Aerzte  vor 
Galen  aufs  gröblichste  verletzten.  Zu  einer  rationellen  Behandlungs- 
weise  könne  man  nach  Galen  nur  gelangen,  wenn  man  immer  die  das 
Leiden  bedingende  Ursache  berücksichtige.  Die  Beseitigung  der  krank- 
haften Symptome  geschieht  durch  Anwendung  des  Gegensatzes,  d.  h. 
Hitze  soll  durch  Kälte,  Kälte  durch  Hitze,  Trockenheit  durch  Anfeuch- 
tung u.  s.  w.  überwunden  werden. 

Ein  anderes  wichtiges  Gesetz,  welches  Galen  aufstellte,  ist  die  mög- 
lichste Vermeidung  der  Narkotika,  namentlich  des  Opiums,  das  er  nur  in  den 
dringendsten  Fällen  anwendet,  weil  es  die  Sinne  abstumpfe  und  schwäche ;  auch 
solle  man  stets  von  den  mildesten  Mitteln  allmählich  zu  stärkeren  ansteigen. 

Die  meist  öligen  Mittel  wurden  mit  löffeiförmigen  Instrumenten 
und  stets  warm  ins  Ohr  gebracht.  Bemerkenswert  ist  auch  der  Rat, 
bei  entzündlichem  Ohrenschmerz  das  Ohr  nicht  zu  berühren  und  nach  dem 
Einträufeln  mit  Wolle  zu  verstopfen.  Von  Instrumenten  waren  die 
Ohrsonde,  [tTjXwus,  [WjXy]  s£wtcc;,  [MjXwcpis  (specillum  auriculare),  der  Ohr- 

*)  In  der  Schrift  raXiqvoü  elaocfürp]  •?)  '.'/xpö?,  Galeno  ascripta  introductio  seu 
raedicus,  eine  der  zweifelhaften  Galenischen  Schriften,  werden  angeführt :  Quetschung 
der  Ohren  (4j  rceptd-Xasig),  Anschwellung  (tö  izxzp''r;oni.a),  Bruch  des  Knorpels,  Ueberschuß 
oder  Mangel  des  Ohrenschmalzes  (•<-,  xö^eXi'?),  Schwerhörigkeit  (4)  JiapuYptoic*).  Taubheit 
■ri  xuVf  (»-•.<;),  Eiterausfluß  (jiuoüpusic),  übelriechender  Ausfluß  (p^üu.«  fo-üosq).    Cap.  15. 


Galen.  29 

löffel,  (OTOfXo^i?,  (auriscalpium),  die  Pinzette,  Xaßtc,  volsella,  und  die  Ohr- 
spritze,  6  wr.xö-  xXoarqp,  wTrfyur/]? ,  clyster  auricularis,  zur  Applikation 
von  Medikamenten  in  Anwendung-. 

Spezielle  Therapie.  Bei  Ohre nsch merz  infolge  von  Erkäl- 
tung empfiehlt  Galen  erwärmende  Mittel.  Mit  Vorliebe  benützt  er 
Wolfsmilch  oder  Pfeffer  mit  altem  Oel  vermischt,  desgleichen  Narden, 
Rauten  oder  Majoranöl.  Landleute  pflegen,  wie  er  sagt,  sich  des  Oels 
zu  bedienen,  in  welchem  Zwiebel  gebraten  worden  sind. 

Bei  entzündlichem  Ohren  seh  merz  kommen  fette  oder  ölige 
Mittel  in  Betracht,  wie  Rosen-  oder  Nardenöl,  Gänse-  und  Hühnerfett 
und  bei  sehr  heftigen  Schmerzen  ausnahmsweise  Opium  in  Milch  und 
Eiweiß,  mit  oder  ohne  Zusatz  von  Bibergeil,  oder  Opium  in  Most  gelöst, 
welch  letzterer  mehr  schmerzlindernd  wirken  soll  als  süßer  Wein. 

Gegen  0  h  r  e  n  s  c  h  m  e  r  z ,  der  durch  Ansam  mlung  von  Dünsten 
und  zähen  Feuchtigkeiten  veranlaßt  ist,  empfiehlt  er  zweckmäßige  Diät, 
innere  Mittel,  welche  geeignet  sind,  lösend  zu  wirken,  und  örtlich  Pastillen 
oder  Kollyrium,  aus  verschiedenen  Substanzen  hergestellt,  unter  denen 
z.  B.  Salpeter,  ausgewittertes  Kali,  Zimt,  Kassia,  Natterwurz,  Zaunrübe, 
Tausendguldenkraut  u.  a.   aufgezählt  werden. 

Gegen  Geschwüre  verwendete  er  Zubereitungen  aus  Glaucium 
und  Essig.  Kollyrien  aus  Krokus  und  Rosen,  aus  Myrrhe,  Galläpfel,  Eisen- 
rost, Alaun  u.  a.  m.  Von  chirurgischem  Interesse  ist  sein  Vorschlag,  bei 
Karies  des  Gehörgangs  hinter  dem  Ohre  einen  Einschnitt  zu  machen  und 
durch  diesen  die  kariöse  Stelle  auszuschaben.  (De  comp.  sec.  loc,  Lib.  III.) 
Zur  Extraktion  von  Fremdkörpern  wurden  mit  klebriger 
Harzwolle  überzogene  Ohrlöffel  angewendet  und  aufgequollene  Körper 
(Bohnen,  Erbsen)  mit  einer  Spatel  zerstückelt  und  dann  entfernt. 

Erwähnenswert  ist  die  bereits  von  Galen  beobachtete  Tatsache, 
daß  bei  Ohreiterungen  der  Eiter  oft  plötzlich  ins  Gehirn  vordringe  und 
die  Veranlassung  eines  Schlagflusses  (apoplexia)  werde*). 

Gegen  Ohrwürmer  bedient  er  sich   der  Einblasung  von  gepul- 
verter,   weißer  Nieswurz  oder   der  Einträufelung  von  Brombeersaft  u.  a. 
Die  Therapie  bei  subjektiven  Oh rge rauschen  bestand  in  der 
Abstumpfung  der  Empfindlichkeit  durch  Opium  oder  Mandragorasaft  oder 
in  der  Anwendung  von  zerteilenden  Mitteln. 

Sehr  reichhaltig  ist  die  Behandlungsweise  Galens  bei  Schwer- 
hörigkeit und  Taubheit,  wobei  er  vorwiegend  das  ursächliche  Moment 
berücksichtigt.  Dahin  gehört  eine  verdünnende  Diät,  Purganzen,  Kaumittel 
und  örtliche  Medikamente,  welche  dicke  und  zähe  Säfte  verdünnenund  auflösen. 


*)  Nicolai  Nicoli  Florentini  philosophi  medicique  praestantissimi  Sermo  tertius 
de  membris  capitis.  Track  VI.  De  aegritudinibus  aurium.  Cap.  IV.  De  apostemate 
auris  p.  207.     Venetiis  1533. 


30  Galen. 

Zum  Schlüsse  überliefert  er  uns  die  therapeutischen  Vorschriften  einer 
Reihe  von  Aerzten,  über  die  wir  im  vorigen  Abschnitt  bereits  berichtet  haben. 

Galens  Therapie  wurde  zwar  in  den  folgenden  Jahrhunderten 
wesentlich  erweitert,  jedoch  nicht  rationeller  gestaltet.  Der  gesunde 
Kern  seiner  Ansichten  ist  im  Gegenteil  durch  einen  Wust  von  Aber- 
glauben und  planloser  Empirie  verhüllt  worden.  Galens  anatomische 
Kenntnisse,  die  durch  Jahrhunderte  als  feststehende  Tatsachen  anerkannt 
waren,  haben  erst  im  16.  Jahrhundert  durch  den  Aufschwung  der  ana- 
tomischen Wissenschaft  in  Italien  die  richtige  Korrektur  erfahren. 

Aus  der  nachgalenischen  Epoche  sind  noch  anzuführen:  Antyllus,  der  be- 
rühmte Chirurg;  Philumenus  (3.  Jahrh.  n.  Chr.)  und  Caelius  Aurelianus 
(5.  Jahrh.  n.  Chr.).  von  dem  gute  Beobachtungen  der  Symptome  und  Stadien  der 
akuten  Trommelhöhlenentzündung  herrühren.  Caelius  Aurelianus  fand,  daß  bei  lang- 
dauernder  Eiterung  der  Knochen  ergriffen  wird  und  sagt,  daß  bei  Otalgie  die  eigene 
Stimme  den  Schmerz  steigert.  (De  rnorb.  acut,  et  chron..  Lib.  VIII.)  Utendum  etiam 
requie  corporis  atque  abstinentia  et  silentio  suo.  Etenim  officio  aeeepta  voce  aures 
necessario  commoventur.  et  propterea  maiores  dolores  efficiuntur.  Zur  Abtötung  von 
Insekten,  welche  in  den  Gehörgang  eingedrungen  waren,  empfahl  er  Speichel  von 
einem  nüchternen  Mensehen.  Erwähnt  seien  noch  Marcellus  Empiricus  (4.  Jahrh.) 
und  Cassius  Felix  (5.  Jahrh.  n.  Chr.),  welche  sich  in  ihren  Schriften  mit  Ohr- 
erkrankungen befaßten.  Philagrios,  ein  alexandrinischer  Arzt  irn  4.  Jahrh.  n.  Chr.. 
der  bei  Taubheit,  falls  sich  keine  andere  Ursache  feststellen  ließ,  eine  Nervenver- 
letzung annahm.     (Vergl.  Kühn,  Bibliotheca  medica.    1794.) 

')  De  usu  part.  Lib.  XI,  Cap.  12.  Nam  si  durae  penitus  aeque  ac  ossa 
essent,  aut  molles  ut  carnes,  duorum  alterum  necessario  aeeideret,  aut  enim  rum- 
perentur  facile,  aut  omnino  contunderentur.  Ob  eam  sane  causam  cartilaginosae 
extiterunt  ...  At  hominibus  magnitudo  tanta  esset  incommoda,  dum  caput  pileis, 
aut  galeis,  aut  aliis  id  genus  tegere  vellent,  quod  non  raro  erant  facturi  .  .  . 
Merito  igitur  aut  nihil  omnino  in  hominibus  moventur,  aut  exiguum  quendam  atque 
obscurum  habent  motum. 

2)  De  ossibus  ad  tirones.     Cap.  I. 

3)  De  usu  part.     Lib.  VIII,  Cap.  VI. 

4)  Method.  medendi.     Lib.  VI. 

5)  De  Symptom,  causis.     Lib.  I,  Cap.  III. 

6)  De  nervorum  dissectione.     Cap.  IV. 

7)  De  usu  partium.  Lib.  VIII,  Cap.  VI:  Ad  aures  sane  descendere  etiam 
omnino  propaginem  quandam  a  cerebro  erat  necesse,  sensibile  extrinsecus  oecursurum 
excepturam .  .  . 

8)  De  nervorum  dissectione.     Cap.  IV. 

9)  De  usu  part.  Lib.  XI,  Cap.  XII.  Cujus  rei  Hadrianus  Romanorum  consul 
testis  est  locupletissimus,  qui,  quuni  sensum  hunc  laesum  haberet,  manus  cavas,  quo 
audiret  facilius,  a  posterioribus  ad  anteriore  speetantes  auribus  obtendebat. 

10)  De  Symptom,  causis.     Lib.  I,  Cap.  VI. 
n)  Ibidem. 

''-')  De  Symptom,  causis.     Lib.  I,  Cap.  VI. 

13)  De  compos.  medicam.  sec.  loc.     Lib.  III,  Cap.  T. 

,4)  Ibidem. 


Die  Otiatrie  im  Mittelalter. 


a)  Die  Byzantiner. 

Dem  verdienstvollen  Wirken  Galen s  folgen  Jahrhunderte  trostloser 
<  >ede  und  Verfalls,  in  denen  wir  umsonst  nach  einem  Fortschritt  in  der 
Medizin  überhaupt  und  noch  weniger  in  der  Otologie  suchen.  Erst  im 
6.  Jahrhundert  treten  Männer  auf  den  Plan,  die  sich  als  Therapeuten  und 
Chirurgen  bleibenden  Ruhm  erwarben  und  auch  die  Otologie  in  den  Kreis 
ihrer  Beobachtungen  zogen.  Es  sind  dies  Alexander  von  Tr alles, 
Aetius  und  Paul  von  Aegina,  von  denen  ersterer  vorwiegend  in 
arzneilicher,  letzterer  in  chirurgischer  Beziehung,  unser  Interesse  be- 
sonders in  Anspruch  nimmt.  Ihre  Werke  waren  die  letzten  Blüten  der 
alexandrinischen  Heilwissenschaft  und  dienten,  gleich  denen  des  Galen 
und  Aetius,  dem  Eklektizismus  aller  späteren  Aerzte  zur  Folie. 

Das  Werk  des  Alexander  Trallianus  hat  für  die  Geschicht- 
schreibung den  hohen  Wert,  daß  es  nicht  nur  die  Bedeutung  ihres  Autors, 
sondern  auch  die  Bedeutung  einer  ganzen  Kulturepoche  der  Vergessen- 
heit entriß.  Seine  Werke  entrollen  uns  ein  Bild  des  ärztlichen  Wissens 
der  spätalexandrinischen  Kulturepoche,  deren  Nachwirkung  entstellt  und 
verstümmelt  in  der  arabischen,  arabistischen  und  scholastischen  Medizin 
Jahrhunderte  hindurch  zu  spüren  ist. 

Bei  der  spärlichen  Anzahl  von  Quellen,  über  welche  die  Geschichte 
der  Ohrenheilkunde  verfügt,  sind  die  Bücher  Alexanders  von  beson- 
derer Wichtigkeit  und  überraschen  durch  die  Fülle  ihres  Inhalts  auf 
diesem  Gebiete,  der  als  Gradmesser  des  otiatrischen  Wissens  weiter  Zeit- 
räume angesehen  werden  muß. 

Alexander  von  Tralles 

(525—605  n.  Chr.). 

Alexander  wurde  zur  Zeit  des  Kaisers  Justinians  in  der  lydi- 
schen  Stadt  Tralles  als  Sohn  des  angesehenen  Arztes  Stephan us  ge- 
boren. Seine  Brüder,  in  anderer  Richtung  noch  berühmter  als  er,  waren 
Anthemius,  der  Erbauer  der  Sophienkirche  in  Konstantinopel,  Metro- 
dorus,  ein  hervorragender  Grammatiker,  Olympius,  ein  trefflicher  Jurist, 
und  Dioskorus,  ein  ausgezeichneter  Arzt.    Alexander  erweiterte  die 


:,_'  Alexander  von  Tralles. 


reichen  medizinischen  Kenntnisse,  die  er  sich  durch  den  Unterricht  seines 
Vaters  und  des  Vaters  seines  Freundes  Cosmas  erworben,  auf  Reisen  nach 
Italien,  Afrika,  Gallien  und  Spanien,  indem  er  überall  ohne  Vorurteil  das 
ihm  richtig  Scheinende  aus  Theorie  und  Praxis  aufnahm.  Später  wirkte 
er  als  Archiater  oder  als  Lehrer  in  Rom  und  hinterließ  der  Nachwelt 
seine  im  Greisenalter  aufgezeichneten  Erfahrungen ,  ein  Denkmal  be- 
wunderungswürdigen, wissenschaftliehen  Strebens,  das,  wie  Meyer  sagt, 
an  Dauerbarkeit  und  Glanz  wetteifert  mit  dem  herrlichen  Tempel  seines 
ältesten  Bruders.  Obwohl  Alexander  die  Schriften  seiner  Vorgänger 
benützt  und  oft  zitiert,  wußte  er  sich  auch  gegenüber  der  damals  herr- 
schenden blinden  Autorität  Galens  eine  große  Selbständigkeit  des  Urteils 
zu  bewahren. 

Das  Wirken  Alexanders  wurde  von  vielen  medizinischen  Geschichts- 
forschern*) gewürdigt,  am  gründlichsten  und  mit  den  weit  besten  Aus- 
blicken jedoch  durch  den  leider  zu  früh  dahingeschiedenen  Prof.  Pusch- 
mann  zu  der  ihm  gebührenden  Anerkennung  gebracht. 

So  groß  aber  auch  die  Verdienste  Alexanders  um  die  Förderung 
anderer  medizinischer  Disziplinen,  z.  B.  der  Ophthalmologie,  sein  mögen, 
so  befremdlich  erscheint  uns,  nach  unseren  heutigen  Anschauungen, 
seine  Pathologie  und  Therapie  der  Ohrenkrankheiten,  abgesehen  von  einer 
Anzahl  treffender  Bemerkungen,  die  den  scharfsinnigen  Beobachter  ver- 
raten. Ueber  seine  Otiatrie,  die  den  Inhalt  des  3.  Buches  (Kap.  1 — 7) 
seines  therapeutischen  Werkes  bildet1)  äußert  sich  Puschmann  folgender- 
maßen: „Erfreulicherweise  liefert  gerade  dieser  Teil,  der  sonst  von  an- 
deren Autoren  mit  einer  gewissen  Nachlässigkeit  behandelt  wird,  ein 
treffliches  Zeugnis  für  die  praktische  Erfahrung  sowohl,  wie  für  die  litera- 
rischen Kenntnisse  Alexanders." 

Die  pathologischen  Begriffe,  unter  denen  er  seine  Erfahrungen 
subsumiert,  sind:  1.  der  Ohrenschmerz,  2.  die  Ohrentzündung,  3.  der 
katarrhalische  Ohrenschmerz,  4.  Ohrensausen,  5.  Schwerhörigkeit  und 
Taubheit. 

Als  Ursachen  des  Ohrenschmerzes  führt  er  Dyskrasien ,  Ent- 
zündungen, Verstopfungen,  Kälte  oder  Hitze  an.  Die  wissenschaftliche 
Differentialdiagnose  wird  nun  folgendermaßen  gemacht:  „Die  Vermutung, 
daß  der  Schmerz  hauptsächlich  von  der  Verstopfung  zu  dicker  und  zäher 
Säfte  herrührt,  ist  wissenschaftlich  dann  berechtigt,  wenn  der  Kranke 
das  Gefühl  der  Schwere  im  Kopfe  hat,  und  wenn  die  genossenen  Speisen 
und  Getränke  zu  kalte  und  feuchte  Säfte  zu  erzeugen  geeignet  waren. 
Sollte  Spannung  vorhanden  sein  und  der  Kranke  dabei  durchaus  keine 
Schwere  im  Kopfe  oder  in  den  Ohren  fühlen,  so  ist  es  klar,  daß  blähende, 


*)  Dimitriades  1.  c. 


Alexander  von  Tralles.  33 


dicke  Luft,  die  keinen  Ausweg  finden  kann,  hauptsächlich  die  Ursache 
des  Schmerzes  bildet.  Wenn  jedoch  das  Gefühl  der  Schwere  und  Span- 
nung mit  Hitze  und  klopfenden  Schmerzen  verbunden  ist,  so  darf  man 
mit  Sicherheit  annehmen,  daß  dem  Schmerze  Entzündung  zu  Grunde  liege, 
welche  durch  den  Zufluß  erhitzten  Blutes  hervorgebracht  ist." 

Der  Sitz  einer  Entzündung  des  Gehörorgans  ist  nach  Alexander 
bald  in  der  den  Gehörgang  auskleidenden  Haut,  bald  in  dem  in  der  Tiefe 
verlaufenden  Gehörnerv  zu  suchen.  Manchmal  führe  dieser  Zustand,  ver- 
möge der  nachbarlichen  Beziehung  des  Ohres  zum  Gehirn,  sogar  den 
Tod  herbei,  sei  es  durch  Fieber,  Wahnsinn  oder  ein  krampfartiges  Leiden. 
Bei  jüngeren  Personen  komme  es  nicht  so  rasch  zur  Eiterung,  weil  die 
Heftigkeit  des  Schmerzes  die  Eiterbildung  vereitle. 

Sobald  jedoch  die  Entzündung  in  Eiterung  überzugehen  droht,  wür- 
den die  Kranken  vom  Schmerze  befreit  und  fänden  Heilung.  Chronische 
Otorrhoen  gehen  nach  ihm  vom  Gehirne  aus.  Der  Entzündung  stehen 
die  katarrhalischen  Schmerzen  nahe. 

Blutungen  aus  den  Ohren  können  Zeichen  der  Krise  sein  oder 
Vorläufer  schwerer  Krankheiten.  Sie  sind  als  gefährliches  Symptom  an- 
zusehen (Dimitriades,  1.  c). 

Das  Ohrensausen  entsteht  durch  blähende  dicke  Luft,  die  keinen 
Ausweg  finden  kann,  oder  durch  zähe,  dicke  Säfte.  Im  ersteren  Falle 
ist  es  bald  vorhanden,  bald  wieder  verschwunden,  im  letzteren  Falle 
dagegen  tritt  es  nicht  plötzlich  ein,  sondern  nimmt  allmählich  zu.  Zu- 
weilen beruht  es  auf  einer  Schwäche,  wie  sie  nach  Krankheiten  zurück- 
bleibt, oder  auf  einer  reizbaren  Empfindlichkeit  des  Gehörsinns,  wobei 
die  Kranken  die  Dämpfe  nach  oben  steigen  fühlen.  Manchmal  hat  das 
Ohrensausen  kritische  Bedeutung  oder  begleitet  Krankheiten  des  Gehirns. 

Der  Verlust  des  Gehörs  ist  entweder  mit  Fieber  verbunden  oder 
entwickelt  sich  ohne  dieses.  Heilbar,  meint  Alexander,  sei  die  Taub- 
heit dann,  wenn  sie  von  der  Galle  herrühre,  die  nach  oben  gestiegen  ist. 
Schwer  oder  gar  nicht  zu  beseitigen  sei  sie  dagegen  in  jenen  Fällen,  in 
denen  sie  von  zähen  und  zu  dicken  Säften  verursacht  wird,  die  sich  aufs 
Gehör  geworfen  haben,  z.  B.  bei  der  Schlafsucht,  der  Betäubung,  dem 
chronischen  Kopfschmerz  und  anderen  Leiden.  Außer,  den  genannten 
pathologischen  Zuständen  führt  er  an :  Fremdkörper,  Würmer  und  Schmutz 
in  den  Ohren. 

Die  Therapie  Alexanders  zeichnet  sich  durch  große  Reich- 
haltigkeit aus  und  basiert  anscheinend  auf  strenger  Indikationsstellung. 
Freilich  rationell  würde  sie  nur  sein  können,  wenn  die  Pathologie  auch 
eine  anatomische  Grundlage  statt  der  spekulativ  humoralpathologischen 
besessen  hätte.  Immerhin  unterscheidet  sie  sich  durch  die  Methodik  vor- 
teilhaft von  der  späterer  Autoren. 


Politzer,  Geschichte  der  Ohrenheilkunde.    1. 


34  Alexander  von  Tralles. 


Wie  sehr  Alexander  auf  Gründlichkeit  bedacht  war,  beweist  die 
Vorsicht,  die  er  bei  Anwendung  des  Opiums  anriet,  welches  zu  jener 
Zeit  bei  Ohrenschmerz  aller  Art  vielfach  mißbraucht  wurde.  Nach 
Alexander  darf  es  nur  ein-  oder  zweimal  angewendet  werden,  da  ihm 
Kranke  bekannt  sind,  die  durch  Opium  die  Sprache  und  die  Empfindung 
verloren  haben.     Statt  des  Opiums  empfiehlt  er  mit  Vorliebe  das  Bibergeil. 

Eine  strikte  Diät  ist  nach  ihm  oft  das  alleinige  Heilmittel.  So  soll 
man  bei  Ohrenschmerz,  der  durch  Entzündung  hervorgerufen  ist,  die 
gallenartigen  Bestandteile  durch  passende  Nahrung  unschädlich  machen 
und  u.  a.  Lattich,  Gurken,  Endivien,  Melonen,  Aepfel,  Malven,  Fische 
mit  hartem  Fleisch  und  Speisen,  welche  die  galligen  und  heißen  Säfte 
umwandeln,  verordnen. 

Bei  katarrhalischen  Schmerzen  findet  er  es  irrationell,  frühzeitig  zu 
örtlichen  Mitteln  zu  greifen.  Vielmehr  seien  bei  plethorischen  Kranken 
Bäder  und  Schröpfköpfe  auf  das  Hinterhaupt,  bei  Schwächlichen  milde 
Diät,  Ruhe,  Bäder  und  schlaferzeugende  Mittel  (Mohn)  indiziert.  Bei 
Entzündung,  die  durch  Zufluß  erhitzten  Blutes  verursacht  ist,  verschmäht 
er  auch  den  Aderlaß  nicht.  Eigentümlich  erscheint  uns  seine  Therapie 
bei  jenen  Fällen  von  Schwerhörigkeit  und  Taubheit,  die  fieberhafte 
Krankheiten  begleiten  und  nach  seiner  Anschauung  von  der  nach  oben 
gestiegenen  Galle  herrühren.  Hier  rät  er  Reinigung  des  Unterleibs 
durch  Julianischen  Essigmet,  Purgiersalze  die  Euphorbiumharz  ent- 
halten u.  a.  Ist  der  Leib  entleert,  so  soll  man  zu  Medikamenten  über- 
gehen, die  den  Schleim  beseitigen  und  die  Nase  reinigen.  Dazu  rechnet 
er  Gurgelmittel,  die  aus  Senf  und  Läusekraut  zusammengesetzt  sind, 
oder  Niesmittel,  welche  aus  Pfeffer,  Seifenkraut,  weißer  Nieswurz 
und  Hahnenfußkraut  bestehen  und  fein  gepulvert  mit  dem  Saft  der 
Cyklamen  und  Honig  vermengt  in  die  Nase  geblasen  werden.  Dieses 
Medikament  befreie  in  vortrefflicher  Weise  den  Kopf  von  der  Menge 
der  ihn  belästigenden  Stoffe. 

Von  der  großen  Anzahl  der  Mittel,  die  gegen  die  fieberlos  ent- 
stehende Schwerhörigkeit  und  Taubheit  angewendet  wurden,  hält  er  nicht 
viel,  doch  „wenn  auch  in  schwereren  Krankheiten  die  meisten  Mittel 
keinen  nennenswerten  Erfolg  zu  haben  scheinen,  so  muß  man  trotzdem 
darüber  nachdenken  und  darf  mit  der  Hilfe  nicht  säumen  und  nichts 
unterlassen;  denn  nicht  selten  verläuft  etwas  günstig  wider  Erwarten". 
Solche  Mittel  waren  z.  B.  der  Saft  des  Kellerassels,  Brechmittel  die 
Nieswurz  enthalten,  Seebäder,  Blutegel,  Senfpflaster,  Hautabreibungen, 
Arteriotomie.  Besonders  erwähnenswert  aber  ist  die  Mitteilung  Alexan- 
ders, manche  Aerzte  hätten  versucht,  dem  Uebel  durch  akustische 
Instrumente  und  Hörrohre,  beizukommen.  Ja,  man  scheint  bei  Taub- 
stummen   und    Schwerhörigen  Hör  Übungen  versucht  zu  haben,    deren 


Alexander  von  Tralles.  35 


Nutzlosigkeit  freilich  daraus  hervorgeht,  daß  sie  wieder  verlassen 
wurden  und  in  Vergessenheit  gerieten,  um  zu  Ende  des  19.  Jahr- 
hunderts wiederholt  als  neue  Methode  mit  überschwenglicher  Anpreisung 
neuerdings  aufzutauchen  und  nach  großen  Enttäuschungen  wieder  auf- 
gegeben zu  werden.  Die  betreffende  Stelle  in  Alexander  von  Tralles 
lautet:  „Manche2)  Aerzte  haben  nicht  bloß  diese  Mittel  verordnet,  son- 
dern nachher  noch  die  Arteriotomie  vorgenommen  und  dann  eine  Trom- 
pete genommen,  das  Ende  derselben  an  den  Gehörgang  gesetzt  und  ge- 
blasen. Andere  haben  mit  großen  Schellen  Lärm  gemacht,  und  noch 
andere  haben  selbsterfundene  Instrumente  dazu  benutzt." 

Zur  Charakterisierung  der  symptomatischen  Therapie  seines  Zeit- 
alters sei  hier  nur  angeführt:  das  Ausspülen  der  Ohren  mit  Essig,  Honig 
und  Natron  bei  Ohrensausen,  die  warme  Einträufelung  von  in  Essig 
zerriebenem  Bibergeil  und  Schierlingsamen  bei  Ohrenklingen,  das 
Einstreichen  einer  aus  Kardamomsamen,  Natron  und  Feigen  bereiteten 
Salbe  in  den  Gehörgang  zur  Beseitigung  des  Ohrenschmutzes,  das 
Eingießen  des  warmen  Saftes  von  Rebhühnerkraut  bei  0  h  r  b  1  u  t u  n  g e  n  etc. 

Ist  Wasser  in  das  Ohr  gedrungen,  so  läßt  er  den  Kranken  auf  dem 
Fuße  der  leidenden  Seite  hüpfen,  wobei  er  sich  nach  der  nämlichen  Seite 
abwärts  neigen  muß.  Ins  Ohr  gedrungene  Fremdkörper,  die  oft 
Krämpfe  erzeugen  und,  wenn  sie  nicht  herauseitern,  den  Tod  herbei- 
führen, entfernte  er  wie  Galen  mit  dem  Ohrlöffel,  den  er  mit  Wolle 
umwickelt  und  in  Terpentinharz  oder  einen  anderen  leimartigen  Stoff 
taucht.  Indem  er  dann  Niesen  erregt  und  dabei  Mund  und  Nase  schließen 
läßt,  hofft  er,  daß  durch  die  im  Innern  des  Ohres  erzeugte  Spannung  der 
Luft  der  fremde  Körper  nach  außen  getrieben  und  die  Extraktion  des- 
selben erleichtert  wird,  oder  er  spritzt  Flüssigkeit  ein  und  sucht  den  ein- 
gedrungenen  Körper  mit  der  Haarzange  herauszuholen.  Andere  Aerzte, 
erzählt  Alexander,  haben  den  Fremdkörper  durch  Saugen  an  einem  in 
die  ( )liröffnung  gesetzten  Rohre  entfernt.  Durch  Einspritzung  scharfer  oder 
narkotischer  Substanzen  versuchte  er  Würmer  im  Ohre  zu  töten  (  Wermut, 
Bergminze,  Nieswurz,  Essig).  Sehr  reich  ist  die  Behandlungsart  Alexan- 
ders bei  Ohrenschmerz,  wobei  er  nach  den  oben  erwähnten  pathologischen 
Gesichtspunkten  verfährt.  Im  ganzen  und  großen  schließt  er  sich  hierbei 
Galen  an,  doch  hält  er  sich  z.  B.  bei  der  Therapie  des  entzündlichen 
Ohrenschmerzes  nicht  völlig  an  dessen  Vorschriften,  sondern  empfiehlt 
Bähungen  mit  in  warmes  Wasser  getauchten  Schwämmen,  oder  mit 
Wasserdampf,  der  aus  einem  Gefäß  durch  eine  Röhre  ins  Ohr  geleitet 
wird,  ein  Verfahren,  das  sich  als  Volksmittel  bis  zum  heutigen  Tage 
erhalten  hat. 

Von  der  großen  Anzahl  der  Mittel  wollen  wir  kurz  einige  erwähnen: 

a)    Pflanzliche:    Nieswurzpulver,    Opium,    Safran,    Pfeffer,    Knob- 


3t)  Aetius. 

lauch,  Lorbeer,  Zwiebel,  Saft  des  Nachtschattens,  des  Korianders,  des 
Asphodills,  der  Zehnvurz,  Haselwurz,  Zaunrübe,  des  Mangolds,  ver- 
schiedene Oele,  die  als  Konstituentia  verwendet  wurden,  wie  Mandel-, 
Irisöl,  Harze,  Ysop  etc. 

b)  Mineralische:  Bleiglätte,  Bleiweiß,  Metallschlacke,  geschabter 
Grünspan,  kohlensaures  Natron  etc. 

c)  Animalische:  Frauenmilch,  Hühnerfett,  Gänsefett,  Harn  vom  Eber, 
Bibergeil,  Honig,  Wachs,  gekochte  Heroldschnecken,  Kellerwürmer,  Regen- 
würmer. 

Von  Instrumenten  kommen  vor:  der  Ohrlöffel,  die  Haarzange;  außer- 
dem empfiehlt  er  einigemal  einen  mit  öligen  Mitteln  durchtränkten 
Lampendocht  in  den  Gehörgang  zu  legen. 

Von  großem  Wert  ist  die  erneute  Vorschrift,  nichts  Kaltes,  sondern 
nur  Erwärmtes  in  den  Gehörgang  zu  bringen. 

Bei  Verletzungen  und  Entzündungen  der  Ohrmuschel  wandte  Ale- 
xander von  Tr alles  erweichende  Kataplasmen  an  und  wiederholte 
das  Verbot  des  Hippokrates,  feste  Verbände  anzulegen. 

')  Alexander  von  Tralles,  Originaltext  und  Uebersetzung  nebst  einer  ein- 
leitenden Abhandlung  von  Dr.  Th.  Puschniann,  3  Bde.     Wien  1878. 

2)  Bd.  II,  p.  105,  1.  c.  ('AXsSavopoo  TpaXXiavoü  ßißXiov  tpttov  xe^.  g'  ^epi  xacpco-sw^): 
xive$  8s  oo  [xovov  xooxoi?,  &XXa  xai  apxv]pcoxo|jua?  Baxepov  itpo3"»jveY*«v  v.al  odXjWYf* 
rcpo  jö-svxsi; ,  sl<;  xö  axpov  x-?]«;  adtXrciYY0?  T0V  köoov  xyjc  av.ort<;  •9'Evxs?,  ouxw  v.ax-rj6X-r(~uv, 
'zXzC/o:    8s    (j.sxä    fievöcXtuv    y.cuocövwv  ev.x6ji:y(-«v  %a:  SXXot  gT/.'/.üjc  s^pYjoavto  rcpo^eÄtvooövcec 

Aetius 

(530  n.  Chr.) 

Aetius  von  Amida,  Leibarzt  und  Oberstkämmerer  Justinians  I. 
in  Byzanz ,  aus  der  alexandrinischen  Schule  hervorgegangen ,  galt  unter 
den  Nachfolgern  Galens  durch  lange  Zeit  als  erste  Autorität.  Seine 
Pathologie  ist  völlig  dem  Galen  entnommen;  neu  ist  nur  die  Erwähnung 
der  Ohrpolypen.  Seine  Therapie  der  Ohrerkrankungen  ist  ebenso 
kompliziert  wie  die  seiner  Vorgänger.  So  verwendete  er  bei  Ohren- 
schmerz „ex  frigiditate"  warme  Umschläge,  warme  Dämpfe  von 
mit  Wasser  gekochtem  Absinth  als  Narkotikum,  Frauenmilch  gemischt 
mit  Eiweiß,  Oel  mit  Wolfsmilch  oder  feinst  zerstoßenen  Pfeffer  mit  Wein; 
gegen  Ohrentzündung  Honig,  Wein,  Nuß-  oder  Mandelöl,  Gänsefett, 
Myrrhe  mit  Alaun  und  Essig,  Fischgalle  u.  a.  Bei  Ohren  schmerz  durch 
Eindringen  von  Wasser  ins  Ohr  empfiehlt  er  das  Aussaugen  mittels 
einer  Röhre.  Bei  Ohreiterung  empfahl  er  zunächst  Reinigung  des 
Ohrs  durch  einen  mit  Wolle  umwickelten  Ohrlöffel,  sodann  Ausspülungen 
mit  Wasser  und  Wein  oder  Essig,  Honig  mit  Wein,  endlich  Sal- 
peter   oder  Alaun,   gelöst   in  Honig  und  Rosenöl,    auf  Wolle  appliziert; 


Paulus  von  Aegina.  37 


gegen  profuse  Otorrkoen  fein  gepulverten  Eisenrost  mit  Essig.  Das 
Ohrentönen  bei  fieberhaften  Krankheiten  betrachtete  Aetius  als  un- 
günstiges Symptom  und  erklärt  es  als  Folge  des  Zuflusses  blähender 
Dämpfe  und  zu  großer  Sensibilität  des  Ohres. 

Um  verhärtetes  Ohrenschmalz  zu  beseitigen ,  versuchte  er ,  es 
zunächst  durch  eine  Auflösung  von  Salpeter  in  Essig  zu  erweichen 
und  hierauf  mit  einem  Ohrlöffel  zu  entfernen.  Zur  Entfernung  von 
Fremdkörpern,  die  oft  Kopf-  und  Zahnschmerz  verursachen,  benutzte 
er  mannigfach  geformte  Instrumente  und  mit  klebenden  Stoffen  bestrichene 
Sonden. 

Beträchtlich  ist  die  Anzahl  der  absonderlichen  Mittel,  welche  er 
zur  Behandlung  der  S  chwerhörigkeit  und  Taubheit  empfiehlt,  die 
er  zumeist  auf  Ansammlung  von  dicken  und  zähen  Säften  zurückführt. 
Dahin  gehören  Purganzen,  Gurgel-  und  Niesmittel,  ölige  Einreibungen 
auf  den  geschorenen  Kopf,  örtliche  Dämpfe  von  verschiedenen  Dekokten, 
Einträufelungen  von  Lauchsaft,  Essig,  Rindsurin,  Ziegenurin  (am  besten 
der  Blase  einer  frischgeschlachteten  Ziege  entnommen  und  in  einem  Ge- 
fäße durch  9  Tage  zur  Eindickung  dem  Rauch  ausgesetzt) ,  ferner  ver- 
schiedene Mittel,  deren  Bestandteile:  Nieswurz,  Nasturtium,  Origanum, 
Ysop,  Lorbeerblätter,  Bibergeil  u.  a.  waren,  in  Form  von  Eingüssen 
oder  Fomenten. 

*)  Aetii  Medici  Graeci  Contractae  ex  veteribus  Medicis  Tetrabiblos.  Prim. 
Serm.  I  u.  IT  u.  III.  cap.  139;  Secund.  Serm.  I,  cap.  12  D,  121,  Serm.  II,  cap.  73—87. 

Paulus  von  Aegina 

(Mitte  des  7.  Jahrhunderts  n.  Ch.) 

Den  letzten  Lichtpunkt  in  der  Geschichte  der  alexandrinischen 
Schule  bildet  Paul  von  Aegina,  dem  in  chirurgischer  Beziehung  eine 
besondere  Bedeutung  zukommt.  Seine  Lehrmeinungen  tragen  den  Stempel 
der  einfachen,  klaren,  nüchternen  Beobachtungsgabe,  wie  sie  den  Hippo- 
kratikern  eigen  war.  Alle  späteren  Aerzte  schöpften  direkt  oder  indirekt 
aus  seinen  Werken.  Seine  uns  interessierenden  chirurgischen  otiatri- 
schen  Leistungen1)  übertreffen  weitaus  diejenigen  des  Alexander. 
Er  beschreibt  die  Atresien  des  Gehörgangs  und  unterscheidet  ober- 
tliicliliche  und  tiefe,  die  er  als  angeborene  oder  durch  Geschwürs- 
prozesse (Granulations Wucherungen)  entstandene  differenziert.  Die  ersteren 
ließ  er  mit  dem  Skolopomachairion  (tö  axoXo-oa777.iv.ov  =  Spitzbisturi) 
inzidieren,  bei  den  tiefen,  deren  Prognose  eine  zweifelhafte  ist,  empfiehlt 
er  die  Inzision  mit  einem  schmalen  und  spitzen  Messerchen.  Polypen 
des  Gehörgangs  entfernte  er  mit  dem  „Pterygotom"  oder  der  „Spatha 
polypica",    worauf    eine    mit    austrocknenden    Pulvern    bestreute    Wieke 


38  Paulus  von  Aegina. 


zum  Auseinanderhalten  der  Ränder  eingelegt  wurde.  Bei  der  Operation 
auftretende  Blutungen  wurden  mit  Schwämmen  gestillt,  die  in  kaltes 
Wasser  getaucht  wurden.  Mit  einem  Aufwand  besonderer  chirurgischer 
Geschicklichkeit  ging  Paul  bei  den  Versuchen,  Fremdkörper  aus  dem 
Ohre  zu  entfernen,  vor.  Hier  bediente  er  sich  mannigfacher  Instrumente, 
nebst  Sonden  und  Häkchen  auch  der  Pinzetten  und  der  schon  von 
Alexander  angeführten  Saugröhrchen.  Wenn  die  Herausnahme  der 
Fremdkörper,  welche  er  in  solche  teilt,  die  ihre  Größe  beibehalten 
(Steine ,  Glasstücke ,  Insekten) ,  in  solche ,  die  aufquellen  (wie  Bohnen, 
Johannisbrotkörner),  und  in  flüssige,  nicht  durch  instrumentellen  Eingriff 
gelingt,  wobei  er  auch  Niesmittel  bei  Verschließen  von  Mund  und  Nase 
anwendet,  so  greift  er  zum  ultimum  refugium:  halbmondförmige  Inzision 
hinter  der  Ohrmuschel  und  Ablösung  des  hinteren  oberen  Abschnittes 
des  membranösen  Gehörganges  vom  knöchernen  Teile,  ein  Verfahren, 
das  in  schwierigen  Fällen  auch  heute  geübt  wird.  Zur  Behandlung  der 
Kontusionen  der  Ohrmuschel  sind  nach  ihm  keine  Arzneimittel  nötig, 
doch  müsse  man,  um  dem  Wunsche  des  Kranken  zu  entsprechen,  einiges 
anwenden. 

Die  nüchterne,  rationelle  Denkweise  des  Paulus  äußert  sich  auch 
darin,  daß  er  die  angeborenen  und  inveterierten  Formen  der  Taubheit 
für  schwer  heilbar  oder  unheilbar  erklärt.  Hingegen  beweist  seine  An- 
sieht,  durch  „Aufsteigen  der  Galle"  veranlaßte  Fälle  könnten  durch 
Gallagoga  beseitigt  werden,  aber  auch  spontan  heilen,  daß  er  sich 
von  der  Ueberlieferung  seiner  Vorgänger  nicht  gänzlich  zu  befreien 
vermochte. 

Die  sonst  verwendeten  Mittel  Paulus'  sind  ebenso  zahlreich  wie  die 
seiner  Vorgänger.  Gegen  Ohrenschmerzen  empfiehlt  er  Einträufelungen 
von  Ol.  pegami,  Ol.  nardi,  Ol.  lauri,  Amarconöl  oder  Oel  in  welchem 
Zwiebel  oder  Knoblauch  gekocht  wurden.  Zur  Austrocknung  fließender 
Ohren  empfahl  er  Einlage  von  mit  Alaun  bestreuter  Wolle  oder  Destil- 
lation mit  altem  Wein,  Gans-  oder  Fuchsfett,  bei  hartnäckigen  Otorrhoen 
Weinhonig,  Essighonig,  Absud  von  Linsen  oder  Rosen,  gegen  Ohrwürmer 
Ausspülung  mit  Abkochungen  von  Wermut,  Lauch,  Centaurium  etc. 

Die  Gicht  beruht  nach  Paulus  auf  einer  Schwäche  der  Gelenke 
und  dem  Vorhandensein  eines  Krankheitsstoffes,  der  bei  unzweckmäßiger 
Lebensweise  sich  wie  in  anderen  Organen  auch  in  den  Ohren  absetzen 
kann  (III,  78). 

Paul  von  Aegina,  Alexander  von  Tr alles  und  Aetius 
bilden  nebst  Galen  nicht  bloß  die  Quelle  für  alle  späteren  byzantini- 
schen Aerzte,  sondern  diese  kopierten  mehr  oder  minder  sklavisch  die 
Werke  jener  Autoren,  ohne,  von  geringfügiger  Kommentierung  abge- 
sehen, selbst  etwas  zu  leisten.    Das  gilt  für  Theodorus  Pr  iscian  us, 


Die  Araber.  39 

Leo2),  Theophanus  Nonnos*)3),  der  fast  wörtlich  die  otologischen 
Kapitel  des  Trallianus  abschrieb,  fürActuarius  oder  Myrepsus4), 
der  zur  Entfernung  der  Ohrpolypen  statt  der  chirurgischen  Methode 
Pastillen  aus  Grünspan,  Alaun  und  Essig  verordnete. 

Das   Erbe    der    hellenisch -römischen    Heilwissenschaft    hatten    in- 
zwischen schon  die  Araber  angetreten. 

!)  Pauli  Aeginetae  Medici  Opera.   De  arte  medendi.   Lib.  I,  cap.  12;  Lib.  III, 
cap.  23,  24. 

2)  Suvo^t;  iatpix-«]  (Conspectus  niedicinae)  in  Errnerius,  Anecdota  media  Graeca. 
Lugduni  Batavoruni  1840.     Lib.  IV. 

3)  Theophanis  Nonni  epitome  de  curatione  morborum.    Gothae  et  Amstel. 
1794.     Tom.  I,  c.  74—90. 

*)  Nicolai  Myrepsi,   Alexandrini   medicamentorum  opus.    Sect.  48.  cap.  11. 


b)  Die  Araber. 

Die  auf  den  Trümmern  des  Hellenismus  sich  entwickelnde  arabische 
Medizin,  die  durch  griechische  Aerzte  aus  Byzanz  vermittelt  wurde, 
stützte  sich  auf  die  kaum  nennenswerten  anatomischen  Kenntnisse  des 
Altertums,  ohne  selbst  etwas  zur  Erweiterung  der  exakten  Forschung 
beizutragen.  Es  ist  daher  klar,  daß  die  Ohrenheilkunde  durch  die  arabi- 
schen Aerzte  nichts  Wesentliches  gewinnen  konnte. 

Immerhin  sind  einige  wenige  Tatsachen  und  Gedanken,  die  der 
Arabismus  zeitigte,  von  Bedeutung.  Trotz  der  großen  Masse  abenteuer- 
licher Mittel,  welche  die  Therapie  der  Araber  charakterisiert,  wäre  es 
verfehlt,  das  Wirken  der  arabischen  Aerzte  abfällig  zu  beurteilen,  wie 
es  von  manchen  Historikern  geschieht;  denn  ein  Blick  auf  das  christliche 
Abendland  genügt ,  um  zu  erkennen ,  wo  in  jenem  Zeitalter  die  Heil- 
kunst ihre  wahre  Heimstätte  gefunden  hat.  Die  Namen  eines  Serapion, 
Rhazes,  Ali,  Avicenna,  Averrhoes,  Mesue  und  Abul  Kasim 
verdienen  immer  mit  Ehren  genannt  zu  werden. 

Die  geringe  Förderung  der  Otiatrie  durch  die  Araber  beruht  ins- 
besondere auf  der  durch  religiöse  Gründe  bedingten  Vernachlässigung 
der  anatomischen  Forschung,  ja  es  scheint  sogar  als  hätte  das  von  den 
Hellenen  überkommene  karge  Erbe  bei  den  Arabern  noch  an  Klarheit 
der  Anschauung  eingebüßt.  Als  Beispiel  hierfür  seien  einige  Sätze  aus 
Rhazes1)  und  Averrhoes2)  angeführt.  Ersterer  sagt:  Auris  foramen 
in  osse  duro,  quod  vocatur  petrosum,  invenitur.  Hoc  auteni  os  valde 
tortuosum  est  et  multas  habet  evolutiones  et  taliter  protenditur  usque 
ad  nervum  quinti  paris,  quod  a  cerebro  exoritur,    per  quem  ht   auditus. 

*)  Bemerkenswert  ist,  daß  Theophanus  Nonnos  den  Exophthalmus  als  Sym- 
ptom der  Thrombose  des  Hirnsinus  beschrieb.     (Styl.  Dimitriades  1.  c.  p.  85.) 


40  Die  Araber. 

Letzterer:  Quia  auris  est  in  osse  petroso  et  ideo  nominantur  in  lingua 
arabica  „agari".  Et  in  ipso  sunt  viae  obliquae  multae  et  tendunt  taliter 
per  viam  tortam  donec  jungantur  nervo  quinto  orto  a  cerebro,  a  quo 
oritur  pellicula  extensa  supra  os  petrosum. 

Die  Physiologie  entbehrt  jeder  Originalität  und  fußt  zum  größten 
Teil  auf  der  Aristotelischen  Ueberlieferung  und  somit  vorzugsweise  auf 
teleologischer  Grundlage. 

Auf  reellerer  Basis  steht  die  Pathologie ,  die  sich  aber  von  der 
galenischen  und  hellenistischen  nur  wenig  unterscheidet  und  wie  diese 
vorzugsweise  auf  der  genauen  Beobachtung  der  Symptome  beruht.  Sie 
zählte  folgende  Begriffe:  Ohrenschmerz  (ex  complexione  mala  calida  et 
frigida)  mit  Abszeß  oder  ohne  Abszeß ,  Ohrgeräusche  (sonitus ,  tinnitus) 
bei  Avicenna  auch  sibilus,  Schwerhörigkeit  und  Taubheit  (von  Geburt 
an  oder  erworben),  Fremdkörper  im  Ohre  (Wasser,  feste  Körper,  Würmer), 
Geschwüre,  Blutflüsse,  Ohrenschmutz  (-schmalz).  Die  Abszesse  wurden  in 
kalte  und  heiße  unterschieden. 

Die  Diagnose  stützte  sich  außer  auf  der  Berücksichtigung  der  Aetio- 
logie  und  der  subjektiven  Angaben  auch  auf  den  lokalen  Befund,  der 
womöglich  im  Sonnenlichte  erhoben  wurde. 

Den  größten  Raum  in  den  otologischen  Abhandlungen  der  arabi- 
schen Werke  nehmen  die  therapeutischen  Vorschriften  ein ,  welche  sich 
durch  eine  Reichhaltigkeit  verschiedenartigster  Mittel  auszeichneten,  die 
nur  in  der  indischen  Medizin  ihresgleichen  finden.  Pflanzen-,  Tier-  und 
Mineralreich  wurden  in  mannigfacher  Kombination  in  Anwendung  ge- 
bracht. 

Die  beliebtesten  Mittel  waren  Oele  und  Pflanzensäfte  allerlei  Art, 
ferner  Milch,  Honig,  Essig,  Alaun  und  Salpeter,  die  Narkotika  Mohn, 
Nieswurz,  Bilsenkraut  und  Bibergeil;  nicht  selten  wurden  auch  die  Galle 
vom  Rind,  vom  Bären  und  Kranich,  soAvie  der  Urin  des  Rindes  oder 
der  Ziege  nicht  verschmäht. 

Der  Form  nach  zerfielen  die  Arzneien  fürs  Ohr  in  Instillationen 
und  Infusionen,  Pastillen  und  Pillen,  Pflaster  und  Salben,  Bähungen 
und  Umschläge.  Beliebt  war  auch  die  Verwendung  der  Dämpfe  von 
mannigfachen  Dekokten,  die  man  mit  einem  Trichter  ins  Ohr  appli- 
zieren ließ. 

Die  höchste  Stufe  erlangte  die  chirurgische  Behandlung  durch 
Abul  Kasim3)  (912 — 1013),  der  im  wesentlichen  auf  Paul  von 
Aegina  fußt,  dessen  chirurgisches  Werk*)  jedoch  reicher  an  Erfahrung 
ist.  Mit  Vorliebe  benützt  er  die  Kauterisation  als  Heilmittel  bei  Ohren- 
schmerz,   Avobei    er   das  Glüheisen  an  zehn  verschiedenen  Stellen  rings 


*)  Kapitel  6  und  7  des  II.  Buches  behandeln  die  Ohrerkrankungen. 


Die  Araber.  41 

um  das  Ohr  anzusetzen  empfiehlt.  Bei  Atresie  des  Gehörgangs  wurde 
durch  Sondenuntersuchung  ermittelt,  ob  sie  eine  tiefe  oder  ober- 
flächliche sei.  Bei  ersterer  verwendete  er  das  Glüheisen,  bei  letzterer 
die  Sonde  zur  Durchbohrung  des  Verschlusses,  wobei  er,  um  eine 
Verletzung  des  Nerven  zu  vermeiden,  vor  unvorsichtigem  Eindringen 
in  die  Tiefe  warnt.  Das  neuerliche  Verwachsen  wird  durch  täglich  ein- 
zulegende, mit  Salbe  bestrichene  Wieken  verhindert.  Abul  Kasim  be- 
diente sich  außer  der  Sonden  und  Kauterien  noch  verschiedener  kleiner 
chirurgischer  Instrumente  verschiedenster  Form,  wie  Messer,  Saug- 
maschinen etc.  Besonders  reich  war  die  arabische  Medizin  in  der  Erfin- 
dung von  Instrumenten  zur  kunstgerechten  Beseitigung  von  Fremdkörpern 
im  Ohre.  Es  gab  Pinzetten,  Kanülen  zum  Aussaugen  des  Fremdkörpers 
aus  dem  Gehörgang,  kleine  Messer  zum  Zerkleinern  aufgequollenen 
Samens  und  endlich  Ohrenspritzen.  Abul  Kasim  teilte  die  Fremd- 
körper in  vier  Kategorien:  1.  in  solche  aus  dem  Mineralreiche  und 
andere  harte  Substanzen,  2.  in  Samen  von  Pflanzen,  3.  in  Flüssigkeiten, 
4.  in  lebende  Tiere,  eine  Einteilung,  die  praktischen  Wert  besitzt.  Bei 
der  Entfernung  des  Fremdkörpers  soll  immer  helles  Licht  in  den 
äußeren  Gehörgang  fallen  und  die  Ohrmuschel  entsprechend  gerade- 
gezogen werden. 

Außer  der  lokalen  wurde  auch  die  allgemeine  Behandlung  nicht 
außer  acht  gelassen.  Zu  dieser  gehören  diätetische  Vorschriften  (Essen, 
Trinken,  Bäder,  Reiten),  die  Verwendung  von  Purgiermitteln,  Cholagogis 
und  die  häufig  geübte  Venäsektion. 

Aus  der  älteren  Zeit  wäre  zunächst  Serapion1),  (9.  oder  10.  Jahr- 
hundert) (Jahjah  Ibn  Serabi),  auch  Janus  Damascenus  genannt, 
hervorzuheben.  Derselbe  warnt  im  II.  Traktat  seiner  „Praktika"  Blutflüsse 
aus  den  Ohren ,  wenn  sie  von  der  Krisis  herrühren ,  durch  Styptika  zu 
stillen  und  empfiehlt  gegen  Ohrgeräusche  Moschus.  Im  übrigen  befolgt 
er  eine  Therapie,  wie  sie  am  ausführlichsten  beiAvicenna  und  Mesue 
zusammengestellt  ist. 

Rhazes5)  (850—932);  (Muh a med  Ebn  Secharjah  Abu  Bekr 
el  Räzi),  der  das  Ohr  bei  einfallendem  Licht  untersuchte,  bespricht 
eingehend  die  prophylaktischen  Maßregeln  zur  Verhütung  von  Ohren- 
leiden  wie  Vermeidung  zu  schwerer  Speisen ,  von  Kälte ,  von  Schlaf 
bei  vollem  Magen  u.  a.  Auch  rät  er  gegen  Ansammlung  von  „Ohren- 
schmutz" (welcher  wegen  seiner  Konsistenz  Ohrwachs  genannt  wurde), 
wöchentlich  einmalige  Einträufelung  von  Mandelöl  in  den  Gehörgang.  Er 
unterschied  Ohrenschmerzen,  bei  denen  Anschwellung  und  Pulsation 
im  Gesichte  beobachtet  wird,  andere,  die  nach  Uebersättigung  oder  in- 
folge des  Einflusses  kalter  Winde  entstehen ,  endlich  solche ,  die  mit 
Ohrentönen  verbunden  sind.     Unter  seinen  Mitteln  gegen  Ohrenschmerz 


42  Die  Araber. 

finden  sich  Aderlaß,  Bäder,  Einträufelung  von  Milch,  Rosenöl,  Sesamöl, 
Euphorbium,  Bibergeil,  Opium,  Bei  Ohrgeräuschen  (sonitus  et  tinnitus) 
applizierte  er  Opium  in  Rosenöl  oder  Mandelöl  mit  Bibergeil  oder  Rinds- 
galle. Ansammlungen  von  Ohrenschmalz  beseitigt  Rh az es  folgender- 
maßen: Abends  wird  Oel  ins  Ohr  geträufelt,  frühmorgens  hat  der  Kranke 
ein  Bad  zu  nehmen,  dann  leitet  er  Wasserdämpfe  ins  Ohr  und  beseitigt 
die  erweichten  Massen  mittels  Baumwolle.  Würmer  im  Ohre  sind 
durch  den  Saft  von  Pfirsichblättern  und  von  Wermut  oder  durch 
Pfirsichkernöl  zu  beseitigen.  Zur  Austrocknung  von  Ohrenflüssen  dienen 
Lösungen  von  Alaun  in  Wein  oder  Mischungen  von  Safran,  Salpeter, 
Essig  und  Wasser. 

Seh  Averhörigkeit  könne  von  Dämpfen,  die  sich  durch  zu  reich- 
lichen Genuß  von  Speisen  entwickeln,  herrühren,  oder  nach  häufigen 
Nachtwachen  entstehen.  In  solchen  Fällen  rät  er  zum  Gebrauch  von 
Bädern,  vielem  Schlaf,  Waschungen  des  Kopfes  mit  warmem  Wasser, 
Leitung  von  Dämpfen  ins  Ohr  mittels  Trichter  u.  a. 

Ein  Mittel  gegen  Taubheit  ist  das  Hirn  des  Löwen. 

In  dem  Werke  des  Haly  Abbas  (t  994;  auch  Ali  Ben  el- 
Abbas;  Ala  ed-Din  el  Madschusi  genannt)6),  das  in  zwei  Teile 
(„Theorice''  und  nPracticeu)  zerfällt,  wird  im  V.  Buche  die  Behandlung 
der  Ohrenerkrankungen  vom  Standpunkte  der  internen  Medizin,  im  Ka- 
pitel 30  und  31  des  IX.  Buches  vom  Standpunkte  der  Chirurgie  be- 
sprochen. Er  unterscheidet  einen  Ohrenschmerz  ex  complexione  mala 
calida  und  frigida.  Jede  der  beiden  Arten  erfordert  eine  eigentümliche 
Therapie  nach  dem  Grundsatz:  Contraria  contrariis. 

Im  ersteren  Falle  empfiehlt  er  die  Venäsektion  oder  Gallagoga 
und  lokal  Koriander- ,  Rosen- ,  Lattich wasser  etc. ,  im  letzteren  Gurgeln 
und  örtliche  Instillation  von  Mandelöl,  Bären-  und  Kranichgalle,  Myrrhe, 
Wolfsmilch,  Rindsurin  etc.  Der  Kunstgriff,  durch  den  er  Wasser  aus 
dem  Ohre  entfernte,  ist  schon  im  Talmud  enthalten.  Man  stecke  ein 
Stück  Rohr  mit  dem  feinen  Ende  in  den  Gehörgang  und  zünde  die  Baum- 
wolle, welche  um  das  andere  Ende  gewickelt  ist,  an.  Gelangt  die  Hitze 
zu  den  inneren  Teilen,  so  soll  man  das  Rohr  möglichst  schnell  heraus- 
ziehen, dann  werde  sogleich  das  Wasser  nachfolgen. 

Avicenna7)  (980  —  1037),  dessen  Name  von  allen  arabischen 
Aerzten  am  bekanntesten  wurde,  brachte  in  seinem  Hauptwerke,  in  dem 
auch  die  Ohrenheilkunde  sehr  eingehend  behandelt  wird,  wenig  Originelles. 
Seine  prophylaktischen  Vorschriften  enthalten  die  gewöhnlichen  Plattheiten, 
seine  Therapie  zeigt  wenig  von  der  rationellen  Beschränkung,  die  man 
von  einem  so  gerühmten  Denker  erwarten  sollte.  Die  wenigen  ana- 
tomischen Andeutungen  suchen  vergeblich  durch  schwerfällige,  dunkle 
Sprache  die  Unwissenheit  zu  verhüllen.    Erwähnenswert  wegen  ihrer  Ab- 


Die  Araber.  43 

sonderlichkeit  ist  die  Pathologie  der  Taubheit.  Diese  kann  nach 
Avicenna  entweder  zentral  verursacht  sein  durch  Verstopfung  des  leeren 
Raumes,  der  den  Sitz  des  Gehörs  bildet,  oder  durch  Verstopfung  des 
Gehörnerven;  im  ersteren  Falle  können  die  „Spiritus"  nicht  in  den  Gehör- 
raum gelangen,  im  letzteren  Falle  ist  dem  „Spiritus  auditorius"  der  Weg 
zum  Nerven  verlegt.  Die  Ohrgeräusche  werden  als  „solutus",  „tinnitus" 
und   „sibilus"  unterschieden,  auch  wird  das  Jucken  im  Ohre  erwähnt. 

Der  christliche  Arzt  Mesue8)  (f  1015)  faßte  die  Lehren  der 
Griechen  und  Araber  in  ein  übersichtliches  Ganze  zusammen.  Nach  ihm 
ist  die  angeborene  Taubheit  gar  nicht,  die  veraltete  aber  sehr  schwer 
heilbar.  Eine  bessere  Prognose  stellt  er  in  den  Fällen  von  Schwerhörig- 
keit, welche  durch  Eiterungsprozesse  hervorgerufen  wurden.  Die  beste 
aber  dann,  wenn  die  Taubheit  durch  Fremdkörper  bedingt  ist  oder  durch 
Ansammlung  dicker  Dämpfe  oder  Säfte  verursacht  wird.  Mesue  gibt 
den  Schwerhörigen  auch  einige  diätetische  Vorschriften ;  er  empfiehlt 
Bäder,  häufige  Wagenfahrten,  Reiten  auf  sandigem  Boden,  außerdem 
Instillationen  von  öligen  Mitteln  ins  Ohr.  Bei  Ohren  schmerzen,  die 
durch  verschiedene  schädliche  Einflüsse,  Avie  Kälte,  Wärme,  Feuchtigkeit, 
Trockenheit,  oder  durch  die  Galle  hervorgerufen  sein  können,  verwendet 
er  die  üblichen  Mittel,  unter  denen  auch  Eiweiß  mit  Milch,  Mohnöl, 
Quittenschleim ,  Bilsenkraut  erwähnt  sind ,  in  Form  lauer  Instillationen, 
bei  Abszessen  erweichende  Pflaster  und  Cerate.  Die  Geschwüre  werden 
in  akut  und  chronisch  entstandene  unterschieden.  Erstere  müssen  zu- 
nächst durch  Einspritzungen  gereinigt  Averden  (mit  einer  Mischung  von 
Honig  und  Wein  oder  Oxymel  Scillae),  worauf  zur  Austrocknung  durch 
Alaun,  Aloe  oder  Myrrhe  geschritten  wird.  Bei  den  chronischen  Ge- 
schwüren zerfiel  die  Kur  in  drei  Stadien,  in  denen  zuerst  reinigende, 
dann  austrocknende,  endlich  die  Vernarbung  befördernde  Medikamente 
zur  Verwendung  kamen.  Die  Ohrg'eräusche  leitet  er  entAveder  Aron 
SchAvächezuständen,  z.  B.  bei  Rekonvaleszenten,  oder  von  der  Krisis  in 
fieberhaften  Krankheiten  oder  von  Ansammlungen  von  Dämpfen  im  Kopte 
her.  Zu  ihrer  Beseitigung  dienende  Mittel  Averden  in  großer  Anzahl  an- 
geführt:  neben  Niesmitteln  Instillationen  mit  Oel,  Wolfsmilch,  Honig, 
Essig,  Milch,  Lauchsaft,  Bibergeil  oder  ein  Präparat  des  Autors,  Avelches 
aus  Helleborus,  Castoreum,  Raute,  Salpeter,  Pfeffer,  Rettichsaft,  Lauch- 
saft, Narden-,  Mandel-,  Anisöl  bestand.  Die  Entfernung  von  Wasser  im 
Ohre  wurde  auf  dreierlei  Art  versucht:  durch  heftige  Bewegungen 
des  Kopfes  oder  des  ganzen  Körpers,  durch  Niesen  bei  Verschluß  von 
Mund  und  Nase  oder  durch  Aufsaugen  mittels  feiner  Schwämmchen 
oder  Meerwolle  (lana,  quae  invenitur  in  concnis  marinis)  oder  Holunder- 
mark, endlich  durch  Ansaugen  mittels  Röhrchen. 

Erwähnenswert    scheint    uns    an    dieser    Stelle    das    von    Mesue 


44 


Die  Araber. 


em] »fohlene  Verfahren  zur  Entfernung  von  Fremdkörpern  aus  dem 
Ohre.  Es  besteht  darin,  daß  dem  Kranken  ein  Niesmittel  verordnet  und 
ihm  aufgetragen  wird,  durch  Verschließen  der  Nase  und  des  Mundes 
den  Luftstrom  mit  voller  Intensität  gegen  die  Ohren  zu  treiben,  eine 
Prozedur,  die  augenscheinlich  mit  dem  Valsalvaschen  Versuch  identisch  ist. 

Würmer  im  Ohre  sollen  durch  Instillation  von  Wermut-,  Tausend- 
guldenkraut-, Pfirsichblättersaft  beseitigt  werden,  oder  man  gibt  Nies- 
mittel und  verschließt  beim  Niesen  Mund  und  Nase. 

Auch  die  beiden  spanischen  Araber,  Avenzoar9)  (f  1162)  und 
sein  Schüler  Averroes10)  (f  1108?),  trugen  wenig  zur  Erweiterung 
der  Otiatrie  bei  und  stützten  sich,  infolge  mangelnder  anatomischer 
Kenntnisse,  auf  die  alten  physiologischen  Lehren  des  Aristoteles  und 
die  Humoralpathologie  des  Galen.  Die  Therapie  beider  enthält  nichts, 
was  nicht  schon  bei  den  Griechen  und  Arabern  benützt  wurde*). 

Die  arabische  Periode  hat  vorzugsweise  die  Bedeutung,  das  Wissen 
der  hellenischen  Forscher,  wenn  auch  entstellt,  erhalten  zu  haben.  Dieses 
Verdienst  ist  vom  Standpunkt  der  Otiatrie  freilich  nicht  zu  hoch  anzu- 
schlagen, da  durch  die  Späthellenen,  Araber  und  ihre  Nachbeter  ein 
nutzloser  therapeutischer  Wust  geschaffen  wurde,  zu  dessen  Beseitigung 
die  Arbeit  mehrerer  Jahrhunderte  erforderlich  war. 

!)  Abubetri  Rhazae  Mahometi,  De  re  medica,  Lib.  I,  cap.  10. 

2)  Averrois  Liber  de  Medierna,  qui  dicitur  Colliget,  Lib.  I.  cap.  19. 

s)  De  chirurgia.  Arab.  et  latine  cura  Jo.  Channing  Oxon.  1778.  Tom.  I, 
Lib.  I,  Sect.  5,  p.  25;  Lib.  II.  Sect.  2,  p.  115—117.  Sect.  6,  p.  127-135;  Lib.  I, 
Sect,  7,  p.  135—137;  Lib.  II,  Sect.  26,  p.  179. 

4)  Practica  Joannis  Serapionis.     Venet.  1550.     Track  II,  cap.  12. 

5)  Abubetri  Rbazae  Mahometi  opera.  Basil.  1544.  De  re  medica,  Lib.  IX. 
cap.  31—36;  de  facultate  animalium,  Lib.  I,  cap.  I  et  cap.  3;  ad  regem  Mansorem 
de  antidotis,  Lib.  I,  cap.  30;  Divisionum  Lib.  I,  cap.  37—39;  de  re  medica  Lib.  IV, 
cap.  23. 

6)  Liber  totius  medicinae.     Lugd.  1523.     Pract.  Lib.  V,  cap.  02—67 ;  Lib.  IX, 

cap.  30—31. 

7)  Avicennae  Medicorum  Arabum  prineipis  Liber  canonis;  de  medicinis 
cordialibus  et  canticis.     Basil.  1556.     Lib.  canon.  Lib.  XI.  Fen.  IV,  c.  1—26. 

8)  Mesue  Joannis  Damasceni  opera.  Venet.  1689.  Grabadin  id  est  com- 
pend.  secret.  medicament.    Lib.  II.     Summa  VI,  cap.  1 — 8. 

9)  Abimeron  Abynzoahar  Liber  Theizir.  Venet.  1553.  Lib.  I.  Tract.  IV 
erwähnt,  daß  Schwerhörigkeit,  durch  einen  Schlag  aufs  Ohr  entstanden,  schwer 
heilbar  sei,  da  Blut  nach  innen  getreten  ist.     (Vergl.  Maimonides.) 

10)  Averrois  Cordubensis  Colliget,  Libri  VII.  Venet,  1553.  Lib.  I,  cap.  19; 
Lib.  II.  cap.  16;  Lib.  III,  cap.  37;  Lib.  IV,  cap.  48;  Collect,  sect.  I,  cap.  16. 


I   Avenzoar  schildert  ausführlich  einen  Fall  von  akuter  Otitis.    Liber  Theizir. 
Venet.  1553.     Trakt.   IV,  cap.  I. 


Die  Schulen  von  Salerno  und  Montpellier.  45 

c)  Die  Schulen  von  Salerno  und  Montpellier. 

Die  Latinobarbaren. 

Die  Geschichte  der  Otiatrie,  wie  der  Medizin  überhaupt,  bietet  vom 
7.  bis  zum  13.  Jahrhundert  ein  trostloses  Bild  der  Stagnation  und  des 
Rückschrittes.  Mit  dem  Zusammenbruch  des  heidnischen  römischen  Reiches 
war  infolge  der  kriegerischen  Wirren  zwischen  dem  Morgen-  und  Abend- 
lande und  der  alles  vernichtenden  Völkerwanderung  die  von  Griechenland 
nach  Rom  verpflanzte  Kultur  und  mit  ihr  der  wissenschaftliche  Fortschritt 
in  der  Medizin  verschwunden.  An  Stelle  der  nüchternen  Naturbeobachtung 
trat  der  finstere  Aberglaube  und  die  Heilung  der  Krankheiten  durch 
Wundermittel  und  Zauberei.  Die  Heilwissenschaft  ward  eine  Domäne 
der  Klöster,  wo  infolge  der  Aechtung  der  Anatomie  und  der  naturhistori- 
schen Beobachtung  durch  das  Dogma  sich  eine  mehr  auf  religiöse  An- 
schauung basierende  Mönchsmedizin  entwickelt,  welche  Jahrhunderte 
hindurch  das  Feld  behauptete. 

Das  wichtigste  Hemmnis  jeglichen  Fortschritts  in  der  Medizin  war 
in  erster  Reihe  das  strenge  kirchliche  Verbot  der  die  Auferstehung 
hindernden  Leichensektioneu ,  die  als  schwere  Sünde  erklärt  wurden. 
Dieser  Wahn  faßte  nicht  nur  bei  der  vom  Aberglauben  beherrschten 
Laienwelt  feste  Wurzel,  sondern  er  fand  auch  bei  den  als  ärztliche  Autori- 
täten geltenden  Männern  Eingang.  Gab  es  doch  noch  im  vorge- 
schritteneren 14.  Jahrhundert  Anatomen,  die  trotz  des  kirchlichen  Verbots 
zwar  den  Mut  hatten,  Sektionen  menschlicher  Leichen  auszuführen, 
aber  das  Auskochen  menschlicher  Knochen  behufs  Mazeration  für  Sünde 
hielten. 

Bevor  wir  auf  eine  Besprechung  der  Mitglieder  der  salernitanischen 
Schule  näher  eingehen,  sei  mit  einigen  Worten  der  Mönchsmedizin 
gedacht.  Zur  Zeit,  als  die  politische  und  geistige  Macht  des  Klerus  in 
ihrer  größten  Blüte  stand,  als  die  ganze  Wissenschaft  durch  Kleriker 
vertreten  wurde,  lag  auch  die  Ausübung  der  Arzneikunst  in  den  Händen 
der  Geistlichkeit.  In  Klosterschulen  wurde  Medizin  betrieben  und  ge- 
lehrt. Ein  Nutzen  für  die  medizinische  Wissenschaft  im  allgemeinen 
oder  für  die  Otiatrie  im  speziellen  ergab  sich  hieraus  nicht.  Im  Gegen- 
teil. Die  wissenschaftliche  Bearbeitung  lag  in  dieser  Zeit  unter  der 
Aegide  des  Mönchtums  (6. — 12.  Jahrhundert)  gänzlich  darnieder  und  die 
Schätze  an  Wissen,  die  das  Altertum  hervorgebracht  hatte,  blieben  un- 
berücksichtigt und  fielen  der  Vergessenheit  anheim. 

Als  Beispiel  für  viele,  wie  die  Mönchsmedizin  mit  der  Otiatrie 
verfuhr,  teilen  wir  hier  aus  dem  „Commentarium  medicinale"  des  mai- 
ländischen    Erzbischofs   Benedetto    Crispo  (f  725  oder  735)    die    uns 


4(5  Die  Schulen  von  Salerno  und  Montpellier. 


interessierenden  Stellen  mit,  die  in  mehr  oder  minder  plumpen  Hexametern 
damals  gebräuchliche  Volksmittel  empfehlen. 

XV.  De  verme  auris. 
Convenit  incautis  cautas  praetendere  curas 
Nee  minus  indocili  turbentur  Corpora  sensu. 
Cum  sopor  immensus  hominis  pervaserit  artus 
Tum  solet  indignas  animal  pentetrarier  aures. 
Accipe  cum  saevo  citius  fei  muris  aceto, 
Nee  moram  facias,  poteris  sie  pellere  vermen. 

XVI.     De  surditate. 
At  si  surditiam  pateris,  rubros  lege  vermes 
Arboris  antiquae,  puro  si  miscis  olivo. 
Auribus  infundis,  cupitam  tibi  redde  salutem. 
Anserinus  adeps  prodest.  et  vulturis  atri. 
Caeparum  suecus  iuvat  auribus,  et  bona  praestat. 
Cum  solet  incautis  aures  pervadere  lympha. 
Saepe  solet  ventris  nimius  transcurrere  cursus. 
Paulatim  teneram  multorum  solvere  carnem, 
Quem  prudens  medicina  Dei  compescere  noscit. 
Galla  asiana  iuvat,  cerasi  longum  quoque  pomum. 
Caseus  aptus  erit  dulei  cum  munere  mellis; 
Proderit  et  calidum  hirci  de  viscere  raptum 
Appositum  ventri  secum,  quae  cognita  cura  est. 
At  proprium  si  forte  unguem  demittit  ab  ipso, 
Significat  citius  cupitam  iam  perdere  vitam. 
(Coli.  Salern.  ed.  de  Renzi  I,  p.  81.) 

Die  poetische  Form  wurde  offenbar  gewählt  weil  sie  leichter  im 
Gedächtnis  haftet.  Von  einer  wissenschaftlichen  Darstellung  des  Gegen- 
standes kann  dabei  keine  Rede  sein. 

Die  ersten  Anzeichen  beginnender  Regsamkeit  auf  medizinischem 
Gebiete  finden  wir  erst  im  12.  Jahrhundert,  ausgehend  von  den  Schulen 
von  Salerno  und  Montpellier. 

Zwischen  der  Mönchsmedizin,  in  der  sich  die  Gebräuche  der  Volks- 
medizin erhalten,  und  der  öden  Scholastik  liegt  wie  eine  Oase  die 
Schule  von  Salerno,  die  Bewahrerin  griechischer  Tradition.  Ihr  Auf- 
blühen verdankt  sie  insbesondere  dem  Schutze  des  erleuchteten  Kaisers 
Friedrich  IL,  der  eine  noch  heute  bewunderungswerte  medizinische  Studien- 
ordnung entworfen  hat. 

So  rühmlich  aber  auch  die  Bestrebungen  dieser  Schule  sein  mögen, 
so  finden  wir  bei  Durchsicht  der  uns  überlieferten  Collectio  Salernitana, 
sowie  aller  medizinischen  Schriften  aus  dem  12. — 14.  Jahrhundert  kaum 
etwas,  was  als  wissenschaftlicher  Fortschritt  in  der  Otologie  bezeichnet 
werden  könnte,  [da  in  den  neugegründeten  Schulen  jener  Epoche  noch 
an  den  Lehren  der  Hippokratiker,  des  Galen  und  Avicenna  mit  dogma- 


Die  Schulen  von  Salerno  und  Montpellier.  47 


tischer  Strenge  festgehalten  wurde.  Was  wir  von  neueren  Zutaten 
in  den  noch  erhaltenen  Manuskripten  und  in  den  später  durch  den  Buch- 
druck veröffentlichten  mittelalterlichen  Werken  finden,  ist  nichts  als  spitz- 
findige metaphysische  Spekulation  und  Polemik,  meist  in  barbarischem 
Latein  und  in  schier  unerschöpflicher  Breite.  Des  literarhistorischen 
Interesses  halber  sei  der  Stand  der  Otiatrie  in  der  Epoche  der  Latino- 
barbaren  kurz  geschildert. 

Das  zum  Teil  von  unbekannten  Autoren  herrührende,  aus  dem 
12.  Jahrhundert  stammende  Sammelwerk,  die  „Collectio  Salernitana"  *), 
gewährt  den  besten  Einblick  in  die  Anschauungen  und  Methoden  der 
mittelalterlichen  Otiatrie.  Im  Buche  „De  aegritudinum  curatione"  wer- 
den als  Ohraffektionen:  Schmerz  ohne  oder  mit  bestehender  Eiterung, 
Geschwür,  Würmer,  Fremdkörper,  Taubheit  und  Ohrenklingen  unter- 
schieden. 

Was  den  „Schmerz"  anbelangt,  so  kann  seine  Qualität  (ex  calidi- 
tate  oder  ex  frigiditate),  sein  Zusammenhang  mit  einem  Abszeß  aus  der 
Intensität  und  Dauer  des  Schmerzes,  aus  der  Beschaffenheit  der  Um- 
gebung des  Ohres  erschlossen  werden.  Die  Therapie  beruht  auf  dem 
Satze :  Contraria  contrariis  und  richtet  sich  nach  der  vermuteten  Ele- 
mentarqualität. Die  Würmer  entstehen  aus  verdickten  Säften  vermittels 
der  Aufnahme  belebender  Luft  und  verraten  sich  durch  Jucken  und  Ohr- 
geräusche; man  kann  sie  auch  bei  der  Untersuchung  im  Sonnenlichte 
„aure  soli  apposita"  zuweilen  direkt  beobachten.  Ebenso  läßt  sich  aus 
dem  Fremdkörpergefühl  des  Patienten  oder  durch  direkte  Untersuchung 
im  Sonnenlichte  das  Vorhandensein  von  Fremdkörpern  im  Gehörgange 
erkennen.  Taubheit  entsteht  durch  Verstopfung  der  Nerven  oder  aus 
den  vorgenannten  Ursachen,  z.B.  durch  Fremdkörper.  Ohrenklingen 
ist  manchmal  Affektionen  der  Leber  oder  des  Magens  zuzuschreiben. 
Im  letzteren  Falle  wird  es  heftiger  nach  dem  Essen  und  pflegt  nach 
Erbrechen  schwächer  zu  sein. 

Die  Behandlung  der  schmerzhaften  Affektionen  beruht  auf  der 
Anwendung  von  Salben  (in  der  Umgebung  des  Ohres),  Kataplasmen, 
Instillationen,  wozu  passende  Pflanzensäfte  oder  Fette  benützt  wurden. 
Einlagen  von  adstringierenden  Pulvern  kamen  bei  Ohrgeschwüren  zur 
Anwendung.  Würmer  wurden  durch  Lösungen  von  Bitterstoffen  (bit- 
tere Mandeln,  Absinth  etc.)  getötet,  eventuell  mit  Häkchen  (unco  ferreo) 
extrahiert.  Fremdkörper  entfernte  man  teils  durch  mechanische 
Applikationen  direkt,  teils  durch  Niesmittel  (fiat  sternutatio,  ore  et  na- 
ribus  apprehensis,  ut  ex  impetu  spiritus  possit  educi). 

Gegen  Schwerhörigkeit,    welche,    wenn  angeboren  oder   länger  als 


;:)  Ed.  Salvatore  de  Renzi.     Nnj.oli  1853.     Bd.  II.  p.  l'il— 167. 


48  Die  Schulen  von  Salerno  und  Montpellier. 

2  —  3  Jahre  dauernd,  als  unheilbar  galt,  empfahl  man  nach  dem  Vorbild 
der  alten  Autoren  eine  ganze  Reihe  von  Medikamenten  (auch  Räuche- 
rungen, Gurgel-  und  Niesmittel).  Schwerhörigkeit  infolge  von  Fieber 
oder  Apoplexie  wurde  als  unheilbar  betrachtet. 

Anzuerkennen  ist  es,  daß  die  Salernitaner  einen  relativ  geringen 
lli'ilschatz  von  meist  unschädlichen  Stoffen  aus  dem  Küchengarten  be- 
nützten und  vor  jeder  Behandlung  die  lokale  Inspektion  des  Ohres 
forderten:    „prirnum  considera  foramen  auris". 

Von  historischem  Interesse  dürften  einige  auf  die  Otiatrie  bezügliche  Stellen 
aus  dem  berühmten  Lehrgedicht  Flos  Medicinae  scholae  Salerni  (auch  Regimen 
sanitatis  Salernitanum  genannt.  Ende  des  11.  bis  Anfang  des  12.  Jahrhunderts)  sein, 
welches  von  Pagel  als  Quintessenz  salernitanischer  Heilkunde  bezeichnet  wird. 

Auriculae  surdae  si  te  vexatio  laedit 

Tnstillatur  adeps  anguillae,  moxque  recedit. 

Hoc  et  de  colubro  facias,  meliusque  valebit, 

Aut  titulosa  (?),  sub  hac  effectum  prorsus  habebit. 

Yirginis  urina  pueri  mala  dicta  cavebit. 
(Renzi,  Bd.  I.)    Kap.  64 — 68  (in  Versen)  des  zitierten  Buches   (de  secretis  mulierum, 
Renzi,  Bd.  IV)  behandeln  die  Otiatrie  nach  obigen  Gesichtspunkten. 

Weiter  enthält  das  salernitanische  Lehrgedicht  nebst  Rezepten  für  Ohraltera- 
tionen in  der  Pars  quinta,  cap.  III,  folgende  leonischen  Verse  über  die  Ursachen  der 
Schwerhörigkeit,  der  subjektiven  Geräusche  und  des  Ohrenschmerzes. 

Art.  4.     Impedimenta  auditus. 
Balnea,  sal,  vomitus,  anser,  repletio,  clamor 
Et  mox  post  escam  dormire,  niinisque  moveri, 
Ista  gravare  solent  auditum,  ebrietasque. 

Art.  5.     Causae  tinnitus. 
Motus,  longa  fames.  vomitus,  percussio,  casus, 
Ebrietas,  frigus  tinnitum  causat  in  aure. 

Art.  6.     Causae  doloris  aurium. 
Ventus,  apostema,  dolor,  fames.  ictus  et  aestus, 
Atque  clamor  causae  sunt  quales  quatuor  istae. 

Von  dieser  traurigen  Epoche  in  der  Geschichte  der  Medizin  wenden 
wir  uns  den  bedeutendsten  Repräsentanten  der  Schulen  von  Salerno  und 
Montpellier  zu,  denen  im  folgenden  auch  nicht  zu  diesen  Schulen  ge- 
hörige, außerhalb  Italiens  und  Frankreichs  wirkende  Autoren  des  Mittel- 
alters angereiht  wurden.  Auf  eine  strikte  chronologische  Reihenfolge 
konnte  hiebei  keine  Rücksicht  genommen  werden. 

Ruggiero.  Der  älteste  bekannte  Chirurg  der  salernitanischen 
Schule  Roger   behandelt   im    letzten  (44.)  Kapitel   des  ersten  Buches*) 


i:)  Renzi,  Coli.  Salemit.  II,  p.  451. 


Arnaldus  de  Villanova.  49 


seiner  1180  verfaßten  Chirurgia  die  Ohrerkrankungen.  Er  spricht  dort: 
..De  doloribus  aurium  ex  quacunque  causa  perveniant.  De  cura  ejus- 
dera,  si  non  sit  ibi  apostema  nee  vermis.  De  signis  apostematis 
quando  est  ibi,  vel  sequi  debeat,  et  cura  ejusdem.  De  vermi  '  occi- 
dendo  in  auricula,  et  extrahendo.  De  quolibet  alio  extrahendo,  si  in 
auricula  ceciderit.  Bemerkenswertes  findet  sich  in  dieser  Darstellung 
nicht.  In  der  Therapie  folgt  er  dem  Grundsatze  der  Araber  (Abul 
Kasim)  und  den  von  uns  bereits  eingangs  erwähnten  Prinzipien  der 
salernitanischen  Schule.  Dasselbe  gilt  von  dem  Textus  Roland i  und 
den  Glossulae  Quatuor  Magistrorum,  in  welchen  die  Angaben  Rogers 
wiederholt  sind  und  die  nur  wenige  unwesentliche  Zusätze  aus  alten 
Autoren  enthalten*).  In  der  vor  Roger  datierenden  „Practica  Petro- 
celli  (Petronii  Petricelli" ;  11.  Jahrhundert)5),  an  der  wahrscheinlich 
mehrere  Autoren  gearbeitet  haben,  findet  sich  auch  einiges  über  das 
Ohr  (I.  Buch,  Kap.  16  „De  vicio  aurium"  und  Kap.  17  ..De  parotidis"), 
die  betreffende  Stelle  ist  jedoch,  da  sie  nichts  Originelles  enthält,  für 
uns  ganz  interesselos.  Ebenso  finden  sich  in  den  „Practica"  des  Ma- 
gister Bartholomaeus  *)  (13.  Jahrhundert),  des  Copho  senior2)  und 
des  Archimathaeus 3)  einige  wertlose  Notizen  über  Ohrerkrankungen. 
Aus  den  ..Tabulae"  des  Salernitaners  Petrus  Maranchus4)  erwähnen 
wir  die  Arzneimittel:  „Confortantia  aures;  Mellilotum;  Laudanum :  Herba 
citri;  Olibanum;  Oleum  de  scolopendria;  Oleum  lilii;  Aristologia;  Oleum 
camomille",  ferner  die  Educentia  humores  per  aures;  Piper;  Succus  biete; 
Succus  cappari.  Radices;  Bidellium;  Cassia;  Feltaurinum;  Fei  leoninuni ; 
Aristologia  coneava  (?) ;  Oaconidium ;  Galbanum ;  Elleborus  albus.  Die 
Therapie  der  Ohrerkrankungen  sollte  diesen  Wust  von  allerdings  kaum 
schädlichen  Medikamenten  lange  nicht  los  werden. 

1)  Renzi,  Coli.  Selernit.  IV,  p.  378. 

2)  Id.  IV,  p.  473. 

3)  Id.  V.  p.  374. 

4)  Renzi.  Bd.  IV.  p.  560  u.  563. 

5)  Renzi.  Bd.  IV,  p.  197—199. 

Arnaldus  de  Villanova.  Unter  den  zahlreichen  Jüngern  der 
salernitanischen  Schule  sei  hier  des  katalanischen  Arztes  Arnaud  de  Yila- 
nova  (1235 — 1312?)  gedacht,  dessen  Persönlichkeit  noch  vielfach  in 
Dunkel  gehüllt  ist,  der  aber  bei  seinen  Zeitgenossen  hohen  Ruhm  genoß. 
Er  verfaßte  einen  Kommentar  über  die  salernitanische  Schule  (Scholae 
Salernitanae  opusculum ) ,  bewies  aber  auf  dem  Gebiete  der  Medizin  in- 
sofern eine  Selbständigkeit,  als  er  in  seinen  Arbeiten  kein  gedankenloser 
Nachahmer  der  salernitanischen  Schule  noch  der  Araber  gewesen  ist. 


■■'■■)  Id.  II,  p.  672. 
Politzer,  Geschichte  der  Ohrenheilkunde.    I 


50  Arnaldus  de  Villanova. 


Im  33.  Kapitel  des  umfangreichsten  seiner  Werke,  des  „Breviarium", 
das  ihm  vielleicht  mit  Unrecht  zugeschrieben  wird,  bespricht  er  die 
Therapie  bei  den  Ohrerkrankungen  (de  passione  aurium,  primo  de  sur- 
ditate ,  tinnitu  et  sonitu).  Er  empfiehlt,  Tauben  kalte  oder  warme 
Kräuter  auf  das  Ohr  zu  legen,  je  nachdem  der  die  Erkrankung  hervor- 
rufende Eiter  (materia  faciens  aegritudinem)  kalt  oder  warm  sei,  ferner 
auch  ein  Dekokt  verschiedener  Arzneimittel,  das  den  Patienten  in 
das  Ohr  eingeflößt  werden  müsse.  Bei  veralteter  chronischer  Schwer- 
hörigkeit (surditas  chronica  inveterata)  infolge  reichlicher  Flüssigkeits- 
ansammlung (abundantia  humorum)  schlägt  er  ein  Verfahren  vor,  das 
er  im  großen  und  ganzen  den  Arabern  entlehnte,  fügte  aber  aus  eigenem 
so  viel  hinzu,  daß  man  darin  eine  Andeutung  des  bekannten  Valsal va- 
schen Versuches  erblicken  kann*).  Wir  meinen  das  Hervorrufen  des 
Niesens  durch  Anwendung  von  Niesmitteln  bei  gleichzeitigem  Verschluß 
der  Nase.  Die  betreffende  Stelle  lautet:  „Postea  provocetur  sternutatio 
cum  pulvere  hellebori  albi  vel  condisi,  vel  piperis  et  similibus.  Et  cum 
incipit  sternutatio,  patiens  teneat  se  fortiter  per  nares,  vel  ab  alio 
teneatur  sie,  quod  per  nare  spirare  non  possit,  cum  sternutat:  cum  hoc 
nam  plures  antiqui  surdi  pro  certo  curati  sunt.u 

Auch  zur  Entfernung  von  Fremdkörpern  empfiehlt  Arn  au d  im 
35.  Kapitel  dasselbe  Verfahren ,  wobei  er  als  therapeutisches  Moment 
neben  der  lebhaften  mechanischen  Erschütterung  auch  den  starken  Luft- 
andrang in  Betracht  zieht:  „ut  propter  magnum  impetum  spiritus  pos- 
sunt  extraduci". 

Medizinische  Kompendien,  wie  das  besprochene  „Breviarium"  des 
Arnaldus  von  Villanova,  gab  es  im  Mittelalter  in  großer  Menge.  Jeder 
angesehene  Arzt  schrieb  ein  solches  Buch,  in  dem  er  seine  in  der 
Praxis  erworbenen  Erfahrungen  niederlegte.  In  diesen  Werken  wird  in 
der  Regel  auch  der  Otiatrie  ein  kurzer  Abschnitt  gewidmet.  Das  wenige, 
das  heidnischer  Gräzizismus,  Arabismus  und  christliche  Wissenschaft 
für  die  Otiatrie  geleistet  haben ,  wird  hier  immer  wieder  als  eigene 
Weisheit  im  Lichte  einer  falschen  Gelehrsamkeit  von  neuem  kommentiert, 
ohne  den  Versuch ,  die  in  großer  Menge  gehäuften  Absurditäten  aus- 
zumerzen. Bei  dem  ausgesprochenen  kompilatorischen  Charakter,  der 
speziell  der  Behandlung  der  Ohrenheilkunde  eigen  ist,  und  bei  der  ge- 
dankenlosen   Nachschreiberei    kann    es    nicht    wundernehmen,     daß    die 


*)  Vergl.  K.  Baas,  Historische  Notiz  über  den  Valsal  vaschen  Versuch  und 
das  Politzersche  Verfahren.  Münch.  med.  Wochenschrift  Nr.  47,  1903.  Doch  war 
Arnaldus  keineswegs  der  erste,  der  dieses  Verfahren  in  Vorschlag  brachte,  viel- 
mehr haben  bereits  vor  ihm  Archigenes,  der  Araber  Mesue,  ferner  Guilelmo 
Säliceto,  Bruno  u.  a.  bei  der  Entfernung  der  Fremdkörper  diese  Methode 
empfohlen. 


Guilelmo  Saliceto.  51 


Kapitel  über  Ohrerkrankungen  bei  den  verschiedenen  Autoren  einander 
oft  gleichen.  Wenu  wir  nun  dennoch  die  Werke  der  einzelnen  Aerzte 
aus  dem  Mittelalter  auf  ihren  otiatrischen  Inhalt  hier  eingehender  prüfen, 
so  versuchen  wir  damit  bloß,  ein  Bild  der  damaligen  wissenschaftlichen 
Arbeit  auf  ohrenärztlichem  Gebiete  zu  entwerfen.  Wir  beginnen  mit 
dem  Italiener  Saliceto. 

Guilelmo  Saliceto,  auch  Guglielmo  da  Saliceto  genannt 
geb.  121<»),  der  bekannte  mittelalterliche  Arzt  und  Chirurg,  gehört  zu 
den  bedeutenderen  Männern  seiner  Zeit*).  Vor  allem  sei  betont,  daß 
er  als  erster  in  Mailand  Leichen  seziert  hat.  Nach  den  Angaben  der 
Medikohistoriker  liegt  der  Schwerpunkt  seiner  Tätigkeit  auf  dem  Ge- 
biete der  Chirurgie.  Pageis  Verdienst  ist  es,  die  Aufmerksamkeit 
auf  Saliceto  und  insbesondere  auf  dessen  Arbeit  ..Summa  conser- 
vationis  et  curationis"  in  den  letzten  Jahren  von  neuem  hingelenkt 
und  die  geschichtliche  Würdigung  S  alicetos  von  modernen  Gesichts- 
punkten aus  inauguriert  zu  haben.  Grunow,  Loewy  u.  a.  heben 
Salicetos  reiche  Erfahrung,  seine  kritische  Schärfe,  seine  große  Be- 
obachtungsgabe, seine  ausführliche  Kasuistik,  seine  hohe  Meinung  von 
der  Hygiene  u.  a.  hervor.  Was  jedoch  Guilelmos  Verdienste  auf  dem 
Gebiete  der  Ohrenheilkunde  betrifft,  so  konnten  wir  weder  finden,  daß 
seine  Arbeiten  einen  Fortschritt  in  der  Entwicklung  dieses  Faches 
bedeuten,  noch  daß  seine  Leistungen  die  seiner  Vorgänger  übertreffen. 
Wenn  in  seiner  reichen  Kasuistik  auf  eigene  Beobachtungen  von  Ver- 
hältnissen in  seiner  Eeimat  (nostra  contrata,  wie  Saliceto  sich  aus- 
drückt) hingewiesen  wird,  so  konnten  wir  dort,  wo  er  über  Ohrerkran- 
kungen  handelt .  nichts  Originelles  entdecken;  dieser  Teil  läßt  vielmehr 
subjektive  Auffassung  und  Selbständigkeit  vollkommen  vermissen,  da 
Saliceto  ihn  ganz  nach  dein  Vorbilde  der  Griechen  und  Araber  be- 
arbeitet hat. 

Am  Beginn  seines  Werkes  „Summa  conservationis  et  curationis  etc.4* 
kommt  Saliceto  gleich  nach  den  Augenerkrankungen  auf  die  Affektionen 
des  Ohres  zu  sprechen  (de  aegritudinibus  aurium),  denen  er  sechs  Ka- 
pitel (Caj».  LVI — LXI)  widmet.  Jedes  Kapitel  behandelt  eine  Krank- 
heitserscheinung, das  .")6.  den  „ Ohrenschmerz "  (de  dolore  auris),  das  57. 
das  „ Ohrengeschwür "  (de  ulcere  in  aure),  das  58.  die  Subjektiven  Ge- 
räusche (de  sonitu  et  tinnitu  aurium),  das  59.  die  Schwerhörigkeil  uw<\ 
Taubheit  (de  gravedine  auditus  et  surditate  et  appellatur  a  medicis  taras), 
das  tili,  die  „Ohrwürmer"  und  das  Eindringen  anderer  [nsekten  ins  Ohr 
(de  vermibus  aurium  et  de  animalibus  intrantibus  aures),  und  das  61. 
endlich  die  Fremdkörper  (de  his,  quae  in  aurem  extrinsecus  cadunt).    In 


Vergl.  die  französische  Ausgabe  von  Paul  Piffeau.    Toulouse  1898. 


52  Lanfranchi. 


jedem  dieser  Kapitel  schildert  Guilelmo  nach  dem  bekannten  Schema 
zuerst  die  Ursachen,  die  zu  dieser  Krankheitserscheinung  führen,  dann 
die  Symptome  (Signa),  aus  denen  diese  sich  diagnostizieren  läßt  und 
hierauf  die  Therapie  (Cura). 

Bei  der  Feststellung  der  Symptome  mißt  Saliceto  die  größte 
Bedeutung  den  Angaben  des  Patienten  bei.  Von  einer  objektiven  Unter- 
suchung ist  keine  Rede,  man  wollte  denn  die  von  ihm  empfohlene  In- 
spektion des  äußeren  Gehörganges  zur  Konstatierung  eines  eingedrungenen 
Fremdkörpers  dafür  gelten  lassen.  Die  komplizierte  Therapie  mit  einer 
o-roßen  Menge  von  äußeren  und  inneren  Mitteln  nimmt  in  seiner  Dar- 
Stellung  den  breitesten  Raum  ein.  In  der  chirurgischen  Schrift  „Cyrurgia" 
des  Saliceto  (vollendet  1275  oder  1279)  werden  die  Krankheiten  des 
Ohres  im  1.  Buche  (Kap.  14 — 16)  besprochen,  für  die  Entfernung  von 
Fremdkörpern  und  Ceruminalanhäufungen  verwendet  er  die  alten  Me- 
thoden; Ohrpolypen  werden  von  ihm  abgeschnitten  oder  mit  einem 
Seidenfaden  oder  einem  Pferdehaar  abgebunden  und  die  Wurzel  geätzt. 

Lanfranchi  (Lanfranc  de  Milan;  f  1306?),  ein  gebürtiger 
Mailänder  und  Schüler  Wilhelms  von  Saliceto,  wird  von  vielen  Me- 
dikohistorikern  als  der  größte  Chirurg  des  Mittelalters  bis  auf  Guy  de 
Chauliac  bezeichnet.  Hervorgehoben  zu  werden  verdient,  daß  Lan- 
franchi im  College  de  St.  Cöme  zu  Paris  einen  großen  Kreis  von  wiß- 
begierigen Jüngern  der  Heilkunde  um  sich  scharte,  welche  daselbst  seinen 
öffentlichen  unentgeltlichen  Krankenordinationen  und  chirurgischen  Ope- 
rationen beiwohnten,  und  daß,  wie  die  zahlreichen  Manuskripte  von  mittel- 
alterlichen Aerzten  in  den  Bibliotheken  zu  Paris  beweisen,  seine  Werke 
von  seinen  Berufskollegen  viel  benützt  wurden. 

In  der  „Chirurgia  parva"  (1270),  die  gewissermaßen  die  Einleitung 
zu  der  umfangreicheren  Arbeit  des  Lanfranchi,  der  „Chirurgia  magna'* 
(1295,  <i),  bildet,  wird  der  Ohraffektionen  überhaupt  keine  Erwähnung 
getan.  Hingegen  beschäftigt  er  sich  in  der  „Chirurgia  magna"  (III.  Doktr. 
III.  Trakt.,  2.  Kap.)  in  ausführlicher  Weise  mit  der  Otiatrie,  ohne  jedoch 
irgend  einen  neuen  Gedanken  den  Mitteilungen  der  älteren  Vorgänger 
beizufügen.  Nichtsdestoweniger  ist  seine  Darstellung  interessanter  als 
die  seiner  Zeitgenossen ,  weil  sie  durch  eine  Kasuistik  belebt  wird ,  die 
wir  sonst  bei  Besprechung  der  Ohraffektionen  in  anderen  Werken  ver- 
missen. Lanfranchi  beginnt  mit  einer  kurzen  anatomischen  Beschrei- 
bung des  Ohres,  die  noch  dürftiger  ist  als  die  der  Griechen  und  Araber 
und  an  der  wir  nichts  Erwähnenswertes  finden.  Nach  der  anatomischen 
Einleitung  geht  er  zur  Besprechung  der  Krankheiten  des  Ohres  (aegri- 
tudines  aurium)  über,  deren  er  bloß  zwei  annimmt:  den  „Ohren schmerz" 
(dolor  auris)  und  den  „Gehörsfehler"  (vitium  auditus).  Was  den  „Dolor 
auris"    betrifft,    sei    er   einmal    Krankheit,    ein    andermal   Ursache   einer 


Bernard  von  Gordon.  53 


Krankheit.  Hervorgerufen  wird  er  1.  „propter  malam  complexionem  cali- 
dam"  und  zwar  bei  Abwesenheit  eines  Apostems  und  Ulcus,  2.  „propter 
malam  complexionem  frigidam",  die  bedingt  wird  durch  einen  „ventus 
vel  aer  frigidus",  3.  durch  Fremdkörper  (ab  his,  quae  ingressa  sunt 
aurem),  1.  de  ;ipostemate  calido,  5.  de  apostemate  frigido,  6.  a  ventosi- 
tate,  7.  ab  ulceribus  und  endlich  8.  ab  humiditate. 

Bei  Besprechung  der  Ulzera  erwähnt  er  folgenden  Fall ,  der  jedoch  in  vieler 
Beziehung  unklar  ist:  Optimum  est  etiam  in  antiquo  auris  ulcere  cum  dolore  in 
fontanella  apostema  cum  attractiva  medicina  provocare  et  provocato  novum  ibi  facere 
vulnus:  et  inde  materiam  expurgare :  sicut  feci  fratri  Petro  de  nana  de  praedicto 
ordine  in  lugduno.  passus  enim  longo  fuerat  tempore :  nee  poterat  sanies  expur- 
gari!  sed  cruciatus  doloribus  perierat.  Ego  et  postquam  ad  mortem  fui  vocatus 
emplastrum  de  fermento :  quod  dicam  in  antidotario  posui  super  aurem.  caput 
saepe  cum  aqua  decoctionis  maioranae  embroeavi :  ihique  profundum  feci  vulnus 
cum  sagitella :  et  inde  quantitatem  putredinis  extraxi  plus  quam  credibile  crederetur. 
cum  sanie  per  locum  vulneratum  noviter  exeunte:  fortificatus  est :  et  dolores  omnino 
cessaverunt:  et  perfecte  fuit  omnipotentis  auxilio  restitutus.  Aus  obigem  geht  bloß 
hervor,  daß  Lanfranchi  bei  einer  eitrigen  Okrerkrankung .  die  einen  bösartigen 
Verlauf  zu  nehmen  drohte ,  mit  einem  spitzigen  Skalpell  eine  tiefe  Inzisionswunde 
setzte,  aus  der  sich  eine  große  Menge  Eiter  entleerte.  An  welcher  Stelle  die  In- 
zision  vorgenommen  wurde ,  ob  es  sich  vielleicht  um  eine  Eiterung  des  Warzenfort- 
satzes handelte,  läßt  sich  aus  den  Angaben  Lanfranchis  nicht  feststellen. 

Bei  Besprechung  der  Gehörsverminderung  (deminutio  auditus)  rät 
Lanfranchi  ,,aures  ad  audiendum  cum  subtilibus  voeibus  incitare". 
Hieraus  ergibt  sich  in  voller  Klarheit,  daß  schon  dieser  mittelalterliche 
Chirurg  Hörübungen  vorgeschlagen,  wie  sie  dann  in  der  Folgezeit  oft 
bei  Schwerhörigkeit  empfohlen  wurden,  ohne  jedoch  jemals  einen  nennens- 
werten Effekt  zu  erzielen.  Endlich  sei  noch  als  Kuriosität  mitgeteilt, 
daß  Lanfranchi  durch  Fett  grüner  Laubfrösche  veraltete  Taubheit 
heilen  will:  pinguedo  ranarum  viridium  quae  morantur  in  arboribus 
collecta  quando  decoquuntur,  in  auribus  inieeta  habet  proprietatem  curandi 
surdos  etiam  desperatos. 

Bernard  von  Gordon.  Eines  der  ältesten  Mitglieder  der  angesehnn  n 
Schule  zu  Montpellier,  der  berühmte  französische  Arzt  Bernard  de 
Gordon,  hat  in  seinem  Wirke  „Lilium  medicinae"  (1305),  welches  er 
in  anerkennenswerter  Uebersichtlichkeit  und  Knappheit  zum  Gebrauche 
der  Aerzte  und  Studierenden  vom  Standpunkt  des  Internisten  abgefaßi 
hat,  den  Ohrerkrankungen  einen  verhältnismäßig  breiten  Kaum  ein- 
geräumt.    (De  passionibus  aurium,   Particula  111.  Cap.  VIII — XIV*).) 

Die  anatomische  I'. 'Schreibung  des  Gehörorgans,  die  Gordon  zu  Be- 
•_•- i 1 1 1 1    meiner    Darstellung    mitteilt,    ist    ebenso    kurz    als    unklar.      Er   sagt   darüber 


)   Hern.  Gordonii  opus   lilium   medicinae    inscriptum    de    morborum   prop«' 
omnium  curatione,  septem  particulis  distributum.     Lugduni  1559.     ]».  286 — 299. 


54  Bernard  von  Gordon. 


folgendes :  Instrumentuni  auditus  est  compositum  ex  osse  petroso,  nervo  expanso  et  nervo 
optico  concavo ,  et  aere  quieto .  et  ex  diverticulis  et  circumvolutionibus  anfractuosis 
in  foramine,  et  cartilagine  exteriori  apparente  circa  foramen  ad  modum  ostracorum. 

Aus  welchem  Grunde  Gordon  den  Nervus  opticus  mit  dem  Gehör- 
organ in  Verbindung  bringt,  ist  nicht  ersichtlich.  Einen  ebenso  dunkeln 
Sinn  birgt  der  Satz,  in  welchem  Gordon  die  Physiologie  des  Ohres 
bespricht.  Dieser  Satz  lautet:  „Intelligendum  quod  cum  aer  conquietus. 
qui  est  naturalis  in  nervo  concavo,  movetur  propter  aerem  exteriorem, 
tunc  fit  auditus".  Gordon  meint  also,  das  Hören  sei  eine  Folge  der 
Erregung  der  Luft  im  Inneren  des  Ohres  durch  die  äußere  Luft.  Wie 
dies  zu  verstehen  ist,  wird  nicht  näher  ausgeführt. 

Was  endlich  die  Ohrerkrankungen  anbelangt,  so  hat  Gordon 
den  umfangreichsten  therapeutischen  Werken  der  Araber  das,  was  ihm 
am  wichtigsten  schien,  entnommen  und  auf  diese  Weise  eine  gedrängte 
Zusammenstellung  der  damals  gebräuchlichsten  Heilmethoden  gegeben. 
Zuerst  bespricht  er  die  Taubheit  (Kap.  VIII)  und  ihre  verschiedenen 
Ursachen. 

Er  hält  vor  allem  die  veraltete  Taubheit,  die  länger  als  2  Jahre 
gedauert  hat,  für  unheilbar.  Taubheit,  die  bald  zunimmt,  bald  geringer 
wird ,  erklärt  er  für  prognostisch  günstig.  Bei  der  Behandlung  der 
Taubheit,  wie  bei  allen  Ohrenerkrankungen  überhaupt,  empfiehlt  er  dem 
Ohrenarzte  auf  neun  Regeln  (novem  canones)  zu  achten,  von  denen  wir 
einige  herausgreifen  wollen.  Vor  allem  seien  die  anzuwendenden  Injekta 
lauwarm;  man  möge  sie  nie  länger  als  3  Stunden  im  Ohre  lassen;  bevor 
ein  zweites  Medikament  angewendet  werde,  müsse  man  das  erste  ent- 
fernen und  das  Ohr  sorgfältig  reinigen;  nur  flüssige  Arzneien  mögen 
Verwendung  finden,  da  diese  leichter  ein-  und  ausfließen;  die  Quantität 
des  Mittels  sei  eine  geringe ;  nach  Einflößung  des  Mittels  in  den  äußeren 
Gehörgang  möge  sich  der  Patient  auf  das  gesunde  Ohr  legen ;  nur  reine 
Substanzen  dürfen  benützt  werden ;  kann  eine  Behandlung  durch  Um- 
schläge und  Pflaster  erfolgen,  so  mögen  Injektionen  tunlichst  vermieden 
werden,  da  alles  ins  Ohr  Gelangende  schadet,  besonders  wenn  das 
Ohr  vorher  nicht  aufs  peinlichste  gereinigt  wurde. 

Daß  in  diesen  Vorschriften  so  großes  Gewicht  auf  reinliche  Mani- 
pulationen gelegt  wird,  ist  beachtenswert.  Und  mit  Rücksicht  darauf 
kann  man,  wenn  man  nicht  allzu  kritisch  ist,  wohl  behaupten,  daß  die 
alten  Aerzte  im  13.  Jahrhundert  bereits  eine  Ahnung  von  der  Nützlichkeit 
der  Asepsis  hatten. 

Kapitel  IX  handelt  über  die  subjektiven  Geräusche  (De 
tinnitu  et  sibilo).  Diese  erklärt  Gordon  als  „Verderbnis  des  Gehörs" 
(corruptio  auditus),  gerade  so  wie  das  Mückensehen  ein  „Verderbnis  des 
Gesichtes"   bedeute. 


Bernard  von  Gordon.  55 


Sie  entständen  dadurch,  daß  Dämpfe  (ventositas  et  vapor)  die  Luft 
des  inneren  Ohres  heftig  erschüttern.  Entsprechend  den  verschiedenen 
Qualitäten  des  Dampfes  gebe  es  auch  verschiedene  subjektive  Geräusche, 
wie  Glockengeläute,  Regenprasseln,  Rauschen  der  Bäume,  Gären  des 
Mostes  etc.  Nach  diesen  und  ähnlichen  Gesichtspunkten  teilt  Gordon 
nun  die  subjektiven  Ohrgeräusche  ein  und  empfiehlt  zu  ihrer  Behandlung 
innere  und  lokale  Mittel,   die  er  dem  Arzneischatze  der  Araber  entlehnt. 

Hierauf  geht  Gordon  im  Kapitel  X  auf  die  Besprechung  des 
Ohrenschmerzes  und  der  Ohreiterung  über  (De  dolore  auris  et 
apostemate  intriuseco).  Am  heftigsten  sei  der  Ohrenschmerz  infolge 
warmer  Eiterung  (ex  apostemate  calida)  des  Ohres  und  dieser  führe  auch 
zu  den  schrecklichsten  Nebenerscheinungen  (ad  terribilia  accidentia).  Am 
lebensgefährlichsten  sei  dieser  bei  Jünglingen,  weniger  gefährlich  bei 
Knaben  und  am  allerwenigsten  bei  Greisen.  In  zweierlei  Dingen  unter- 
scheide sich  die  Behandlung  der  heißen  Ohraposteme  von  der  anderer 
Apostome. 

Erstens  müsse  man  von  der  Anwendung  von  „Repercussivis"  absehen 
und  eher  „Mitigativa"  anwenden,  da  zu  befürchten  sei,  daß  der  Eiter  zu 
irgend  einem  edlen  Körperteile  gelangen  könne,  wie  zum  Gehirne,  wo  er 
eine  Gehirnhautentzündung  (phrenesim  aut  lethargiam)  hervorrufe,  oder 
zu  der  Lunge,  wo  er  Lungenerkrankungen  verursache  (Metastasen?). 
Zweitens  mögen  auch  keine  ..Maturativa"  verordnet  werden.  Zum  Schlüsse 
des  Kapitels  gibt  Gordon  den  Rat,  auf  alle  Vorschriften  sorgsam  zu 
achten,  da  er  viele,  die  an  heißen  Ohrapostemen  litten,  in  den  Händen 
des  Chirurgen  sterben  sah.  Zur  Illustration  seiner  Ansicht,  daß  man  bei 
akuten  Ohreiterungen  nicht  sofort  operativ  vorgehen  solle,  erwähnt  er 
einen  Fall,  bei  dem  die  unerträglichen  Ohrenschmerzen,  die  allen  Be- 
handlungsmethoden nach  den  Regeln  der  Kunst  des  Galenus  und 
Avicenna  widerstanden,  durch  die  von  ihm  verordneten  Einträufelungen 
von  Oleum  de  chamomilla  ins  Ohr  geheilt  wurden. 

Kapitel  XI,  in  dem  er  das  „Ohrgeschwür"  und  den  „Ohren- 
fluß* (De  ulcere  aurium  et  sanie)  bespricht,  und  Kapitel  XII,  Avelches 
die  „Blutung  aus  dem  Ohre"  (De  sanguine  fluente  ab  auribus)  be- 
handelt, enthalten  durchwegs  belanglose  Details,  die  wir  als  ganz  un- 
interessant übergehen. 

Erwähnenswert  Aväre  nur  die  Tatsache,  daß  G  o  r  d  o  n  vor  der  Blut- 
stillung die  gründliche  Reinigung  des  Ohres  empfiehlt,  damit  nachher 
keine  Eiterung  entstehe  (ne  fiat  sanies  aut  apostema). 

Im  Kapitel  XIII  zählt  Gordon  die  Fremdkörper  des  Ohres 
auf  (De  oppilatione  auris  a  re  cadente  in  eam),  z.  B.  Wasser,  Staub, 
Flöhe,  Würmer  etc.;  auch  die  Ohrpolypen  rechnet  er  zu  den  Fremd- 
körpern.   Zur  Entfernung  eingedrungenen  Wassers  gibt  er  drei  Methoden 


56  Henri  de  Mondeville. 

an:  Nach  vorhergegangener  Reinigung  des  Ohres  (corpore  igitur  mun- 
dificato)  möge  eine  Röhre  in  das  Ohr  eingeführt  werden  und  irgend 
eine  niedrig  gestellte  Person  (vilis  persona)  daran  saugen.  Oder  man 
könne  zum  Aufsaugen  ein  Kinderspielzeug  (syrinx)  benützen,  mit  dein 
die  Knaben  Wasser  aufziehen  und  dann  wieder  fortspritzen;  endlich 
kenne  man  auch  ein  Rohr  mit  einem  Ende  in  das  Ohr  einführen  und 
an  dessen  äußerem  Ende  ein  Feuer  anzünden,  durch  welches  das  Ohr  aus- 
getrocknei  werde. 

Zur  Entfernuno;  von  Würmern  wird  folgender  ganz  absonderlicher 
Vorschlag  gemacht:  Der  Patient  lege  sich  mit  dem  Ohre  auf  einen  in 
der  Mitte  gespaltenen ,  ausgereiften  Apfel ;  dann  würden  die  Würmer 
schon  zu  diesem  Lockmittel  hinkriechen  und  man  könne  sie  nun  rasch 
entfernen. 

Polypen  ätzt  Gordon  mit  Auripigment  oder  er  entfernt  sie  auf 
operativem  Wege. 

Das  XIV.  Kapitel  endlich,  das  sich  „De  apostematibus  accidentibus 
extra  in  radice  auris"  betitelt,  und  das  Wesen  und  die  Behandlung  der 
Parotitis   bespricht,   enthält   in  keiner  Hinsicht   etwas  Bemerkenswertes. 

Henri  de  Mondeville.  Von  dem  französischen  Anatomen  und 
Chirurgen  Henri  de  Mondeville  [1320?],  der  zuerst  als  Professor  in 
Montpellier  und  später  als  Leibarzt  Philipps  des  Schönen  von  Frankreich 
sich  bei  seinen  Zeitgenossen  großen  Ansehens  erfreute,  ist  vom  otiatri- 
schen  Gesichtspunkte  nur  wenig  Rühmliches  zu  berichten. 

Daß  die  Anatomie  des  Gehörorgans  durch  ihn  keine  Förderung  er- 
fuhr, daß  er  sich  mit  den  spärlichen  Mitteilungen  der  älteren  Anatomen 
zufriedengab,  nimmt  uns  bei  dem  Umstände  nicht  wunder,  daß  im  Mittel- 
alter Ueberlieferungen  als  Dogmen  galten,  an  denen  niemand  zu  rütteln 
vragte.  Wenn  wir  nichtsdestoweniger  die  Ausführungen  Henris,  soweit 
sie  sich  auf  das  Gehörorgan  beziehen,  hier  wiedergeben,  so  geschieht 
dies  bloß  aus  dem  Grunde,  weil  seine  Darstellungsweise  vielen  seiner 
Nachfolger  als   Vorbild  diente. 

Au-  der  von  Pagel  nach  den  besten  Handschriften  zusammengestellten  ersten 
Ausgabe  der  Werke  Henris  zitieren  wir  die  auf  die  Anatomie  des  Ohres  Bezug 
habenden  Stellen. 

Anathomia  organorum  auditus  et  auris.  .  .  .  Nervi  ergo,  qui  sunt  organa 
auditus,  oriuntur  a  cerebro  et  portant  ad  ipsum  species  sonorum  et  sunt  concavi  et 
dilatantur  in  orbita  foraminis  .iuris  et  ibi  multipliciter  dividuntur  et  finiuntur. 
Utilitates  concavitatis  istorum  nervorum  fuerunt  duae:  1.  ut  spiritua  audibilis  per 
ipsos  libere  valeat  pertransire;  2.  ut  species  sonorum  audibilium  valeant  per  eorum 
concavitates  ad  cerebrum  deportari.  Utilitates,  quare  foramina  aurium  fuerunt  tor- 
tuosa,  capitulo  de  anatomia  capitis  sunt  ostensae.  (Henri  meint  hier  folgende 
Stelle:  Utilitates,  quare  foramina  hujusmodi  ossium  in  auribus  fuerunt  tortuosa, 
fuerunt  2:    1.  ut   aSr  transiena  per  ipsa   ad  cerebrum  alteretur,   ne  cerebrum  laedat 


Henri  de  Mondeville.  57 


et  multis  revolutionibus  degradetur;  quia  excellens  sensibile  corrumpit  sensurn,  ut 
patet  in  secundo  de  anirna,  sed  ex  ejus  longa  remanentia  in  dictis  revolutionibus 
ejus  excellentia  minoratur.  (Tract.  I,  Cap.  2,  p.  28.)  Auris  est  mernbrum  coadjuvans 
auditum  et  est  membrum  consimile  vel  officiale,  complexione  frigidum  et  siccuin, 
cartilaginosum,  nervosum,  extra  caput  erninens,  plicabile.  Utilitas  creationis  auris 
et  quare  apparens  extra  caput  elevata  fuit,  ut  soni,  qui  sunt  flexibiles,  valde  sub 
ejus  umbra  laterent,  donec  essent  ab  auditus  organo  apprehensi.  Utilitates,  quare 
auris  fuit  plicabilis,  fuerunt  2:  1.  ut  possent  plicari  sub  cucufa  sive  mitra,  et  haec 
utilitas  debilis  est,  quia  bruta  habent  aures  plicabiles,  quamvis  mitra  non  utantur: 
2.  quia  si  non  essent  plicabiles,  multotiens  cum  obviant  corporibus  duris  extrinsecis, 
lederentur.  Utilitas,  quare  cartilaginosa,  est,  ut  sustentetur  et  nibilominus  aliquando 
plicetur  (Tract.  I,  Cap.  3,  p.  31). 

Von  den  13  Abbildungen,  die  Henri  seiner  Anatomie  nach  den 
Mitteilungen  Guys  von  Chauliac  beifügte  und  die  übrigens  bloß  in 
rohen  Nachzeichnungen  eines  seiner  Schüler  erhalten  sind,  bezieht  sich 
keine  auf  das  Gehörorgan,  ein  Beweis,  wie  gerade  dieses  Sinnesorgan 
von  den  Alten  stiefmütterlich  behandelt  wurde. 

Von  der  Pathologie  des  Gehörorganes  des  Henri  de  Mondeville 
wäre  hier  bloß  das  12.  Kapitel  aus  der  IL  Doktrin  des  III.  Traktates 
mitzuteilen. 

An  dieser  Stelle  spricht  Henri  „de  cura  apostematis,  quod  fit  in 
radice  auris  scilicet  inter  ejus  foramen  aut  circumcirca  immediate"  nach 
den  Gesichtspunkten:  1.  de  notificatione ;  2.  de  cura;  3.  de  declarationi- 
bus.  Daß  ihm  die  Lebensgefahr  von  Abszessen  des  Gehörorganes  be- 
kannt war,  beweist  die  Stelle :  „facit  dolores  acutissimos  atque  febrem  et 
quandoque  mentis  alienationem  et  mortem,  maxime,  quando  fit  in  fora- 
mine  et  in  nervo".  Gurlt  ist  der  Ansicht,  daß  es  sich  bei  diesen  „apo- 
stemata  in  radice  auris"  wahrscheinlich  um  Abszesse  des  äußeren  Ge- 
hörganges handeln  dürfte.  Wahrscheinlicher  sind  darunter  Eiterungen 
aus  dem  Gehörgange  im  allgemeinen  zu  verstehen,  zumal  ja  die  mittel- 
alterlichen Aerzte  in  voller  Unkenntnis  des  Mittelohrs  die  Lokalität  der 
Ohrerkrankung  festzustellen  nicht  in  der  Lage  waren. 

Im  nächsten  Kapitel  (XIII)  bespricht  Henri,  dem  Titel  nach  zu 
schließen,  die  Parotitis.  „De  cura  apostematum  emunctorii  cerebri,  quod 
est  sub  aure  per  spatium  quattuor  digitorum  transversalium  inter  maxillas 
et  gulam  in  vacuitate  super  venam  organicam  ascendentem."  Ueber 
die  Art  dieser  Erkrankung  sowie  der  vorhin  erwähnten  fehlt  jede  Be- 
schreibung. 

Die  genaue  Besprechung  der  Ohrerkrankungen  hat  Mondeville  der  dritten 
Doktrin  des  dritten  Traktates  vorbehalten,  zu  deren  Ausführung  es  jedoch  nicht 
mehr  kommen  sollte,  da  ihn  der  Tod  ereilte.  Wir  besitzen  jedoch  ein  Inhaltsver- 
zeichnis dieser  dritten  Doktrin,  aus  welchem  der  Plan  der  beabsichtigten  Arbeit 
ersichtlich  ist.  Im  nachstehenden  reproduzieren  wir  daraus  den  Abschnitt,  der  sich 
auf  das  Gehörorgan  bezieht:    Cap.  IV.     De  morbis  organorum  auditus,  qui  sunt  16: 


<  ruy  de  Chauliac. 


1.  DefectuB  totalis  auditus,  vel  amissio  vel  surditas.  2.  Diminutio  auditus  in  parte, 
non  in  toto.  3.  Corruptio  ipsius.  4.  Tinnitus  aut  sibilus.  5.  Dolor  immaterialis. 
(i.  Dolor  qui  est  causa  alterius  morbi.  7.  Dolor  a  causa  vel  materia  intrinseca,  qui 
.  -t  aeeidens  alterius  morbi,  ut  ulceris  et  similium.  8.  Res  extrinseca  existens  in 
foramine  aurium.  9.  Opilatio  a  nativitate.  10.  Opilatio  ex  cerumine.  11.  üpilatio 
ex  Verruca  aut  simili.  12.  Fluxus  sanguinis.  13.  Pruritus.  14.  Ulcus  recens.  15.  Fistula. 
16.  Tremor  ex  fortibus  voeibus  sive  sonis. 

Guy  de  Chauliac,  dem  geistvollsten  Chirurgen  des  14.  Jahrhunderts 
und  gefeiertsten  medizinischen  Schriftsteller  des  Mittelalters,  dessen  „Chi- 
rurgia"  hei  den  zeitgenössischen  Wundärzten  sich  einer  großen  Beliebt- 
heit erfreute,  hat  die  Ohrenheilkunde  kaum  eine  bedeutendere  Leistung 
zu   danken. 

Was  Chauliac  in  seinem  berühmten  Werke,  „ Collectoriuni  artis 
chirurgicalis  medicinae"  (1363),  das  mit  ungewöhnlicher  Gelehrsamkeit, 
umfassender  Kenntnis  der  früheren  Schriftsteller  und  vorzugsweiser  Be- 
nützung griechischer  und  arabischer  Quellen  verfaßt  ist,  über  das  Gehör- 
organ zu  sagen  weiß,  gibt  ein  charakteristisches  Bild  von  der  Stagnation 
der  wissenschaftlichen  Forschung  auf  anatomischem  Gebiete  und  von  der 
rohen,  oberflächlichen  Empirie  bei  der  Behandlung  von  Ohrerkrankungen. 
Obwohl  der  otologische  Teil  von  Chauliacs  Werk  nicht  jene  Selb- 
ständigkeit zeigt  wie  das  seiner  Vorgänger  Saliceto  und  Lanfranchi, 
so  hat  doch  sein  Collectorium  den  bleibenden  Wert,  uns  die  Behandlungs- 
methoden der  mittelalterlichen  Wundärzte  und  Bader  bei  Ohrerkrankungen 
drastisch  vor  Augen  zu  führen,  weil  Chauliac  alles,  was  sich  ihm  nur 
irgend  Interessantes  an  Material  darbot,  darin  zusammenstellte.  Mit  Recht 
sagt  daher  von  ihm  ein  Dichter  des  Mittelalters,  Joannes  Spinasius: 

„Nam  quae  sparsa  locis  tot  erant,  haec  scriptor  in  unum 
Sedulus  instar  apis  euneta  coegit  opus"  *). 

In  richtiger  Erkenntnis  der  Bedeutung  der  Anatomie  für  die  Medizin 
wird  diese  von  Chauliac  zu  Beginn  seines  Werkes  behandelt  und  ihr 
der  ganze  1.  Traktat  eingeräumt  (De  anatomia  continens  duas  doctrinas). 
Im  2.  Kapitel  (De  anatomia  faciei  et  partium  eius)  beschreibt  er  das 
Gehörorgan.  Zur  Dlustrierung  der  Dürftigkeit  dieser  Beschreibung,  die 
auf  den  ersten  Blick  zeigt,  daß  Chauliac  nie  ein  menschliches 
Gehörorgan  zergliedert  hat,  möge  sie  hier  ungekürzt  Platz  finden: 
„Aures  cartilaginosae  et  anfractuosae,  super  os  petrosum  ad  audiendum 
sunt  ordinatae.  Ad  eas  perveniunt  foramina  tortuosa  dicti  ossis,  et  pori 
seu  nervi  es  quinto  pari  nervorum  cerebri,  in  quibus  est  auditus.  Et 
sub  auribus  sunt  carnes  glandulosae,  quae  sunt  cerebri  emunetoria:  iuxta 


*)  Siehe  Chirurgia  magna  Guidonis  de  Cauliaco.    Herausgegeben  und  kom- 
mentiert von  Laurentius  Joubertus.     Lugduni  1585.     Einleitung  p.  8. 


Guy  de  Chauliac.  59 


quae  loca  transeunt  venae,  quae  (ut  dicit  Lanfrancus)  portant  partem 
materiae  spermaticae  ad  testiculos:  itaque  si  incidantur,  perditur  gene- 
ratio.  Cuius  contrarium  tenet  Gal.  ut  in  tract.  de  phlebotomia  recitat 
Avicenna.u 

Das  ist  alles,  was  wir  von  Chauliac  über  den  Bau  des  Gehör- 
organes  erfahren. 

Was  die  Pathologie  anbelangt,  so  teilt  G u i d o  die  chirurgischen 
Erkrankungen  ein  in  Eiterungen  (apostemata),  Wunden  (vulnera),  Ge- 
schwüre (ulcera),  Knochenerkrankungen  (ossium  passiones)  und  ver- 
schiedene andere  krankhafte  Veränderungen  (variae  aegritudines).  Nach 
diesen  Gesichtspunkten  behandelt  er  auch  die  Krankheiten  des  Ohres. 
Wir  unterlassen  es,  auf  seine  Differenzierungen  dieser  Bezeichnungen  näher 
einzugehen,  und  wollen  nur  einige  geschichtlich  interessanten  Bemerkungen 
herausgreifen. 

Ueber  die  Symptome  der  Ohrerkrankungen  hat  Guido  ungefähr 
folgende  Ansicht:  Rührt  das  Ohrenleiden  von  einer  Eiterung  her,  so  ist 
es  mit  Fieber,  Schmerzen,  Mattigkeit  und  Pulsationen  verbunden. 

Wenn  es  von  kaltem  Eiter  stamme,  erkenne  man  dies  aus  der 
Mattigkeit  des  Patienten  mit  Kältegefühl.  Ohrenleiden,  die  warmen  Eiter 
erzeugen,  sind  von  Hitze  und  stechenden  Schmerzen  begleitet.  Trägt 
die  Zugluft  am  Ohrenleiden  schuld,  so  bestehe  Ohrensausen.  Ist  ein  Ge- 
schwür vorhanden,  so  leide  der  Patient  an  schmerzhaftem  Zucken  u.  s.  w. 

Zur  Diagnose  eingedrungener  Fremdkörper  empfiehlt  Guido 
die  Inspektion  des  Ohres  bei  einfallendem  Sonnenlichte  und  gleichzeitiger 
Erweiterung  des  äußeren  Gehörganges  mit  einem  Speculum  oder  einem 
anderen  Instrumente.  Soweit  sich  dies  aus  der  Literatur  konstatieren  läßt, 
ist  es  Guido,  der  zum  ersten  Male  ein  Ohrenspeculum  zur  Erweiterung 
des  äußeren  Gehörgauges  erwähnt. 

Für  die  Heilung  der  Taubheit  und  Schwerhörigkeit  schlägt 
Guido  nebst  dem  ganzen  großen  therapeutischen  Apparat  der  Griechen 
und  Araber  allgemeine  und  örtliche  Behandlung  vor. 

Die  allgemeine  Behandlung  besteht  in  der  Regelung  der  Diät,  in 
Purgativ-  und  Schmerzstillungsmitteln.  Für  die  örtliche  Behandlung  gibt 
Guido  dem  Ohrenarzte  Weisungen,  von  denen  man  einige  auch  heute 
noch  anerkennen  muß.  So  verlangt  er  beispielsweise,  daß  die  Medika- 
mente, die  ins  Ohr  eingeflößt  werden,  weder  allzu  kalt,  noch  allzu 
heiß  seien,  eine  Maßregel,  an  die  sich  auch  jeder  moderne  Ohrenarzt 
halten  wird. 

Das  Instrumentarium,  das  Guido  für  einen  chirurgisch  gebildeten 
Otiater  unumgänglich  notwendig  findet,  besteht  aus:  Auriscalpia,  Leva- 
toria,  Uncus  parvae  curvationis,  Cannulae  fugitivae;  Suftümigatoriae, 
Lana,  Xylon,  Spongia,  Pannus,  Viscum. 


ßO  Valescus  de  Taranta. 


Valescus  de  Taranta.  In  keinem  medizinischen  Kompendium 
.  und  L5.  Jahrhunderts  dürfte  die  Ohrenheilkunde  in  solch  breiter 
Ausführlichkeit  behandelt  sein  als  in  dem  Philonium  s.  Practica 
tnedica  (1418  beendigt)  des  Portugiesen  Valescus  (Balescou)  von 
Taranta  (seit  1382  Lehrer  in  Montpellier).  Man  würde  jedoch  fehl- 
gehen, wollte  man  aus  dieser  Tatsache  den  Schluß  ziehen,  daß  im 
Philonium  viel  Neues  über  Ohranatomie  und  Pathologie  des  Ohres 
enthalten  ist.  Denn  die  Breitspurigkeit  dieses  Werkes  ist  nur  das  Er- 
gebnis der  peinlichen  Genauigkeit,  mit  der  der  Autor  die  Arbeiten  der 
Alten  und  der  arabischen  Schriftsteller,  sowie  auch  einiger  Zeitgenossen 
bei  der  Abfassung  seines  Sammelwerkes  benützt  hat.  Nichtsdestoweniger 
sind  im  Philonium  auch  manche  selbständige  Notizen  und  Beobachtungen 
über  Ohraffektionen  enthalten,  denen  jedoch  kein  großer  Wert  beizu- 
messen ist. 

Die  Darstellung  der  Ohrerkrankungen  umfaßt  das  49. —  50.  Kapitel 
des  2.  Buches.  Valescus  beginnt  mit  der  Anatomie  des  Ohres  (Kap.  49). 
Die  Worte  bei  Beschreibung  des  Os  petrosum :  ..Ista  quidem  ossa  habent 
in  se  circungirationes  et  anfractuosi tates  ad  intra"  beweisen, 
daß  Valescus  wahrscheinlich  auf  Bruchflächen  des  zersprengten  Felsen- 
beins den  komplizierten  Bau  des  inneren  Ohres  erkannt  hat,  doch  fehlte 
es  den  Aerzten  jener  Periode  an  der  nötigen  Fertigkeit,  die  Details  des 
inneren  Ohres  anatomisch  darzustellen.  Seine  anatomische  Beschreibung 
des  Gehörorgans  ist  daher  ebenso  wertlos  wie  die  aller  anderen  Anatomen 
des  Mittelalters. 

In  Kapitel  50  spricht  Valescus  „de  nocumentis  auris  et  primo  de 
surditate"  nach  dem  Schema:  Causae,  Signa,  Pronosticatio,  Cura,  Diaeta. 
Clarificatio.  Was  er  unter  diesen  Rubriken  über  die  Schwerhörigkeit 
mitteilt,  beansprucht  als  reine  Kompilation  kein  Interesse.  Hervorzuheben 
wäre  bloß,  daß  Valescus  lebensgefährliche  Ohrerkrankungen  kennt, 
die  durch  Eiterungen  hervorgerufen  werden  und  für  die  er  rasche  Er- 
öffnung vorschlägt:  „si  ibi  sit  apostema  calidum:  adest  febris  continua 
pulsatio,  dolor  grandis  cum  orripilatione  et  tremor,  et  aliquando  venit 
permixtio  intellectus:  et  aliquando  mors  nisi  cito  aperiatur".  Ob  hier 
Eiterungen  im  Warzenfortsatze  gemeint  werden,  wird  aus  dieser  Stelle  nicht 
recht  klar,  da  wir  eine  Beschreibung  dieser  Erkrankung  gänzlich  vermissen. 

Das  nächste  Kapitel  (51)  handelt  „De  tinnitu  aurium".  Hier  er- 
wähnt Valescus  selbst  beobachtete  Fälle  von  subjektiven  Geräuschen 
infolge  Schädelerschütterung  durch  einen  Schlag:  „ego  vidi  hominem 
iuvenem,  qui  fuit  in  capite  percussus  cum  fuste  lignea  et  exinde  per 
magnum  tempus  habuit  capitis  dolorem  cum  tinnitu  aurium.  Et  vidi 
pueru m  cum  manu  frequenter  supra  aurem  percussum  et  exinde  factus 
est  surdus   cum   tinnitu''. 


Nicola  Nicole.  61 


Das  Kapitel  52  (De  dolore  auris)  enthält  bereits  von  anderen  Au- 
toren her  bekannte  Mitteilungen  über  den  Ohrenschmerz,  der  nicht  als 
Symptom,  sondern  als  selbständige  Erkrankung  behandelt  wird. 

Im  Kapitel  53  hingegen,  wo  Valescus  „De  sanie  et  ulceribus  au- 
rium"  spricht,  hält  er  die  „sanies  aurium"  nicht  für  eine  Krankheit;  er 
sagt  nämlich:  sanies  aurium  non  est  morbus,  und  dann  später:  sanies 
est  signum  morbi. 

Von  dem  kurzen  54.  Kapitel  (De  fluxu  sanguinis  aurium)  und  von 
dem  viel  ausführlicheren  55.  (De  oppilatione  auris  a  causis  extrinseca 
vel  intrinseca)  sind  keine  Details  erwähnenswert. 

Nicola  Nicole.  Einer  der  gelehrtesten  und  verständigsten  Aerzte 
des  Mittelalters  war  unstreitig  der  Florentiner  Nicola  Nicole  (1357 
bis  1430),  der  seinen  Zeitgenossen  nur  wenig  und  auch  späteren  Mediko- 
historikern  wie  z.  B.  Sprengel  gar  nicht  bekannt  war.  Man  würde 
jedoch  fehlgehen,  Nicolas  Verdienst  in  irgend  einer  hervorragenden 
Leistung  auf  dem  Gebiete  der  Ohrenheilkunde  zu  suchen ;  seine  Bedeutung 
besteht  vielmehr  in  seiner  trefflichen  Kompilation,  die  er  mit  solchem 
Verständnis  und  richtiger  Auswahl  hergestellt  hat,  daß  sich  in  seiner 
umfangreichen  Schrift*)  gewiß  noch  manche  wichtige  Momente  zur  Auf- 
klärung der  mittelalterlichen  Medizin  vorfinden  müssen.  Für  uns  ist  eine 
Bemerkung  von  ganz  besonderem  Interesse,  die  ich  sonst  bei  den  anderen 
mittelalterlichen  medizinischen  Autoren  nicht  finde. 

An  einer  Stelle**)  erzählt  nämlich  Nicola:  ein  gewisser  Simeon 
empfehle  bei  Taubheit  ein  silbernes  oder  eisernes  Rohr,  welches  genau 
in  den  äußeren  Gehörgang  passe,  ins  Ohr  einzuführen  und  wiederholt 
heftig  an  diesem  Rohre  zu  saugen,  also  mit  anderen  Worten  die  Luft 
im  äußeren  Gehörgang  zu  verdünnen.  (Et  dixit  Simeon:  impone  auri 
cannulam  argenteam  vel  aeneam  factam  ad  modum  ipsius  auris  et  suga- 
tur  cum  ea.  cum  violentia  saepe.  qm  confert  surditati  vehementer.) 

Wer  dieser  Simeon  ist,  konnte  ich  nicht  feststellen;  wahrscheinlich 
dürfte  es  der  am  byzantinischen  Hofe  im  11.  Jahrhundert  lebende  Arzt 
Simeon  Seth  gewesen  sein.  Demnach  wurde  schon  im  11.  Jahrhundert 
der  therapeutische  Einfluß  der  Luftverdünnung  im  äußeren  (le- 
hörgange  bei  manchen  Ohrerkrankungen  erkannt.  Dies  verdient  des- 
halb hervorgehoben  zu  werden,  weil  in  allen  Werken  über  Ohrenheil- 
kunde   der    englische    Militärarzt   Gleland        )    als    derjenige    angeführt 


*)  Nicolai  Nicoli  Florentini  philosophi  medicique   praestantissimi  Sermones 
medicinales  septem.     (Venetiis  1491,  4  voll.;  ibid.  1507  u.  1533.) 

::::)  Sermo   tertius   de  membria  capitis.     Tract.  VI.     De  aegritadinibus  aurium. 
Cap.  II.     De  nocumenti8  auditus.     p.  205  c. 

***)  Van  Swieten  zitiert  nach:  Komment,  zu  Boerliaves  Aphorismen.    Tom.  II, 
1805.  p.  677. 


62  Nicola  Nicole. 


wird,    der    zuerst    die   Luftverdünnung    im    äußeren    Gehörgange    thera- 
peutisch angewendet   hat. 

Aus  den  „Sermones"  des  Nicola  Nicole  zitieren  wir  noch 
li  Grurlts  vorzüglichem  Geschichtswerke  (I,  p.  810):  „Bei  der  Be- 
handlung der  Ohrenkrankheiten  (Kap.  26)  handelt  es  sich  um  die  Aus- 
ziehung der  Fremdkörper  aus  dem  äußeren  Gehörgange  in  der  bekannten 
Weise."  Es  geschieht  dies  zum  Teil  ..cum  picicarolis  seu  tenaculis 
acutarum  extreinitatum",  oder  ..cum  uncina  subtili  pauce  duplicationis 
ut  nun  possis  ledere  aurem",  oder  mit  Zuhilfenahme  einer  .,canulla  ex 
ere",  die  mittels  weichen  Wachses  luftdicht  an  den  Gehörgang  angesetzt 
und  zum  Aussaugen  benützt  wird.  Bei  einer  Verstopfung  ( ..oppilatio" ) 
des  letzteren  „earne  nata  in  ea",  also  durch  einen  Granulationspolypen, 
entfernt  man  diesen  „cum  spatumali  subtili  in  cuius  extremitate  sit 
quedam  latitudo  parva  eius  quedam  pars  sit  acuta  et  reliquum  spatumile 
sit  duorum  laterum  levium  ut  non  ledat  aurem". 

Was  Nicolas  sonstige  Ausführungen  über  unser  Fach  anbetrifft, 
so  findet  sich  in  ihnen  kaum  etwas  Neues;  immerhin  sind  seine  Mit- 
teilungen, welche  sich  durch  klare  Diktion  vorteilhaft  von  seinen  Zeit- 
genossen unterscheiden,  angenehmer  zu  lesen  als  die  gleichzeitigen 
medizinischen  Werke.  Wer  durch  eigene  Lektüre  eine  richtige  Vor- 
stellung von  dem  Stande  der  Otiatrie  im  Mittelalter  erlangen  will,  wird 
dieses  Werk  in  erster  Reihe  mit  Vorteil  benützen. 

Die  Ohr  affektion  en  werden  in  11  Kapiteln  besprochen  und 
zwar  im  Kapitel  I:  De  quibusdam  quaesitis  circa  auditum  et  circa  aures 
et  solutionibus  eorum  et  conservatione  sanitatis  aurium  et  auditus;  im 
Kapitel  II :  De  nocumentis  auditus ;  im  Kapitel  III :  De  dolore  auris ;  im 
Kapitel  IV:  De  apostemate  auris;  im  Kapitel  V:  De  ulceribus  et  pustulis 
et  exitu  sanguinis  et  saniei  ab  aure;  im  Kapitel  VI:  De  sorde  aggregata 
in  aure;  im  Kapitel  VII:  De  oppilatione  auris;  im  Kapitel  VIII:  De  tinnitu 
et  sibilo;  im  Kapitel  IX:  De  attritione  auris  seu  conquassatione  et  pru- 
ritu  et  tremore  ex  magnis  vocibus;  im  Kapitel  X:  De  aqua  ingrediente 
aurem  ei  aliis  eandem  ingredientibus,  und  im  Kapitel  XI  endlich:  De 
verme  generato  in  aure  et  aliis  animalibus  parvis  intrantibus  aurem. 
Alle  diese  Kapitel  enthalten,  wie  wir  bereits  früher  ausführlich  aus- 
einandergesetzi  halten,  eine  Auswahl  aus  der  medizinischen  Literatur  der 
Griechen.  Araber  und  der  christlichen  Zeitgenossen  und  die  umfassende 
und  genaue  Zusammenstellung  beweist  nur  die  eminente  Gelehrsamkeit 
des  Verfassers. 

Die  zahlreichen  bisher  nicht  erwähnten  medizinischen  Autoren  des 
14.  und  15.  Jahrhunderts  befassen  sich  in  ihren  umfangreichen  Kom- 
pendien mehr  oder  minder  ausführlich  mit  der  Otiatrie.  Von  dem  Galeni- 
schen Prinzipe  geleitet,  die  Erkrankungen  des  menschlichen  Körpers  vom 


Bruno  da  Longoburgo.  63 


Scheitel  bis  zur  Zehe  (a  capite  ad  calcem)  zu  besprechen,  haben  fast  alle 
in  ihren  Schriften  den  Leiden  des  Ohres  bei  den  Kopfkrankheiten  einen 
Platz  eingeräumt.  Ueberall  jedoch  begegnen  wir  denselben  gedanken- 
losen Wiederholungen,  ohne  auf  neue  Gesichtspunkte  oder  originelle 
Beobachtungen  zu  stoßen.  Der  Vollständigkeit  halber  sollen  hier  die 
bedeutendsten  Aerzte  dieser  Periode,  die  sich  sonst  um  den  Fortschritt 
der  medizinischen  Wissenschaft  einiges  Verdienst  erworben  haben,  kurz 
erwähnt  werden*). 

Bruno  da  Longoburgo,  der  Zeit  nach  vor  Guilelmo  Saliceto  (vergl. 
p.  51),  schließt  sich  in  seiner  „Chirurgia  Magna"  (1252)  bei  der  Be- 
sprechung des  Ohrenschmerzes  und  der  Extraktion  der  Fremdkörper  aus 
dem  äußeren  Gehörgange  (Lib.  II,  Kap.  4)  vollkommen  den  Angaben  des 
Paulus  von  Aegina  und  Abulkasim  an.  Niccolo  Bertuccio  (f  1342), 
dessen  Guy  de  Chauliac  als  seines  Lehrers  gedenkt,  behandelt  im 
ersten  Buche  seines  „Compendium  sive  collectorium  artis  medicae"  die 
Ohrerkrankungen   nicht  viel  besser  oder  schlechter  als  seine  Vorgänger. 

In  der  Arbeit  eines  der  bedeutendsten  italienischen  Chirurgen  des 
15.  Jahrhunderts,  der  „De  chirurgia  libri  VI"  des  Pietro  d'Argellata 
(f  1423;  (Pietro  de  la  Cerlata),  der  in  vielen  otiatrischen  Werken**) 
als  der  Erfinder  des  Ohrspeculums  bezeichnet  wird,  jedoch  mit  Unrecht, 
da  Guy  de  Chauliac  vor  ihm  dasselbe  erwähnt  (p.  59),  handelt  der 
V.  Traktat  des  II.  Buches  in  3  Kapiteln:  „De  apostematibus  calidis,  frigidis, 
duribus".  Im  Kapitel  V  des  III.  Buches  beschäftigt  sich  Argellata 
mit  den  Wunden  des  Ohres  und  empfiehlt  die  Teile  durch  eine  Naht 
genau  zu  vereinigen.  Bei  Verwundungen  durch  einen  Pfeil  kommt  es 
darauf  an,  ob  der  Pfeil  in  die  Schädelhöhle  eingedrungen  ist  oder  nicht. 
Danach  richtet  sich  dann  die  Prognose  und  Behandlung.  Der  V.  Traktat 
des  IV.  Buches  bespricht  „De  ulceribus  aurium"  in  zwei  Kapiteln:  „De 
ulceribus  putridis  et  virulentis  et  corrosivis  aurium"  und  „De  sanie 
aurium  et  ulceribus  earum  in  universali".  Auch  im  IX.  Traktat  des 
V.  Buches  wird  einiges  über  Ohrerkrankungen  vorgebracht. 

Galeazzo  di  Santa  Sofia  (f  1427),  der  aus  Padua  von  Albrecht  IV. 
an  die  neugegründete  Wiener  Universität  berufen,  im  .Jahre  1404  die 
ersten  anatomischen  Demonstrationen  in  Wien  abgehalten  hat,  bringt 
in  seinem  „Opus  medicinae  practicae  saluberrimum"  (Kap.  36)  bloß 
eine  Kopie  der  arabischen  Autoren.  Dasselbe  gilt  von  den  ..Consilia" 
des  Benzi  (y  1  193),  der  einer  der  größten  Anatomen  der  vorvesalischen 
Periode    gewesen    sein  soll,    und  der   „Practica"    (Trakt.  VI,    Kap.  4)  des 


l   Vbrgl.  Grurlts  „ Geschichte  der  Chirurgie",  welche  als  verläßliche  Quelle  für 
diese  Periode  zu  bezeichnen  ist. 

**)  Linkes  Ohrenheilk.  II,  p.  23. 


(;|  Giovanni  Arcolano. 


Paduaners  Savonarola  (f  nach  1440),  des  Großvaters  des  als  Ketzer 
annten  Girolamo  Savonarola.  Unbedeutende  Abhandlungen  über 
Ohraffektionen  sind  weiter  in  der  „Practica  nova"  des  Mailänders  Gionni 
da  Concoreggio  (geb.  um  1380)  und  im  „Admirabile  et  Novum  opus" 
des  als  Astrologen  und  Scholastiker  bekannten  Mengo  Bianchelli  (geb. 
um  1440)  enthalten. 

Giovanni  Arcolano  (Johannes  Arculanus),  ein  berühmter  Arzt 
aus  Verona  (f  1484?),  empfiehlt  in  seiner  „Practica"  (Kap.  34 — 41) 
die  Umgebung  des  leidenden  Ohres  zu  betasten,  unterscheidet  zwischen 
Eiterung  aus  dem  Ohre  und  Gehirnabszeß  und  beobachtet  Geschmacks- 
vcii'uiderung  bei  Ohrenleiden.  Zur  Entfernung  von  Fremdkörpern 
aus  dem  äußeren  Gehörgang  hat  er  eine  besondere  Pinzette  angegeben, 
die  er  auch  zur  Entfernung  von  Fremdkörpern  aus  der  Nase  und  aus  der 
Harnröhre  benützt.  Für  das  Aussaugen  eingedrungenen  Wassers  bedient 
er  sich  eines  Schwammes,  der  stark  zusammengedrückt  in  den  Gehörgang 
eingeführt  wird  („spongia  facta  subtilis  per  fortem  constrictionem").  Zu 
gleichem  Zwecke  verwendet  er  ..medullae  meliguae,  aut  fustes  anethi, 
aut  papirus  palustris". 

Eines  komischen  Beigeschmackes  entbehrt  nicht  das  von  ihm  zur  Entfernung 
von  Insekten  empfohlene  Verfahren,  nämlich  den  einer  lebenden  oder  frisch  ge- 
töteten Eidechse  abgeschnittenen  Kopf  in  den  Gehörgang  zu  bringen.  Nach  drei 
.Stunden  werde  sich  der  fremde  Körper  im  Munde  der  Eidechse  befinden1'). 

Giovanni  da-Vigo,  ein  gebürtiger  Genuese  (geb.  1460)  schreibt, 
im  IL  Buche,  IL  Traktat,  Kapitel  11 — 12  seiner  „Practica  in  arte  chirur- 
gica  copiosa"  über  Ohrenkrankheiten  entzündlicher  Art.  Ob  es  sich  bei 
den  im  Kapitel  13  abgehandelten  „apostemata  calida  aut  frigida  sub 
auribus  evenientia"  um  Parotitiden  handelt  oder  ob  vielleicht  Eiterungen 
aus  dem  Warzenfortsatze  gemeint  sind,  läßt  sich  nicht  genau  feststellen. 
Die  Therapie  bei  diesen  Apostemen  besteht  in  maturierenden  Pflastern, 
in  der  Eröffnung,  eventuell  in  der  Anwendung  von  Schröpf  köpfen.  Im 
111.  Traktat  des  IV.  Buches  befaßt  sich  Vigo  neuerdings  mit  den  Ohren- 
krankheiten (Kap.  5 — 10).  Er  bespricht  hier  ..ulcera  in  inferiori  parte 
aurium  nascentia",  „Verruca  nascens  in  aure",  „tinnitus  et  ventositas 
aurium",  „dolor  aurium",  „surditas  aurium"  und  schließlich  die  Fremd- 
körper. Zur  Entfernung  von  Wasser,  das  in  den  Gehörgang  eingedrungen 
ist,  will  er  sogar  den  Katheter  in  Anwendung  bringen:  ..Syringa  quo- 
que  sive  argalia  qua  boni  et  experti  chirurgi  urinam  hauriunt  extra 
vesicam."  Endlich  sei  noch  erwähnt,  daß  Vigo  sich  auch  des  Ohren- 
spiegels bedient  hat  („ad  solem  speculo  instrumento  aure  ampliata").  Bei 
„Verruca  nascens   in  aure"   handelt  es  sich  höchstwahrscheinlich  um  den 


*)  Pratica.    Venetiis  1493.    p.  60. 


Jehan  Yperman.  65 


Polypen  des  äußeren  Gehörganges.  Da  dieser  die  gleiche  Behandlung 
erfordert  wie  der  Nasenpolyp,  über  den  Vigo  an  anderer  Stelle  spricht 
(Lib.  II,  Trakt.  III,  Kap.  0),  so  sei  einiges  darüber  hier  mitgeteilt. 
Vigo  unterscheidet  einen  krebsigen  Polypen  und  einen  gewöhnlichen 
Schleimpolypen.  Bei  dem  krebsig  entarteten  Polypen  geht  Vigo  bloß 
palliativ  vor;  den  Schleimpolypen  hingegen  entfernt  er  durch  Aetzmittel 
oder  Exstirpation  mit  nachheriger  Anwendung  adstringierender  Mittel  in 
Pulver-  und  Salbenform. 

Zum  Schlüsse  seien  noch  die  folgenden  am  Ausgange  des  Mittel- 
alters in  Belgien,  England  und  Deutschland  wirkenden  Aerzte  erwähnt. 
Der  niederländische  Chirurg  Jehan  Yperman  aus  dem  13.  Jahr- 
hundert, der  seine  fachmännische  Bildung  in  Frankreich  bei  Lanfranchi 
erhielt,  hat  sich  in  seinen  chirurgischen  Arbeiten  auch  mit  der  Otochirurgie 
beschäftigt.  Er  empfiehlt  die  Befestigung  eines  halbabgehauenen  Ohres 
durch  Naht,  erklärt  jedoch  für  unmöglich,  daß  ganz  abgehauene  Nasen 
und  Ohren  wieder  anheilen  können 1).  Bei  Besprechung  der  Ohren- 
krankheiten erörtert  er  die  „zweeringen  der  oeren",  „die  zweeren  die 
wassen  in  de  oeren'*,  die  Fremdkörper  und  Würmer.  Zur  Entfernung 
der  Fremdkörper  bedient  er  sich  einer  langen,  an  ihrer  Spitze  stark  ge- 
krümmten Nadel.  Außerdem  enthält  die  Stelle  noch  einige  Bemerkungen 
über  Ohrenfluß  (loepinghen  der  oeren)  und  Taubheit 2). 

Im  nachstehenden  seien  weiters  zwei  englische  Aerzte  angeführt, 
die,  was  die  Otiatrie  betrifft,  ihre  Vorfahren  und  Zeitgenossen  nicht 
überragen,  da  sie  nur  deren  Werke  eingehend  benützt  haben.  Gilbertus 
(Anglieus),  dessen  Leben  ins  13.  Jahrhundert  fällt,  befaßt  sich  im 
III.  Buche  seines  „Compendium  medicinae"  mit  den  Ohrenkrankheiten, 
denen  er  8  Abschnitte  widmet.  Auch  sein  Landsmann  John  of  Ga- 
desden,  gewöhnlich  Joannes  Anglieus  genannt,  bringt  im  IL  Traktat 
des  III.  Buches  seiner  „Rosa  Anglica  practica"  einiges  über  die  Er- 
krankungen der  Ohren  (Kap.  7).  Er  ist  ein  Gegner  der  zu  seiner  Zeit 
gegen  Schwerhörigkeit  und  Taubheit  vielfach  angewendeten  Niesmittel, 
da  durch  sie  nach  seinen  Erfahrungen  schwer  zu  stillendes  Nasenbluten 
hervorgerufen  werden  könne.  Eiter  im  Ohre  läßt  er  durch  eine  in  den 
Gehörgang  gesteckte  Röhre  von  einer  Person,  die  sich  dazu  hergibt,  mit 
dem  Munde  aussaugen.  Auch  gegen  subjektive  Geräusche  soll 
dieses  Mittel  von  Nutzen  sein.  Sicherlich  beruht  in  diesem  Falle 
die  günstige  Wirkung  nicht  so  sehr  auf  der  Aufsaugung  des  Eiters,  als 
vielmehr  auf  der  Luftverdünnung  im  äußeren  Gehörgange,  ein  Moment, 
das  natürlich  dem  mittelalterlichen  Arzte  unbekannt  war.  Endlich  sei 
noch  von  dem  deutschen  Arzte  Johannes  de  Ketham  (15.  Jahrhundert) 
erwähnt,  daß  sich  in  seinem  „Fasciculus  medicinae"  einiges  findet,  was 
wir,  weil  es  mit  der  Otiatrie  in  Beziehung  steht,  hier  vorbringen.  Er 
Politzer,  Geschichte  der  Ohrenheilkunde.     I.  ° 


(56  Manuskripte  der  Pariser  Bibliotheque  nationale. 

beschäftigt  sich  dort  vorzüglich  mit  den  Ohrerkrankungen  der  Kinder, 
und  zwar  in  den  Kapiteln:  „De  sanie  aurium  puerorum",  „De  veneno 
fluente  de  aure",  welches  „accidit  pueris  ex  vesica  vel  plaga  accidente 
in  auricula".  — 

')  La  Chirurgie  de  maitre  Jehan  Yperman  Chirurgien  beige  (XIHe — XlVe 
siecle).  Publiee  pour  la  premiere  fois,  d'aprös  la  copie  flamande  de  Cambridge  par 
M.  C  Broeckx.     p.  83. 

2)  1.  c.  p.  119—125. 

Eine  Prüfung  des  otiatrischen  Inhaltes  der  medizinischen  Handschriften  aus 
dem  Mittelalter,  die  in  nicht  geringer  Zahl  in  den  verschiedenen  Bibliotheken 
aufgestapelt  sind,  fördert  kaum  neue  oder  interessante  Tatsachen  zu  Tage.  Ueberall 
dieselbe  Sterilität  wie  in  den  erst  später  gedruckten  Kompendien  der  Zeitgenossen. 
Ohne  Ausnahme  konnte  ich  diese  Beobachtung  bei  allen  Manuskripten  machen, 
die  ich  in  den  Bibliotheken  zu  Wien  und  Paris  einer  genaueren  Durchsicht 
unterzog.  Sie  alle  weisen  sowohl  in  der  Anatomie  des  Ohres,  als  auch  in  der 
Diagnostik  und  Behandlung  der  Ohrenkrankheiten  keine  neuen  Gesichtspunkte  auf. 
und  wir  finden  in  ihnen  nur  die  öftere  Wahrnehmung  bestätigt,  daß  die  Autoren 
dieses  Zeitalters  in  ihren  Schriften,  denen  es  keineswegs  an  otiatrischem  Inhalt  ge- 
bricht, die  Griechen,  vor  allen  Galen,  und  die  Araber  unbedingt  und  kritiklos 
nachahmen. 

Am  Ende  des  14.  und  zum  Beginne  des  15.  Jahrhunderts  erfreuten  sich  ins- 
besondere die  chirurgischen  Arbeiten  des  seinem  Zeitalter  als  Autorität  geltenden 
Lanfranc  großer  Beliebtheit.  Einige  Manuskripte,  die  ich  in  der  Pariser  Biblio- 
thek fand ,  mögen  für  diejenigen ,  die  näheren  Einblick  in  sie  zu  nehmen  beab- 
sichtigen, erwähnt  werden. 

629.  La  cirurgie  de  Maistre  de  Lanfran  ou  Alenfranc  de  la  este  de  Millan, 
appele  Art  complet  laquelle  il  compella  a  Paris  en  l'an  1295. 

1323.  La  cirurgie  de  maistre  Alanfranc  de  Millan,  laquelle  est  appelee  Art 
complecte  de  cirurgie  XV  s. 

L323.    Ici  se  commence  la  cirurgie  de  maistre  Lanfranc  de  Millan  de  Tan  1377. 

1308.  (De  Thom.  Colbert.)  Le  höre  de  medecine  eompose  en  la  eiste  de 
Pampliac  par  ung  Docteur  lequel  est  appele  Dyacorides  pour  le  profect  du  corps 
humain  ä  l'encontre  de  maladies.  —  Commencement  d.  XVI.  siecle. 

2022.  (Colbert.)  Le  livre  nomine  le  regime  du  corps  que  fit  jadis  maistre 
Alebrandin  medecin  du  roy  de  france. 

2027.  (Mentel.)  Ung  abrege  de  Tanatomie  de  la  saignie  par  Jehan  de  Borno 
de  la  diocese  Rutheniensis. 

1317.    La  connaissance  des  corps  humains  lequel  contient  par  pluseurs  parties 
et  tractiea  170  Chapitres  avec   L'expositions  des  sönges  en  Tan  1396,  par  pere  Nicole 
Saoul  autrement  dict  de  Sanct  Marcel  de  l'Ordre  de  N.  D.  du  carme. 
ij.     Des  Significations  de  la  complexion  et  qui  des  oreilles. 

Welche  Deutung  die  äußere  Form  der  Ohrmuschel  zu  jenen  Zeiten  erfuhr, 
ergibt  sich  aus  den  folgenden  Sätzen. 

Les  grands  oreilles  en  la  teste  signifie  quil  soit  estourde  et  de  gros  nutriment. 

Item  :  al  qui  a  les  oreilles  longues  du  travers  signifie  qui  il  est  fol  et  hardi 
völonteus. 

Aus  der  Handschriftensammlung  der  Wiener  k.  k.  Hofbibliothek  sei  als 
Beispiel  für  viele  das  mittelhochdeutsche  Manuskript  15106  angeführt: 


Manuskript  der  Wiener  Hofbibliothek. 


67 


[Fol.  4b]. 

Von  den  boesen  gehören. 

Di  gehorde  hizen  div  weisen  hie  be- 
vor des  mutes  porten :  di  wird  ettwenne 
gar  verlorn,  ettwenne  ein  teil.  Swenne 
daz  geschiht.  der  sol  sich  leigen  an  di 
sunne.  vh  heiz  im  sehen  in  div  oren. 
vindet  man  im  denne  in  den  oren  ein 
geswer.  oder  platern.  stoub  oder  asschen, 
da  vö  ist,  daz  er  niht  gehören  mach. 

Ist  aber  daz  der  deheinz  da  vunden 
wirt.  so  ist  der  siechtum  von  etlicher 
vouht.  oder  von  eim  pladem .  der  sich 
gesamnet  hat  in  die  ader,  da  daz  hören 
in  get  oder  von  eim  geswer(,)  daz  in  der 
[Fol.  5  a]  selben  ader  ist.  Swem  also 
geschiht,  der  redet  also  sanft,  daz  man 
in  choum  vernimt  vh  wirt  agezzel.  wil 
do  dem  zehelfe  chomen  so  vurbe  im  daz 
houbet  mit  terapigra  vnde  heiz  daz 
enphahe  den  tumt  in  div  orenQ  der  ge 
ouz  heizem  wazze(,)  da  inne  gesoten  sei 
venichel,  aneis,  petersil,  rute  vnde  laz  im 
in  die  oren  ole  von  tille  oder  von  mandel- 
chern.  merche  daz  div  ole(,)  mit  den  man 
wermen,  trunchen  od(er)  ouf  tun  wil(,) 
schuln  sein  gemachet  von  grünen  schaben. 

Von  der  or enchlingen. 

Oren  chlingene  ettwenne  von  einem 
grozem  pladem  oder  von  einer  leimigen 
vouht.  Swem  daz  geschiht,  der  sol  daz 
houbet  vurben  mit  terapigra  vnde  sol 
lazzen  in  diu  oren  rosen  ole  mit  ezzeiche 
oder  pibergeil.  Swenne  der  siechtum  ist 
von  chalter  vouht(,)  der  soll  lazzen  pforren 
souch  mit  weibes  milche  vnde  mit  rosen 
ole  vh  lazze  si  in  div  orenc.)  Darnach 
nem  wermute  vh  lege  di  in  wein  oder 
in  ezzeich  vnd  siede  si  dar  inne  also- 
lange<.)  vnz  der  weT  hemtich  werde  von 
der  wermuet  vnde  lazze  danne  den  tunst 
also  warmen  gen  in  daz  ore  vh  teche  daz 
houbet  anderthalben  dar(,)  daz  iz  swizende 
werde  von  dem  tunst  vnde  seige  denne 
durch  ein  tuch  zwivol  souch(,)  in  tem  sei 
gelegen  gepulverter  chum  drei  tage(,)  vnd 
lazze  des(,)  so  iz  la  sei(,)  zwen  oder  drei 
tropfen  in  daz  ore,  zwir  oder  drei  stunt 
in    der    wochen.     Dan  noch  ist  auch  gilt 


Von  dem  schlechten  Gehör. 

Das  Gehör  nannten  die  Weisen  ehe- 
mals die  Pforte  der  Seele.  Manches  Mal 
geht  es  gänzlich  verloren ,  manches  Mal 
bloß  ein  Teil.  Wenn  dies  einem  ge- 
schieht, führe  ihn  in  das  Sonnenlicht  und 
sieh  ihm  ins  Ohr.  Findet  man  dann  in 
den  Ohren  ein  Geschwür  oder  Blattern, 
Staub  oder  Asche,  so  ist  dies  die  Ursache, 
weshalb  er  nicht  hört. 

Ist  aber  davon  nichts  zu  finden ,  so 
rührt  die  Krankheit  von  Feuchtigkeit  her 
oder  von  einer  Blähung,  die  sich  gebildet 
hat  in  der  Ader,  wo  das  Hören  hinein- 
geht, oder  von  einem  Geschwür,  das  in 
derselben  Ader  ist.  Dem  dies  widerfährt, 
der  redet  leise,  daß  man  ihn  kaum  hört, 
und  wird  vergeßlich.  Will  man  ihm  Hilfe 
bringen,  so  reinige  man  das  Haupt  mit 
Terapigra  und  lasse  ihn  den  Dampf  heißen 
Wassers,  in  welchem  Fenchel,  Anis,  Peter- 
silie und  Raute  gekocht  wurden,  in  die 
Ohren  aufnehmen,  und  gieße  ihm  Till- 
oder Mandelkernöl  ins  Ohr.  Merke,  daß 
.die  Oele,  mit  denen  man  wärmen,  trocknen 
oder  auftun  will,  von  grünen  Sachen  ge- 
macht sein  sollen. 

Vom  Ohrenklingen. 

Das  Ohrenklingen  entsteht  infolge  einer 
großen  Blähung  oder  infolge  klebender 
Feuchtigkeit.  Wem  das  geschieht,  der 
soll  das  Haupt  mit  Terapigra  reinigen 
und  soll  einfließen  lassen  in  die  Ohren 
Rosenöl  mit  Essig  oder  Bibergeil.  Wenn 
die  Krankheit  von  kalter  Feuchtigkeit 
herrührt,  so  mische  man  Lauchsaft  mit 
Frauenmilch  und  mit  Rosenöl  und  lasse 
es  in  die  Ohren.  Hierauf  nehme  man 
Wermut,  lege  ihn  in  Wein  oder  Essig 
und  koche  ihn  darin  so  lange ,  bis  der 
Wein  bitter  wird  vom  Wermut  und  lasse 
dann  den  warmen  Dunst  ins  Ohr  gehen 
und  decke  das  halbe  Haupt  zu.  damit  es 
schwitze  von  dem  Dunst  und  seihe  dann 
durch  ein  Tuch  Zwiebelsaft,  in  welchem 
gepulverter  Kümmel  drei  Tage  gelegen 
hat  und  lasse  davon ,  sobald  es  lau  ist, 
zwei  oder  drei  Tropfen  in  das  Ohr.  zwei- 
oder    dreimal   in  der  Woche.     Ferner  ist 


68 


Manuskript  der  Wiener  Hofbibliothek. 


warmer  ezzeich  mit  wermut  '/  ouge  des 
zwir  als  vil  sei  sam  des  ezzeichesi.)  des 
soll  man  lazzen  in  div  oren. 

Dan  noch  machtn  ein  anderz  tun,  , 
nini  rosen  ole  vnde  ehren  ole  vnde  pforren 
souch  vnde  schaf  galle(,)  mische  iz  under 
ein  ander  vnde  lazze  iz  in  div  oren,  so 
iz  la  sei. 

Von  d  (e  r)  oren  siech  tum. 

Um  die  zwene  siechtum(,)  von  den  da 
gesagt  ist(,)  ist  an  den  oren  dan  noch 
ander  siechtunu,)  der  chumt  von  heizzer 
sunne  oder  von  chaltem  lüfte.  Ist  er  von 
der  8unne(,)  so  enphindet  man  in  den 
oren  grozzer  hize.  Ist  (er)  aber  von 
chelten(,)  so  enpfindet  (man)  grozzer 
froste  in  den  oren.  Für  den  siechtum, 
der  da  ist  in  den  oren  von  der  hize,  sol 
tu  rosen  ole  mit  weibes  milche  tempern 
oder  mit  chürbiz  souch  vnd  la  daz  in  div 
oren.  Sei  aber  der  ore  wen  von  des  luftes 
dielten  ode  von  ein  geswer  od  von  pladem 
So  nim  lor  ole  vnde  ole  von  tillen  vnde 
ole  von  Ham  [Fol.  5b]  tigen  mandlch'n 
vnde  ole  von  ruten  vnde  mische  daz  mit 
schaffe  harn  oder  mit  rinder  harne.  Sein 
dir  div  oren  in  dem  houbet  frat(,)  so  sivde 
wermuete  in  weine  vn  mische  den  wein 
mit  ole  von  pherschechen  oder  mit  rettich 
souch  vnde  la  daz  in  div  oren  oder  nim 
vnzei(li)ger  pferseich  souch  vn  la  den  in 
div  oren. 

Von  den  wurme  di  in  den  oren. 

Nim  einen  gepraten  apfel  also  heizen 
vnde  sneide  in  von  ein  ander  vnde  lege 
in  vber  daz  oreg  da  div  wurme  inne  sint(,) 
so  gent  si  ouz( )  Alsam  tut  ein  ater(,) 
div  in  eins  menschen  magen  ist,  div  get 
ouzher  durch  den  mut(!)  ob  man  niwe 
molche  milch  warme  für  den  munt  sezet(,) 
dar  zu  ist  ouch  poches  bluot  also  warm, 
daz  soll  er  trinchen. 


noch  gut  warmer  Essig  mit  Wermut.  Be- 
achte, daß  davon  zweimal  so  viel  sei  als 
von  dem  Essig  und  lasse  davon  in  die 
Ohren. 

Auch  kann  man  etwas  anderes  tun; 
man  nimmt  Rosen- ,  Krenöl ,  Lauchsaft 
oder  Schafgalle,  mischt  es  untereinander 
und  läßt  es  in  die  Ohren,  sobald  es  lau  ist. 

Vom  Siechtum  der  Ohren. 

Außer  den  bereits  besprochenen  zwei 
Erkrankungen  der  Ohren  gibt  es  noch 
eine  dritte,  welche  von  heißer  Sonne  oder 
kalter  Luft  entsteht.  Entsteht  sie  von 
der  Sonne,  so  empfindet  man  in  den  Ohren 
große  Hitze,  rührt  sie  aber  von  der  Kälte 
her,  so  empfindet  man  großen  Frost  in 
den  Ohren.  Gegen  die  Erkrankung,  welche 
infolge  von  Hitze  in  den  Ohren  entstan- 
den ist ,  temperiere  Rosenöl  mit  Frauen- 
milch oder  Kürbissaft  und  gib  das  in 
die  Ohren.  Rührt  aber  der  Ohrenschmerz 
von  der  Kälte  der  Luft  oder  von  einem 
Geschwür  oder  von  Blähungen  her,  so 
nimm  Lorbeeröl,  Tillöl,  Oel  von  bitteren 
Mandelkernen  und  Eautenöl  und  mische 
dies  mit  Schafs-  oder  Rinderharn.  Sind 
die  Ohren  im  Kopfe  entzündet,  so  siede 
Wermut  in  Wein  und  mische  den  Wein 
mit  Pfirsichöl  oder  Rettigsaft  und  gib 
das  ins  Ohr,  oder  nimm  Saft  unreifer 
Pfirsiche  und  gib  das  ins  Ohr. 

Von  den  Ohrwürmern. 

Nimm  einen  gebratenen  Apfel,  so  heiß 
wie  er  ist,  schneide  ihn  auseinander  und 
lege  ihn  auf  das  Ohr ,  wo  die  Würmer 
sind ;  sie  werden  herausgehen.  Ebenso 
tut  eine  Natter,  die  im  Magen  eines 
Menschen  ist ;  die  geht  durch  den  Mund 
heraus,  wenn  man  frischgemolkene  Milch 
warm  an  den  Mund  setzt;  dazu  ist  auch 
Bocksblut  gut,  so  warm  wie  es  ist,  das 
soll  er  trinken. 


Bezeichnend  für  den  Geist  der  therapeutischen  Ansichten  im  14.  Jahrhundert 
in  Frankreich  ist  auch  eine  Sammlung  von  Rezepten,  die  in  einem  in  der  Biblio- 
thek von  Evreux  befindlichen  Manuskript  enthalten  sind  (Recettes  medicales  en 
francais  publiees  d'apres  le  Manuscrit  23),  veröffentlicht  durch  Paul  Meyer  und 
Ch.  Joret  in  der  Romania  18,  p.  571  ff.    Die  Stelle,  welche  sich  auf  die  Ohrenheil- 


Anatomie  und  Physiologie  des  Ohres  im  Mittelalter.  69 

künde  bezieht,  hat  folgenden  Wortlaut:  p.  573,  13.  Pour  les  orelles  sourdes,  prenez 
le  jus  de  mente  et  de  aluine,  si  le  fetes  tieve,  et  metez  es  orelles,  si  garront;  et  se 
il  i  a  vers,  si  destrempez  le  jus  de  mente  de  vin  et  coulez  parmi  j.  drap  si  le  faites 
tieuve,  et  metez  es  orelles,  si  garront. 

14.  A  home  qui  a  este  longuement  sourt  metez  le  jus  de  hieble  tieve.  si  garra. 

Zur  Anatomie  und  Physiologie  des  Gehörorganes  im  Mittelalter. 

Wie  eingangs  dieses  Abschnittes  erwähnt  wurde,  war  es  im  Mittel- 
alter um  die  Anatomie  und  Physiologie  des  Ohres  schlecht  bestellt*). 

Von  den  anatomischen  Produkten  der  salernitanischen  Schule,  an 
der  menschliche  Leichen  nicht  seziert  wurden,  führen  wir  die  „Ana- 
tomia  porci"  das  Copho  junior  (1085 — 1100)  an.  Sie  enthält  über 
das  Gehörorgan  bloß  den  Satz:  Nervus  qui  ab  interioribus  venit  .... 
ad  aures,  dicitur  auditorius  nervus.  Wie  man  sieht,  eine  sehr  dürftige 
Leistung.  Nicht  viel  besser  steht  es  mit  einer  anderen  anatomischen 
Arbeit  der  salernitanischen  Schule,  der  sogen.  „Demonstratio  ana- 
tomica"**),  in  der  nicht  einmal  der  Versuch  einer  Beschreibung  des 
Gehörorgans  gemacht  wird.  Das  „Poema  anatomicum"  ***)  endlich 
enthält  folgende  Verse  im  Liber  primus: 


*)  Aus  v.  Töplys  „Studien  zur  Geschichte  der  Anatomie  im  Mittelalter"  geben 
wir  hier  eine  Zusammenstellung  der  ohranatomischen  Literatur  im  genannten  Zeit- 
räume, die  jedoch  nichts  Bemerkenswertes  enthält  und  selbstverständlich  keinen  An- 
spruch auf  Vollständigkeit  erhebt : 

Pseudogalenische  Schriften:  De  compagine  membrorum  s.  de  natura 
li umana.     A.  2.  Gehör.     De  anatomia  vivorum.     B.  7.  Ohr. 

Der  Anonymus  des  Lauremberg:  'Avo>v6u.ou  elaaftay'i]  otvaTojuvq.  (Nach 
Sprengel  aus  dem  4.  Jahrhundert  stammend.)  C.  54.  Ohr,  Ohrmuschel, 
Trommelfell. 

Oreibasios  (326—403  n.Chr.).     24.  Buch.     Eingeweidelehre:   7.  Ohren. 

Nemesios  (im  letzten  Viertel  des  4.  Jahrhunderts):  iTsp!  vüsbok;  avttpcorc&'j. 
10.  Gehör. 

Meletios  (600 — 800?  n.  Chr.),  Anecdota  graeca  e  codd.  manuscriptis  biblio- 
thecarum  Oxoniensium  descripsit  J.  A.  Cramer.     B.  7.  Ohren. 

'Ali  ben  el-'Abbäs  (Haly  Abbas)  el-Madschusi  (f  994),  Liber  omnia  com- 
plectens,  quae  ad  artem  medicam  spectant.     3.  Buch.     Kap.  15. 

Abu  Merwän  ibn  Zohr  (Avenzohar) .  f  1162.  Khitäb-el-kullidschät. 
19.  Ohren. 

Ibn  Abu  Oseibia  (f  1269).     6.  Anatomie  der  Sinneswerkzeuge. 

Abu  Bekr  Muhammed  ben  Zakeryja  el-Räzi.  N.  65.  Liber  de  figura 
aurium.  N.  67.  Liber  de  figura  auditoriae  cavernae  (nach  Wüstenfeld).  In 
der  Anatomie  des  Rhazes.     Kap.  10.     Das  Ohr. 

Bartholomaeus  Anglicus.     De    genuinis    rerum    coelestium,  terrestrium  et 
infernarum  proprietatibus  libri  XVIII.     V.  Buch,  Kap.  12.     Ohren. 
**)  Renzi,  Coli.  Salernit.  II,  p.  390. 
***)  id.  II,  p.  391. 


~{\  .Mondino  de  Liuzzi. 


Quod  voces  bauris  hinc  noraen  suscipit  auris : 
Purs  auris  summa  de  primo  primula   dicta 
Significat  primum  venit  inde  bipennis  avitum*). 

Auch  die  Arbeiten  der  anderen  Anatomen  des  Mittelalters  bieten 
nur  sehr  dürftige  Leistungen  über  die  Anatomie  des  Ohres,  so  z.  B. 
Ricardus  Anglicus  in  seiner  „Anatomia"  **)  (ca.  1242 — 52),  welche 
Prof.  Robert  von  Tüply  zum  ersten  Male  nach  einem  in  der  Wiener 
Hofbibliothek  befindlichen  Manuskripte  herausgegegeben  hat.  Schon 
der  Beginn  des  17.  Kapitels,  das  die  Beschreibung  des  Ohres  (de 
auribus)***)  enthält,  beweist  die  mönchische  Richtung  des  Autors.  Im 
weiteren  Verlaufe  vergleicht  Ricardus  den  „aer  quietus"  (=  complan- 
tatus)  im  Innern  des  Ohres  mit  dem  „cristallinus  humor"  des  Auges 
und  das  Trommelfell  (panniculus),  von  dem  er  nichts  anderes  mitteilt, 
als  daß  es  vom  Hörnerven  abstamme  (oritur  a  nervo  descendente  a  quinto 
pari  nervorum  cerebri)  und  dem  Felsenbein  seine  ganze  Sensibilität  ver- 
leihe (totam  ei  prestat  sensibilitatem  quam  habet),  mit  der  Pupille  des 
Auges.  Von  geringem  Wert  ist  die  „Practica"  des  Joannes  Mattaeus 
de  Gradibus  (f  1472),  der  die  Ohranatomie  und  die  Ohrerkrankungen, 
ohne  neue  Gesichtspunkte,  nach  den  Schriften  der  Vorgänger  be- 
arbeitet hat. 

Einen,  wenn  auch  geringen  Fortschritt  erfuhr  die  anatomische 
Wissenschaft  erst  durch  Mondino. 

Mondino  de  Liuzzi.  Die  „Anathomia''  des  Mondino  de  Liuzzi 
(geb.  zu  Bologna  um  1275,  f  1326),  die  nach  der  Erfindung  der  Buch- 
druckerkunst f)  nicht  weniger  als  25  Auflagen  erlebte,  war  im  14.  Jahr- 
hundert neben  Galens  anatomischem  Werke  das  allgemein  gebräuch- 
liche Lehrbuch  der  Anatomie.  Doch  kann  die  kurze  Schrift  keinen 
Anspruch  auf  Selbständigkeit  machen,  da  Mondino  mit  wenigen  Aus- 
nahmen den  Standpunkt  Galens  vertritt.  Sie  ist  nur  deshalb  von 
einigem  Interesse,  weil  ihr  Verfasser  einer  der  ersten  war,  der  menschliche 
Leichen  sezierte  und  für  seine  Schüler  eine  Anleitung  zum  Sezieren 
verfaßte.  Die  Stelle,  welche  „De  Anathomia  Auris"  behandelt,  be- 
findet sich  am  Ende  der  Schrift;  sie  lautet: 

His  expeditis  videbis  aurem  positam  a  latere  capitis:  quia  sonus 
percipitur  a  dextris  et  a  sinistris  et  ante  et  retro  et  sursum  et  deorsum 
et  ideo  instrumentura  eius  oportuit  locari  in  dextra  et  sinistra:  non  autem 
in   parte  anteriori :  quia  ibi  erant  instrumenta  aliorum  sensuum. 


i  id.  V.  p.  178. 

)  Anatomia    Ricardi   Anglici.     Primum    ed.  Hob.  Töply  Eques,  Vindob.  1902. 

)  1.  c.  p.  15. 

7)  Die  erste  Auflage  wurde  1478  in  Venedig  gedruckt. 


Mondino  de  Liuzzi.  71 


Auris  autem  fuit  figurae  rotundae  in  nomine  vel  circularis :  ut  esset 
plurimum  capacissiraa :  et  cartilaginosa. 

Cartilaginosa  autem  fuit:  ut  esset  ab  alterantibus  extrinsecus  tuta. 
Et  ut  esset  sonora,  cuius  foramen  est  longum  terminatum  ad  os  petrosum 
in  cuius  concavitate  est  Spiritus  audibilis  complantatus:  qui  est  instru- 
mentum  auditus.  Et  eius  foramen  vel  cavernositates  cooperit  panni- 
culus  subtilis  contextus  ex  villis  nervorum  auditus  iam  supra  dictorum. 
Ossa  autem  alia  quae  sunt  infra  basilare:  non  bene  ad  sensum  apparent 
nisi  ossa  illa  decoquantur:  sed  propter  peccatum  dimittere  consuevi,  verum 
est  quae  de  mandibularum  ossibus  potes  videre  principium  et  finem.  In- 
cipiunt.  n.  a  commissura  sive  addorea  quae  est  inter  craneom  et  basilare 
in  loco  qui  est  in  fine  supercilii  et  frontis:  et  procedit  versus  partem 
posteriorem  iuxta  os  petrosum  et  ad  auriculam  terminatur:  aut  ad  dentes: 
quorum  anothomiam  supra  dixi.  (Anothomia  Mundini  noviter  impressa 
ac  per  Carpum  castigata.  1514.) 

Die  Anatomie  des  Gehörorgans  des  Mondino,  die  wir  hier  dem 
ganzen  Wortlaute  nach  geben,  zeigt  den  geringen  Fortschritt,  den  dieser 
Teil  der  Anatomie  von  Seite  des  im  Mittelalter  als  erste  Autorität  auf 
anatomischem  Gebiete  geltenden  Autors  erfahren  hat. 

Seine  Schilderung  unterscheidet  sich  dadurch  von  der  früherer 
Autoren,  daß  sie  den  „spiritus  audibilis  complantatus"  in  eine  Concavit'ät 
des  Os  petrosum  verlegt  und  von  einem  „panniculus  subtilis"  spricht, 
der  sich  aus  den  Verzweigungen  (villis)  des  Hörnerven  zusammensetzt 
und  von  manchen  Autoren  als  Trommelfell  gedeutet  wird. 

Der  Umstand  jedoch,  daß  ein  „panniculus"  schon  von  früheren 
Autoren  erwähnt  wird  und  Mondino  ihn  als  eine  Ausbreitung  des 
Hörnerven  ansieht,  vom  Hammer  aber  nichts  erwähnt,  beweist,  daß 
Mondino  selbst  das  Gehörorgan  nicht  oder  nur  sehr  oberflächlich 
untersucht  und  bloß  aus  den  Mitteilungen  seiner  Vorgänger  geschöpft 
hat.  Wie  schwer  noch  in  dieser  Periode  des  Mittelalters  das  Verbot, 
menschliche  Leichen  zu  sezieren,  auf  der  anatomischen  Forschung  lastete 
und  wie  sehr  dieses  Dogma  bis  ins  16.  Jahrhundert  den  Forschungs- 
drang mancher  Aerzte  lähmte,  zeigt  die  Aeußerung  Mondino s,  daß 
sich  die  Details  des  Felsenbeins  besser  zur  Anschauung  bringen  ließen, 
wenn  man  den  Knochen  auskochte,  eine  Prozedur,  die  er  als  eine  Sünde 
unterließ. 

Der  ersten  Anregung  zur  anatomischen  Forschung  durch  Mon- 
dino folgt  abermals  eine  fast  zwei  Jahrhunderte  andauernde  Stagnation, 
die  erst  mit  dem  Aufblühen  der  Künste  und  Wissenschaften  in  Italien 
im  16.  Jahrhundert  ihr  Ende  erreicht.  Denn  das,  was  Betrucci,  ein 
Schüler  Mondinos  (1347),  die  schon  früher  erwähnten  Mondeville  (1350) 
und  Petr.   de   Argellata  (1423),    Bartolomeo    Montagnana    (1460) 


7_>  Mondino  de  Liuzzi. 


and  selbst  der  verdienstvolle  Alex.  Achillini  geschaffen,  ist  so  gering- 
ftio-io-,  daß  es  für  den  Fortschritt  der  anatomischen  Wissenschaft  kaum 
in  Betracht  kommt.  Wie  lange  noch  die  dürftige  Anatomie  des  Mon- 
dino als  maßgebend  galt,  beweist  die  Tatsache,  daß  Achillini  in 
seinen  „Annotationes  in  Anatomiam  Mundini"  110  Jahre  nach  Mondino 
und  J.  B.  da  Carpi  noch  zu  Anfang  des  16.  Jahrhunderts,  vor  dem  Er- 
scheinen seiner  „Isagoga",  es  für  zweckmäßig  fanden,  die  Anatomie  des 
Mondino  zu  kommentieren  und  herauszugeben. 


Die  Otiatrie  in  der  Uebergangsperiode  zur  Neuzeit. 


a)  Vorläufer  der  großen  Anatomen  Italiens. 
Achillini.     Berengario  da  Carpi.     Nie.  Massa. 

Die  erste  Etappe  zur  Durchforschung  des  Gehörorgans  bildete  die 
Auffindung  von  Hammer  und  Amboß.  Der  Zeitpunkt  ihrer  Entdeckung 
wird  von  den  Historikern  in  die  zweite  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  ver- 
legt, doch  ist  es  sehr  wahrscheinlich,  daß  die  schon  bei  oberflächlicher 
Zergliederung  leicht  darstellbaren  Knöchelchen  viel  früher  von  un- 
bekannten Anatomen  oder  Chirurgen  zufallig  entdeckt  wurden,  ohne  daß 
ihre  Bedeutung  erkannt  worden  wäre*). 

Als  Entdecker  des  Hammers  und  Amboßes  werden  Achillini  und 
Berengario  da  Carpi,  zwei  hervorragende  Anatomen  des  zur  Neige 
gehenden  15.  Jahrhunderts,  angeführt;  doch  kommt  Achillini,  wie 
wir  sehen  werden,  hierbei  nicht  in  Betracht  und  Carpi  kann  nur  das 
Verdienst  in  Anspruch  nehmen,  bei  seiner  Beschreibung  des  Gehör- 
organs den  Hammer  und  Amboß  zuerst  erwähnt,  nicht  aber  sie  entdeckt 
zu  haben. 

Achillini. 

In  den  meisten  historischen  Werken  wird  Alessandro  Achillini 
(1463 — 1512)  als  der  Entdecker  des  Hammers  und  Amboßes  bezeichnet. 
Achillini,  ein  Bolognese,  einer  der  hervorragendsten  Gelehrten  in  der 
zweiten  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts,  lehrte  in  seiner  Geburtsstadt  und 
später  in  Padua  Philosophie  und  Medizin  und  betätigte  in  beiden 
Wissenszweigen  seinen  eminenten  Scharfsinn  in  hervorragender  Weise. 
Obzwar  noch  Arabist,  war  er  doch  einer  der  ersten,  die  den  Mut  hatten, 
menschliche  Leichen  zu  sezieren. 

Neben  anderen  umfangreichen  Werken  erschienen  posthum  seine 
„Annotationes  anatomicae  in  Mundinum",  Bononiae  1520.  Das  ganz  dünne 
Bändchen  ist  weder  in  der  Wiener  Universitäts-  noch  in  der  Hof  bibliothek 


*)  Potuit  enim  ignobili  cuidam  ac  minus  docto  Prosectori,  aut  Chirurgo,  qui 
probe  dijudicando ,  aut  publice  inclicando ,  quod  casu  reperisset,  ut  saepe  fit,  par 
ipse  non  esset,  id  Achillini,  et  Carpensis  temporibus  aeeidisse  in  Malleo  et  Incude 
quod  postea  in  Stapede  sibi  obtigisse,  Ingrassias  testatur!  (Morgagni,  Epistol. 
anatom.,  VI.,  3.) 


74  Berengario  da  Carpi. 


vorhanden.  Die  kurze  Beschreibung  des  Ohres  in  demselben  verdanke 
ich  einem  befreundeten  Kollegen,  der  während  seines  Londoner  Auf- 
enthaltes im  Sommer  1905  aus  dem  in  der  Bibliothek  des  College  of 
Surgeons  befindlichen  Exemplare  mir  die  betreffende  Notiz  zukommen 
ließ.     Sie  lautet: 

„Auris:  lateralis  capiti ;  rotundae  figurae.  cartilaginosa  ambiqui  foraminis,  in 
cuius  extremitate  est  niiringa  claudens  in  osse  petroso  aerem  coronalem." 

In  dieser  kurzen  Skizze  ist  wohl  „miringa"  ein  Hinweis  auf  das 
Trommelfell,  doch  enthält  sie  nichts  über  die  Gehörknöchelchen.  Die 
irrtümliche  Annahme  der  Priorität  Achill inis  bei  dieser  anatomischen 
Entdeckung  beruht  offenbar  auf  der  falsch  ausgelegten  Stelle  des  Nie. 
Massa,  die  eigentlich  nur  besagt,  daß  die  Entdeckung  zur  Zeit  Achil- 
linis  erfolgte: 

„Haec  ossicula  anatomici  tempore  Achillini.  viri  in  omni  scientiarum  genere 
eminentissimi  (ut  ex  eius  scriptis  clarissime  videre  est)  invenerunt.  Nie.  Massa,  Epist. 
medicinales.  Yenetiis  1558.     Ep.  V.  f.  55.  b. 

Welche  „scripta"  des  Achillini  hier  gemeint  sind,  konnte  ich  nicht 
eruieren,  da  ich  bei  Durchsicht  der  anderen  Werke  Achillin is  keine 
auf  die  Anatomie  des  Gehörorgans  bezügliche  Stelle  fand. 

Berengario  da  Carpi. 

Jacopo  Berengario  da  Carpi  wurde  kurz  vor  1470  in  Carpi 
bei  Modena  als  Sohn  eines  angesehenen  Wundarztes  geboren,  studierte 
in  Bologna,  lebte  dann  als  Arzt  in  seiner  Heimat,  floh  aus  politischen 
Ursachen  nach  Bologna,  wo  er  von  1502 — 1527  die  Professur  der 
Chirurgie  mit  ausgezeichnetem  Erfolge  bekleidete.  Beschuldigt,  Vivi- 
sektionen am  Menschen  ausgeführt  zu  haben,  begab  er  sich  von  hier  in 
die  freiwillige  Verbannung  nach  Ferrara,  woselbst  er  1550  starb. 

Carpi  erlangte  große  Berühmtheit,  als  Arzt  durch  Verwendung  des 
Merkur  bei  venerischen  Krankheiten,  als  Chirurg  durch  treffliche  Behand- 
lung der  Schußwunden  und  Schädelverletzungen,  als  Anatom  durch  eine 
Fülle  von  wertvollen  Entdeckungen,  die  er  bei  Sektionen  an  mensch- 
lichen Leichen  machte.  Seine  Erfahrungen  legte  er  in  den  zwei  Werken 
nieder:  „Anatomi  Carpi  Isagogae  breves  Perlucidae  ac  uberrimae  in  Ana- 
tomiam  humani  corporis  a  communi  Medicorum  Academia  usitatam  etc.u, 
Bonon.  1514  und  „Commentaria  cum  amplissimis  additionibus  super 
anatomiam  Mundini,  una  cum  textu  ejus  in  pristinum  et  verum  nitorem 
redacto",  Bonon.  1521. 

Berengario  war  der  erste  Anatom,  der  seinen  Werken  eine  An- 
zahl  in    der  Ausführung  recht  roher  anatomischer  Abbildungen   beigab. 


Berengario  da  Carpi.  75 


Von  seinen  Leistungen  sei  hier  nur  die  Entdeckung  der  Keilbeinhöhle 
und  des  Wurmfortsatzes  hervorgehoben.  Er  kannte  die  Membrana  tym- 
pani  genauer  als  seine  Vorgänger  und  entschied  sich  in  dem  damaligen 
Streite,  ob  sie  von  den  Gehirnhäuten,  Periost  oder  dem  Gehörnerv  ab- 
geleitet werden  sollte,  für  die  letztere  irrige  Ansicht,  die  er  von  Mondino 
überkommen  hatte*). 

Die  bezüglichen  Stellen  über  das  Trommelfell  und  die  Gehör- 
knöchelchen in  der   „Isagoga"   lauten: 

„intra  quod  est  certa  vacuitas,  quam  claudit  quidam  panniculus 
subtilis  et  solidus." 

„Sunt  aliqui  volentes  praedictum  panniculum  oriri  a  pia  matre  quae 
transit  cum  nervo  auditivo  ad  praedictam  vacuitatem:  de  suo  tarnen 
ortu  vide  comenta." 

„In  praedicta  vacuitate,  quam  ante  velat  praedictus  panniculus,  est 
aer  implantatus,  qui  suspicit  species  auditus  quas  dat  nervo  auditorio 
dilatato  in  panniculum,  qui  vocatur  miringa  auris.'; 

Der  letzte  Satz  würde  in  deutscher  Uebersetzung  lauten:  In  der 
genannten  Höhlung,  welche  das  Trommelfell  verschließt  (somit  in  der 
Trommelhöhle),  befindet  sich  der  Aer  implantatus,  der  die  Arten  des 
Hörens  aufnimmt,  die  er  auf  den  in  ein  Fell  ausgespannten  Hörnerv 
überträgt. 

Die  Stelle  über  die  Gehörknöchelchen  lautet: 

„et  huic  panniculo  intra  praedictam  vacuitatem  adiacent  cluo  ossi- 
cula  parva  apta  moveri  ab  aere  ibidem  proximo  moto,  quae  in  suo 
motu  se  invicem  percutiunt,  a  quibus  secundum  aliquos  causantur  omnes 
speties  (species)  soni:  plus  et  minus  secundum  aerem  extrinsecus  motum." 

Zu  Deutsch:  an  diesem  Fell  (Trommelfell)  lagern  innerhalb  der 
genannten  Höhlung  (Trommelhöhle)  zwei  kleine  Knöchelchen,  welche 
geeignet  sind,  von  der  dort  bewegten  Luft  bewegt  zu  werden  und  sich 
in  ihrer  Bewegung  mehr  oder  weniger,  je  nach  der  Bewegung  der 
äußeren  Luft,  wechselseitig  erschüttern. 

Aus  dem  letzten  Zitate  ist  ersichtlich,  daß  Carpi  sich  keineswegs 
als  der  Entdecker  des  Hammers  und  Amboßes  bezeichnet.  In  der 
Isagoga  Carpis  geschieht  deren  ohne  Benennung  nur  Erwähnung,  und 
erst  in  den  Kommentarien  werden  sie  mit  ihrem  Namen  bezeichnet. 
Eine  genaue  Schilderung  ihrer  Form  und  Größe  vermissen  wir  aber  hier 
ebenso  wie  Angaben  über  Form,  Größe  und  Wölbung  des  Trommelfells. 
Vom  Labyrinthe  hatte  Carpi  wohl  Kenntnis,  doch  äußert  sie  sich  nur 
in  unklaren  Andeutungen. 


*)  Comnientar.  in  Mundin.     f.  477  a,  b. 


~,\  Nie.  Massa. 

Nie.  Massa. 

Zu  den  Vorläufern  der  großen  Epoche  der  Wiedergeburt  der  ana- 
tomischen Wissenschaft  zählen  noch  Nie.  Massa,  Alessandro  Bene- 
detti  und  Gabr.  Z  er  bis. 

Xicolaus  Massa  (f  1569),  dessen  Werk*)  einige  interessante 
historische  Daten  enthält,  erwähnt  das  Trommelfell  nur  kurz  (ista  cavitas 
tegitur  a  quadam  membrana  subtili  dura),  es  werde  „meninga"  auf 
Griechisch  oder  auch  „timpanum"  genannt.  Von  den  beiden  Gehör- 
knöchelchen (supra  quam  membranam  intus  sunt)  sagt  er,  daß  sie 
wie  die  Schlegel  einer  Trommel  (ad  modum  malleorum  timpani)  aus- 
sehen und  daher  die  Bezeichnung  „malleoli"  erhalten  hätten;  er  be- 
schreibt sie  als  beweglich  und  mit  dem  Trommelfell  zusammenhängend 
(mobilia  et  adhaerentia)  und  hebt  hervor,  daß  sie  sich  nach  den 
Schwingungen  des  Trommelfells  mitbewegen  (moventur  ad  motum  dietae 
membranae).  Von  Interesse  ist  die  von  ihm  angeführte  Sektionsmethode,, 
nach  welcher  Gehörknöchelchen  und  Trommelfell  aufgefunden  würden. 
Aus  seinen  nicht  ganz  klaren  Ausführungen  scheint  nämlich  hervor- 
zugehen, daß  er  das  Dach  der  Trommelhöhle  lateral wärts  von  der 
Eminentia  arcuata  der  Pyramide  mit  dem  Skalpell  entfernt  und  das 
Trommelfell  mit  dem  Hammer  und  Amboß  freilegt,  eine  Technik,  wie 
sie  auch  heute  noch  geübt  wird.     Die  betreffende  Stelle  lautet: 

Nota  quod  a  lateribus  cavitatis  cranei  supra  os  basilare ,  ubi  correspondent 
exterius  aures ,  sunt  duae  eminentiae  osseae ,  una  a  dextris  altera  a  sinistris ,  quas 
erainentias  osseas  oportet  diligenter  scalpello  ineidere,  ne  intrinsecae  partes  frangantur, 
quae  intra  cavum  ossis  sunt .  et  sie  elevato  ossa  apparebunt  ista  ossicula  iacentia 
supra  meningam,  timpanum  aliter  dietam,  quae  quidem  meninga,  ut  dixi,  correspondet 
foramini  auris  in  osse  exteriori. 

Gleichzeitig  fordert  Massa  auf,  bei  der  Präparation  die  krummen 
Gänge  des  Knochens  zu  besichtigen  (vide  etiam  diligenter  anfractus  ossis 
intrinseci,  ubi  facta  incisio).  Welcher  Wert  übrigens  seinen  anato- 
mischen Daten  beigemessen  werden  darf,  ergibt  sich  aus  der  Angabe, 
daß  der  Gehörnerv  bis  zum  Trommelfell  verlaufe  (videbis  nervum  trans- 
euntem  per  substantiam  ossis  ad  timpanum). 

Die  Arbeit  „Historia  corporis  humani  sive  anatomice",  Venetiis  1497,  des 
Italieners  Alessandro  Benedetti  enthält  im  38.  Kapitel  des  4.  Buches  bloß 
einen  dürftigen  Hinweis  auf  das  Trommelfell.  Er  sagt  dort  nämlich,  daß  am  Ende 
des  äußeren  Gehörganges  eine  Membran  ausgespannt  sei,  die  man  „mininga"  nenne 


*)  Nicolai  Ma.--.-a,  Veneti  artium  et  raedicinae  doctoris  L  i  b  e  r  introduc- 
torius  Anatomiae,  sive  dissectionis  corporis  humani,  nunc  primum  ab  ipso  auetore 
in  lucem  editus  etc.  1536.  Cap.  XXXXI.  De  dissectione  aurium,  nasi,  et  superiorum 
maxillarum,  una  cum  osse  basilari,  p.  93. 


Alessandro  Benedetti.  77 


(in  imo  anfractu  membrana  posita  est,  quam  miniiiga  vocant).  Seine  weiteren  phan- 
tastischen Ausführungen,  daß  beim  Trommelfell  die  Luftstöße  aufhören  und  infolge 
ihrer  Nähe  zum  Gehirne  geleitet  werden,  daß  diese  Membran  vom  Gehirne  abstamme, 
durch  dessen  Vermittlung  mit  der  Zunge  in  Verbindung  stehe  u.  s.  w.  .(hac  aeris 
ictus  desinit :  qui  ad  cerebrum  vicinitate  defertur :  qm  ea  membrana  a  cerebro  est ; 
cuius  connexione  linguae  annectitur  etc.)  sind  kaum  von  wesentlichem  Interesse. 

Auf  die   dürftigen   Angaben   Zerbis*),   nicht   zu   reden    von    den    deutschen 
Anatomen  dieser  Zeitepoche,  kann  liier  verzichtet  werden. 


Anhang. 

Nach  den  neueren  historischen  Forschungen  wird  auf  Grundlage  der  in  den 
königl.  Bibliotheken  in  Windsor  und  Paris  befindlichen  Manuskripte  und  anatomi- 
schen Handzeichnungen  Lionardo  da  Vinci  als  der  hervorragendste  Vorläufer  der 
großen  Anatomen  Italiens,  ja  als  der  eigentliche  Begründer  der  menschlichen  Ana- 
tomie bezeichnet**).  Lionardos  anatomische  Studien  an  zahlreichen  menschlichen 
Leichen  fallen  in  das  Ende  des  15.  und  in  die  ersten  Dezennien  des  16.  Jahrhunderts, 
somit  in  die  vorvesalische  Periode.  Zu  seinem  Zeitgenossen  Berengar  da  Carpi 
dürfte  Lionardo  kaum  in  Beziehungen  getreten  sein.  Während  nämlich  die  ana- 
tomischen Zeichnungen  Lionardos  von  wahrhaft  künstlerischer  Schönheit  sind  und 
an  Exaktheit  und  Naturtreue  nichts  zu  wünschen  übrig  lassen,  sind  die  in  der 
„Isagoga"  Carpis  enthaltenen  anatomischen  Abbildungen  nicht  nur  roh  und  un- 
künstlerisch, sondern  auch  fehlerhaft. 

So  umfangreich  und  eingehend  nach  dem  noch  vorhandenen  Material  die 
anatomischen  Forschungen  Lionardos  auch  waren,  so  wenig  scheint  er  sich  mit 
der  Anatomie  der  Sinnesorgane  beschäftigt  zu  haben.  Blumenbach  gibt  zwar  an, 
daß  er  Zeichnungen  Lionardos  vom  Gehirne,  Auge  und  Ohr  gesehen  habe  (Holl.  1.  c); 
doch  dürften  damit  nur  Zeichnungen  der  Ohrmuschel  gemeint  sein.  Einen  Versuch, 
den  Bau  des  inneren  Ohres  näher  kennen  zu  lernen,  hat  Lionardo  nicht  unter- 
nommen. Wenn  er  bei  seinen  physiologischen  Reflexionen  über  den  Nutzen  der 
Sinnesorgane  bezüglich  des  Gehörs  von  „konkaven  Porositäten  des  Os  petrosum, 
welches  innen  im  Ohr  liegt"  ***),  spricht,  so  hat  er  offenbar  damit  die  Ueberlieferung 
der  Araber  und  der  mittelalterlichen  Anatomen  wiedergegeben. 


b)  Die  Otiatrie  in  der  Renaissancezeit. 
Yesal.    Ingrassia.     Falloppio.    Eustachi«). 

Italien  darf  mit  Stolz  das  große  Verdienst  für  sich  in  Anspruch 
nehmen,  daß  hier  die  Anatomie  des  Gehörorgans  und  damit  die  Grund- 
lage für  die  wissenschaftliche  Otiatrie  geschaffen  wurde.  Dank  dem 
großen  Aufschwünge  der  Künste  und  Wissenschaften  im  15.  und  16.  Jahr- 
hundert war  auch  die  Anatomie  in  ein  neues  Stadium  rascher  Entwick- 


*)  Anatomia  corporis  humani  et  singulor.     Membror.  über.  Venet.   K>0'J. 
**)  Holl,   Die   Anatomie   des   Lionardo    da    Vinci.     Archiv  f.  Anatomie  u. 
Physiologie  1905,  Heft  II.  u.  111. 
***)  Holl,  1.  c.  p.  238. 


7g  Die  Otiatrie  in  der  Renaissancezeit, 


luiiu-  getreten,  nachdem  man  aufgehört  hatte,  sich  an  die  kirchlichen 
Verbote  von  Sektionen  menschlicher  Leichen  zu  kehren.  Auf  der  frei- 
er wordenen  Bahn  der  Naturforschung  folgten  einander  nun  rasch  die 
wichtigsten  anatomischen  Entdeckungen.  Mit  Bewunderung  sehen  wil- 
den edlen  Wettstreit  um  die  Förderung  der  Anatomie,  der  sich  an  den 
hervorragenden  Pflanzstätten  der  Wissenschaft,  vor  allem  in  Padua, 
Bologna,  Pavia,  Palermo,  Neapel  und  Rom*),  entwickelte,  und  an  dem 
sich  die  bedeutendsten  Gelehrten  jener  Zeit  beteiligten.  Unter  diesen 
Männern  wird  die  Geschichte  der  Ohrenheilkunde  die  Namen  Vesal, 
Falloppio,  Ingrassia,  Eustachio  und  C asser io  für  alle  Zeiten  als 
die   bahnbrechenden  Forscher   auf  dem  Gebiete  der  Ohranatomie  feiern. 

Während  fast  alle  medizinischen  Wissenszweige  ein  mehr  oder 
weniger  reiches  Erbe  aus  dem  allerdings  bescheidenen  anatomischen 
Forschungsschatze  des  Altertums  zugeteilt  erhielten,  hatte  die  Ohrana- 
tomie fast  nichts  aus  der  früheren  Zeit  überkommen,  da  sich  die  Kennt- 
nisse noch  am  Ende  des  14.  Jahrhunderts  kaum  bis  zum  Trommelfell 
erstreckten.  Diese  vollständige  Unkenntnis  der  Anatomie  des  Ohres 
erklärt  zur  Genüge  die  rohe  Empirie,  mit  der  bis  dahin  die  Behandlung 
der  Ohrenkrankheiten  geübt  wurde.  Noch  weniger  als  die  griechische  und 
römische  hatte  hier  die  mittelalterliche  Heilwissenschaft  in  ihrer  religiösen 
Scheu  vor  Leichenöffnungen  geleistet,  ja  sie  hatte  eher  dazu  beigetragen, 
die  freie  Forschung  zu  Gunsten  eines  traditionellen,  blinden  Autoritäts- 
glaubens zu  ersticken  und  in  einem  Wüste  krauser  Heilformeln  zu  ver- 
graben. 

Als  endlich  die  Finsternis  des  Mittelalters  durch  die  Wiedergeburt 
der  Künste  und  Wissenschaften  in  Italien  zerstreut  wurde  und  das 
Bewußtsein  der  Notwendigkeit  anatomischer  Studien  zum  Durchbruch 
kam ,  warf  sich  die  Wißbegierde  mit  Feuereifer  auch  auf  das  bisher 
brachliegende  Gebiet  der  Anatomie  des  Gehörorgans,  wo  gerade  durch 
die  große  Schwierigkeit  der  anatomischen  Untersuchung  das  Interesse 
noch  gesteigert  wurde.  So  gelang  es  der  bewundernswerten  Ausdauer 
der  berühmten  Anatomen  des  16.  Jahrhunderts  in  Italien,  in  einer  Ver- 
hältnis maß ig    kurzen    Zeit    die   Anatomie    dieses    im    Schläfebeine    ver- 


;::)  Daß  sich  die  päpstliche  Regierung,  dem  Beispiele  der  genannten  Universi- 
täten folgend ,  entschloß ,  auch  in  Rom  eine  anatomische  Lehrkanzel  zu  errichten, 
beweist,  daß  sie,  ohne  das  kirchliche  Verbot  der  Leichensektionen  aufzuheben,  dem 
Drängen  der  modernen  Naturforschung  keinen  längeren  Widerstand  zu  leisten  ver- 
mochte. Während  noch  1515  dem  Lionardo  da  Vinci,  der  in  der  Sapienza  heimlich 
anatomische  Studien  betrieb,  von  Leo  X.  der  weitere  Besuch  dieses  Spitals  verboten 
wurde,  sehen  wir  einige  Dezennien  später  B.  Eustachio  als  Professor  der  Anatomie 
an  der  Sapienza  wirken. 

Lanzelotti  Buonoanti,  11  pensiero  anatomico  de  Lionardo  da  Vinci  in 
rapporto  eil1  arte.     R.  Accad.  di  belle  arti.     Milano  1897;  zit.  Ho  11,  1.  c.  p.  187. 


Die  Otiatrie  in  der  Renaissancezeit.  79 

borgenen  Sinnesorganes  fast  auf  eine  Stufe  mit  der  aller  anderen  Organe 
zu  erlieben. 

Es  kann  sogar  behauptet  werden,  daß  die  mangelhaften  anatomischen 
Kenntnisse  der  verflossenen  Periode  den  Forschern  insofern  zu  statten 
kamen,  als  die  anatomische  Beobachtung  hier  nicht,  wie  anderwärts,  in 
Galenischen  Dogmen  und  arabischen  Doktrinen  befangen  war.  Mit  Recht 
können  wir  sagen,  daß  das  Cinquecento  für  die  Otiatrie  nicht  wie 
für  die  anderen  medizinischen  Fächer  eine  Restaurations- ,  sondern  die 
Sehöpfungsperiode  bildet,  von  der  kaum  eine  Spur  zum  Altertum  zurück- 
führt. Daß  gerade  Italien,  das  Vaterland  der  genialsten  Künstler,  auch 
die  Geburtsstätte  der  modernen  Anatomie  wurde,  hatte  den  nicht  genug 
zu  schätzenden  Vorteil,  daß  sich  Gelehrte  und  Künstler  verbanden,  um 
in  bildlichen  Darstellungen  der  anatomischen  Objekte  den  oft  schwer 
verständlichen  Text  durch  anschauliche  Abbildungen  aufs  wirksamste  zu 
ergänzen.  Es  bedarf  in  dieser  Richtung  nur  des  Hinweises  auf  die 
früher  erwähnten  unübertroffenen  anatomischen  Zeichnungen  Lionardo 
da  Vincis  (s.  S.  77)  und  auf  die  Illustrationen  des  Werkes  des  unsterb- 
lichen Vesal,  die  durch  Calcar,  einen  Schüler  Tizians,  in  bewunderungs- 
würdiger Weise  ausgeführt  wurden. 

Trotz  der  nun  an  den  genannten  Universitäten  zur  freien  Ausübung 
gelangten  anatomischen  Sektionen  an  menschlichen  Kadavern  konnte  das 
Vorurteil  gegen  die  Zergliederung  des  menschlichen  Körpers  in  der 
großen  Volksmasse  nur  allmählich  zum  Schwinden  gebracht  werden. 
Infolge  des  Mangels  an  Leichenmaterial  geschah  es  gar  nicht  selten,  daß 
die  wißbegierigen  Jünger  der  Anatomie  zu  Leichenausgrabungen  ihre 
Zuflucht  nehmen  mußten.  Wird  doch  von  Zeitgenossen  über  nächtliche 
Kämpfe  zwischen  Leichenwächtern  und  Studenten  berichtet,  welch  letztere 
behufs  Beschaffung  von  Sektionsmaterial  zur  Ausgrabung  frischer  Leichen 
auf  den  Friedhöfen  sich  vereinigten.  Dieser  Mangel  an  menschlichen 
Leichen  war  auch  der  Grund,  daß  man  sich  zur  Erforschung  der  ana- 
tomischen Details  vielfach  der  Gehörorgane  von  Tieren  bediente.  Da- 
durch ist,  vielleicht  unbeabsichtigt,  die  Basis  für  die  vergleichende 
Anatomie  des  Gehörorgans  geschaffen  worden. 

So  wurde  die  Kenntnis  des  äußeren,  mittleren  und  inneren  Ohres 
durch  die  verdienstvollen  Anatomen  Italiens  und  deren  Schüler  in  rascher 
Fol^e  gefördert.  Der  träge  Verkehr  zwischen  den  einzelnen  Ländern 
zu  jener  Zeit  war  die  Ursache,  daß  die  Resultate  der  rasch  empor- 
blühenden anatomischen  Wissenschaft  in  Italien  so  spät  den  Schulen  der 
anderen  europäischen  Staaten  übermittelt  wurden,  und  daß  erst  im  fol- 
genden Jahrhundert  deutsche  und  französische  Forscher  Gelegenheit 
fanden,  die  Entdeckungen  ihrer  italienischen  Vorgänger  zu  vermehren 
und  zu  vertiefen. 


tfQ  Vesal. 


Vesal. 


Die  bescheidenen  Leistungen  auf  anatomischem  Gebiete  zu  Aus- 
gang des  15.  Jahrhunderts  wurden  bald  durch  die  Entdeckungen  Vesals 
und  seiner  großen  Zeitgenossen  in  Schatten  gestellt.  Die  Namen  Vesal, 
F  a  1 1  o  p  p  i  o ,  Eustachio,  Ingrassia  sind  die  Leuchten  der  klassischen 
anatomischen  Aera,  deren  glänzende  Leistungen  noch  heute  Bewunderung 
erwecken  und  in  ihrer  Art  mit  denen  des  19.  Jahrhunderts  wetteifern. 
Ihr  Verdienst,  in  rascher  Reihenfolge  eine  vorher  ungeahnte  Anzahl 
anatomischer  Entdeckungen  von  bleibendem  Werte  an  den  Tag  gefördert 
zu  haben,  wird  keineswegs  geschmälert  durch  die  Tatsache,  daß  diese 
Männer  einen  jungfräulichen  Boden   für   ihr  Forschungsgebiet  vorfanden. 

Vor  allen  war  es  Vesal,  der  mit  dem  Einsatz  seiner  ganzen  Per- 
sönlichkeit und  mit  leidenschaftlich  reformatorischem  Eifer  den  Kampf 
gegen  die  Galenische  Tradition  führte  und  der  Idee  der  freien,  un- 
befangenen Naturbeobachtung  zum  Siege  verhalf. 

Ist  Vesal  mit  Recht  als  der  Neubegründer  der  Anatomie  zu  be- 
zeichnen*), so  muß  doch  zugegeben  werden,  daß  seine  Leistungen  auf 
dem  Gebiete  der  Ohranatomie  weit  hinter  denen  des  genialen  Falloppio 
zurückstehen,  der  die  Grenzen  der  Kenntnis  des  Gehörorgans  am  meisten 
von  allen  Zeitgenossen  erweiterte  und  hier  für  lange  die  Führerschaft 
an  sich  riß. 

Andreas  Vesalius**),  am  31.  Dezember  1514  zu  Brüssel  geboren, 
entstammte  einer  Familie,  in  der  schon  seit  alters  her  Medizin  gepflegt 
wurde,  und  die  mehrere  ausgezeichnete  Aerzte  unter  ihren  Ahnen 
zählte.  Er  erhielt  seine  erste  wissenschaftliche  Bildung,  in  Philologie 
und  Mathematik,  zu  Löwen.  Schon  als  Knabe  soll  er  anatomische 
Untersuchungen  an  Tieren  ausgeführt  haben.  Um  1532  begab  er  sich, 
zum  Zwecke  anatomischer  Studien,  nach  Montpellier,  dann  nach  Paris, 
wo  er  aber  durch  seine  Lehrer  1  Guido  Guidi  (Vidus  Vidius),  Jacque 
Dubois  (Sylvius),  Günther  von  Andernach,  nur  dürftige  und  oberflächliche 
Anleitung  fand,  doch  zum  Ersätze  mit  jugendlicher  Begeisterung  eigene 
Untersuchungen  anstellte  und  oft,  selbst  mit  Lebensgefahr,  seinen  un- 
ersättlichen Hang  zum  Zergliedern  befriedigte.  Man  sah  ihn  nicht  selten 
mit  Knochen  hingerichteter  Verbrecher  beschäftigt,  die  er  auf  den  Kirch- 
höfen den  Hunden  entrissen  hatte.  Der  zwischen  Karl  V.  und  Franz  I. 
ausbrechende   Krieg  trieb  Vesal  nach  Löwen  zurück,    wo  er  kurze  Zeit 


I  Roth,  Andrea  Vesal.  1898. 
Wir   beschränken    uns  wegen    des   in  weitesten  Kreisen  bekannten  Lebens- 
laufs Vesals   nur   auf  die   wichtigsten  Daten.     Die   ausführlichste  Darstellung  gibt 
Burggraeve,   Etudes    sur   Andre   Vesale,    Gand   (Annoot-Braeckman) ,    1841    und 
Roth  1.  c. 


Jehan  Yperman.  65 


Polypen  des  äußeren  Gehörganges.  Da  dieser  die  gleiche  Behandlung 
erfordert  wie  der  Nasenpolyp,  über  den  Vigo  an  anderer  Stelle  spricht 
(Lib.  II,  Trakt.  III,  Kap.  0),  so  sei  einiges  darüber  hier  mitgeteilt. 
Vigo  unterscheidet  einen  krebsigen  Polypen  und  einen  gewöhnlichen 
Schleimpolypen.  Bei  dem  krebsig  entarteten  Polypen  geht  Vigo  bloß 
palliativ  vor;  den  Schleimpolypen  hingegen  entfernt  er  durch  Aetzmittel 
oder  Exstirpation  mit  nachheriger  Amvendung  adstringierender  Mittel  in 
Pulver-  und  Salbenform. 

Zum  Schlüsse  seien  noch  die  folgenden  am  Ausgange  des  Mittel- 
alters in  Belgien,  England  und  Deutschland  wirkenden  Aerzte  erwähnt. 

Der  niederländische  Chirurg  Jehan  Yperman  aus  dem  13.  Jahr- 
hundert, der  seine  fachmännische  Bildung  in  Frankreich  bei  Lanfranchi 
erhielt,  hat  sich  in  seinen  chirurgischen  Arbeiten  auch  mit  der  Otochirurgie 
beschäftigt.  Er  empfiehlt  die  Befestigung  eines  halbabgehauenen  Ohres 
durch  Naht,  erklärt  jedoch  für  unmöglich,  daß  ganz  abgehauene  Nasen 
und  Ohren  wieder  anheilen  können x).  Bei  Besprechung  der  Ohren- 
krankheiten erörtert  er  die  „zweeringen  der  oeren",  „die  zweeren  die 
wassen  in  de  oeren",  die  Fremdkörper  und  Würmer.  Zur  Entfernung 
der  Fremdkörper  bedient  er  sich  einer  langen,  an  ihrer  Spitze  stark  ge- 
krümmten Nadel.  Außerdem  enthält  die  Stelle  noch  einige  Bemerkungen 
über  Ohrenfluß  (loepinghen  der  oeren)  und  Taubheit 2). 

Im  nachstehenden  seien  weiters  zwei  englische  Aerzte  angeführt, 
die,  was  die  Otiatrie  betrifft,  ihre  Vorfahren  und  Zeitgenossen  nicht 
überragen,  da  sie  nur  deren  Werke  eingehend  benützt  haben.  Gilbertus 
(Anglicus),  dessen  Leben  ins  13.  Jahrhundert  fällt,  befaßt  sich  im 
III.  Buche  seines  „Compendium  medicinae"  mit  den  Ohrenkrankheiten, 
denen  er  8  Abschnitte  widmet.  Auch  sein  Landsmann  John  of  Ga- 
desden,  gewöhnlich  Joannes  Anglicus  genannt,  bringt  im  IL  Traktat 
des  III.  Buches  seiner  „Rosa  Anglica  practica"  einiges  über  die  Er- 
krankungen der  Ohren  (Kap.  7).  Er  ist  ein  Gegner  der  zu  seiner  Zeit 
gegen  Schwerhörigkeit  und  Taubheit  vielfach  angewendeten  Niesmittel, 
da  durch  sie  nach  seinen  Erfahrungen  schwer  zu  stillendes  Nasenbluten 
hervorgerufen  werden  könne.  Eiter  im  Ohre  läßt  er  durch  eine  in  den 
Gehörgang  gesteckte  Röhre  von  einer  Person,  die  sich  dazu  hergibt,  mit 
dem  Munde  aussaugen.  Auch  gegen  subjektive  Geräusche  soll 
dieses  Mittel  von  Nutzen  sein.  Sicherlich  beruht  in  diesem  Falle 
die  günstige  Wirkung  nicht  so  sehr  auf  der  Aufsaugung  des  Eiters,  als 
vielmehr  auf  der  Luftverdünnung  im  äußeren  Gehörgange,  ein  Moment, 
das  natürlich  dem  mittelalterlichen  Arzte  unbekannt  war.  Endlich  sei 
noch  von  dem  deutschen  Arzte  Johannes  de  Kethain  (15.  Jahrhundert) 
erwähnt,  daß  sich  in  seinem  „Fasciculus  medicinae"  einiges  findet,  was 
wir,   weil  es  mit   der  Otiatrie  in  Beziehung  steht,    hier  vorbringen.     Er 

Politzer,  Geschichte  der  Ohrenheilkunde.     I.  Ö 


(36  Manuskripte  der  Pariser  Bibliotheque  nationale. 

beschäftigt  sich  dort  vorzüglich  mit  den  Ohrerkrankungen  der  Kinder, 
und  zwar  in  den  Kapiteln:  „De  sanie  aurium  puerorum",  „De  veneno 
fluente  de  aure",  welches  „accidit  pueris  ex  vesica  vel  plaga  accidente 
in  auricula".  — 

')  La  Chirurgie  de  maitre  Jehan  Yperman  Chirurgien  beige  (XIHe — XIV'' 
siecle).  Publiee  pour  la  premiere  fois,  d'apres  la  copie  flamande  de  Cambridge  par 
M.  ('.  Broeckx.     p.  83. 

2)  1.  c.  p.  119—125. 

Eine  Prüfung  des  otiatrischen  Inhaltes  der  medizinischen  Handschriften  aus 
dem  Mittelalter,  die  in  nicht  geringer  Zahl  in  den  verschiedenen  Bibliotheken 
aufgestapelt  sind,  fördert  kaum  neue  oder  interessante  Tatsachen  zu  Tage.  Ueberall 
dieselbe  Sterilität  wie  in  den  erst  später  gedruckten  Kompendien  der  Zeitgenossen. 
Ohne  Ausnahme  konnte  ich  diese  Beobachtung  bei  allen  Manuskripten  machen, 
die  ich  in  den  Bibliotheken  zu  Wien  und  Paris  einer  genaueren  Durchsiebt 
unterzog.  Sie  alle  weisen  sowohl  in  der  Anatomie  des  Ohres,  als  auch  in  der 
Diagnostik  und  Behandlung  der  Ohrenkrankheiten  keine  neuen  Gesichtspunkte  auf, 
und  wir  finden  in  ihnen  nur  die  öftere  Wahrnehmung  bestätigt,  daß  die  Autoren 
dieses  Zeitalters  in  ihren  Schriften,  denen  es  keineswegs  an  otiatrischem  Inhalt  ge- 
bricht, die  Griechen,  vor  allen  Galen,  und  die  Araber  unbedingt  und  kritiklos 
nachahmen. 

Am  Ende  des  14.  und  zum  Beginne  des  15.  Jahrhunderts  erfreuten  sich  ins- 
besondere die  chirurgischen  Arbeiten  des  seinem  Zeitalter  als  Autorität  geltenden 
L  an  fr  an  c  großer  Beliebtheit.  Einige  Manuskripte,  die  ich  in  der  Pariser  Biblio- 
thek fand,  mögen  für  diejenigen,  die  näheren  Einblick  in  sie  zu  nehmen  beab- 
sichtigen, erwähnt  werden. 

629.  La  cirurgie  de  Maistre  de  Lanfran  ou  Alenfranc  de  la  este  de  Millan, 
appele  Art  complet  laquelle  il  compella  a  Paris  en  Tan  1295. 

1323.  La  cirurgie  de  maistre  Alanfranc  de  Millan,  laquelle  est  appelee  Art 
complecte  de  cirurgie  XV  s. 

1323.    Ici  se  commence  la  cirurgie  de  maistre  Lanfranc  de  Millan  de  Tan  1377. 

1308.  (De  Thom.  Colbert.)  Le  höre  de  medecine  compose  en  la  eiste  de 
Pampliac  par  trag  Docteur  lequel  est  appele  Dyacorides  pour  le  profect  du  corps 
humain  ä  Tencontre  de  maladies.  —  Commencement  d.  XVI.  siecle. 

2022.  (Colbert.)  Le  livre  nomine  le  regime  du  corps  que  fit  jadis  maistre 
Alebrandin  medecin  du  roy  de  france. 

2027.  (Mentel.)  Ung  abrege  de  l'anatomie  de  la  saignie  par  Jehan  de  Bomo 
de  la  dioeöse  Rutheniensis. 

1317.  La  connaissance  des  corps  humains  lequel  contient  par  pluseurs  parties 
et  tractiea  170  Chapitres  avec  L'expositions  des  sönges  en  l'an  1396,  par  pere  Nicole 
Saoul  autrement  dict  de  Sanct  Marcel  de  l'Ordre  de  N.  D.  du  carme. 

S.  42.     Dea  Significationa  de  la  complexion  et  qui  des  oreilles. 

Welche  Deutung  die  äußere  Form  der  <  »hrmuschel  zu  jenen  Zeiten  erfuhr, 
ergibt  sich  aus  den  folgenden  Sätzen. 

Les  grands  oreilles  en  la  teste  signifie  quil  soit  estourde  et  de  gros  nutriment. 

Item  :  al  qui  a  les  oreilles  longues  du  travers  signifie  qui  il  est  fol  et  hardi 
völonteus. 

Aus  der  Handschriftensammlung  der  Wiener  k.  k.  Hofbibliothek  sei  als 
Beispiel  für  viele  das  mittelhochdeutsche  Manuskript  15106  angeführt: 


Manuskript  der  Wiener  Hofbibliothek. 


67 


[Fol.  4  b]. 

Von  den  boesen  gehören. 

Di  gehorde  hizen  div  weisen  hie  be- 
vor des  mutes'porten :  di  wird  ettwenne 
gar  verlorn,  ettwenne  ein  teil.  Swenne 
daz  geschiht.  der  sol  sich  leigen  an  di 
sunne.  vh  heiz  im  sehen  in  div  oren. 
vindet  man  im  denne  in  den  oren  ein 
geswer.  oder  platern.  stoub  oder  asschen, 
da  vö  ist,  daz  er  niht  gehören  mach. 

Ist  aber  daz  der  deheinz  da  vunden 
wirt .  so  ist  der  siechtum  von  etlicher 
vouht.  oder  von  eim  pladem .  der  sich 
gesamnet  hat  in  die  ader,  da  daz  hören 
in  get  oder  von  eim  geswer(.)  daz  in  der 
[Fol.  5  a]  selben  ader  ist.  Swem  also 
geschiht,  der  redet  also  sanft,  daz  man 
in  choum  vernimt  vh  wirt  agezzel.  wil 
do  dem  zehelfe  chomen  so  vurbe  im  daz 
houbet  mit  terapigra  vnde  heiz  daz 
enphahe  den  tumt  in  div  oreno  der  ge 
ouz  heizeni  wazzeo  da  inne  gesoten  sei 
venichel,  aneis,  petersil,  rute  vnde  laz  im 
in  die  oren  ole  von  tille  oder  von  mandel- 
chern.  merche  daz  div  ole(.)  mit  den  man 
wermen ,  trunchen  od(er)  ouf  tun  wil(,) 
schuln  sein  gemachet  von  grünen  schahen. 

Von  der  o  r  e  n  c  h  1  i  n  g  e  n. 

Oren  chlingene  ettwenne  von  einem 
grozem  pladem  oder  von  einer  leimigen 
vouht.  Swem  daz  geschiht,  der  sol  daz 
houbet  vurben  mit  terapigra  vnde  sol 
lazzen  in  diu  oren  rosen  ole  mit  ezzeiche 
oder  pibergeil.  Swenne  der  siechtum  ist 
von  chalter  vouhtg  der  soll  lazzen  pforren 
souch  mit  weibes  milche  vnde  mit  rosen 
ole  vh  lazze  si  in  div  oren<.)  Darnach 
nem  wermute  vh  lege  di  in  wein  oder 
in  ezzeich  vnd  siede  si  dar  inne  also- 
lange(.)  vnz  der  wei  hemtich  werde  von 
der  wermuet  vnde  lazze  danne  den  tunst 
also  warmen  gen  in  daz  ore  vh  teche  daz 
houbet  anderthalben  dar*,)  daz  iz  swizende 
werde  von  dem  tunst  vnde  seige  denne 
durch  ein  tuch  zwivol  souch(,)  in  tem  sei 
gelegen  gepulverter  chum  drei  tage(,)  vnd 
lazze  des(,)  so  iz  la  sei(,)  zwen  oder  drei 
tropfen  in  daz  ore.  zwir  oder  drei  stunt 
in    der    wochen.     Dan  noch  ist  auch  gut 


Von  dem  schlechten  Gehör. 

Das  Gehör  nannten  die  Weisen  ehe- 
mals die  Pforte  der  Seele.  Manches  Mal 
geht  es  gänzlich  verloren ,  manches  Mal 
bloß  ein  Teil.  Wenn  dies  einem  ge- 
schieht, führe  ihn  in  das  Sonnenlicht  und 
sieh  ihm  ins  Ohr.  Findet  man  dann  in 
den  Ohren  ein  Geschwür  oder  Blattern, 
Staub  oder  Asche,  so  ist  dies  die  Ursache, 
weshalb  er  nicht  hört. 

Ist  aber  davon  nichts  zu  finden,  so 
rührt  die  Krankheit  von  Feuchtigkeit  her 
oder  von  einer  Blähung,  die  sich  gebildet 
hat  in  der  Ader,  wo  das  Hören  hinein- 
geht, oder  von  einem  Geschwür,  das  in 
derselben  Ader  ist.  Dem  dies  widerfährt, 
der  redet  leise,  daß  man  ihn  kaum  hört, 
und  wird  vergeßlich.  Will  man  ihm  Hilfe 
bringen,  so  reinige  man  das  Haupt  mit 
Terapigra  und  lasse  ihn  den  Dampf  heißen 
Wassers,  in  welchem  Fenchel,  Anis,  Peter- 
silie und  Raute  gekocht  wurden,  in  die 
Ohren  aufnehmen,  und  gieße  ihm  Till- 
oder Mandelkernöl  ins  Ohr.  Merke,  daß 
die  Oele,  mit  denen  man  wärmen,  trocknen 
oder  auftun  will,  von  grünen  Sachen  ge- 
macht sein  sollen. 

Vom  Ohrenklingen. 

Das  Ohrenklingen  entsteht  infolge  einer 
großen  Blähung  oder  infolge  klebender 
Feuchtigkeit.  Wem  das  geschieht,  der 
soll  das  Haupt  mit  Terapigra  reinigen 
und  soll  einfließen  lassen  in  die  Ohren 
Rosenöl  mit  Essig  oder  Bibergeil.  Wenn 
die  Krankheit  von  kalter  Feuchtigkeit 
herrührt,  so  mische  man  Lauchsaft  mit 
Frauenmilch  und  mit  Rosenöl  und  lasse 
es  in  die  Ohren.  Hierauf  nehme  man 
Wermut,  lege  ihn  in  Wein  oder  Essig 
und  koche  ihn  darin  so  lange,  bis  der 
Wein  bitter  wird  vom  Wermut  und  lasse 
dann  den  warmen  Dunst  ins  Ohr  gehen 
und  decke  das  halbe  Haupt  zu.  damit  es 
schwitze  von  dem  Dunst  und  seihe  dann 
durch  ein  Tuch  Zwiebelsaft .  in  welchem 
gepulverter  Kümmel  drei  Tage  gelegen 
hat  und  lasse  davon ,  sobald  es  lau  ist, 
zwei  oder  drei  Tropfen  in  das  Ohr,  zwei- 
oder   dreimal   in  der  Woche.     Ferner  ist 


68 


Manuskript  der  Wiener  Hofbibliothek. 


warmer  ezzeich  mit  werniut  "/  ouge  des 
zwir  als  vil  sei  sam  des  ezzeicheso  des 
soll  man  lazzen  in  div  oren. 

Dan  noch  machtn  ein  ander/,  tum  i 
nim  roeen  ole  vnde  ehren  ole  vnde  pforren 
souch  vnde  schaf  galle(,)  mische  iz  under 
ein  ander  vnde  lazze  iz  in  div  oren,  so 
iz  la  sei. 

Von  d  (e  r)  oren  siech  tum. 

Um  die  zwene  siechtumc,)  von  den  da 
gesagt  ist(,)  ist  an  den  oren  dan  noch 
ander  siechtuniQ  der  chumt  von  heizzer 
sunne  oder  von  chaltera  lüfte.  Ist  er  von 
der  sunnec,)  so  enphindet  man  in  den 
oren  grozzer  hize.  Ist  (er)  aber  von 
chelten(,)  so  enpfindet  (man)  grozzer 
froste  in  den  oren.  Ffir  den  siechtum, 
der  da  ist  in  den  oren  von  der  hize,  sol 
tu  rosen  ole  mit  weibes  milche  tempern 
oder  mit  chürbiz  souch  vnd  la  daz  in  div 
oren.  Sei  aber  der  ore  wen  von  des  luftes 
chelten  ode  von  ein  geswer  od  von  pladem 
So  nim  lor  ole  vnde  ole  von  tillen  vnde 
ole  von  Ham  [Fol.  ob]  tigen  mandlch'n 
vnde  ole  von  ruten  vnde  mische  daz  mit 
schaffe  harn  oder  mit  rinder  harne.  Sein 
dir  div  oren  in  dem  houbet  frat(,)  so  sivde 
wermuete  in  weine  vn  mische  den  wein 
mit  ole  von  pherschechen  oder  mit  rettich 
souch  vnde  la  daz  in  div  oren  oder  nim 
vnzei(li)ger  pferseich  souch  vh  la  den  in 
i  liv  oren. 

Von  den  wnrme  di  in  den  oren. 

Nim  einen  gepraten  apfel  also  heizen 
vnde  sneide  in  von  ein  ander  vnde  lege 
in  vber  daz  oreg  da  div  wurme  inne  sint(,) 
«o  gent  öi  ouzo  Alsam  tut  ein  ater(,) 
div  in  eins  menschen  magen  ist,  div  get 
ouzher  durch  den  mut(!)  ob  man  niwe 
molche  milcli  wanne  für  den  munt  sezet(,) 
dar  zu  ist  ouch  poches  bluot  also  warm, 
daz  soll  er  trinchen. 


noch  gut  warmer  Essig  mit  Wermut.  Be- 
achte, daß  davon  zweimal  so  viel  sei  als 
von  dem  Essig  und  lasse  davon  in  die 
Ohren. 

Auch  kann  man  etwas  anderes  tun ; 
man  nimmt  Rosen- ,  Krenöl ,  Lauchsaft 
oder  Schafgalle,  mischt  es  untereinander 
und  läßt  es  in  die  Ohren,  sobald  es  lau  ist. 

Vom  Siechtum  der  Ohren. 

Außer  den  bereits  besprochenen  zwei 
Erkrankungen  der  Ohren  gibt  es  noch 
eine  dritte,  welche  von  heißer  Sonne  oder 
kalter  Luft  entsteht.  Entsteht  sie  von 
der  Sonne,  so  empfindet  man  in  den  Ohren 
große  Hitze,  rührt  sie  aber  von  der  Kälte 
her,  so  empfindet  man  großen  Frost  in 
den  Ohren.  Gegen  die  Erkrankung,  welche 
infolge  von  Hitze  in  den  Ohren  entstan- 
den ist ,  temperiere  Rosenöl  mit  Frauen- 
milch oder  Kürbissaft  und  gib  das  in 
die  Ohren.  Rührt  aber  der  Ohrenschmerz 
von  der  Kälte  der  Luft  oder  von  einem 
Geschwür  oder  von  Blähungen  her,  so 
nimm  Lorbeeröl,  Tillöl,  Oel  von  bitteren 
Mandelkernen  und  Rautenöl  und  mische 
dies  mit  Schafs-  oder  Rinderharn.  Sind 
die  Ohren  im  Kopfe  entzündet,  so  siede 
Wermut  in  Wein  und  mische  den  Wein 
mit  Pfirsichöl  oder  Rettigsaft  und  gib 
das  ins  Ohr.  oder  nimm  Saft  unreifer 
Pfirsiche  und  gib  das  ins  Ohr. 


Von  den  Ohrwürmern. 

Nimm  einen  gebratenen  Apfel,  so  heiß 
wie  er  ist,  schneide  ihn  auseinander  und 
lege  ihn  auf  das  Ohr ,  wo  die  Würmer 
sind ;  sie  werden  herausgehen.  Ebenso 
tut  eine  Natter,  die  im  Magen  eines 
Menschen  ist ;  die  geht  durch  den  Mund 
heraus,  wenn  man  frischgemolkene  Milch 
warm  an  den  Mund  setzt;  dazu  ist  auch 
Bocksblut  gut,  so  warm  wie  es  ist,  das 
soll  er  trinken. 


Bezeichnend  für  den  Geist  der  therapeutischen  Ansichten  im  14.  Jahrhundert 
in  Fr  an  kr  ei  ch  ist  auch  eine  Sammlung  von  Rezepten,  die  in  einem  in  der  Biblio- 
thek von  Evreux  befindlichen  Manuskript  enthalten  sind  (Recettes  medicales  en 
francais  publiees  d'apres  le  Manuscrit  23),  veröffentlicht  durch  Paul  Meyer  und 
Oh.  J.oret  in  der  Romania  18.  p.  571  ff.    Die  Stelle,  welche  sich  auf  die  Ohrenheil- 


Anatomie  und  Physiologie  des  Ohres  im  Mittelalter.  69 

künde  bezieht,  hat  folgenden  Wortlaut:  p.  573,  13.  Pour  les  orelles  sourdes,  prenez 
le  jus  de  mente  et  de  aluine,  si  le  fetes  tieve,  et  metez  es  orelles.  si  gai*ront ;  et  se 
il  i  a  vers,  si  destrempez  le  jus  de  mente  de  vin  et  coulez  parmi  j.  drap  si  le  faites 
tieuve,  et  metez  es  orelles,  si  garront. 

14.  A  home  qui  a  este  longuement  sourt  metez  le  jus  de  hieble  tieve.  si  garra. 


Zur  Anatomie  und  Physiologie  des  Gehörorganes  im  Mittelalter. 

Wie  eingangs  dieses  Abschnittes  erwähnt  wurde,  war  es  im  Mittel- 
alter um  die  Anatomie  und  Physiologie  des  Ohres  schlecht  bestellt*). 

Von  den  anatomischen  Produkten  der  salernitanischen  Schule,  an 
der  menschliche  Leichen  nicht  seziert  wurden,  führen  wir  die  „Ana- 
tomia  porei"  das  Copho  junior  (1085 — 1100)  an.  Sie  enthält  über 
das  Gehörorgan  bloß  den  Satz:  Nervus  qui  ab  interioribus  venit  .... 
ad  aures,  dicitur  auditorius  nervus.  Wie  man  sieht,  eine  sehr  dürftige 
Leistung.  Nicht  viel  besser  steht  es  mit  einer  anderen  anatomischen 
Arbeit  der  salernitanischen  Schule,  der  sogen.  „Demonstratio  ana- 
tomica"**),  in  der  nicht  einmal  der  Versuch  einer  Beschreibung  des 
Gehörorgans  gemacht  wird.  Das  „Poema  anatomicum"***)  endlich 
enthält  folgende  Verse  im  Liber  primus: 


::)  Aus  v.  Töplys  „Studien  zur  Geschichte  der  Anatomie  im  Mittelalter"  geben 
wir  hier  eine  Zusammenstellung  der  ohranatomischen  Literatur  im  genannten  Zeit- 
räume, die  jedoch  nichts  Bemerkenswertes  enthält  und  selbstverständlich  keinen  An- 
spruch auf  Vollständigkeit  erhebt: 

Pseudogalenische  Schriften:  De  compagine  membrorum  s.  de  natura 
humana.     A.  2.  Gehör.     De  anatomia  vivorum.     B.  7.  Ohr. 

Der  Anonymus  des  Lauremberg:  'Avwvuijiou  et  oaf  m"(y]  avoc?op.ix-n.  (Nach 
Sprengel  aus  dem  4.  Jahrhundert  stammend.)  C.  54.  Ohr,  Ohrmuschel, 
Trommelfell. 

Oreibasios  (326—403  n.Chr.).     24.  Buch.     Eingeweidelehre:  7.  Ohren. 

Nemesios  (im  letzten  Viertel  des  4.  Jahrhunderts):  Ilept  -xiüaeto^  ävä-pcurcct). 
10.  Gehör. 

Meletios  (600 — 800?  n.  Chr.),  Anecdota  graeca  e  codd.  manuscriptis  biblio- 
thecarum  Oxoniensium  descripsit  J.  A.  Cramer.     B.  7.  Ohren. 

'Ali  ben  el-'Abbäs  (Haly  Abbas)  el-Madschusi  (f  994),  Liber  omnia  com- 
plectens,  quae  ad  artem  medicam  spectant.     3.  Buch.     Kap.  15. 

Abu  Merwän  ibn  Zohr  (Avenzohar) .  f  1162.  Khitäb-el-kullidschät. 
19.  Ohren. 

Ibn  Abu  Oseibia  (f  1269).     6.  Anatomie  der  Sinneswerkzeuge. 

Abu  Bekr  Muhammed  ben  Zakeryja  el-Räzi.  N.  65.  Liber  de  figura 
aurium.  N.  67.  Liber  de  figura  auditoriae  cavernae  (nach  Wüstenfeld).  In 
der  Anatomie  des  Rbazes.     Kap.  10.     Das  Ohr. 

Bartholomaeu8  Anglicus.     De    genuinis    rerum    coelestium,  terrestrium  et 
infernarum  proprietatibus  Hbri  XVIII.     V.  Buch,  Kap.  12.     Ohren. 
*-)  Renzi,  Coli.  Salernit.  II,  p.  390. 
***)  id.  II,  p.  391. 


Mondino  de  Liuzzi. 


Quod  voces  hauris  hinc  nomen  suscipit  auris : 
Pars  auris  summa  de  primo  primula  clicta 
Significat  primum  venit  inde  bipennis  avituni    ). 

Auch  die  Arbeiten  der  anderen  Anatomen  des  Mittelalters  bieten 
nur  sehr  dürftige  Leistungen  über  die  Anatomie  des  Ohres,  so  z.  B. 
Ricardus.  Anglicus  in  seiner  „Anatomia"  **)  (ca.  1242 — 52),  welche 
Prof.  Robert  von  Töply  zum  ersten  Male  nach  einem  in  der  Wiener 
Hofbibliothek  befindlichen  Manuskripte  herausgegegeben  hat.  Schon 
der  Beginn  des  17.  Kapitels,  das  die  Beschreibung  des  Ohres  (de 
auribus)***)  enthält,  beweist  die  mönchische  Richtung  des  Autors.  Im 
weiteren  Verlaufe  vergleicht  Ricardus  den  „aer  quietusu  (=  complan- 
tatus)  im  Innern  des  Ohres  mit  dem  „cristallinus  humor"  des  Auges 
und  das  Trommelfell  (panniculus),  von  dem  er  nichts  anderes  mitteilt, 
als  daß  es  vom  Hörnerven  abstamme  (oritur  a  nervo  descendente  a  quinto 
pari  nervorum  cerebri)  und  dem  Felsenbein  seine  ganze  Sensibilität  ver- 
leihe (totam  ei  prestat  sensibilitatem  quam  habet),  mit  der  Pupille  des 
Auges.  Von  geringem  Wert  ist  die  „Practica"  des  Joannes  Mattaeus 
de  Gradibus  (f  1472),  der  die  Ohranatomie  und  die  Ohrerkrankungen, 
ohne  neue  Gesichtspunkte,  nach  den  Schriften  der  Vorgänger  be- 
arbeitet hat. 

Einen,  wenn  auch  geringen  Fortschritt  erfuhr  die  anatomische 
Wissenschaft  erst  durch  Mondino. 

Mondino  de  Liuzzi.  Die  „Anathomia"  des  Mondino  de  Liuzzi 
(geb.  zu  Bologna  um  1275,  f  1326),  die  nach  der  Erfindung  der  Buch- 
druckerkunst f)  nicht  weniger  als  25  Auflagen  erlebte,  war  im  14.  Jahr- 
hundert neben  Galens  anatomischem  Werke  das  allgemein  gebräuch- 
liche Lehrbuch  der  Anatomie.  Doch  kann  die  kurze  Schrift  keinen 
Anspruch  auf  Selbständigkeit  machen,  da  Mondino  mit  wenigen  Aus- 
nahmen den  Standpunkt  Galens  vertritt.  Sie  ist  nur  deshalb  von 
einigem  Interesse,  weil  ihr  Verfasser  einer  der  ersten  war,  der  menschliche 
Leichen  sezierte  und  für  seine  Schüler  eine  Anleitung  zum  Sezieren 
verfaßte.  Die  Stelle,  welche  ..De  Anathomia  Auris"  behandelt,  be- 
findet sich  am   Ende  der  Schrift;  sie  lautet: 

His  expeditis  videbis  aurem  positam  a  latere  capitis:  quia  sonus 
percipitur  a  dextris  et  a  sinistris  et  ante  et  retro  et  sursum  et  deorsum 
ei  ideo  instrumentum  eius  oportuit  locari  in  dextra  et  sinistra:  non  autem 
in  parte  anteriori :   quia  ibi  erant  instrumenta  aliorum  sensuum. 


*)  id.  V.  p.  178. 

"*)  Anatomia    Ricardi   Anglici.     Primum    ed.  Rob.  Töply  Eques,  Vindob.  1902. 
►*)  1.  c.  p.  15. 

f)  Die  erste  Auflage  wurde  1478  in  Venedig  gedruckt. 


Mondino  de  Liuzzi.  71 


Auris  autera  fuit  figurae  rotundae  in  nomine  vel  circularis:  ut  esset 
plurimum  capacissima:  et  cartilaginosa. 

Cartilaginosa  autem  fuit:  ut  esset  ab  alterantibus  extrinsecus  tuta. 
Et  ut  esset  sonora,  cuius  foramen  est  longum  terminatum  ad  os  petrosum 
in  cuius  concavitate  est  spiritus  audibilis  complantatus:  qui  est  instru- 
mentum  auditus.  Et  eius  foramen  vel  cavernositates  cooperit  panni- 
culus  subtilis  contextus  ex  villis  nervorum  auditus  iam  supra  dictorum. 
Ossa  autem  alia  quae  sunt  infra  basilare:  non  bene  ad  sensum  apparent 
nisi  ossa  illa  decoquantur:  sed  propter  peccatum  dimittere  consuevi,  verum 
est  quae  de  mandibularum  ossibus  potes  videre  principium  et  finem.  In- 
cipiunt.  n.  a  commissura  sive  addorea  quae  est  inter  craneom  et  basilare 
in  loco  qui  est  in  fine  supercilii  et  frontis:  et  procedit  versus  partem 
posteriorem  iuxta  os  petrosum  et  ad  auriculam  terminatur:  aut  ad  dentes: 
quorum  anothomiam  supra  dixi.  (Anothomia  Mundini  noviter  impressa 
ac  per  Carpum  castigata.  1514.) 

Die  Anatomie  des  Gehörorgans  des  Mondino,  die  wir  hier  dem 
ganzen  Wortlaute  nach  geben,  zeigt  den  geringen  Fortschritt,  den  dieser 
Teil  der  Anatomie  von  Seite  des  im  Mittelalter  als  erste  Autorität  auf 
anatomischem  Gebiete  geltenden  Autors  erfahren  hat. 

Seine  Schilderung  unterscheidet  sich  dadurch  von  der  früherer 
Autoren,  daß  sie  den  „spiritus  audibilis  complantatus"  in  eine  Concavität 
des  Os  petrosum  verlegt  und  von  einem  „panniculus  subtilis"  spricht, 
der  sich  aus  den  Verzweigungen  (villis)  des  Hörnerven  zusammensetzt 
und  von  manchen  Autoren  als  Trommelfell  gedeutet  wird. 

Der  Umstand  jedoch,  daß  ein  „panniculus"  schon  von  früheren 
Autoren  erwähnt  wird  und  Mondino  ihn  als  eine  Ausbreitung  des 
Hörnerven  ansieht,  vom  Hammer  aber  nichts  erwähnt,  beweist,  daß 
Mondino  selbst  das  Gehörorgan  nicht  oder  nur  sehr  oberflächlich 
untersucht  und  bloß  aus  den  Mitteilungen  seiner  Vorgänger  geschöpft 
hat.  Wie  schwer  noch  in  dieser  Periode  des  Mittelalters  das  Verbot, 
menschliche  Leichen  zu  sezieren,  auf  der  anatomischen  Forschung  lastete 
und  wie  sehr  dieses  Dogma  bis  ins  16.  Jahrhundert  den  Forschungs- 
drang mancher  Aerzte  lähmte,  zeigt  die  Aeußerung  Mondinos,  daß 
sich  die  Details  des  Felsenbeins  besser  zur  Anschauung  bringen  ließen, 
wenn  man  den  Knochen  auskochte,  eine  Prozedur,  die  er  als  eine  Sünde 
unterließ. 

Der  ersten  Anregung  zur  anatomischen  Forschung  durch  Mon- 
dino folgt  abermals  eine  fast  zwei  Jahrhunderte  andauernde  Stagnation, 
die  erst  mit  dem  Aufblühen  der  Künste  und  Wissenschaften  in  Italien 
im  16.  Jahrhundert  ihr  Ende  erreicht.  Denn  das,  was  Betrucci,  ein 
Schüler  Mondinos  (1347),  die  schon  früher  erwähnten  Mondeville  (1350) 
und  Petr.   de   Argellata  (1423),    Bartolomeo    Montagnana    (1460) 


72 


Mondino  de  Liuzzi. 


und  selbst  der  verdienstvolle  Alex.  Achillini  geschaffen,  ist  so  gering- 
fügig, daß  es  für  den  Fortschritt  der  anatomischen  Wissenschaft  kaum 
in  Betracht  kommt.  Wie  lange  noch  die  dürftige  Anatomie  des  Mon- 
dino als  maßgebend  galt,  beweist  die  Tatsache,  daß  Achillini  in 
seinen  ..Annotationes  in  Anatomiam  Mundini"  110  Jahre  nach  Mondino 
und  .1.  B.  da  Carpi  noch  zu  Anfang  des  16.  Jahrhunderts,  vor  dem  Er- 
scheinen seiner  .Jsagoga",  es  für  zweckmäßig  fanden,  die  Anatomie  des 
Mondino  zu  kommentieren  und  herauszugeben. 


Die  Otiatrie  in  der  Uebergangsperiode  zur  Neuzeit. 


a)  Vorläufer  der  großen  Anatomen  Italiens. 

Achillini.     Berengario  da  Carpi.     Nie.  Massa. 

Die  erste  Etappe  zur  Durchforschung  des  Gehörorgans  bildete  die 
Auffindung  von  Hammer  und  Amboß.  Der  Zeitpunkt  ihrer  Entdeckung 
wird  von  den  Historikern  in  die  zweite  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  ver- 
legt, doch  ist  es  sehr  wahrscheinlich,  daß  die  schon  bei  oberflächlicher 
Zergliederung  leicht  darstellbaren  Knöchelchen  viel  früher  von  un- 
bekannten Anatomen  oder  Chirurgen  zufällig  entdeckt  wurden,  ohne  daß 
ihre  Bedeutung  erkannt  worden  wäre*). 

Als  Entdecker  des  Hammers  und  Amboßes  werden  Achillini  und 
Berengario  da  Carpi,  zwei  hervorragende  Anatomen  des  zur  Neige 
gehenden  15.  Jahrhunderts,  angeführt;  doch  kommt  Achillini,  wie 
wir  sehen  werden,  hierbei  nicht  in  Betracht  und  Carpi  kann  nur  das 
Verdienst  in  Anspruch  nehmen,  bei  seiner  Beschreibung  des  Gehör- 
organs den  Hammer  und  Amboß  zuerst  erwähnt,  nicht  aber  sie  entdeckt 
zu  haben. 

Achillini. 

In  den  meisten  historischen  Werken  wird  Alessandro  Achillini 
(1463 — 1512)  als  der  Entdecker  des  Hammers  und  Amboßes  bezeichnet. 
Achillini,  ein  Bolognese,  einer  der  hervorragendsten  Gelehrten  in  der 
zweiten  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts,  lehrte  in  seiner  Geburtsstadt  und 
später  in  Padua  Philosophie  und  Medizin  und  betätigte  in  beiden 
Wissenszweigen  seinen  eminenten  Scharfsinn  in  hervorragender  Weise. 
Obzwar  noch  Arabist,  war  er  doch  einer  der  ersten,  die  den  Mut  hatten, 
menschliche  Leichen  zu  sezieren. 

Neben  anderen  umfangreichen  Werken  erschienen  posthum  seine 
„Annotationes  anatomicae  in  Mundinum",  Bononiae  1520.  Das  ganz  dünnt' 
Bündchen  ist  weder  in  der  Wiener  Universitäts-  noch  in  der  Hofbibliothek 


*)  Potuit  enim  ignobili  cuidam  ac  minus  docto  Prosectori,  aut  Chirurgo,  qui 
probe  dijudicando ,  aut  publice  indicando ,  quod  casu  reperisset,  ut  saepe  fit,  par 
ipse  non  esset,  id  Achillini,  et  Carpensis  temporibus  aeeidisse  in  Malleo  et  Incude 
quod  postea  in  Stapede  sibi  obtigisse,  Ingrassias  testatur!  (Morgagni,  Epistol. 
anatom.,  VI.,  3.) 


74  Berengario  da  Carpi. 


vorhanden.  Die  kurze  Beschreibung  des  Ohres  in  demselben  verdanke 
ich  einem  befreundeten  Kollegen,  der  während  seines  Londoner  Auf- 
enthaltes im  Sommer  1905  aus  dem  in  der  Bibliothek  des  College  of 
Surgeons  befindlichen  Exemplare  mir  die  betreffende  Notiz  zukommen 
ließ.     Sie  lautet : 

.Amis:  lateralis  capiti;  rotundae  figurae.  eartilaginosa  ambiqui  foraminis,  in 
•  uius  t'xtremitate  est  miringa  claudens  in  osse  petroso  aerem  coronalem." 

In  dieser  kurzen  Skizze  ist  wohl  „miringa"  ein  Hinweis  auf  das 
Trommelfell,  doch  enthält  sie  nichts  über  die  Gehörknöchelchen.  Die 
irrtümliche  Annahme  der  Priorität  Achillin is  bei  dieser  anatomischen 
Entdeckung  beruht  offenbar  auf  der  falsch  ausgelegten  Stelle  des  Nie. 
Massa,  die  eigentlich  nur  besagt,  daß  die  Entdeckung  zur  Zeit  Achil- 
linis  erfolgte: 

„Haec  ossicula  anatomici  tempore  Achillini.  viri  in  omni  scientiarum  genere 
eminentissimi  (ut  ex  eius  scriptis  clarissime  videre  est)  invenerunt.  Nie.  Massa,  Epist. 
medicinales,  Venetiis  1558.     Ep.  V.  f.  55.  b. 

Welche  „scripta"  des  Achillini  hier  gemeint  sind,  konnte  ich  nicht 
eruieren,  da  ich  bei  Durchsicht  der  anderen  Werke  Achillin  is  keine 
auf  die  Anatomie  des  Gehörorgans  bezügliche  Stelle  fand. 

Bereiigario  da  Carpi. 

Jacopo  Berengario  da  Carpi  wurde  kurz  vor  1470  in  Carpi 
bei  Modena  als  Sohn  eines  angesehenen  Wundarztes  geboren,  studierte 
in  Bologna,  lebte  dann  als  Arzt  in  seiner  Heimat,  floh  aus  politischen 
Ursachen  nach  Bologna,  wo  er  von  1502 — 1527  die  Professur  der 
Chirurgie  mit  ausgezeichnetem  Erfolge  bekleidete.  Beschuldigt,  Vivi- 
sektionen am  Menschen  ausgeführt  zu  haben,  begab  er  sich  von  hier  in 
die  freiwillige  Verbannung  nach  Ferrara,  woselbst  er  1550  starb. 

Carpi  erlangte  große  Berühmtheit,  als  Arzt  durch  Verwendung  des 
Merkur  bei  venerischen  Krankheiten,  als  Chirurg  durch  treffliche  Behand- 
lung der  Schußwunden  und  Schädelverletzungen,  als  Anatom  durch  eine 
Fülle  von  wertvollen  Entdeckungen,  die  er  bei  Sektionen  an  mensch- 
lichen Leichen  machte.  Seine  Erfahrungen  legte  er  in  den  zwei  Werken 
nieder:  „Anatomi  Carpi  Isagogae  breves  Perlucidae  ac  uberrimae  in  Ana- 
tomiam  huniani  corporis  a  communi  Medicorum  Academia  usitatam  etc.", 
Bonon.  1514  und  „Commentaria  cum  amplissimis  additionibus  super 
anatomiam  Mundini,  una  cum  textu  ejus  in  pristinum  et  verum  nitorem 
redacto",  Bonon.   1521. 

Berengario  war  der  erste  Anatom,  der  seinen  Werken  eine  An- 
zahl  in    der  Ausführung  recht  roher  anatomischer  Abbildunsren   beisrab. 


Berengario  da  Carpi.  75 


Von  seinen  Leistungen  sei  hier  nur  die  Entdeckung  der  Keilbeinhöhle 
und  des  Wurmfortsatzes  hervorgehoben.  Er  kannte  die  Membrana  tym- 
pani  genauer  als  seine  Vorgänger  und  entschied  sich  in  dem  damaligen 
Streite,  ob  sie  von  den  Gehirnhäuten,  Periost  oder  dem  Gehörnerv  ab- 
geleitet werden  sollte,  für  die  letztere  irrige  Ansicht,  die  er  von  Mondino 
überkommen  hatte*). 

Die  bezüglichen  Stellen  über  das  Trommelfell  und  die  Gehör- 
knöchelchen in  der   ..Isagoga"  lauten: 

„intra  quod  est  certa  vacuitas,  quam  claudit  quidam  panniculus 
subtilis  et  solidus." 

„Sunt  aliqui  volentes  praedictum  panniculum  oriri  a  pia  matre  quae 
transit  cum  nervo  auditivo  ad  praedictam  vacuitatem :  de  suo  tarnen 
ortu  vide  comenta." 

„In  praedicta  vacuitate,  quam  ante  velat  praedictus  panniculus,  est 
aer  implantatus,  qui  suspicit  species  auditus  quas  dat  nervo  auditorio 
dilatato  in  panniculum,   qui  vocatur  miringa  auris." 

Der  letzte  Satz  würde  in  deutscher  Uebersetzung  lauten:  In  der 
genannten  Höhlung,  welche  das  Trommelfell  verschließt  (somit  in  der 
Trommelhöhle),  befindet  sich  der  Aer  implantatus,  der  die  Arten  des 
Hörens  aufnimmt,  die  er  auf  den  in  ein  Fell  ausgespannten  Hörnerv 
überträgt. 

Die  Stelle  über  die  Gehörknöchelchen  lautet: 

„et  huic  panniculo  intra  praedictam  vacuitatem  adiacent  duo  ossi- 
cula  parva  apta  moveri  ab  aere  ibidem  proximo  moto,  quae  in  suo 
motu  se  invicem  percutiunt,  a  quibus  secundum  aliquos  causantur  omnes 
speties  (species)  soni:  plus  et  minus  secundum  aerem  extrinsecus  motum.u 

Zu  Deutsch:  an  diesem  Fell  (Trommelfell)  lagern  innerhalb  der 
genannten  Höhlung  (Trommelhöhle )  zwei  kleine  Knöchelchen ,  welche 
geeignet  sind ,  von  der  dort  bewegten  Luft  bewegt  zu  werden  und  sich 
in  ihrer  Bewegung  mehr  oder  weniger,  je  nach  der  Bewegung  der 
äußeren  Luft,  wechselseitig  erschüttern. 

Aus  dem  letzten  Zitate  ist  ersichtlich,  daß  Carpi  sich  keineswegs 
als  der  Entdecker  des  Hammers  und  Amboßes  bezeichnet.  In  der 
Isagoga  Carpis  geschieht  deren  ohne  Benennung  nur  Erwähnung,  und 
erst  in  den  Kornmentarien  werden  sie  mit  ihrem  Namen  bezeichnet. 
Eine  genaue  Schilderung  ihrer  Form  und  Größe  vermissen  wir  aber  hier 
ebenso  wie  Angaben  über  Form,  Größe  und  Wölbung  des  Trommelfells. 
Vom  Labyrinthe  hatte  Carpi  wohl  Kenntnis,  doch  äußert  sie  sich  nur 
in  unklaren  Andeutungen. 


*)  Commentar.  in  Mundin.     f.  477  a,  b. 


7(5  Nie.  Massa. 

Nie.  Massa. 

Zu  den  Vorläufern  der  großen  Epoche  der  Wiedergeburt  der  ana- 
tomischen Wissenschaft  zählen  noch  Nie.  Massa,  Alessandro  Bene- 
detti  und  Gabr.  Z  er  bis. 

Nicolaus  Massa  (f  1569),  dessen  Werk*)  einige  interessante 
historische  Daten  enthält,  erwähnt  das  Trommelfell  nur  kurz  (ista  cavitas 
tegitur  a  quadam  membrana  subtili  dura),  es  werde  „meninga"  auf 
Griechisch  oder  auch  „timpanum"  genannt.  Von  den  beiden  Gehör- 
knöchelchen (supra  quam  membranam  intus  sunt)  sagt  er,  daß  sie 
wie  die  Schlegel  einer  Trommel  (ad  modum  malleorum  timpani)  aus- 
sehen und  daher  die  Bezeichnung  „malleoli"  erhalten  hätten;  er  be- 
schreibt sie  als  beweglich  und  mit  dem  Trommelfell  zusammenhängend 
(mobilia  et  adhaerentia)  und  hebt  hervor,  daß  sie  sich  nach  den 
Schwingungen  des  Trommelfells  mitbeAvegen  (moventur  ad  motum  dietae 
nicmbranae).  Von  Interesse  ist  die  von  ihm  angeführte  Sektionsmethode, 
nach  welcher  Gehörknöchelchen  und  Trommelfell  aufgefunden  würden. 
Aus  seinen  nicht  ganz  klaren  Ausführungen  scheint  nämlich  hervor- 
zugehen, daß  er  das  Dach  der  Trommelhöhle  lateralwärts  von  der 
Eminentia  arcuata  der  Pyramide  mit  dem  Skalpell  entfernt  und  das 
Trommelfell  mit  dem  Hammer  und  Amboß  freilegt,  eine  Technik,  wie 
sie  auch  heute  noch  geübt  wird.     Die  betreffende  Stelle  lautet: 

Nota  quod  a  lateribus  cavitatis  cranei  supra  os  basilare  ,  ubi  correspondent 
exterius  aures,  sunt  duae  eminentiae  osseae,  una  a  dextris  altera  a  sinistris,  quas 
eminentias  osseas  oportet  diligenter  scalpello  ineidere,  ne  intrinsecae  partes  frangantur, 
quae  intra  cavum  ossis  sunt .  et  sie  elevato  ossa  apparebunt  ista  ossicula  iacentia 
supra  meningam,  timpanum  aliter  dietam,  quae  quidem  meninga,  ut  dixi,  correspondet 
foramini  auris  in  osse  exteriori. 

Gleichzeitig  fordert  Massa  auf,  bei  der  Präparation  die  krummen 
Gänge  des  Knochens  zu  besichtigen  (vide  etiam  diligenter  anfractus  ossis 
intrinseci,  ubi  facta  incisio).  Welcher  Wert  übrigens  seinen  anato- 
mischen Daten  beigemessen  werden  darf,  ergibt  sich  aus  der  Angabe, 
daß  der  Gehörnerv  bis  zum  Trommelfell  verlaufe  (videbis  nervum  trans- 
euntem  per  substantiam  ossis  ad  timpanum). 

Die  Arbeit  „Historia  corporis  humani  sive  anatomice",  Venetiis  1497,  des 
Italieners  Alessandro  Benedetti  enthält  im  38.  Kapitel  des  4.  Buches  bloß 
einen  dürftigen  Hinweis  auf  das  Trommelfell.  Er  sagt  dort  nämlich,  daß  am  Ende 
des  äußeren  «ichör^anges  eine  Membran  ausgespannt  sei,  die  man  „mininga"  nenne 


*)  Nicolai  Massa,  Veneti  artium  et  medicinae  doctoris  Liber  introduc- 
torius  Anatomiae,  sive  dissectionis  corporis  humani,  nunc  primum  ab  ipso  auetore 
in  lucem  editus  etc.  1536.  Cap.  XXXXI.  De  dissectione  aurium,  nasi,  et  superiorum 
maxillarum,  una  cum  osse  basilari,  p.  93. 


Alessandro  Benedetti.  77 


(in  imo  anfractu  niembrana  posita  est,  quam  mininga  vocant).  Seine  weiteren  phan- 
tastischen Ausführungen,  daß  beim  Trommelfell  die  Luftstöße  aufhören  und  infolge 
ihrer  Nähe  zum  Gehirne  geleitet  werden,  daß  diese  Membran  vom  Gehirne  abstamme, 
durch  dessen  Vermittlung  mit  der  Zunge  in  Verbindung  stehe  u.  s.  w.  (hac  aeris 
ictus  desinit :  qui  ad  cerebrum  vicinitate  defertur :  qiii  ea  membrana  a  cerebro  est : 
cuius  connexione  linguae  annectitur  etc.)  sind  kaum  von  wesentlichem  Interesse. 

Auf  die  dürftigen  Angaben  Zerbis*),  nicht  zu  reden  von  den  deutschen 
Anatomen  dieser  Zeitepoche,  kann  hier  verzichtet  werden. 

Anhang. 

Nach  den  neueren  historischen  Forschungen  wird  auf  Grundlage  der  in  den 
königl.  Bibliotheken  in  Windsor  und  Paris  befindlichen  Manuskripte  und  anatomi- 
schen Handzeichnungen  Lionardo  da  Vinci  als  der  hervorragendste  Vorläufer  der 
großen  Anatomen  Italiens,  ja  als  der  eigentliche  Begründer  der  menschlichen  Ana- 
tomie bezeichnet*').  Lionardos  anatomische  Studien  an  zahlreichen  menschlichen 
Leichen  fallen  in  das  Ende  des  15.  und  in  die  ersten  Dezennien  des  16.  Jahrhunderts, 
somit  in  die  vorvesalische  Periode.  Zu  seinem  Zeitgenossen  Berengar  da  Carpi 
dürfte  Lionardo  kaum  in  Beziehungen  getreten  sein.  Während  nämlich  die  ana- 
tomischen Zeichnungen  Lionardos  von  wahrhaft  künstlerischer  Schönheit  sind  und 
an  Exaktheit  und  Naturtreue  nichts  zu  wünschen  übrig  lassen ,  sind  die  in  der 
„Isagoga"  Carpis  enthaltenen  anatomischen  Abbildungen  nicht  nur  roh  und  un- 
künstlerisch, sondern  auch  fehlerhaft. 

So  umfangreich  und  eingehend  nach  dem  noch  vorhandenen  Material  die 
anatomischen  Forschungen  Lionardos  auch  waren,  so  wenig  scheint  er  sich  mit 
der  Anatomie  der  Sinnesorgane  beschäftigt  zu  haben.  Blumenbach  gibt  zwar  an, 
daß  er  Zeichnungen  Lionardos  vom  Gehirne,  Auge  und  Ohr  gesehen  habe  (Holl.  1.  c); 
doch  dürften  damit  nur  Zeichnungen  der  Ohrmuschel  gemeint  sein.  Einen  Versuch, 
den  Bau  des  inneren  Ohres  näher  kennen  zu  lernen,  hat  Lionardo  nicht  unter- 
nommen. Wenn  er  bei  seinen  jdiysiologischen  Reflexionen  über  den  Nutzen  der 
Sinnesorgane  bezüglich  des  Gehörs  von  „ konkaven  Porositäten  des  Os  petrosum, 
welches  innen  im  Ohr  liegt"  ***),  spricht,  so  hat  er  offenbar  damit  die  Ueberlieferung 
der  Araber  und  der  mittelalterlichen  Anatomen  wiedergegeben. 


b)  Die  Otiatrie  in  der  Renaissancezeit. 
Yesal.     Ingrassia.     Falloppio.     Eustachio. 

Italien  darf  mit  Stolz  das  große  Verdienst  für  sich  in  Anspruch 
nehmen,  daß  hier  die  Anatomie  des  Gehörorgans  und  damit  die  Grund- 
lage für  die  wissenschaftliche  Otiatrie  geschaffen  wurde.  Dank  dem 
großen  Aufschwünge  der  Künste  und  Wissenschaften  im  15.  und  16.  Jahr- 
hundert war  auch  die  Anatomie  in  ein  neues  Stadium   rascher  Entwick- 


*)  Anatomia  corporis  humani  et  singulor.     Membror.  über.  Yenet.  1502. 
**)  Holl,   Die    Anatomie    des    Lionardo    da   Vinci.     Archiv  f.  Anatomit«  u. 
Physiologie  1905,  Heft  II.  u.  111. 
***)  Holl.  1.  c.  p.  238. 


Die  Otiatrie  in  der  Kenaissancezeit. 


lung  getreten,  nachdem  man  aufgehört  hatte,  sich  an  die  kirchlichen 
Verbote  von  Sektionen  menschlicher  Leichen  zu  kehren.  Auf  der  frei- 
gewordenen Bahn  der  Naturforschung  folgten  einander  nun  rasch  die 
wichtigsten  anatomischen  Entdeckungen.  Mit  Bewunderung  sehen  wil- 
den edlen  Wettstreit  um  die  Förderung  der  Anatomie,  der  sich  an  den 
hervorragenden  Pflanzstätten  der  Wissenschaft,  vor  allem  in  Padua, 
Bologna,  Pavia,  Palermo,  Neapel  und  Rom*),  entwickelte,  und  an  dem 
sich  die  bedeutendsten  Gelehrten  jener  Zeit  beteiligten.  Unter  diesen 
Mannen)  wird  die  Geschichte  der  Ohrenheilkunde  die  Namen  Vesal, 
Falloppio,  Ingrassia,  Eustachio  und  Casserio  für  alle  Zeiten  als 
die   bahnbrechenden  Forscher   auf  dem  Gebiete  der  Ohranatomie  feiern. 

W'ührend  fast  alle  medizinischen  Wissenszweige  ein  mehr  oder 
weniger  reiches  Erbe  aus  dem  allerdings  bescheidenen  anatomischen 
Forschungsschatze  des  Altertums  zugeteilt  erhielten,  hatte  die  Ohrana- 
tomie fast  nichts  aus  der  früheren  Zeit  überkommen,  da  sich  die  Kennt- 
nisse noch  am  Ende  des  14.  Jahrhunderts  kaum  bis  zum  Trommelfell 
erstreckten.  Diese  vollständige  Unkenntnis  der  Anatomie  des  Ohres 
erklärt  zur  Genüge  die  rohe  Empirie,  mit  der  bis  dahin  die  Behandlung 
der  Ohrenkrankheiten  geübt  wurde.  Noch  weniger  als  die  griechische  und 
römische  hatte  hier  die  mittelalterliche  Heilwissenschaft  in  ihrer  religiösen 
Scheu  vor  Leichenöffnungen  geleistet,  ja  sie  hatte  eher  dazu  beigetragen, 
die  freie  Forschung  zu  Gunsten  eines  traditionellen,  blinden  Autoritäts- 
glaubens zu  ersticken  und  in  einem  Wüste  krauser  Heilformeln  zu  ver- 
graben. 

Als  endlich  die  Finsternis  des  Mittelalters  durch  die  Wiedergeburt 
der  Künste  und  Wissenschaften  in  Italien  zerstreut  wurde  und  das 
Bewußtsein  der  Notwendigkeit  anatomischer  Studien  zum  Durchbruch 
kam .  warf  sich  die  Wißbegierde  mit  Feuereifer  auch  auf  das  bisher 
brachliegende  Gebiet  der  Anatomie  des  Gehörorgans,  wo  gerade  durch 
die  große  Schwierigkeit  der  anatomischen  Untersuchung  das  Interesse 
noch  gesteigert  wurde.  So  gelang  es  der  bewundernswerten  Ausdauer 
der  berühmten  Anatomen  des  16.  Jahrhunderts  in  Italien,  in  einer  ver- 
hältnismäßig   kurzen    Zeit    die   Anatomie    dieses    im    Schläfebeine    vev- 

*)  Daß  sich  die  päpstliche  Regierung,  dem  Beispiele  der  genannten  Universi- 
täten folgend,  entschloß,  auch  in  Rom  eine  anatomische  Lehrkanzel  zu  errichten, 
beweist,  daß  -ie.  ohne  das  kirchliche  Verbot  der  Leichensektionen  aufzuheben,  dem 
Drängen  der  modernen  Naturforschung  keinen  längeren  Widerstand  zu  leisten  ver- 
mochte. Während  noch  1515  dem  Lionardo  da  Vinci,  der  in  der  Sapienza  heimlich 
anatomische  Studien  betrieb,  von  Leo  X.  der  weitere  Besuch  dieses  Spitals  verboten 
wurde,  sehen  wir  einige  Dezennien  später  B.  Eustachio  als  Professor  der  Anatomie 
an  der  Sapienza  wirken. 

Lanzelotti  Buonoanti.  11  pensiero  anatomico  de  Lionardo  da  Vinci  in 
rapporto  eil'  arte.     K.  Accad.  di  belle  arti.     Milano  1897;  zit.  Holl,  1.  c.  p.  187. 


Die  Otiatrie  in  der  Renaissancezeit.  79 

borgenen  Sinnesorganes  fast  auf  eine  Stufe  mit  der  aller  anderen  Organe 
zu  erlieben. 

Es  kann  sogar  behauptet  werden,  daß  die  mangelhaften  anatomischen 
Kenntnisse  der  verflossenen  Periode  den  Forschern  insofern  zu  statten 
kamen,  als  die  anatomische  Beobachtung  hier  nicht,  wie  anderwärts,  in 
Galenischen  Dogmen  und  arabischen  Doktrinen  befangen  war.  Mit  Recht 
können  wir  sagen,  daß  das  Cinquecento  für  die  Otiatrie  nicht  wie 
für  die  anderen  medizinischen  Fächer  eine  Restaurations-,  sondern  die 
Schöpfungsperiode  bildet,  von  der  kaum  eine  Spur  zum  Altertum  zurück- 
führt. Daß  gerade  Italien,  das  Vaterland  der  genialsten  Künstler,  auch 
die  Geburtsstätte  der  modernen  Anatomie  wurde,  hatte  den  nicht  genug 
zu  schätzenden  Vorteil,  daß  sich  Gelehrte  und  Künstler  verbanden,  um 
in  bildlichen  Darstellungen  der  anatomischen  Objekte  den  oft  schwer- 
verständlichen Text  durch  anschauliche  Abbildungen  aufs  wirksamste  zu 
ergänzen.  Es  bedarf  in  dieser  Richtung  nur  des  Hinweises  auf  die 
früher  erwähnten  unübertroffenen  anatomischen  Zeichnungen  Lionardo 
da  Vincis  (s.  S.  77)  und  auf  die  Illustrationen  des  Werkes  des  unsterb- 
lichen Vesal,  die  durch  Calcar,  einen  Schüler  Tizians,  in  bewunderungs- 
würdiger Weise  ausgeführt  wurden. 

Trotz  der  nun  an  den  genannten  Universitäten  zur  freien  Ausübung 
ofelanaten  anatomischen  Sektionen  an  menschlichen  Kadavern  konnte  das 
Vorurteil  gegen  die  Zergliederung  des  menschlichen  Körpers  in  der 
o-roßen  Volksmasse  nur  allmählich  zum  Schwinden  gebracht  werden. 
Infolge  des  Mangels  an  Leichenmaterial  geschah  es  gar  nicht  selten,  daß 
die  wißbegierigen  Jünger  der  Anatomie  zu  Leichenausgrabungen  ihre 
Zuflucht  nehmen  mußten.  Wird  doch  von  Zeitgenossen  über  nächtliche 
Kämpfe  zwischen  Leichenwächtern  und  Studenten  berichtet,  welch  letztere 
behufs  Beschaffung  von  Sektionsmaterial  zur  Ausgrabung  frischer  Leichen 
auf  den  Friedhöfen  sich  vereinigten.  Dieser  Mangel  an  menschlichen 
Leichen  war  auch  der  Grund,  daß  man  sich  zur  Erforschung  der  ana- 
tomischen Details  vielfach  der  Gehörorgane  von  Tieren  bediente.  Da- 
durch ist,  vielleicht  unbeabsichtigt,  die  Basis  für  die  vergleichende 
Anatomie  des  Gehörorgans  geschaffen  worden. 

So  wurde  die  Kenntnis  des  äußeren,  mittleren  und  inneren  Ohres 
durch  die  verdienstvollen  Anatomen  Italiens  und  deren  Schüler  in  rascher 
Fol^e  gefördert.  Der  träge  Verkehr  zwischen  den  einzelnen  Ländern 
zu  jener  Zeit  war  die  Ursache,  daß  die  Resultate  der  rasch  empor- 
blühenden anatomischen  Wissenschaft  in  Italien  so  spät  den  Schulen  der 
anderen  europäischen  Staaten  übermittelt  wurden,  und  daß  erst  im  fol- 
genden Jahrhundert  deutsche  und  französische  Forscher  Gelegenheit 
fanden,  die  Entdeckungen  ihrer  italienischen  Vorgänger  zu  vermehren 
und  zu   vertiefen. 


-d  Vesal. 

Yesal. 

Die  bescheidenen  Leistungen  auf  anatomischem  Gebiete  zu  Aus- 
gang des  15.  Jahrhunderts  wurden  bald  durch  die  Entdeckungen  Vesals 
und  seiner  großen  Zeitgenossen  in  Schatten  gestellt.  Die  Namen  Vesal, 
Falloppio,  Eustachio,  Ingrassia  sind  die  Leuchten  der  klassischen 
anatomischen  Aera,  deren  glänzende  Leistungen  noch  heute  Bewunderung 
erwecken  und  in  ihrer  Art  mit  denen  des  19.  Jahrhunderts  wetteifern. 
Ihr  Verdienst,  in  rascher  Reihenfolge  eine  vorher  ungeahnte  Anzahl 
anatomischer  Entdeckungen  von  bleibendem  Werte  an  den  Tag  gefördert 
zu  haben,  wird  keineswegs  geschmälert  durch  die  Tatsache,  daß  diese 
Männer  einen-  jungfräulichen  Boden   für  ihr  Forschungsgebiet  vorfanden. 

Vor  allen  war  es  Vesal,  der  mit  dem  Einsatz  seiner  ganzen  Per- 
sönlichkeit und  mit  leidenschaftlich  reformatorischem  Eifer  den  Kampf 
gegen  die  Galenische  Tradition  führte  und  der  Idee  der  freien,  un- 
befangenen Naturbeobachtung  zum  Siege  verhalf. 

Ist  Vesal  mit  Recht  als  der  Neubegründer  der  Anatomie  zu  be- 
zeichnen *),  so  muß  doch  zugegeben  werden,  daß  seine  Leistungen  auf 
dem  Gebiete  der  Ohranatomie  weit  hinter  denen  des  genialen  Falloppio 
zurückstehen,  der  die  Grenzen  der  Kenntnis  des  Gehörorgans  am  meisten 
von  allen  Zeitgenossen  erweiterte  und  hier  für  lange  die  Führerschaft 
an  sich  riß. 

Andreas  Vesalius**),  am  31.  Dezember  1514  zu  Brüssel  geboren, 
entstammte  einer  Familie,  in  der  schon  seit  alters  her  Medizin  gepflegt 
wurde,  und  die  mehrere  ausgezeichnete  Aerzte  unter  ihren  Ahnen 
-zählte.  Er  erhielt  seine  erste  wissenschaftliche  Bildung,  in  Philologie 
und  Mathematik,  zu  Löwen.  Schon  als  Knabe  soll  er  anatomische 
Untersuchungen  an  Tieren  ausgeführt  haben.  Um  1532  begab  er  sich, 
zum  Zwecke  anatomischer  Studien,  nach  Montpellier,  dann  nach  Paris, 
wo  er  aber  durch  seine  Lehrer,  Guido  Guidi  (Vidus  Vidius),  Jacque 
Dubois  (Sylvias).  Günther  von  Andernach,  nur  dürftige  und  oberflächliche 
Anleitung  fand,  doch  zum  Ersätze  mit  jugendlicher  Begeisterung  eigene 
Untersuchungen  anstellte  und  oft,  selbst  mit  Lebensgefahr,  seinen  un- 
ersättlichen Hang  zum  Zergliedern  befriedigte.  Man  sah  ihn  nicht  selten 
mit  Knochen  hingerichteter  Verbrecher  beschäftigt,  die  er  auf  den  Kirch- 
höfen den  Hunden  entrissen  hatte."  Der  zwischen  Karl  V.  und  Franz  I. 
ausbrechende   Krieg  trieb   Vesal  nach  Löwen  zurück,    wo  er  kurze  Zeit 


*)  Roth,  Andrea  Vesal.  1898. 
**)  Wir   beschränken    uns  wegen    des    in  weitesten  Kreisen  bekannten  Lebens- 
laufs Vesals   nur    auf   die   wichtigsten  Daten.     Die   ausführlichste  Darstellung  gibt 
Burggraeve.   Ktudes    sur    Andre    Vesale,    Gand    (Annoot-Braeckman) .    1841    und 
Roth  1.  c. 


Tafel  I 


ijt    circtt    Ztvtmtfium, 
_/*    »5-6*.      jfc   Ort. 

orporu     humam      aut      mrwbrtt  Jcctirct        ^f      artui , 
ifcfälio       nemo        dodior        ante     Juit.      JvXtM   M 


, ,, ,  -  n>  .-.,, ;-,  ^v,  r,  |->.-[i.-  ■,-..:..,.■;  -  .  ..1..  .P.-,r.vr---p;,,-.,-.i.>-i.-.l»i 
fc*  ii  iiU"1-M^hl(fft-llif  n  ifitHtri  Tim     i        :in*  'i1     i       'an      >■  i1.*!  •!•*"- -■*-'■ ' 


ANDREAS  VESALIUS 


Vesal.  81 

anatomische  Vorlesungen  kielt,  um  bald  darauf,  in  seinem  20.  Lebens- 
jahre, als  Feldarzt  in  der  kaiserlichen  Armee  Dienste  zu  nehmen,  vor- 
wiegend in  der  Erwartung,  sich  hierbei  Gelegenheit  zur  Erlangung  von 
Leichen  zu  verschaffen.  Mit  dem  Heere  kam  er  bald  darauf  nach  Italien, 
und  aus  dieser  Zeit  stammen  die  zahlreichen  Sektionen,  deren  Er- 
gebnisse er  in  seinen  ersten  Werken  niederlegte.  Schon  damals  war 
sein  Ruf  so  bedeutend,  daß  ihm  zu  Padua  der  Lehrstuhl  der  Anatomie 
angeboten  wurde,  avo  er  sieben  Jahre  (1539 — 1546)  unter  großem  Bei- 
fall Anatomie  vortrug.  Auch  in  Bologna  und  Pisa  lehrte  er  vorüber- 
gehend, und  hielt  zu  Basel,  als  er  hier  im  Jahre  1542  gelegentlich 
des  Druckes  seines  unsterblichen  Werkes  weilte ,  einige  Vorlesungen 
mit  Sektionen  ab.  Im  Jahre  1543  folgte  er  dem  Kaiser  nach  Geldern 
und  behandelte  ihn  bald  darauf  zu  Regensburg  an  der  Gicht.  Drei 
Jahre  später  gab  er  sein  Lehramt  in  Bologna  auf,  das  er  durch  wieder- 
holte Reisen  nach  Deutschland  und  Holland  unterbrochen  hatte,  und 
verweilte  zunächst  längere  Zeit  in  Basel ,  um  den  Druck  seines  Werkes 
„De  corporis  humani  fabrica"  in  der  zweiten  Ausgabe  vorzubereiten. 
Sein  Erscheinen  rief  ebensoviel  Haß,  Feindschaft  und  Erbitterung  wie 
Beifall  und  Anerkennung  hervor.  Die  Wucht  der  gehässigen  Angriffe 
namentlich  seines  alten  Lehrers  Sylvius  verletzte  Vesal  so  tief,  daß 
er  in  einem  Momente  aufwallender  Verzweiflung  einen  Teil  seiner 
Manuskripte  verbrannte.  Der  Ansturm  seiner  Gegner,  die  ihn  mit 
Luther  verglichen  und  der  Ketzerei  beschuldigten,  war  noch  im 
Jahre  1556  so  gewaltig,  daß  Karl  V.  es  für  gut  fand,  der  theologischen 
Fakultät  Salamanca  die  Frage  vorzulegen,  ob  es  katholischen  Christen 
gestattet  sei,  menschliche  Leichen  zu  zergliedern.  In  demselben  Jahre, 
nach  der  Abdankung  Karls  V.,  trat  Vesal,  der  dem  Kaiser  nach  Spanien 
gefolgt  war,  in  die  Dienste  Philipps  II.  als  Leibarzt.  Die  vielerlei  klein- 
lichen Pflichten  des  Hofdienstes,  noch  verschärft  durch  die  Intrigen  und 
offene  Anfeindungen  des  spanischen  Klerus,  sowie  gänzlicher  Maugel  an 
Sektionsmaterial,  dies  alles  drängte  ihn  1564,  Madrid  zu  verlassen,  um 
angeblich  zur  Erfüllung  eines  Gelübdes  sich  nach  Jerusalem  zu  be- 
geben.  Als  er  dort  ankam,  traf  ihn  die  Aufforderung,  den  durch 
Falloppios  Tod  erledigten  Lehrstuhl  der  Anatomie  in  Padua  zu  über- 
nehmen, worauf  er  sich  zur  raschen  Rückreise  entschloß.  Am  2.  Oktober 
1564  erlitt  sein  Fahrzeug  an  der  Küste  von  Zante  Schiffbruch.  Vesal 
erkrankte  infolge  der  großen  Aufregung  und  wurde  am  15.  Oktober  L564, 
noch  vor  seinem  50.  Lebensjahre,  dahingerafft.  So  endete  tragisch  das 
Leben  eines  Mannes,  dem  die  Wissenschaft  Unvergängliches  verdankt, 
Nach  unverbürgten  Nachrichten  wurde  er  von  einem  Goldschmied  er- 
kannt, der  ihm  auf  Zante  ein  einfaches  Grabmal  setzte. 

Die  bahnbrechenden  Entdeckungen   Yesals  beziehen  sich  fast  auf 

Politzer,  Geschichte  der  Ohrenheilkunde.     1.  " 


32  Vesal. 

alle  Teile  des  menschlichen  Körpers.  Am  genauesten  und  sorgsamsten 
wurde  von  ihm  insbesondere  die  Osteologie,  Angiologie,  Splanchnologie 
und  die  Anatomie  des  Gehirns  bearbeitet,  während  die  Neurologie  und 
die  Zergliederung  der  Sinnesorgane  große  Mängel  aufweisen.  Namentlich 
wurde  die  Kenntnis  des  Gehörorgans  von  Vesal  nicht  in  dem  Maße 
gefördert,  wie  man  nach  seinen  glänzenden  Erfolgen  auf  anderen  Gebieten 
schließen  sollte. 

Von  seinen  Werken,  die  zum  Teil  durch  unübertreffliche,  von  der 
Hand  Joh.  Stephan  von  Calcars,  eines  Schülers  Tizians,  herrührende 
anatomische  Abbildungen  bereichert  sind,  kommen  für  die  Otologie  zwei 
in  Betracht: 

Das  Hauptwerk  De  corporis  humani  fabrica  libri  septem 
(erste  Ausgabe,  Basil.  ex  off.  Joann.  Oporin  1543*),  und  die  letzte  seiner 
Schriften,  Anatomicarum  Gabrielis  Falloppii  observationum 
ex  amen.  Venet  1564.  In  diesem  finden  manche  Irrtümer  des  ersten 
Werkes  mannigfache  Berichtigung,  auch  enthält  es,  angeregt  durch  die 
Errungenschaften  anderer  Anatomen,  mehr  Neues  über  die  Ohranatomie 
als  das  Hauptwerk.  Doch  auch  dieses,  dessen  Bedeutung  Haller  mit 
den  Worten  „Immortale  opus,  et  quo  priora  omnia,  quae  ante 
se  scripta  fuissent,  paene  reddit  supervacua"  hervorhebt,  hat 
für  die  Otologie  eine  nicht  zu  unterschätzende  Bedeutung. 

Indem  wir  im  folgenden  den  auf  die  Ohranatomie  bezüglichen 
Inhalt  beider  Werke  Vesals  skizzieren,  soll  von  den  Mängeln  nur  so 
weit  Notiz  genommen  werden,  als  sie  Hindernis  oder  Antrieb  für  weitere 
Untersuchungen  bedeuteten. 

Von  großem  Interesse  sind  die  Bemerkungen  Vesals,  die  sich 
auf  die  Art  der  Zergliederung  des  Gehörorgans  und  auf  die 
Wahl  der  Objekte  beziehen.  Bezüglich  des  technischen  Vorganges  war 
Vesal  der  erste,  der  zur  Untersuchung  des  Gehörorgans  dessen  Heraus- 
nahme aus  dem  Schädel  empfiehlt1). 

Dieser  die  Zergliederung  des  Ohres  einleitende  Akt  entspricht  der 
erst  spät  zur  Uebung  gelangten  Herausnahme  des  Gehirns  aus  dem 
Schädel,  welche  bedeutenden  Einfluß  auf  die  weitere  Entwicklung  der 
Hirnanatomie  übte.  Von  großem  Nutzen  für  die  Erforschung  der  Ohr- 
anatomie ist  nach  Vesal  die  Zergliederung  der  Gehörorgane  von 
T  i  ••  re  n  .  wodurch  zweifelsohne  das  Studium  der  vergleichenden  Anatomie 
des  Ohres  gefördert  wurde2). 

Auf  die  Details    der    einzelnen  Abschnitte   des   Gehörorgans    über- 


i  Ferner:  Anatomia  in  qua  tota  humani  corporis  fabrica  iconibus  elegantissimis 
juxta  genuinam  Auctoris  delineatur.  Amstelodami  excudebat  Joannes  Jansonius  in 
fol.  1617.  Des  großen  Zergliederers  Andreas  Vesals  anatomische  Originalfiguren  in 
sieben  Büchern.     Ingolstadt.     Herausg.  v.  Leveling,  3.  Nov.  in  fol. 


Vesal. 


83 


gehend,  registriert  Vesal  zunächst  die  von  ihm  als  richtig  erkannten 
Beschreibungen  seiner  Vorgänger  und  gibt  eine  eingehendere  Schilderung 
der  Formverhältnisse  der  Ohrmuschel,  des  äußeren  Gehörefangs 
und  des  Trommelfells,  dessen  Befestigung  in  einem  knöchernen  Ring 
er  besonders  hervorhebt. 

Von  den  Gehörknöchelchen   waren   ihm  nur  der  Hammer  und 
Amboß    bekannt"). 


Fig.  1.  Erste  Abbildung  des  Hammers  und  Amboßes  und  eines  Durchschnitts  des 
Gehörorgans.    Photographische  Reproduktion  aus  Vesal s  „De  corporis  huinani  fabrica 

libri  septem".     Basel  1543. 

Die  vorstehende  rohe  Abbildung  des  Hammers  und  Amboßes,  insbesondere  der 
kaum  verständliche  Durchschnitt  der  Trommelhöhle  läßt  auf  den  ersten  Blick  die 
Meisterhand  Calcars  vermissen.  Auch  zeigt  die  anatomisch  ganz  unrichtige  Ab- 
bildung der  Hammer-Amboßverbindung  (P.  Q.),  daß  Vesal  diese  Knöchelchen  nur, 
nachdem  sie  durch  Mazeration  aus  dem  Schläfenbeine  herausfielen,  gesehen  hat. 
Ueber   ihre  Topographie  am  nicht  mazerierten  Präparate  scheint  er  nicht  orientiert 

gewesen  zu  sein. 

Dem  Hammer  legte  er  den  Namen  „ma Ileus"  bei,  den  Amboß 
nannte  er  „incus"  und  verglich  den  ersteren  mit  dem  femur,  den  letzteren 
mit  einem  zwei  wurzeligen  Backenzahn 4).  Beide  Knöchelchen  finden 
sich  in  dem  genannten  Werke  einzeln  und  in  ihrer  Lage  in  der 
Trommelhöhle  abgebildet  (Fig.  1).  Noch  primitiver  und  durchaus  im 
Gegensatz  zu  den  meisten  Anatomen  seiner  Zeit  erwähnt  er  einige 
Fortsätze,  die  sich  am  Hammerhalse  befinden.  Er  war  der  Ansicht. 
daß  sie  zur  innigeren  Befestigung  mit  der  Membrana  tympani  dienten  ''). 
Ob  er  unter  diesen  auch  den  langen  Fortsatz  gesehen  hat,  läßt  sich 
aus  seinen  Aeußerungen  nicht  entnehmen.  Auch  sprach  er  beiden  Gehör- 
knöchelchen das  Periost  zu,  was  bis  Kursen  von  vielen  Anatomen  be- 
stritten wurde. 

In  der  Trommelhöhle,  von  ihm  als  „pelvis"  bezeichnet,  waren 
ihm  beide  fenestrae  bekannt,  von  denen  er  das  ovale  (fenestra  vestibuli) 
„foramen  anterius".  das  runde  (fenestra  Cochleae)  als  „foramen  secundum 


v  |  Vesal. 

vel  posterius"  benennt;  auch  das  Promontorium  entging  ihm  nicht,  das 
er  als  ein  „tuberculum  inter  fenestram  utramque  positum  superiori  sede 
parvae  conchae,  quae  in  frenorum  ornamenta  adhibetur"   beschreibt. 

Was  die  inneren  Ohrmuskeln  betrifft*),  so  scheint  er  den 
Tensor  fcympani  früher  als  Eustachi o  gesehen  zu  haben,  jedoch  leug- 
nete er  dessen  muskulöse  Struktur  und  glaubte  nicht  an  seine  will- 
kürliche Aktionsmöglichkeit,  oder  war  wenigstens  im  Zweifel  darüber, 
welchen  Gebilden  er  ihn  zurechnen  sollte,  wie  aus  seinen  Worten  „in- 
signem  et  notatu  dignum  cui  nervosum  quid  et  fibrosum  instar  rotundae 
oblongaeque  cujusdam  glandulae  insistit"    deutlich  hervorgeht. 

Wie  bei  Celsus  finden  wir  auch  bei  Vesal  eine  allerdings  noch 
unklare  Vorstellung  von  dem  Vorhandensein  der  Tuba  Eustachii. 

Wenn  wir  Vesals  Kenntnis  des  mittleren  Ohres  trotz  der 
großen  Mängel  doch  als  wesentlichen  Fortschritt  in  der  Ohranatomie 
bezeichnen  müssen,  so  vermissen  wir  dagegen  bei  der  Beschreibung  des 
inneren  Ohrs  jene  Klarheit  und  Uebersicht,  welche  die  vortreffliche 
Darstellung  Falloppios  auszeichnet.  Vesal  nennt  das  Labyrinth  „antrum 
metallicum"  und  vergleicht  es  „cum  praecipua  fodinae  alicujus  metallicae 
sede,  a  qua  multae  plateae  aut  viae  aut  cuniculi  excurrunt,  qui  per  duram 
nssis  substantiam  velut  in  circulum  excavati  incedentesque  in  amplam 
cameram  rursus  revertuntur"  **). 

Im  „Examen  observ.  Fallopp."  beschreibt  er  Vorhof  und  Bogen- 
gänge sehr  oberflächlich.  Die  Schnecke  wird  von  ihm  „antrum  buc- 
cinatum"   oder   „buccinosum"   genannt***). 

In  dem  Hauptwerke  Vesals  herrscht  dagegen  eine  völlige  Un- 
klarheit über  Anordnung  und  Zahl  der  Höhlen  und  Gänge  im  Labyrinthe, 
die  seiner  Meinung  nach  von  einer  Membran  ausgekleidet  sind,  welche 
vom  Gehör-  und  Antlitznerven  stammen  soll.  Höchst  verworren  ist 
seine  Ansicht  über  den  Verlauf  des  N.  acusticus.  Er  hielt  ihn  nicht 
für  einen  eigenen  Nerv,  sondern  nur  für  einen  Ast,  der  mit  dem 
Facialis  aus  einem  gemeinschaftlichen  Stamm,  dem  schon  von  Galen 
und  seinen  Nachfolgern  als  fünften  bezeichneten  Gehirnnerven  hervor- 
gehe. Dieser  Ansicht  huldigten  übrigens,  Falloppio  ausgenommen, 
noch  alle  Anatomen  der  damaligen  Zeit.  Vesal  verfolgte  den  Nerven- 
eintritt im  Meatus  auditorius  internus,  den  er  beschreibt  und  ab- 
bildet f),  ohne  den  weiteren  Verlauf  des  Acusticus  auch  nur  annähernd 
richtig  anzugeben.    Seine  Abbildungen  von  den  Nervenverzweigungen 

)  Exam.  observ.  Fall.  p.  15. 
i  Examen  observ.  Fallopp. 
**)  A  buccina  cornu  recurvo  ac  contorto  quo  pastores  pecus  convocare  solebant 
vel  a  buccina  conchilii  specie.     1.  c. 

f)  De  corp.  bum.  fabr.     L.  1.  p.  65,  Cap.  XII. 


Vesal. 85 

in  der  Trommelhöhle,  welche  die  Endigungen  des  Gehör- 
nerven darstellen  sollen,  verraten  die  totale  Unkenntnis  Vesals  von  dem 
Verhalten  des  Hörnerven  zum  Labyrinthe,  was  umsomehr  auffällt,  als 
dieser  Irrtum  auch  in  den  später  erschienenen  „Exam.  observ.  Fallopp." 
nicht  richtiggestellt  wurde. 

Ueber  die  Physiologie  des  Ohres  und  den  Nutzen  der  ein- 
zelnen Teile  des  Organs  spricht  sich  Vesal  als  objektiver  Forscher  sehr 
zurückhaltend  aus  und  entwickelt  seine  Ansichten  nur  so  weit,  als  ihm 
die  anatomischen  Entdeckungen  jener  Zeit  hierfür  eine  Grundlage  boten. 
..Nihil  enim  certius  de  auditu,  sonituque  percipiendo  hie,  quam  inibi, 
attexere  possum"  *). 

Ein  Ueberblick  dieser  kurz  skizzierten  Leistungen  Vesals  in  der 
Ohranatomie  zeigt,  daß  dieser  große  Forscher  gerade  dem  Gehörorgan 
nur  geringes  Interesse  entgegenbrachte  und  daß  er  namentlich  das 
Labyrinth  höchst  oberflächlich  untersuchte.  Beweis  hierfür,  daß  ihm  der 
Steigbügel,  den  jetzt  jeder  Student  beim  rohen  Aufsprengen  der  Trommel- 
höhle sofort  findet,  entgangen  ist.  Trotz  des  nicht  ungerechtfertigten 
Tadels  Eustachios  über  Vesals  Ohranatomie  müssen  wir  dessen  ein- 
schlägige Leistungen  aber  dennoch  als  einen  bedeutenden  Fortschritt 
bezeichnen,  der  nur  deshalb  einer  strengeren  Beurteilung  unterliegt,  weil 
es  sich  um  einen  der  Größten  handelt,  deren  die  medizinische  Geschichte 
Erwähnung  tut. 

!)  <  »mnia  tarnen  mihi  percomruode  succedunt.  si  serra .  totam  ossis  partem,  quae 
auditus  Organum  continet,  a  reliqua  calvaria  libero  et  deinde  transversim  validiori 
eultro  os  Universum  impetu  disseco.     De  corp.  hum.  fabr.     L.  VII,  Cap.  18. 

2)  Imo,  si  in  uno  latere  negotium  parum  ex  sententia  cesserit,  nihil  sane 
prohibet  alterum  quoque  aggredi,  et  brutorum  calvarias,  ut  bovis  et  ovis,  operi  ad- 
hibere,  quum  illis  animalibus  Organum  auditus  non  multum  ab  hominis  fabrica  dis- 
crepet.     1.  c. 

3)  Auditus  organi  ossicula  quatuor  sunt,  duo  scilieet  ad  singulas  aures.  1.  c. 
L.  I.  Cap.  39. 

4)  Ossiculum  reponitur,  duobus  tenuibus  et  acutis  processibus,  seu  cruribus 
firmatum ,  a<1al>ilitumque  horum  exterius ,  ac  auri  vicinius,  est  breviua  et  crassius 
latiusque,  ac  in  acutum  desinit  apicem.  Alterum  crus,  quod  interius  consistit .  ei 
membranae  orbicularem  illam  cavitatis  sedem  succingenti  magis,  quam  exterius  crus, 
innascitur,  longius  nonnihil  et  tenuis  est  ipsiusque  extremum  quasi  in  unrulum  cessat, 
quo  membranae  illi  implicatur,  firmiusque  innectitur.  Ossiculi  huius  pars  extra 
membranam  prominens,  superius  partim  plana,  partim  rotunda  cernitur:  quemad- 
modum  minores  nonnulli  ineudes  effingi  solent,  quorum  amplior  pars  plana  est:  alti 
quae  veluti  in  mucronem  desinit,  instar  coni  rotunda.  Grandiores  enim  ineudes 
penitus  plani  depressive  et  quadranguli  fiunt.  Caeterum  si  hoc  ossiculum,  quia  tantum 
binis  donatur  cruribus,  ineudi  assimilare  minus  placuerit,  nihil  prot'ecto  obstiterit, 
molari  denti  duabus  tantum  ladieibus  praedito  i'l  conferre.  1.  c.  L.  I.  Cap.  S.  Siehe 
auch  Ex.  obs.  Fall. 


)  1.  c.     L.  VI.  Cap.  15. 


Ingrassia. 

b)  Alteruni  ossiculuni,  a  iam  commemorato  plurimum  variat,  alterique  in- 
nascitur membranae,  Foramen  enim  cavitatis,  seu  antri  in  teuiporis  osse  incisi,  quod 
aurem  spectat.  ea  parte  qua  cavitatis  amplitudini  vicinum  est,  membranula  tenuis- 
sima  et  prorsus  pfllucida  in  eum  modum  obtegitur,  quo  vas  suo  fundo  obturari  dici- 
mus.  Huic  itaque  membranulae  transversim  id  ossiculum  innascitur;  itaque  ipsi  intus 
transversim  insternitur,  ac  in  tyrnpanis  fidem  unam  atque  alteram  crassiorem 
membranae,  seu  asinorura  pelli ,  obtendi  conspicimus.  Ut  vero  ossiculum  validius 
firmaretur ,  longum  tenuemque  babet  processum ,  quo  membranae  secundum  illius 
latitudinem  innascitur.  Hunc  processum  liceret  femoris  ossis  parti  comparare,  quae 
ab  ipsius  processibus,  quos  rotatores  vocamus ,  ad  inferiora  usque  femoris  capita 
pertinet;  imo  si  haec  inferiora  capita  a  reliquo  femore  resecta  finxeris  Universum 
ossiculum  femori  opportune  assimilabitur.  Quemadmodum  enim  femur  iuxta  ipsius 
cervicem  duos  asciscit  processus,  sie  etiam  ossiculum  hoc  eadem  eede  processulos 
aliquot  sibi  vendicat,  quorum  beneficio  membranae  suae  firmius  innascitur  .  .  .  1.  c. 

Ingrassia. 

Bevor  wir  uns  den  epochalen  Leistungen  Falloppios  zuwenden, 
müssen  wir  des  Schülers  Vesals  gedenken,  der  nach  den  besten  histori- 
schen Quellen  das  Verdienst  für  sich  in  Anspruch  nehmen  kann,  das 
dritte  Gehörknöchelchen,  den  Steigbügel,  zuerst  aufgefunden  zu  haben. 

Giov.  Fil.  Ingrassia  (1510 — 1580)  wurde  im  Jahre  1510  zu 
Recalbuto  in  Sizilien  geboren  und  war  Zeitgenosse  des  Vesal, 
Eustachio  und  Falloppio.  Erst  Professor  zu  Padua,  dann  in  Neapel, 
endlich  zu  Palermo,  wurde  er  1563  von  Philipp  IL  von  Spanien  (dem 
damaligen  König  von  Sizilien)  zum  Archiater  von  Sizilien  ernannt.  In- 
grassia gewann  durch  seine  Vorträge  über  Anatomie  und  praktische 
Medizin,  in  denen  er  sich  nicht  als  blinder  Nachbeter  des  Hippokrates 
und  Galen  erwies,  so  viele  Hörer,  daß  in  Palermo  kaum  genügende 
Wohnungsräume  für  die  zuströmenden  fremden  Studierenden  und  Aerzte 
gefunden  werden  konnten.  Außer  durch  die  glänzende  Beherrschung 
seines  Faches  zeichnete  er  sich  auch  durch  allgemeine,  philosophische 
und  literarische  Bildung  so  sehr  aus,  daß  ihn  der  König  wiederholt 
als  Ratgeber  beizog.  Noch  mehr  war  er  wegen  seiner  Menschenfreund- 
lichkeit und  Mildtätigkeit  beim  Volke  beliebt  und  verehrt.  Nament- 
lich während  der  Pestzeit  im  Jahre  1575,  wo  Ingrassia  als 
Gesundheitsrat  zu  Palermo  wirkte ,  trug  er  durch  Besonnenheit  und 
ünerschrockenheit  dazu  bei,  daß  in  seinem  Aufenthaltsorte  die  Epidemie 
weniger  Opfer  als  anderswo  forderte.  Er  erwarb  sich  so  sehr  das  Ver- 
trauen und  die  Dankbarkeit  des  Volkes,  daß  man  ihm  damals  als  Ehren- 
gabe eine  Pension  von  250  Dukaten  spendete,  die  er  bescheiden  ablehnte 
und  zur  Ausschmückung  einer  Kapelle  bestimmte.  Sein  Ruhm  drang 
durch  ganz  Italien  und  verschaffte  ihm  den  ehrenden  Beinamen  „Hippo- 
crates  Siculus".  Er  starb,  allgemein  betrauert,  1580  im  Alter  von 
70  Jahren.    Auf  einer  Wand  des  Universitätsgebäudes  in  Neapel  setzten 


Tafel  II 


PHILIPPUS  INGRASSIA 


Ingrassia.  87 

dankbare  Schüler  die  Inschrift:  „Philippo  Ingrassiae  Siculo,  qui  veram 
Medicinae  artem  atque  Anatomen  publice  enarrando  Neapoli  restituit, 
Discipuli  memoriae  causa"  *). 

Ingrassias  Verdienste  um  die  Anatomie  beziehen  sich  vorwiegend 
auf  die  Osteologie,  die  er  mit  einer  Sorgfalt  bearbeitete,  welche  späteren 
Forschern  nur  wenige  Entdeckungen  übrig  ließ;  er  war  einer  der 
ersten,  die  Vesals  Verdienste  um  die  Anatomie  anerkannten.  Auch  für 
die  Chirurgie  leistete  er  Ersprießliches,  und  selbst  die  Geschichte  der 
Epidemien  verdankt  ihm  wertvolle  Beiträge.  Sein  wichtigstes  ana- 
tomisches Werk  wurde  von  seinem  Enkel  lange  nach  seinem  Tode  heraus- 
gegeben und  enthält  manche  dem  Vesal  entnommene  Abbildungen:  In 
Galeni  librum  de  ossibus  doctissima  et  exspectatissima  commentaria. 
Panormi.     Ed.  post  mortem  1603. 

Was  im  letztgenannten  Werke  in  Bezug  auf  die  Anatomie  des  Ge- 
hörorgans enthalten  ist  **),  kommt  allerdings  nur  zum  Teil  auf  Rechnung 
seiner  eigenen  Leistungen,  da  er  bis  zur  Vollendung  seines  Werks  wohl 
reichlich  Gelegenheit  fand,  die  Werke  Falloppios  und  Eustachios 
zu  benützen.  Immerhin  muß  auch  die  Berücksichtigung  der  Leistungen 
seiner  Zeitgenossen  ihm  als  Verdienst  angerechnet  werden,  wenn  man 
bedenkt,  wie  dürftig  die  Anatomie  des  Ohres  von  den  zeitgenössischen 
deutschen  und  französischen  Anatomen  behandelt  wird. 

Nach  einer  Beschreibung  der  Ohrmuschel  und  des  äußeren  Gehör- 
gangs schildert  er  die  Trommelhöhle,  deren  wichtigste  Bestandteile  und 
Erhabenheiten  er  fast  vollständig  aufzählt.  Er  beschreibt  die  Gehör- 
knöchelchen, von  denen  er,  wie  erwähnt,  den  Stapes  bereits  im  Jahre  1546 
entdeckt  und  zuerst  beschrieben  hat,  ferner  die  beiden  Fenestrae,  die 
Chorda  tympani,  und  bildete  den  angeblich  von  Eustachi  o  entdeckten, 
jedoch  bereits  von  Vesal  erwähnten  Hammermuskel  ab,  den  er  aber  für 
einen  Nerv  hielt.  Die  Existenz  der  Tuba  Eust,  war  ihm  bekannt; 
er  vermied  es  aber  auf  die  morphologischen  Verhältnisse  naher  einzugehen. 
DieCellulae  mastoideae  beschrieb  er  besser  als  Vesal.  Vom 
inneren  Ohr  erwähnt  Ingrassia  die  Schnecke  und  die  halbzirkel- 
förmigen  Kanäle  und  gibt  eine  klarere  Beschreibung  derselben  als  seine 
Vorgänger.  Den  X.  acusticus  trennte  er  als  Portio  mollis  vom  Ge- 
sichtsnerven;  doch  hielt  er  sie  für  zwei  Zweige  eines  gemeinschaftlichen 
Stammes.  Seine  größte  Ruhmestat  ist  die  Auffindung  des  Stapes.  die 
ihm  im  Jahre  154(5  durch  Zufall  glückte1).  Die  Entdeckung  wurde  ihm 
jedoch  von  Eustachio,  Realdo  Colombo,  dem  spanischen  Anatomen 
Collado  und  eine  Zeitlang  auch  von  Falloppio  streitig  gemacht;    und 

i   Vergl.    Arcangelo    Speclalieri :    Elogio    rtorico    di    Giov.    Filippo    Ingrassia. 
Milano  1817. 

**)  1.  c.  p.  57. 


gg  Ingrassia. 

es  muß  zugegeben  werden,  daß  möglicherweise  einer  oder  mehrere  der 
Genannten  unabhängig  von  Ingrassia  dieselbe  Entdeckung  gemacht 
haben  können. 

Der  Streit  über  die  Priorität  der  Entdeckung  des  Stapes  zog  sich  längere  Zeit 
hin.  um  schließlich  zu  Gunsten  Ingrassias  zu  enden.  Collados2)  Ansprüche 
wurden  deshalb  hinfällig,  weil  sie  viel  zu  spät  kamen.  Falloppio,  der  wohl  un- 
abhängig  von  Ingrassia  den  Steigbügel  sah,  trat  sofort,  als  er  erfuhr,  daß  Ingrassia 
das  Knöchelchen  schon  früher  entdeckt  habe,  von  seinem  Ansprüche  zurück  und 
betonte  mit  der  ihm  eigenen  Gerechtigkeitsliebe  und  Bescheidenheit  Ingrassias 
Verdienst. 

Durch  Falloppios  beweiskräftige  Behauptung  wurden  somit  auch  Colombos3) 
Prioritätsansprüche  zurückgewiesen.  Von  Eustachio  ist  wohl  mit  Sicherheit  anzu- 
nehmen, daß  er  unabhängig  von  Ingrassia  den  Stapes  gefunden  hat,  aber  nach 
allem  zu  schließen  erst  nach  Ingrassia.  Morgagni  und  Hall  er  dürften  zu  weit 
gegangen  sein,  wenn  sie  Eustachio  als  Entdecker  des  Stapes  erklären,  indem  sie 
sich  von  der  Erwägung  leiten  ließen,  Ingrassia  könnte,  da  sein  Werk  so  spät  voll- 
endet war,  die  Errungenschaften  seiner  Vorgänger  benützt  und  als  die  seinigen  aus- 
gegeben haben.  Vesal4)  und  Koyter5)  erklären  sich  entschieden  für  die  Priorität 
Ingrassias. 

Den  hier  skizzierten  Forschungsergebnissen  Ingrassias  wäre 
noch  hinzuzufügen,  daß  sich  in  seinem  Werke  neben  zerstreuten  gehörs- 
physiologischen Bemerkungen  von  geringem  Werte  eine  wichtige  Be- 
obachtung findet,  nämlich  die  Beobachtung  der  Leitungsfähigkeit 
der  Zähne  für  den  Schall.  Diese  Angabe  und  die  Auffindung  des 
Stapes  sichern  ihm  wohl  für  alle  Zeit  einen  Ehrenplatz  in  der  Geschichte 
der  Ohrenheilkunde. 

')  Die  Stelle  lautet:  Quo  autem  modo  id  ossiculum  primo  nobis  cognitum 
fuerit,  dum  publice  Neapoli  theoricam  et  practicam,  ambas  medicinae  sie  vocantur 
partes,  atque  anatomen  quoque  profitemur ;  id  tertium  non  invenimus,  sed  reperimus; 
ipsum  enim  minime  quaerebamus ,  quia  nullam  de  eo  notitiam ,  neque  suspicionem 
habebamus.  Sealpro  autem  malleoque  auris  ossa  percutientes  ut  internas  cavernulas 
et  in  ipsis  contentas  substantias  circumstantibus  scholaribus  nostris  ostenderemus,  ubi 
jam  duo  priora  ossicula  demonstraveramus,  tertium  id  ossiculum  nescio  quomodo 
in  bibulae  piano,  casu  potius  inspeeimus:  quod  inspectum,  consideratumque  ac  ada- 
mussim  perpensum,  non  ex  aeeidenti,  sed  ex  naturae  proposito  factum  esse  decrevimus. 
Unde  autem  resilierit  et  quis  ejus  esset  usus  ignorabamus.  Statim  igitur  aliorum 
animalium  praesertimque  boum  diversa  capita,  quae  in  macellis  non  defuerant,  dis- 
secare  aggressi  sumus,  facillimeque  singulas  ossis  in  quo  auditus  sit  partes  observando, 
alteri  tandem ,  longiori  scilicet  termiorique  ineudis  cruri  annexum  pendensque  id 
tertium  ossiculum  invenimus:  indeque  quam  primum  ad  humani  capitis  dissectionem 
reversi  t perpetim  illud  vel  clausis  oculis  invenimus,  cui  quidem  vestigando  staphae 
primum  nomen  imposuimus,  quia  longe  majorem  similitudinem  hoc  ossiculum  habet 
cum  Btapha,  seu  stapede,  quam  alia  duo  cum  malleo  et  ineude  ...  1.  c.  p.  7  et  seq. 

2)  Aliud  os  reperi  cui,  quod  simile  est  equitando  instrumento  quo  pedes 
firmantur,  stapedis  nomen  imposui.  Collado  (vide  Morgagni,  Epistol.  anatom., 
Epist.  VI,  Cap.  3,  p.  116)  adversaria  s.  commentaria  medica.     Genevae  1615. 


Falloppio.  39 

3)  RealdoColombo  sagt  in  seinem  Werke  De  re  anatomica,  Lib.  I,  Cap.  VII: 
„His  tertium  (sc.  ossiculum)  accedit  nernini,  quod  sciam,  ante  nos  cognitum." 

4)  Vesal,  Opera  omnia  Lugdun.  Batav  1725,  tom  II,  p.  771  bemerkt:  „Post- 
quam  audivissem  tertium  quoque  ossiculum  quoddam  re}:>ertum,  ego  illud  mox  inveni, 
hocque  tarn  exiguum  esse  conspiciens ,  observatoris  Ingrassiae  siculi  praestantissimi 
operam  laudavi,  comparationemque  cum  stapede  apud  neapolitanos  equites  factam, 
jucunde  recepi." 

5)  Koyter,  Extern,  et  intern,  part.  bum.  corp.  Tab.  etc.  Norimberg  1572: 
„Haec  tria  ossicula  priscis  fuere  incognita  .  duo  a  Jacopo  Carpensi ,  unum  a  Joan. 
Philippe-  Ingrassia  siculo  inventum." 

Gabriele  Falloppio. 

In  der  Reihe  der  berühmtesten  Anatomen  der  Renaissancezeit  ragt 
der  Modenenser  Falloppio  dadurch  hervor,  daß  er  Größe  des  Wissens 
mit  einer  seltenen  Erhabenheit  des  Charakters  vereint.  In  ihm  erschien 
das  Ideal  eines  bedeutenden  Gelehrten  verkörpert.  Nach  dem  überein- 
stimmenden Urteile  seiner  Zeitgenossen  übertraf  Falloppio  seinen 
Meister  Vesal  an  Genialität,  namentlich  in  der  Ergründung  der  schwie- 
rigsten und  dunkelsten  Partien  des  Nervenverlaufs  und  des  Baues  der 
Sinnesorgane.  Seine  in  schlichten  Worten  abgefaßten  Schriften  und 
Abhandlungen  enthalten  eine  solche  Fülle  neuer  Tatsachen,  daß  man  sie 
in  ihrer  einfachen  und  klaren  Darstellung  mit  Recht  als  klassisch  be- 
zeichnen darf.  Die  hohe  Bedeutung  seines  Wirkens  für  die  Anatomie 
des  Ohres  läßt  es  gerechtfertigt  erscheinen,  daß  wir  im  folgenden  eine 
Skizze  seiner  Persönlichkeit  und  seiner  wissenschaftlichen  Leistungen 
entwerfen. 

Gabriele  Falloppio  (Faloppio,  Faloppa,  Faloppius,  selbst 
Foloppia  geschrieben,  die  Schreibart  ist  unsicher;  1523 — 1562)  wurde 
zu  Modena  1523  geboren  und  stammte  aus  einer  der  berühmtesten 
Familien  Italiens.  Von  der  Natur  mit  den  glänzendsten  geistigen  und 
körperlichen  Gaben  ausgestattet,  wandte  er  sich  trotz  großer  Entbehrungen 
wissenschaftlichen  Studien  zu  und  trieb  anfangs  mit  großem  Eifer  Philo- 
sophie und  die  schönen  Wissenschaften,  wandte  sich  aber  bald  der  Medizin 
zu.  In  hohem  Maße  fühlte  er  sich  zur  Anatomie  hingezogen,  in  der  er 
später  so  Hervorragendes  leistete,  daß  er  als  der  Begründer  der  italieni- 
schen Schule  anzusehen  ist,  aus  welcher  die  bedeutenden  Anatomen  aller 
Länder  hervorgegangen  sind.  Er  verdankte  seine  großen  Kenntnisse  zum 
Teil  dem  Umstände,  daß  er  viele  Universitäten  aufsuchte  und  mit  an- 
gesehenen Forschern  seiner  Zeit  in  regen  freundschaftlichen  Verkehr  trat, 
unter  anderen  mit  Ingrassia,  Colombo,  Cannanus,  Madius  und 
Bartholinus.  Ob  er  jemals  Vesal s  Schüler  gewesen,  ist  nicht  gewiß. 
Durch  seine  hervorragenden  Geisteseigenschaften,  durch  seine  liebens- 
würdige Bescheidenheit  und   durch  das  feine  Taktgefühl,  mit  dem  er  die 


(,n  Falloppio. 

Verdienste  der  Vorgänger  anerkannte  und  pietätvoll  ehrte,  gewann  er 
überall  Freunde  und  wurde  eine  der  beliebtesten  Persönlichkeiten  des 
Zeitalters.  Nur  mit  dein  schroffen  Eustachius  scheint  auch  er  trotz 
der  Weichheit  seines  Charakters  nicht  in  gutem  Einvernehmen  wie  mit 
allen  übrigen  gestanden  zu  sein.  Schon  mit  24  Jahren  wurde  er  Pro- 
fessor zu  Ferrara,  bald  darauf  zu  Pisa.  Im  Jahre  1551  erhielt  er  einen 
Uni'  nach  Padua,  wo  er  seine  Studien  begonnen  hatte,  und  wirkte  daselbst 
als  Lehrer  der  Anatomie  und  Botanik,  zugleich  aber  auch  als  Praktiker, 
namentlich  in  der  Chirurgie,  in  der  er  einen  solchen  Ruhm  gewann,  daß 
ihm  der  Ehrennamen  „Aeskulap  seines  Jahrhunderts"  zugeteilt 
wurde.  Noch  über  den  Tod  (1562)  hinaus  ehrte  ihn  Padua  dadurch, 
daß  es  zu  seinem  Nachfolger  auf  den  Lehrstuhl,  der  zwei  Jahre  unbesetzt 
blieb,  zuerst  Vesal  berief.  Da  dieser  auf  der  Fahrt  nach  Italien  Schiff- 
bruch litt  und  in  Zante  (1564)  starb,  unterblieb  das  seltene  Schauspiel, 
daß  ein  Lehrer  dem  Schüler  im  Amte  nachfolgte. 

Es  gibt  fast  kein  Gebiet  der  Anatomie,  welches  von  Falloppio 
nicht  durch  wichtige  Entdeckungen  bereichert  worden  wäre,  die  Früchte 
sorgfältigster,  mühevollster  Untersuchungen.  Erinnern  doch  die  Be- 
nennungen der  Tuben,  des  Ligamentum  ciliare,  des  Aquaeductus  (jetzt 
Canalis  facialis)  allezeit  an  ihn  und  beweisen,  auf  Avelch  verschiedenen 
anatomischen  Gebieten  er  sein  Talent  betätigte!  Seine  zahlreichen  Sek- 
tionen —  er  obduzierte  durchschnittlich  sieben  menschliche  Kadaver  im 
Jahre,  was  damals  viel  war  —  ermöglichten  ihm  eine  genaue  Beschreibung 
des  Knochensystems,  sowie  die  von  ihm  begründete  und  von  seinen 
Schülern  Fabricius  ab  Aquapendente  und  Koyter  fortgesetzte  Be- 
arbeitung der  Entwicklungsgeschichte,  die  sorgfältige  Durchforschung  des 
Gesichts-  und  Gehörorganes. 

Sein  bestes  und  umfassendstes  Werk,  das  trotz  der  Kürze  mehr 
enthält  als  die  voluminösesten  Folianten  anderer,  sind  die  „Obser- 
vationes  anatomicae"  *).  Venet,  1561.  8.  (1562.  8.  1571.  8.  Par.  1562. 
-  Francoforti  1584.  Colon.  1562.  8.  Venet.  1606).  Haller  fällte  über 
dasselbe  folgendes  schmeichelhafte  Urteil:  ..Eximium  opus  est,  cui  nulluni 
priorum  comparari  potest"  **). 

Obwohl  ihm  die  Anatomie  so  viel  Neues  verdankt,  unterließ  er  es 
doch  niemals,  die  Verdienste  anderer  voll  anzuerkennen  und  bewahrte  im 


*)  Siehe  ferner:    Lectiones  Gabr.  Falopii  de  partibus  similaribus  burnani  cor- 
poris.    Ed.  Coiter  1575. 

**)  Außerdem  rubren  von  Fallopio  her:  Lectiones  de  partibus  similaribus 
corporis  humani.  His  accessere  diversorum  animalium  sceletorum  explicationes 
iconibus  illustratae.  Norimberg  1575.  Opera  omnia,  Venet.  1584,  enthalten  auch  auf 
praktische  Medizin  bezügliche  Abhandlungen  Falloppios  nach  den  Aufzeichnungen 
seines  Schülers  Marcolini. 


Tafel  III 


GABRIEL  MLOPHI5 

CELEBEKRIMllS  MEDICUS  ET  ASTR0L0GI15 
IN  VENET.  ET  PAD\A. 

JS.T.  S.  LXXIII. 


!; 'SiW;!Ü!l'!l".M!|3!iiW,iif 


i!i!iö«i!ii!iiiiii]iiiiiiiiii!iiiiiijraiii'i!iiiiiii«uiiiiiraffliiii- 


GABRIEL  FALOPIUS 


Falloppio.  91 

wohltuenden  Gegensatz  zu  Realdo  Colombo  rühmenswerte  Pietät  für 
Vesal,  als  dessen  Leistungen  in  mancher  Hinsicht  bereits  überholt  waren. 

Was  die  meisterhafte  Beschreibung  des  Ohres  betrifft,  so  teilt  er 
diesen  Ruhm  nur  mit  Eustachio,  den  er  aber,  wie  überhaupt  in  der 
Neurologie,  in  der  Kenntnis  des  Acusticusverlaufs  weitaus  überholte.  Er 
selbst  erkennt  den  Wert  seines  Fleißes  auf  diesem  Gebiete,  wenn  er 
sagt:  „Scias  autem,  quod  si  qua  in  parte  anatomes  laboravi  ac  infundavi, 
haec  illa  fuit,  ut  apertis  oculis  cognoscerem  auditorii  organi  structuram 
atque  huius  quinti  nervi  ductum"*). 

Falloppio  untersuchte  das  Gehörorgan  in  verschiedenen  Alters- 
perioden und  fand,  daß  schon  in  sehr  frühen  Entwicklungsstadien  die 
Teile,  wie  sie  sich  im  Ohre  des  Erwachsenen  finden,  vorhanden  sind1). 
Vom  Process.  styloid.  bemerkt  er,  daß  er  anfangs  knorpelig  und 
leicht  abtrennbar  sei  und  behauptet,  daß  der  Process.  mastoideus 
bei  Neugeborenen  fehle,  sich  aber  mit  dem  weiteren  Wachstume  nach 
und  nach  zur  normalen  Größe  entwickle.  Die  Kommunikation  der 
Cellulae  mastoid.  mit  der  Trommelhöhle  war  ihm  bekannt.  Wichtig 
ist  seine  Entdeckung,  daß  der  Trommelfellring  beim  Fötus  von  dem 
übrigen  Schläfenbeine  getrennt  sei  und  später  mit  ihm  verwachse  2) ;  nach 
Falloppio  verleiht  der  Annulus  tympanicus  dem  Trommelfell  ge- 
nügende Spannung.  Von  der  Membrana  fcympani  selbst  gab  Fal- 
loppio die  erste  exakte  Beschreibung,  namentlich  was  ihre  Neigung  an- 
belangt, so  daß  späterhin  kaum  mehr  etwas  Wesentliches  hinzugefügt 
werden  konnte  3).  Er  weist  durch  schlagende  Gründe  die  Ansicht  seiner 
Vorgänger  zurück,  die  das  Trommelfell  von  der  Dura  mater  herleiteten. 

Falloppios  Kenntnisse  von  der  Trommelhöhle,  welcher  er 
wegen  der  Aehnlichkeit  mit  der  Trommel  den  Namen  „Tympanum"  gab, 
wobei  die  vorgespannte  Membran  das  „tertium  comparationis"  abgibt1), 
sind  für  seine  Zeit  vollgültig.  Er  beschreibt  die  drei  Gehörknöchelchen, 
die  beiden  Fenestrae,  das  Promontorium,  die  Chorda  fcympani  und 
fand  den  nach  ihm  bezeichneten  Canalis  sive  Aquaeductus,  welcher 
den  N.  facialis  in  seinem  Verlaufe  durch  das  Schläfenbein  in  sich  schließt. 

Von  weiteren  Details  beschreibt  Falloppio  die  Insertion  des 
Hammers  am  Trommelfell,  die  gelenkige  Verbindung  des  Caput 
mallei  mit  dem  Incus  und  unterscheidet  zwei  Fortsätze  des  Amboßes, 
einen  kürzeren  dickeren,  der  an  der  Wand  oberhalb  des  Aquaeductus 
fixiert  ist,  und  einen  längeren  zarteren,  der  sich  mit  dem  Stapes 
verbindet,  welch  letzterer  das  höher  gelegene  Fenster  mit  seiner  Basis 
verschließe.  Die  knorpelige  G  el  enk  \  e  r  bi in  du  ng  der  Gehör- 
knöchelchen   wird     von    ihm    erwähnt.      Zu    seinen    wichtigsten    Ent- 


*)  Observ.  anat.  p.  239. 


92  Palloppio. 

deckungen  zählt  der  Aquaeductus  (Canalis  Falloppiae).  Die  Entdeckung 
dieses  Kanals  datiert  vom  Jahre  1561.  Er  beschreibt  seinen  Verlauf 
so  anschaulich,  daß  wir  nicht  umhin  können,  die  ganze  Stelle  hierher 
zu  setzen.     Observ.  anat.  p.  46: 

Tertium .  quod  ego  observatione  dignum  existiino ,  canalis  quidarn  osseus  est, 
qui  recto  huius  cavitatis  quasi  subtenditur  exitque  extra  calvariam  post  radicern, 
calcaria  inter  illam  ac  mammillarem  processum.  Nam  si  recte  inspicias,  videbis  quintum 
par  nervorum  a  reliquis  anatomicis  ita  vocatum,  extendi  ad  medium  feroie  processum 
ossis  temporum,  quem  intemum  atque  petrosum  appellamus,  illuc  tensum  hoc  par 
ingreditur  in  canalem  quendam  insculptum ,  in  quo  Jätens  in  duas  finditur  partes, 
alteram  quendam  magnam ,  alteram  vero  parvam  et  gracilem  valde  durioremque. 
Haec  posterior  perforato  osse  occulto  quodam  canali,  versus  anteriora  capitis  serpit, 
deinde  reflexa,  tympanumque  ingi*essa  proprio  hoc  canali  osseo  deorsum  et'posteriora 
versus  ad  pinnae  ipsius  auriculae  radicem  erumpit  et  disseminatur  ut  suo  loco 
dicam.  Via  igitur  istius  nervi  canalis  hie  est,  de  quo  loquor  et  aquaeduetum  a 
similitudine  appello. 

Aus  dieser  trefflichen  Schilderung  geht  zugleich  das  Widerstreben 
hervor,  mit  dem  er  Facialis  und  Acusticus  als  einen  Nerv  im  Sinne  seiner 
Zeitgenossen  auffaßt,  und  er  entschuldigt  sich  gleichsam  der  Nachwelt 
gegenüber,  daß  er  dies  getan  habe,  um  nicht  zu  sehr  von  jenen  ab- 
zuweichen 5). 

Seine  Beschreibung  der  Chorda  tymp.  ist  unrichtig,  da  er  es  un- 
entschieden läßt,  ob  sie  ein  Nerv  oder  eine  kleine  Arterie  sei 6). 

Das  innere  Ohr  teilt  er  in  zwei  Höhlen,  deren  erste  (seeunda 
cavitas)  die  Bogengänge  und  das  Vestibulum  umfaßt  und  von  ihm 
Labyrinth7)  genannt  wurde;  während  er  die  zweite  als  Schnecke, 
Cochlea  (tertia  cavitas)  bezeichnet.  Seine  Schilderung  des  Labyrinthes 
ist  viel  genauer  als  die  seiner  Vorgänger  und  übertrifft  an  Exaktheit  die 
seiner  nächsten  Schüler  und  Nachfolger,  Koyter  und  Fabricius  ab 
Aquapendente. 

Was  die  einzelnen  Details  des  Labyrinthes  anbelangt,  so  wird  das 
Vestibulum  nur  kurz  beschrieben.  Die  Bogengänge  hält  er  für  kreis- 
förmig*); seine  Angaben  über  die  Lage  der  Schnecke  im  Felsenbein 
stimmen  mit  der  gegenwärtig  geltenden  überein.  Die  Schnecke  selbst 
besteht  nach  Falloppio  aus  drei  Windungen8).  Das  runde  Fenster 
hält  er  für  den  Anfang  der  Schnecke.  Er  beschrieb  zuerst  das  Spiral- 
blatt der  Schnecke  und  wußte,  daß  sich  das  Labyrinth  in  Bezug  auf 
Form,  Größe  und  Räumlichkeit  nach  der  Geburt  wenig  ändere. 

Ueber  die  Nervenausbreitung  des  N.  acusticus  weiß  er  nur,  daß 
mehrere  Nervenzweigchen  durch  drei  oder  vier  Löchelchen  des  inneren 
Gehörgangs  zur  Membran  hinziehen,  welche  die  Schnecke  im  Innern 
auskleide   oder   vielleicht   durch  diese  gebildet  werde.     Genauere  Details 

*)  1.  c.  p.  48. 


Falloppio.  93 

über  die  Endausbreitung  der  Hörnerven  konnte  Falloppio  aus  Mangel 
an  einer  feineren  Zergliederungstechnik  nicht  finden,  weil  diese  Kanälchen 
selbst  mit  einer  Borste  nicht  sondiert  werden  konnten*). 

Eine  besondere  Sorgfalt  verwendete  Falloppio  auf  die  Unter- 
suchung der  Ohrmuschel,  deren  Muskeln  er  zuerst  exakter  schilderte. 
Er  beschrieb  zuerst  den  Empor  zieher  des  Ohres,  kannte  den  Rück- 
wärtszieher  und  zerlegte  diesen,  den  Retrahentes  entsprechend,  in  drei 
Teile.  Vom  Platysma  nahm  er  an,  daß  es  die  Ohrmuschel  nach  abwärts 
bewegen  könne**). 

Falloppios  naturwissenschaftlicher  Blick  erkannte  die  Mangel- 
haftigkeit der  damaligen  Hörtheorien.  Er  gibt  daher  nur  wenige 
physiologische  Notizen,  darunter  eine  über  die  harmonische  Bewegung 
der  Gehörknöchelchen 9)  und  einige  Bemerkungen  über  den  Nutzen  der 
einzelnen  Teile  des  Gehörorgans,  z.  B.  über  den  Nutzen  des  Schiefstands 
der  Membrana  tympani1'1). 

Die  Gesamtausgabe  der  Werke  von  Falloppio***)  enthält  nur  spär- 
liche Andeutungen  über  die  Behandlung  der  Ohrenkrankheiten. 
Bei  gewissen  chirurgischen  Eingriffen  am  Ohre  empfiehlt  er  den  Ge- 
brauch des  Ohrenspiegels  (speculum).  Bei  Polypen  im  Gehörgange 
rät  er,  um  eine  Verletzung  der  benachbarten  Teile  zu  vermeiden,  eiue 
bleierne  Röhre  bis  zur  Neubildung  vorzuschieben  und  dann  durch  diese 
den  Polyp  mit  einer  in  Schwefelsäure  getauchten  Wieke  zu  ätzen.  Trotz 
seiner  ausgebildeten  anatomischen  Kenntnisse  war  Falloppio  noch  in 
dem  Irrtume  befangen ,  daß  der  eiterige  Ausfluß  aus  dem  Ohre  ein 
Exkrement  des  Gehirns  sei  und  daß  die  Otorrhoe  bei  Kindern  überhaupt 
nicht,  bei  Erwachsenen  jedoch  nicht  mit  austrocknenden  und  zusammen- 
ziehenden, sondern  mit  milden  und  ableitenden  Mitteln  behandelt  werden 
solle.  Aus  diesem  Grunde  spricht  er  sich  gegen  eine  Behandlung  der 
Otorrhoe  durch  „Repellentia"  aus  und  empfiehlt  die  Anwendung  pulver- 
förmiger  Medikamente,  die  in  den  Gehörgang  eingeführt  werden f). 

Eine  eigentümliche  Ansicht  hatte  Falloppio  über  die  Entstehung 
der  subjektiven  Gehörsempfindungen,  die  er  der  Ansammlung  von 
Dünsten  im  Kopfe  zuschrieb .  welche  sich  einen  Ausweg  bahnen  wollen 
und  durch  ihre  Bewegung  das  Tönen  veranlassen.  Bemerkenswert  ist, 
daß  Falloppio  bereits  die  Unheilbarkeit  des  luetischen  Ohr- 
geräusches kannteff). 


*)  1.  c.  p.  50. 
**)  1.  c.  p.  102. 
***)  Opera  omnia,  Franeoforti  161li.    Tom.  1,  Tum.  II,  Track  VIII,  Cap.  2,  p.  237; 
Cap.  11,  p.  690;  Cap.  80,  p.  731;  Cap.  100,  p.  748. 
f )  Tom.  II,  Tract.  VIII,  Cap.  2,  p.  238. 
ff)  De  rnorbo  Gallico,  Tom.  I,  Cap.  11,  p.  690. 


Falloppio. 

So  schätzenswert  die  Arbeiten  Falloppios  im  ganzen  für  die 
Medizin  der  damaligen  Zeit  sind,  so  muß  doch  den  „Observationes  ana- 
tomicae"  unter  seinen  Schriften  die  Palme  zuerkannt  werden.  Hierfür 
spricht  die  Tatsache,  daß  sie  den  Meister  Vesal  zu  genauen  Nach- 
forschungen anregten,  die  er  in  seinem  „Examen  observationum"  nieder- 
legte. Alier  selbst  jetzt  noch  gewinnen  wir  bei  der  Lektüre  dieses 
Weikes  den  Eindruck,  daß  wir  es  mit  einem  Anatomen  ersten  Ranges 
zu  tun  haben.  Treffend  charakterisiert  ihn  der  Nachruf  Hallers: 
„Candidus  vir,  in  anatome  indefessus,  magnus  inventor  et  in  neminem 
i  1 1  i  <  i  u  u  s . " 

Als  der  unermüdliche  Gelehrte  1562  im  blühendsten  Mannesalter 
für  immer  die  Augen  schloß,  herrschte  an  den  italienischen  Universitäten, 
und  auch  im  Auslande,  allgemeine  Trauer  über  seinen  Verlust.  Die 
ganze  dankerfüllte  Bewunderung  seiner  Schüler  drückt  sich  in  der  ihm 
gewidmeten  Grabschrift  aus,  welche  lautet: 

„Fallopi,  hie  tumulo  solus  non  conderis,  una 
Est  pariter  tecum  nostra  sepulta  douius." 

,  ')  In  puerulis  auditus  Organum  integerrimum  est,  quod  probent  prima,  seeunda 

et  tertia  cavitas.  ineus.  malleolus,  stapes  ossicula  minima,  quae  partes  omnes  inte- 
gerrimae  sunt,  neque  per  transversum  pilum  in  puero  unius  diei  distant  ab  iisdem 
in  senio  decrepito.     1.  c.  p.  37. 

2)  Qui  (sc.  annul.  tymp.)  ut  ego  observavi,  in  calvariis  puerorum  f'erme  usque 
ad  septimum  mensem  per  cocturam  sejungi  potest.  Quoniam  cartilagine  (ut  multae 
aliae  appendices)  reliquo  ossi  incrustatus  est.     1.  c.  p.  39. 

3)  Extenditur  autem  ipsa  non  per  transversum  sed  oblique,  veluti  si  scriptorium 
calamum  ea  parte,  qua  derasum  et  attemperatum  dicitur,  tensa  membrana  obstru- 
amus:  haec  enim  non  per  transversum  sed  oblique  calamum  claudet.     1.  c.  p.  40. 

4)  Ob  eam  quam  habet  cum  militari  tympano  similitudinem.     1.  c.  p.  24. 

5)  Sed  quoniam  alii  anatomici  hie  asserunt,  ne  ab  ipsis  in  omnibus  dissentiam, 
pariter  et  ego  quintum  par  constare  ex  parte  dura  atque  molli.     1.  c.  p.  239. 

6)  Attenditur  illi  articulo  tantum,  quo  stapes  cum  altero  crure  ineudis  copu- 
latur(!)  Quidam  nervulum  id  opinati  sunt.  Ego  quid  sit.  aperte  fateor,  ignoro. 
1.  c.  p.  48. 

7)  Cum  igitur  haec  cavitas  valde  minor  priore  (tympano)  tot  habeat  meatus 
et  euniculos ,  merito  labyrinthus  dicetur ,  in  quam  prospicit  fenestra  ovalis  clausa  a 
stapede  et  altera  orbicula.  quae  etiam  in  coecam  cavitatem  tendit .  .  .  Obs.  anat.  p.  48. 

!   ünde  Cochlea,  vel  cochlearis  cavitas,  vel  coeca  etiam  est  dicenda.     1.  c. 

9)  \jitat;i  vel  coneussa  myringe,  malleolum  moveri  et  ineudem  et  stapedem, 
aut  aperto  sinu,  acu  quodam  uno  ex  bis  ossiculis  agitato ,  reliqua  duo  simul  etiam 
consentire.     Morgagni,  Ep.  anat.  XIII,  p.  482. 

11  i  [ctus  enim  obliquus  minus  laedat  quam  qui  recte  fertur.     Obs.  anat.  p.  40. 

Bartholomeo  Eustachio. 

Zu  den  grüßten  Pfadfindern  in  der  Otologie  gehört  Bartholomäus 
E  u  s  t  a  c  hi  u s   ( 1  •">  1 '  >  -1574  i ,    einer    der  bedeutendsten  Anatomen  seiner 


Bartholomeo  Eustachio.  95 


Zeit,  der  von  manchen  selbst  höher  als  Falloppio  geschätzt  wurde. 
Leider  sind  uns  nicht  alle  seine  Werke  erhalten,  doch  findet  sich  in  den 
vorhandenen  so  viel  Neues  und  Wertvolles,  daß  man  sich  in  .vollster 
Ueberzeugung  dem  Ausspruch  Hall  er  s  anschließen  kann:  „Quae  nova 
Eustachius  invenerit,  nulla  paene  ratione  enumeres,  adeo  sunt  infinita." 
Das  Charakteristische  an  seiner  genialen  Forschungsweise  ist,  daß  er  der 
erste  war,  der  sich  nicht  bloß  mit  der  anatomischen  Formenlehre  be- 
gnügte, sondern  auch  den  inneren  Bau  der  Organe,  deren  Struktur  zu 
erforschen  bestrebt  war. 

Ueber  seinen  Lebenslauf  ist  nur  Spärliches  bekannt,  nicht  einmal 
sein  Geburtsjahr  ist  sichergestellt.  Man  setzt  es  gewöhnlich  gegen  1510 
an,  sicher  fällt  es  in  das  Ende  des  15.  oder  in  den  Anfang  des  16.  Jahr- 
hunderts. Selbst  über  den  Geburtsort  ist  man  nicht  einig.  Drei  Städte 
streiten  um  die  Ehre,  San  Severino  in  Kalabrien,  San  Severino  bei 
Salerno  und  San  Severino  in  der  Mark  Ancona.  Letzteres  ehrte  sein 
Andenken  durch  Aufstellung  einer  Marmorbüste.  Eustachio  studierte 
zu  Rom,  wurde  Leibarzt  des  Herzogs  von  Urbino,  ging  dann  mit  dem 
Kardinal  della  Rovere  wieder  nach  Rom,  wo  er  Stadtarzt  und  Professor 
der  Anatomie  an  der  Sapienza  wurde.  Er  erwarb  sich  nicht  nur  als 
Anatom  und  Arzt,  sondern  auch  als  Philosoph  und  Philolog  einen  großen 
Ruf  bei  seinen  Zeitgenossen.  Seine  Werke  zeichnen  sich  vielfach  durch 
schöne  Diktion  aus  im  Gegensatze  zu  dem  oft  barbarischen  Stile  seines 
Zeitalters. 

Chronische  Gicht  zwang  ihn  in  den  letzten  Lebensjahren,  auf  die 
Professur  zu  verzichten,  doch  behielt  er  seine  Stelle  als  päpstlicher  Leib- 
arzt bei.  Er  starb  im  August  1574  in  Fossombrone  auf  einer  Reise  zu 
dem  Kardinal  della  Rovere. 

Eustachios  Charakter  ist  psychologisch  dadurch  interessant,  daß 
er  trotz  seiner  eigenen  glänzenden  Entdeckungen  in  allen  Teilen  der 
Anatomie  doch  das  Ansehen  Galens  nicht  nur  hochhielt,  sondern  fana- 
tisch zu  stützen  und  insbesondere  gegen  Vesal  zu  verteidigen  suchte. 
Seine  hieraus  sich  ergebende  Polemik  war  die  Ursache,  daß  er  oft  bitter 
und  unduldsam  gegen  andere  wurde  und  in  seinem  tendenziösen  Tadel 
gegen  den  Neuerer  Vesal  dessen  große  wissenschaftliche  Bedeutung 
ganz  und  gfar  verkannte.  Namentlich  Vesals  Beschreibung  des  Gehör- 
organs  tadelt  er  so  heftig,  daß  er  sich  zu  dem  Ausspruch  versteigt,  es 
sei  darin  nicht  eine  Spur  von  Wahrheit  enthalten.  Wenn  uns  dieser 
Tadel  Eustachios  zu  heftig  erscheint,  so  muß  doch  zugegeben  werden, 
daß  der  die  Ohranatomie  betreffende  Teil  von  Vesals  klassischem  Werke 
vielfache  Irrtümer  enthält,  die  nur  dem  mangelnden  Interesse  Vesals 
für  diesen  Teil  der  Anatomie  zuzuschreiben  sind.  Hall  er  fällte  über 
Eustachios    intellektuelle    und   moralische    Eigenschaften    das   treffendste 


96  Bartholomeo  Eustachio. 


Urteil  in  den  Worten:  „Vir  acris  ingenii,  parcus  laudator,  sed  ad  in- 
veniendum  et  ad  subtiles  Labores  a  natura  paratus,  omnium  quos  novi 
anatomicorum,  plurima  inventa  plurimasque  correctiones  ad  perficiendam 
artem  attulit"  :). 

Von  den  Werken  Eustacbios  sind  als  die  bedeutendsten  hervor- 
zuheben : 

1.  Opuscula  anatomica,  Venet.  1563,  in  welchem  die  „Epistula 
de  auditus  organis",  p.  153,  enthalten  ist**). 

2.  Tabula e  anatomicae  cl.  viri  Bartholornaei  Eustachii,  quas  e 
tenebris  tandera  vindicatas,  et  sanct.  Dom.  Clementis  IV,  Pont.  max. 
munificentia  dono  acceptas ,  praefatione  notisque  illustravit  Jo.  Maria 
Lancisius,  intimus  cubicularius  et  archiater  pontificis.  Romae  1414,  in 
fol.  Editio  1728***). 

Die  Tabulae,  welche  Eustachio  (nach  einer  Stelle  in  „De  renum 
structura"  c.  16,  p.  44)  schon  im  Jahre  1552  durch  Giulio  de  Musi 
stechen  ließ,  erschienen  nicht  bei  Lebzeiten  Eustachios.  Wie  Eustachio 
in  der  Einleitung  zu  den  Opuscula  erwähnt,  hatte  er  die  Absicht, 
46  Kupfertafeln  herauszugeben,  wurde  jedoch  durch  Alter  und  Krankheit 
daran  gehindert.  Nach  seinem  Tode  gingen  die  Kupferplatten  an  seinen 
Verwandten  Petrus  Pinus  über  und  galten  durch  150  Jahre  für  verloren, 
bis  sie  der  päpstliche  Leibarzt  Lancisi  bei  den  Erben  des  Pinus  auffand 
und  sie  1714  zuerst  herausgab.  Der  Zweck  dieser  Tafeln,  welche  nach 
jungen  Kadavern  gearbeitet  zu  sein  scheinen,  war  einerseits  der,  die 
Behauptungen  Vesals,  anderseits  die  Entdeckungen  Eustachios  in 
das  richtige  Licht  zu  stellen.  Ein  Kommentar  des  Eustachio  zu  diesen 
Tafeln  hat  sich  nicht  vorgefunden  und  fehlt  auch  heute  noch. 

Die  Leistungen  Eustachios  in  der  Anatomie  des  Ohres 
müssen  als  hervorragend  bezeichnet  werden,  und  aus  der  Vorliebe,  mit 
der  er  sich  gerade  diesem  schwierigen  Gebiete  zuwandte,  erklärt  es  sich, 
daß  er  nicht  wenig  Neues  den  Entdeckungen  seiner  Vorgänger  hinzu- 
fügen konnte.  Diese  Untersuchungsergebnisse  sind  in  dem  Abschnitte 
Epistula  „De  auditus  organis",  in  den  genannten  „Opuscula  anatom. "  f) 
niedergelegt. 

In  der  Einleitung  gibt  er  einen  kurzen  historischen  Ueberblick, 
wobei  er  sich  die  Entdeckung  des  Steigbügels  zuerkennt  und  behauptet, 


Bibl.  Anat.     t,  I,  p.  223. 

**)  Die  Epistola  „De  Audit.  org."  findet  sich  in  den  späteren  Ausgaben:  Lug- 
duni  Batavoruin  1707,  p.  134,  und  in  Editio  Delphis  1726,  p.  125. 

**)  Vergl.  ferner  die  vortrefflichste  Ausgabe  dieser  Tafeln  Bernardi  Sigfried 
Albini,  Explicatio  tabularum  anatomicarum  Barthol.  Eustachii,  castigavit  auxit 
denuo  edidit.     Lcidae,  fol.  1744,  1761. 

f)  Im  nachstehenden  habe  ich  die  Editio  Delphis  1726  benützt. 


Tafel  IV 


BARTOLOMEUS  EUSTACHIUS 


Hartholorneo  Eustachio.  97 


denselben  vor  Ingrassia  demonstriert  und  abgebildet  zu  haben1).  Sein 
wichtigstes  Argument,  womit  er  Ingrassia  diesen  Ruhm  streitig  zu 
machen  sucht,  besteht  darin,  daß  er  so  viele  andere  verborgene  Teile 
des  Gehörorgans  aufgefunden  habe,  die  zur  Zeit  den  übrigen,  selbst 
dem  Ingrassia  unbekannt  gewesen  wären.  Bei  der  Wahrheitsliebe 
Eustachios  ist  kaum  daran  zu  zweifeln,  daß  er  und  ebenso  Realdo 
Colombo  unabhängig  von  Ingrassia  den  Steigbügel  entdeckten.  Waren 
doch  die  anatomische  Forschung  jener  Periode  und  der  Ehrgeiz,  sich 
durch  neue  Entdeckungen  einen  bleibenden  Namen  zu  erwerben,  so 
rege,  daß  es  nicht  überraschen  kann,  wenn  ein  so  leicht  auffindbares 
Knöchelchen  von  mehreren  Forschern  gleichzeitig  entdeckt  wurde. 

Mit  besonderer  Schärfe  kritisiert  er  sodann  mit  Recht  Vesal, 
namentlich  wegen  seiner  Darstellung  des  Verlaufs  und  der  Verzweigung 
des  Antlitz-  und  Gehörnerven  und  seiner  allzu  oberflächlichen  Beschrei- 
bung des  so  kompliziert  gebauten  Gehörorgans-). 

Nach  dem  geschichtlichen  Abriß  folgen  die  eigenen  Entdeckungen 
des  Eustachio.  Die  Erwägung,  daß  überall,  wo  gelenkige  Verbindungen 
bestehen,  auch  ein  Muskelapparat  da  sei,  der  die  Bewegung  besorge, 
leitete  ihn  dahin ,  nachzuforschen ,  ob  es  nicht  auch  für  die  Lokomotion 
der  Gehörknöchelchen  einen  eigenen  Muskel  gebe.  Wir  wissen ,  daß 
bereits  Vesal  und  Ingrassia  einige  Kenntnisse  von  dem  Tensor 
tympani*)  hatten,  immerhin  gebührt  Eustachio  das  Verdienst,  eine 
exakte,  unzweideutige  Beschreibung  desselben  geliefert  zu  haben, 
welche  noch  dadurch  wirksam  unterstützt  wird,  daß  er  genau  angibt, 
wie  man  den  Muskel  leicht  auffindet.  Eine  Abbildung  des  Tensor 
tympani.  der  beim  Hunde  mit  einer  fleischigen  Drüse  verbunden  sei, 
findet  sich  in  der  Tabula  septima  seiner  anatomischen  Tafeln :; ). 

Die  Schilderung  der  Präparation  dieses  Muskels  zeigt,  wie  klar 
und  genau  seine  Anweisungen  sind  ;  daß  in  die  Stelle  mehr  hineingelegt 
wurde,  als  dem  Forscher  wirklich  bekannt  war.  ist  nicht  zutreffend. 
„Diese  Präparation  des  Muskels,"  setzt  er  hinzu,  „ist  zweifellos  schwer, 
aber  bei  öfterer  Uebung  nicht  zu  verfehlen."  Mau  dürfe  nicht  glauben, 
daß  man  den  Muskel  bei  großen  Tieren  leichter  als  beim  Menschen 
auffinden  könne.  Er  finde  sich  bei  allen,  aber  bei  den  meisten  sei  er 
noch  viel  kleiner  als  beim  Menschen.  Viele  Anatomen  hätten  die 
falsche  Ansicht,  daß  die  Größe  de  r  Körperteile  ihrer  Punktion  s- 
wichtigkeii  entspreche.  Dies  sei  aber  ganz  falsch,  nament- 
lich beim  Gehörorgan.  Die  Entdeckung  des  Trommelfellspanners  sei 
sehr  wichtig,  denn  sie  gewähre  einen  Einblick  in  das  Wesen  der  Gtehör- 
funktion  und  zeige,  wie  unvollkommen  die  bisherigen  Anschauungen  wann. 

*)  Dieser  Terminus  ist  erst  später  von  Allunus  in  « 1  i ••  -  Nomenklatur  ein- 
geführt worden. 

Politzer,  Geschichte  der  Ohrenheilkunde.    I  7 


Ilartholomeo  Eustachio. 


Die  Chorda  tympani  erkannte  Eustachio  zuerst  mit  voller 
Bestimmtheit  als  Nerv  und  wußte,  daß  sie  mit  dem  Geschmacksnerven 
vom  dritten  Ast  des  Trigeminus  in  Verbindung  stehe1). 

Das  größte  Verdienst  um  die  Ohranatomie  erwarb  sich  Eustachio 
durch  die  genaue  Schilderung  der  Gestalt,  der  Struktur  und  des  Verlaufs 
der  nach  ihm  bezeichneten  Ohrtrompete.  Zwar  hatten,  wie  wir  sahen, 
schon  die  Alten,  namentlich  Aristoteles  und  Celsus,  ferner  Vesal5) 
und  Engrassia6),  eine  unklare  Vorstellung  von  der  Existenz  dieses 
Kanals;  Eustachio  jedoch  war  es,  der  ihre  Morphologie  zuerst  un- 
zweifelhaft sicherstellte.  Wie  wenig  Beachtung  die  Ohrtrompete  von 
den  zeitgenössischen  Anatomen  fand,  geht  daraus  hervor,  daß  sie  von 
dem  Schüler  des  Falloppio,  Fabricius  ab  Aquap  endente,  nicht 
einmal  erwähnt  wird  und  daß  auch  spätere  Anatomen  wie  Riolan, 
Bartholini,  Tulpius,  Schneider  u.  a.  eine  falsche  Beschreibung 
dieses  Kanals  lieferten  oder  gar  mit  dem  Aquaeductus  Falloppii  ver- 
wechselten. 

Eustachio  vergleicht  die  Tuba  mit  einer  Schreibfeder.  Sie  ziehe 
von  der  Basis  cranii  und  seitlich  nach  vorne  und  sei  gegen  den  Proc. 
pterygoid.  des  Keilbeins  gerichtet.  Zwei  Teile  setzten  die  Ohrtrompete 
zusammen,  eine  dem  Os  temp.  angehörende  feste,  der  Paukenhöhle  näher 
gelegene,  und  eine  weiche,  teils  knorpelige,  teils  ligamentöse  Partie, 
welche  gegen  den  hinteren  Nasenrachenraum  gerichtet  sei.  Der  Quer- 
schnitt sei  nicht  regelmäßig  rund  und  im  inneren  Teile  zweimal  breiter 
als  im  äußeren.  Die  erstere,  welche  dem  Nasenraum  zugewendet  ist, 
sei  mit  einer  Schleimhaut  überkleidet  und  scheine  am  Ausgang  einen 
Sphinkter  zu  bilden.  Diese  Schleimhaut  bilde  die  Fortsetzung  der  Nasen- 
schleimhaut. In  den  Tabulae  des  Eustachio  vermissen  wir  eine  Ab- 
bildung der  Ohrtrompete. 

Eustachio  beschrieb  nicht  nur  die  Tube,  er  erkannte  auch  den 
großen  Wert  seiner  Entdeckung  für  die  Physiologie  und  Therapie.  „Erit 
etiam  Medicis  huius  Meatus  cognitio  ad  rectum  Medi  camentorum 
us um  maxime  utilis,  quod  scient  posthac  ab  auribus  non  angustis 
foraminibus  sed  amplissima  via  posse  materias  etiam  crassas,  vel  a  natura 
expelli  vel  Medicamentorum  ope,  quae  masticatoria  appellantur,  commode 
expurgari"     I. 

Leider  währte  es  geraume  Zeit,  bis  die  Kenntnis  der  Tube  eine 
allgemeine  wurde,  und  erst  im  18.  Jahrhundert  fand  diese  bedeutungs- 
vollste aller  otologisclien  Entdeckungen  die  entsprechende  rationelle  Ver- 
wertung durch  die  Anwendung  des  Katheters. 

Auf  die  Therapie  seines  Jahrhunderts  übte  Eustachios  Entdeckung 


*)  1.  c.  p.  40. 


Bartholomeo  Eustachio. 


99 


nicht  den  geringsten  Einfluß,  insofern  als  die  auf  rohe  Empirie  basie- 
rende ,  von  alters  her  geübte  Anwendung  von  Gurgel-  und  Nies- 
mitteln den  wichtigsten  Teil  der  damaligen  Behandlung  der .  Ohren- 
krankheiten bildet. 

Die  bisher  aufgezählten  Entdeckungen  würden  genügen,  um  Eu- 
stachio für  alle  Zeiten  einen  Ehrenplatz  in  der  Geschichte  der  Otologie 
zu  sichern.  Nicht  minder  verdienstvoll  sind  aber  auch  seine  Unter- 
suchungen des  inneren  Ohres.  In  seinen  Tabulae  anatom.,  welche 
Abbildungen  verschiedener  Schnitte  der  Pars  petrosa  des  Schläfebeins, 
der  Gehörknöchelchen,  des  Tensor  tympani,  der  Chorda  tymp.  des  Pro- 
montoriums und  des  Vestibulums  enthalten  (Tab.  7,  18  I.  III,  43  IL  III, 
44  II.  III,  46  II),  sind  auch  die  Bogengänge  und  die  Schnecke 
gut  dargestellt.  Letztere  beschrieb  er  weit  besser  als  Falloppio.  Er 
kannte  den  Schneckenkanal,  der  nach  ihm  drei  Windungen  mache,  be- 
schrieb genauer  als  Falloppio  das  knöcherne  Spiralblatt,  entdeckte 
die  Spindel    und  die   häutige    Zone    der  Lamina  spiralis 7). 


Fig.  2.  Schläfebeindurchschnitt  durch  Fig.  3.  Schläfebeindurchschmtt  durch 
den  äußeren  Gehörgang,  die  Trommel-  den  äußeren  Gehörgang,  die  Trommel- 
höhle, den  Vorbof  und  den  Canalis  caroti-  höhle,  den  oberen  und  horizontalen 
cus.  Photograph.  Reproduktion  aus  den  Bogengang  and  die  Schnecke.  Repro- 
Tabul.  anatomicae.  Barth.  Eustachio.  duktion  aus  demselben  Werke.  Taf.  35. 
Taf.  33.    Ed.  Romae  1742. 

Den  N.  facialis,  dessen  Verlauf  Eustachio  beschreibt8),  und  den 
N.  acusticus  ließ  er  irrtümlich  von  einem  gemeinsamen  Stamme  ent- 
springen; den  Gehörnerv  verfolgte  er  bis  zur  Schnecke,  wußte  aber 
nicht,  ob  er  den  Spiralgängen  folge  oder  früher  endige. 

Auch  die  Muskeln  des  äußeren  Ohres  untersuchte  Eustachio 
genau  und  kannte  den  oberen  und  hinteren  Ohrmuskel,  welch  Letzteren 
er  für  einfach,  nicht  (wie  Falloppio)  in  dreji  Teile  gespalten, 
hielt  und  bildete  sie  zuerst  ab. 

Ueber  die  Physiologie  des  Hörens  drückt  sich  Eustachio  sehr 
bescheiden  aus,  da  er  wußte,  daß  die  Kenntnisse  seiner-  Zeit  zur  Er- 
klärung nicht  hinreichten  •').    Für  sicher  schien  ihm  bloß,  daß  die  Gehör- 


Imi  Bartholomeo  Eustachio. 


knöchelchen  in  Bewegung  gesetzt  werden10)  und  daß  der  Tensor  tympani 
mit  der  Schallwahrnehmung  in  Verbindung-  stehe,  ja  für  diese  notwendig 
sei.  1  >ie  Aktion  dieses  Muskels  glaubte  er  der  Willkür  unterworfen  und 
regte  hierdurch  eine  schwierige  Frage  an,  die  noch  heute  ihrer  end- 
gültigen Lösung  harrt11). 

WClrh  reiche  Fundgrube  Eustachi os  Werk  darbietet,  geht  schon 
aus  anserer,  auf  das  nötigste  eingeengten  Darstellung  hervor.  Ingrassia, 
Falloppio  und  Eustachio  sind  als  die  ruhmreichen  Begründer  der 
makroskopischen  Anatomie  des  Ohres  zu  bezeichnen,  deren  Leistungen 
die  Zeitgenossen  nur  Spärliches,  die  Nachfolger  nur  feinere  Details  hinzu- 
zufügen vermochten*). 

')  Ego  quidem  scio,  me  neque  edoctum  neque  monitum  ab  aliquo,  multo  ante- 
quaui  ipsi  scribant .  id  ossiculum  novisse ,  Romaeque  non  paucis  ostendisse  atque  in 
aes  incidendum  curasse.     De  org.  audit.  p.  131. 

2)  Qui  Anatomicae  hodie  artis  Inventor  et  quasi  Architectus  ab  ornnibus  pene 
creditur,  quintum  nervorum  Cerebri  par,  foramine  admodum  tortuoso,  propria  ipsius 
causa  facto,  in  cavitatem  auditus  Organo  praeparatam  vebi,  ibique  varie  discindi,  ac 
propagines  quasdam,  an  similitudinem  membranae  dilatas.  buius  cavitatis  sedibus 
offerre ,  atque  etiam  Auditus  Organi  non  infimam  partem  eonstituere  asserit  .  .  . 
1.  c.  p.  131. 

3)  Sektionsmetbode  und  Beschreibung  lauten:  Musculum.  quod  sciam,  nemo 
adhuc  invenit,  tu  si  illum  videre  cupis,  operta  calvaria  os  incide.  quod  Petram  refert, 
eo  loco,  quo  linea  minime  alte  penetrante  exsculptum  est,  et  versus  tenuiorem  ossis 
Temporis  sedem  in  anteriorem  partem  magis  eminet,  ejusque  squammam  accurate 
detrahe ,  summa  diligentia  adhibita,  ut  subjecta  Organa  nihil  laedas :  hoc  sane 
experta  manu  ubi  effeceris ,  statim  musculus  conspiciendum  se  exhibebit,  qui  etsi 
omnium  minimus  sit ,  elegantia  tarnen  et  constructionis  artificio  nulli  cedit;  oritur 
a  substantia  ligamentis  simili  qua  parte  os,  quod  Cuneum  imitatur,  cum  temporis 
osse  committitur .  indeque  carneus  evadens  redditur  sensini  ad  medium  usque  ali- 
quando  latior;  deinde  vero  angustior  effectus  tendinem  gracillimum  producit,  qui  in 
majorem  apophysim  ossiculi  Malleo  comparati ,  fere  a  regione  minoris  apopbysis 
eju8dem  inseritur.    p.  135. 

4)  Poterat  sane  ad  Tympanum,  et  ad  Organa  Auditus,  ab  una  aut  ab  altera 
portione  quintifparia  nervorum  cerebri  commode  nervus  dispensari;  quod  tarnen  minime 
factum  fuisse  cernimus ,  sed  ab  altero  ejusdem  visceris  quarti  jugi  nervorum  ramo 
exilis  quaedam  propago ,  reflexo  itinere  juxta  illum,  quemmodo  descripsi  osseum 
canalem,  Aurium  cavum,  in  quo  ossicula  Auditus  continentur.  ingreditur  et  oblique 
Tympano,  ac  deinde  ossiculo  malleum  imitanti  supra  musculi  insertionem  adhaerescit, 
nee  ibi  desinit.  sed  ulterius  procedens  os  lapideum  in  posteriori  sede  Meatus  Auditorii 
perforat.  deorsumque  reflexo  parumper  sepit  ac  tandem  cum  tenuiori  duriorique 
ramo  quinti  paris  nervorum  Cerebri  jungitur  et  coit.    p.  140  f.     De  org.  audit. 

B)  Foramen  in  externa  tantum  infernaque  calvariae  basis  sede  esse  obvium, 
hinc  enim  oblique  versus  exteriora  protensum,  in  auditorii  organi  cavitatem  temporis 
ossi  insculptam  desinere  .  .  .  aerem  etiam  in  temporis  ossis  antrum  auditus  organo 
proprium,  per  id  foramen  ferri.     De  corp.  h.  fabr.  L.  I,  Cap.  12. 


Vergl.  Rattel,  Annales  des  Maladies  de  l'oreille  et  du  larynx.    Tom.  VIII, 
Nr.  .5,  1882. 


Realdo  Colombo.  101 


6)  Comment.  in  Gal.  de  ossib.     C.  I.  comm.  8. 

7)  Est  autem  id  corpus ,  quod  testam  Cochleae  elegantissirae  refert ,  tribus 
spiris  in  orbem  convoluturn,  quarum  elatior  superiorem  obtinet  sedem  et  Nervum 
suscipit;  angustior  vero  inferiorem,  et  ossis  cavo  terminatur ;  neque  tarnen  est  hanc 
ob  causam,  uti  quidam  faciunt,  os  istud  caeca  cavitas  exitum  non  habens  appellan- 
dum,  quia  etsi  in  moduni  testae  cochlearum  spiras  habet,  nihilominus  foramine,  veluti 
illae,  non  earet.  .  .  .  Nee  silentio  praetereundum  est.  os  Cochleam  referens  ex  duplici 
spirarum  genere  constare,  quorum  alterum ,  a  nobis  jam  expositum,  ab  ossea  sub- 
stantia  admodum  tenui,  sicca,  et  quae  facile  teritur,  creatur;  alterum  vero,  omnibus 
Anatomicis  adhuc  ignotum ,  ex  materia  quadam  fit  molli  et  mueosa,  et  quae  nescio 
quid  arenosi  permixtum  habet,  oriturque  ex  medio  spatio  priorum  spirarum,  tan- 
quam  ex  ampliore  basi,  sensimque  extenuatum  in  aciem  desinit;  sed  non  tarn  alte 
conscendit,  ut  ossis  ambitum,  qui  priores  spiras  terminat,  attingat  ,  .  .  os  Cochleae  in 
medio,  ea  nimirum  parte,  eui  spirae  innituntur,  a  prineipio  ad  extremum  usque, 
angusto  et  recto  meatu  esse  pervium  .  .  .  Opusc.  anat.  p.  136  ff. 

8)  Quintum  nervorum  Cerebri  jugum  ex  duobus  tantum  nervis,  ut  alii  arbi- 
trantur.  minime  constat.  sed  duas  utrimque  propagines  inaequales  habet,  quarum 
major  seeundum  longitudinem ,  instar  semicirculi  eleganter  excavatur,  minoremque, 
quod  alios  fugit,  amice  suscipit  et  amplectitur,  eoque  modo  ambae  simul  junetae 
oblique  in  anteriorem  et  exteriorem  partein,  usque  ad  extremum  sinus  in  osse  Pefcrae 
simili  earum  gratia  exculpti,  procedunt,  ubi  minor  propago  a  majore  recedens.  par- 
vum  foramen  sibi  paratum  invenit  et  ingreditur,  mireque  admodum  flexuoso  incessu, 
de  quo  nunc  loqui  non  est  opportunum ,  extra  calvariam  elabitur;  major  autem 
propago  videtur  in  ti*es  portiones  parum  invicem  distantes  terminari,  ex  quibus  prae- 
cipua  exiguo  foramine,  in  Cochleatum  os  pervio  obducitur.  sed  num  instar  operculi 
eidem  tantum  ineumbat,  an  vero  alte  penetret  et  in  spiras  ejus  ossis  convolvatur, 
propter  difficultatem  administrationis,  certo  explorare  adhuc  non  potui.    1.  c.  p.  136. 

9)  Sed  qualis  nam  eorum  sit  motus,  quovfi  prineipio,  et  quae  vi  fiat.  vix 
aliquis  Anatomicorum  explicare  audet.    1.  c.  p.  134. 

I0)  In  hoc  fere  omnes  consentiunt.  aerem,  qui,  dum  sonus  editur,  tanquam  unde 
fluetuat,  membranam  Auditorio  meatui  obduetam  pulsare.  ab  illa  deineeps  conse- 
cutione  quadam  illa  ossicula  moveri.     Ibid. 

1J)  Quum  instituisset  Natura  Auditus  Organa  arbitrio  voluntatis  moveri,  arti- 
culationem  quoque  ac  musculum,  sine  quibus  fieri  is  motus  nequit.  tribuere  illis 
voluit.  Caeterum  exigui  hujus  musculi  inventio ,  in  quo  summa  naturae  ars  elucet, 
nisi  invidia  aut  malevolentia  prohibearis,  non  poterit  tibi  videri  non  magni  facienda, 
quum  ejus  cognitio  acutum  patefaciat,  tum  peräerutandi  quomodo  Auditus  in  nobis 
fiat.    p.  135. 

c)  Zeitgenossen  nnd  Nachfolger  der  großen  Anatomen  in 
Italien  im  16.  Jahrhundert. 

Realdo  Colombo. 

Die  Schilderung  der  glanzvollen  Leistungen  der  anatomischen  Führer 
würde  unvollkommen  sein,  wenn  wir  nicht  auch  der  Männer  gedenken 
würden,  die,  angeregt  durch  ihre  Vorgänger,  durch  neue  Details  die 
noch  bestehenden  zahlreichen  Lücken  in  der  Ohranatomie  zum  Teile  er- 
gänzten.    Vor  allem   waren   es   italienische   Forscher,    die  das  Begonnene 


IAO  Realdo  Colombo. 


mit  Feuereifer  fortsetzten.  Unter  ihnen  sei  vor  allem  Realdo  Colombo 
(f  1577)  erwähnt,  dessen  Leistungen  auf  dem  Gebiete  der  Ohranatomie 
indes  weit  geringer  sind  als  seine  Entdeckungen  an  anderen  Teilen  des 
menschlichen  Körpers. 

Kcaldus  Columbus  (Apotheker  in  Cremona,  dann  Prosektor 
Vesals)  erhielt  die  Professur  in  Padua,  ging  jedoch  später  nach  Pisa 
und  von  hier  nach  Rom.  Ihm  verdankt  die  Wissenschaft  wichtige  ana- 
tomische Entdeckungen,  wozu  er  durch  zahlreiche  Sektionen  reichlich 
Gelegenheit  fand.  Er  bediente  sich  zur  Zergliederung  vorerst  lebender 
Hunde,  in  der  Folge  jedoch  nur  menschlicher  Leichen.  Durch  großen 
Eigendünkel  ausgezeichnet,  kritisierte  er  in  schonungsloser  Weise  seinen 
Lehrer  Vesal  und  ließ  sich  durch  die  Sucht,  Neues  zu  sagen,  nicht 
selten  zu  unwahren  Angaben  verleiten.  Seine  anatomischen  Erfahrungen 
überlieferte  er  in  dem  Werke  „De  re  anatomica"  libri  XV,  Venet.  1559 
(Parisiis  apud  Andr.  Wechelum  1572,  Francof.  1590,  1593*),  in  dem  aber 
bezüglich  des  Ohres  nur  wenig  Neues  vorgebracht  wird.  Indes  muß  an- 
erkannt werden,  daß  Columbus  die  Zerlegung  des  Gehörorgans  mit 
Meisterschaft  handhabte  und  daß  er  sich  mit  großer  Vorliebe  mit  der- 
selben beschäftigte,  wie  seine  Begeisterung  verratenden  Worte  bezeugen: 
„Quae  administratio  cum  est  jucunda  visu,  tum  etiam  admirabilis,  et  quae 
nos  in  sapientissimi  opificis  amorem  nolentes,  volentesque  trahit,  rapitque." 

Bei  der  Beschreibung  der  drei  Gehörknöchelchen,  deren  Namen 
er  teils  aus  der  Funktion,  teils  aus  der  Gestalt  erklärt,  vindiziert  er  sich 
die  Entdeckung  des  Stapes1).  Hervorzuheben  ist  seine  Kenntnis,  daß 
die  Berührungsflächen  der  Ossicula  mit  einer  dünnen  Knorpelschicht 
überzogen  sind2). 

Während  Vesal  die  Gehörknöchelchen  für  kompakt  hielt,  behaup- 
tete Colombo,  sie  seien  hohl,  spongiös  und  mit  Mark  gefüllt,  aus- 
genommen das  dritte.  Ob  er  das  Os  lenticulare  kannte,  wie  Drelincourt 
behauptete,  ist  strittig,  jedoch  nach  einer  Stelle  3)  wahrscheinlich,  wo  er 
sagt:  „Una  re  tarnen  (seil.  tert.  ossic.)  stapede  differt,  quod  caret  eo 
foramine,  in  quod  loca  immittuntur  ad  stapedem  sellae  utrinque  alli- 
gandum.  At  hujus  loco  capitulum  quoddam  extat  rotundum,  quoad  ineudis 
processum  accedit." 

Colombo  ist  unstreitig  der  erste,  der  die  Gefäße  des  inneren 
Ohres    erwähnt  '). 

In  der  umständlichen  und  mit  teleologischen  Bemerkungen  durch- 
setzten Beschreibung  der  Ohrmuschel')  schildert  er  den  Muskelapparat 
derselben,  besonders  den  Vorwärts-  und  Rückwärtszieher,  bemerkt  jedoch, 
daß  diese  Muskeln  nicht  konstant  vorkommen'1). 


Von  mir  wurde  die  Ausgabe  vom  Jahre  1590  benützt. 


Giulio  Cesare  Aranzio.  103 


Was  die  Physiologie  betrifft,  so  glaubt  er,  daß  die  Gehörknöchelchen 
bei  der  Hörempfindung  in  Bewegung  geraten. 

*)  His  tertium  accedit  nemini  quod  sciam  ante  nos  cognituin.  L.  l'f  Cap.  7. 
De  ossiculis  organi  Auditorii,  p.  50. 

Vom  Stapes  sagt  er:  Jacet  hoc,  vel  latitat  potius  in  cavernula  quadam  ferme 
rotunda  intra  sinum  auditorium  exculpta,  quo  fit,  ut  ad  organi  auditus  fabricam  non 
pertinere  non  possit :  cavum  est,  et  perforatum  egregie ,  ferrei  instrumenti  naturam 
imitatur,  quod  stapham  novo  vocabulo  nuneupamus,  in  quo  equorum  sellis  insidentes 
pedis  sistunt.    Ibidem. 

2)  1.  c.  L.  I,  Cap.  7:   Ubi  ista  articulata  sunt,  caitilagine  incrustantur,  p.  50. 

3)  1.  c.  L.  I,  Cap.  7,  p.  50. 

4)  1.  c.  L.  VII :  De  corde  et  arteriis,  p.  336. 

5)  1.  c.  L.  II,  Cap.  2:  De  Aurium  cartilaginibus,  p.  181. 

6)  I.  c.  L.  V,  Cap.  10:  De  musculis  Aurium,  p.  228. 

Giulio  Cesare  Aranzio. 

Neben  Colombo  sind  noch  seine  Zeitgenossen  Aranzio  und  Varoli 
zu  nennen,  beide  verdienstvolle  Anatomen,  die  jedoch  die  Ohranatomie 
nur  wenig  förderten. 

Giulio  Cesare  Aranzio,  1530 — 1589  (auch  Aranzi  de  Maggi), 
geb.  um  1530  in  Bologna,  beschäftigte  sich  frühzeitig  mit  Anatomie 
und  Chirurgie,  wobei  ihm  Vesal  und  der  berühmte  Wundarzt  Barto- 
lommeo  Maggi  als  Lehrmeister  dienten.  Schon  im  Jahre  1556  erhielt 
er  in  seiner  Vaterstadt  die  Professur  der  Anatomie,  welche  er  bis  zu 
seinem  Tode  1589  bekleidete.  Von  seinen  Arbeiten,  welche  er  in  den 
Werken:  „De  humano  foetu  opusculum",  Rom  1564  (Venet. 
1571,  1587);  „Anatomicarurn  observationum  liber  et  de  tumoribus 
praeter  naturam  secundum  locos  affectus  liber",  Venetiis  1587  und  1595; 
„Commentarius  in  librum  Hippocratis  de  vulneribns  capitis", 
Lugd.  1639,  12,  überlieferte,  legen  die  Entdeckung  des  Ductus  arteriosus 
und  die  sorgfältige  Beschreibung  des  schwangeren  Uterus,  sowie  des 
Fötus  beredtes  Zeugnis  für  seine  Bedeutung  als  Anatom  ab. 

Auf  die  Ohranatomie  Bezügliches  findet  sich  nur  wenig  Neues  in 
den  „Observationes  anatomicae".  Aranzio  beschrieb  das  Gehörorgan, 
soweit  schon  Bekanntes  vorlag,  ziemlich  gut,  indem  er  die  Entdeckungen 
seiner  Vorgänger  vereinigte  und  kritisierte.  Den  Tensor  tympani 
kannte  er  wohl1),  war  aber  im  Zweifel,  ob  er  ihn  für  einen  Nerv 
oder  ein  Gefäß  halten  sollte.  Dagegen  scheint  er  bereits  das  Os  lenti- 
culare  gekannt  zu  haben,  nach  einer  Stelle  zu  schließen,  welche  Mor- 
gagni zum  Beweise  für  diese  Ansicht  zuerst    ans  Licht  zog-). 

Die  Chorda  tympani  verkannte  auch  er,  gleich  den  meisten  Zeit- 
genossen, und  hielt  sie  für  ein  Hammerband,  wenn  er  auch  die  Möglichkeit, 
daß   sie  Arterie  oder  Nerv  sein  könnte,    zugibt.     Dabei  wirft  seine  Be- 


1 04  Constanzo  Varolio. 


merkung  über  die  Schwierigkeit  dieser  Entscheidung  immerhin  einen 
Lichtstrahl  auf  den  Zustand  der  damaligen  Präparationsmethode  „non 
deesse  qui  dubitent,  arteriane  aut  nervus  censendus  sit,  sed  nihil 
mirum  in  re  adeo  exigua,  quae  Lyncaeos  postulat  aures"3). 
Bei  seinen  eut wicklungsgeschichtlichen  und  vergleichend  anatomi- 
schen Studien  fand  er,  daß  die  Gehörknöchelchen  bei  den  Kindern 
kleiner  und  weniger  konsistent  als  bei  den  Erwachsenen  seien ,  ferner 
daß  die  menschlichen  Gehörknöchelchen  diejenigen  des  Pferdes  und 
Rindes  bedeutend  an  Größe  überträfen 4). 

')  Observat.  anat.  Venet.  1587,  Cap.  2,  p.  56. 

2)  Ibidem  Cap.  17:  Stapes  in  summo  superioris  anguli  apice,  in  capitulum, 
modice  sinuatum  desinit.  ut  incudis  minimum  tuberculum,  tibiolae  adnascentem,  per 
symphisim  ac  synchondrosim  agglutinaturn,  amice  excipiat. 

3)  Observ.  anat.     Cap.  11. 

4)  Tide  Porta,  t.  2,  p.  10. 

Constantius  Yarolius 

(1543—1575). 

Constanzo  Varolio  aus  Bologna,  der  hochberühmte  Forscher 
auf  dem  Gebiete  der  Hirn-  und  Nervenanatomie,  der  mit  glänzendem 
Erfolge  Anatomie  und  Chirurgie  (wie  auch  Philosophie)  lehrte,  überging 
zwar  die  Ohranatomie  und  Gehörsphysiologie  nicht,  ohne  jedoch  für  diese 
Wissenszweige  Epochemachendes  zu  leisten.  Er  leitete  den  Ursprung 
des  Acusticus  von  der  Brücke  ab1),  ein  Irrtum,  der  etwas  später 
von  Piccoluomini  widerlegt  wurde.  Varolis  Beschreibung  des  Trommel- 
fells, der  Gehörknöchelchen,  des  inneren  Ohres  u.  s.  w.  fußen  noch  ganz 
auf  den  Arbeiten  der  Vorgänger.  Dagegen  ist  vom  historischen  Stand- 
punkt sein  Verhalten  zur  Frage  der  inneren  Ohrmuskeln  sehr 
interessant,  weil  es  zeigt,  wie  häufig  bei  spekulativen  Köpfen  eine  theo- 
retische Prämisse  eine  nackte  Tatsache  verdrängen  kann. 

In  dem  Werke  „De  nervis  opticis  epistola"  (Patav.  1572)  leugnet 
er  die  Existenz  der  Muskeln  der  Gehörknöchelchen 2) ,  respektive  ihre 
muskulöse  Struktur  und  behauptet,  Avas  man  dafür  angesehen,  seien 
Nerven,  die  beim  Durchsägen  des  Schläfebeins  zerrissen  würden.  Seine 
Motivierung  besteht  darin,  daß  die  Röte  der  angeblichen  Muskeln 
beim  Waschen  mit  lauem  Wasser  verschwinde:  „quam  veritatem  cum 
ego  aliquando  in  publicum  cuidam  Anatomico  musculos  auditus  jactanter 
ostendenti  aperuissem,  statim  obmutuit." 

Bald  jedoch  mußte  Varol  selbst  seine  falsche  Ansicht  richtig 
stellen,  indem  er  in  dem  zweiten  Werke  „Anatomia,  s.  de  resolutione 
corporis  humani"  libri  IV,  Francof.  1591,  das  als  Supplement  zu  seiner 
ersten  Arbeit  erschien,  nicht  nur  den  Tensor  tympani,  sondern  auch 


Constanze»  Varolio.  105 


den  Musculus  stapedius3),  letzteren  in  einer  zum  ersten  Male  klaren 
und  sicheren  Beschreibung  anführt4). 

Während  er  in  dem  Buche  ..De  nervis  opticis'*  die  Gehörknöchel- 
chen für  unbeweglich  hält,  sagt  er  von  ihnen  in  der  „Anatomia",  daß 
sie  sehr  beweglich  seien,  daß  das  Gehörorgan  ebenso  wie  das  Auge  eines 
Muskelapparats  bedürfe,  welchen  er  mit  dem  Sphinkter  und  Diktator 
Pupillae  vergleicht.  Erwähnenswert  wäre  noch  die  absonderliche  Be- 
merkung Varols,  daß  die  Tauben  gemeiniglich  stumm  zu  sein  pflegen, 
weil  die  Chorda  tympani  mit  dem  Geschmacksnerven  in  Verbindung  stehe  5). 

Von  minderer  Bedeutung  für  die  Ohranatomie  ist  Archangelo 
Piccoluomini  aus  Ferrara  (geb.  1526),  der  in  seinen  „Anatomicae  prae- 
lectiones  explicantes  miriticam  corporis  humani  fabricam"  (Rom  1586, 
2.  Ausg.  von  Joh.  Fantoni,  mit  einigen  schlechten  Abbildungen  unter 
dem  Titel  „Anatome  integra  revisa",  Verona  1754)  angibt,  daß  der 
Acusticus  von  den  weißen  Markstreifen  auf  dem  Boden  des  vierten 
Ventrikels  entspringe*). 

Dagegen  nehmen  unter  den  italienischen  Anatomen  noch  zwei 
Forscher  einen  hervorragenden  Platz  ein,  die  der  Schule  Falloppios 
entstammen  und  in  mancher  Hinsicht  die  Schöpfungen  ihres  Lehrers 
erweiterten,  obschon  sie,  was  Originalität  anlangt,  in  ihren  Leistungen 
weit  hinter  ihm  zurückblieben.  Es  sind  dies  Fabricius  ab  Aqua- 
pendente  und  der  Holländer  Volcher  Koyter,  welch  letzterer  lange 
in  Italien  lebte  und  in  Bologna  lehrte,  weshalb  auch  er  trotz  seiner 
Nationalität  allgemein  den  italienischen  Anatomen  zugezählt  wird.  Beide 
haben  für  die  Geschichte  der  Gehörsphvsiologie  eine  größere  Bedeutung 
mIs  für  die  Anatomie,  weil  sie  im  Gegensatz  zu  den  vereinzelten  und 
abrupten  Bemerkungen  ihrer  Vorgänger  zuerst  fcine  zusammenfassende 
und  für  ihre  Zeit  befriedigende  Erklärung  des  Höraktes  in  ihren  Werken 
lieferten.  Wir  müssen  daher  bei  der  Darlegung  ihrer  nicht  immer  ori- 
ginellen Forschungen  weiter  ausgreifen,  umsomehr,  als  sie  gleichsam  das 
lÜMiiiie  der  Errungenschaften  ihres  Jahrhunderts  vorführen. 

')  De  nervis  opticis  nonnullisque  aliis  praeter  communem  opinionem  in  human 0 
capite  obseivatis  epistola.     Padua  1572,  f.  4a;  Frankfurt  1591. 
2)  1.  c.  f.  10  a. 
i    \natomia.     lab.   I.  Cap.  ti.  p.  28;  Lib.  III,  Cap.  5. 

4)  Qui  ab  anteriori  sede  natus,  in  articulationem  trianguli  cum  ineude  inseritur. 
Ibid.  p.  28. 

5)  Anatomia.     Lib.  1.  Cap.  7,  p.  31. 


i  Anat.  prael.  1580,  lib.  VI.  —  Haller  fand  fünf  (Eiern,  pbysiol.  IV.),  Serres 
sechs  solcher  Querstreifen  (Anat.  comparee  du  cerveau,  Paris  1827).  Daß  diese  Striae 
acusticae  den  Ursprung  des  Nervus  acusticus  bilden,  leugneten  u.  a.  J.  F.  Meckel, 
I'feffinger  (De  struet.  nervor..  Argent.  1782),  Prochaska  (De  struet.  nervor.  tract. 
anat.,  Vindob.  1779)  etc. 


K)ß  Volcher  Koyter. 


Tolclier  Koyter. 

Volcher  Koyter  (1534  — 1600;  Koiter,  Coiter,  Coeiter),  ein  Schüler 
Falloppios,  ist  eine  der  ehrwürdigsten  Gestalten  in  der  Geschichte  der 
Otologie.  Er  war  der  Sprößling  einer  angesehenen  Familie  zu  Groningen, 
wo  er  1534  geboren  wurde.  Er  begab  sich  frühzeitig  zu  Studienzwecken 
nach  Italien,  wo  er  im  Mutterlande  der  Anatomie  für  seinen  regen  ana- 
tomischen Forschungsdrang  volle  Befriedigung  fand.  In  Padua  war  er 
Falloppios  Prosektor,  in  Bologna  Schüler  Aranzios  und  Aldrovandis, 
in  Rom  Freund  Eustachios.  Nach  seiner  Rückkehr  aus  Italien  ver- 
brachte er  einige  Jahre  in  Montpellier,  wo  er  Rondelets  Freundschaft 
gewann,  war  dann  Leibarzt  des  Herzogs  Ludwig  von  Bayern  zu  Amberg 
in  der  Pfalz,  endlich  Stadtarzt  in  Nürnberg,  wo  er  1600  plötzlich  starb, 
als  er  sich  eben  anschickte,  in  das  zur  Unterstützung  Condes  bestimmte 
Heer  des  Pfalzgrafen  Johann  Kasimir  einzutreten. 

Koyter  verfolgte  die  von  Falloppio  eröffnete  entwicklungs- 
geschichtliche Richtung  durch  sorgfältige  Beschreibung  der  Osteologie 
des  Fötus,  und  machte  sich  besonders  durch  seine  Beiträge  zur  patho- 
logischen Anatomie  und  auf  zahlreiche  Vivisektionen  gestützte  Beob- 
achtungen um  die  Lehre  von  den  Verrichtungen  des  Herzens  und 
Gehirns  verdient.  Seine  Werke  sind:  „De  ossibus  et  cartilaginibus 
corporis  humani  tabulae",  Bonon.  1566  f.;  „Externarum  et  internarum 
prmcipalium  corporis  humani  partium  tabulae  atque  anatomicae  exer- 
citationes  etc.",  Norimbergae  1572  f.  Neuer  Titel:  1573  f.  (mit  den 
ältesten  Abbildungen  der  Knochen  des  Fötus).  1653.  Letzteres  enthält 
den  für  die  Otologie  so  wertvollen  Traktat:  „De  auditus  i n Stru- 
men 1 6." 

Koyters  Werk  „De  auditus  instrumenta'",  das  auch  gesondert 
erschien,  ist  insbesondere  deshalb  eingehender  Besprechung  wert,  weil 
es  die  erste  Monographie  über  das  Gehörorgan  enthält  und  dadurch 
auch  äußerlich  der  Otologie  zum  ersten  Male  den  Rang  eines  Spezial- 
faches  ein  räumt. 

Das  Buch  zerfällt  in  siebzehn  Kapitel,  in  denen  die  einzelnen  Ab- 
schnitte des  Gehörorgans  sowohl  in  anatomischer,  als  auch  in  physio- 
logischer Hinsicht  gesondert  behandelt  werden.  Von  großem  Umfang 
ist  insbesondere  die  teleologische  Erklärung  des  Nutzens  der  ver- 
schiedenen Teile,  wobei  der  Verfasser,  entsprechend  der  Denkweise  seiner 
Zeit,  noch  immer  in  Galens  „De  usu  partium"  ein  nachahmenswertes 
Muster  sieht.  Immerhin  befleißigt  sich  Koyter  auch  bei  dieser  teleo- 
logischen Erklärung  einer  gewissen  Selbständigkeit. 

In  den  ersten  Kapiteln  wird  über  den  Schall  und  die  Gehörs- 
wahrnehmung gehandelt,    das    3.  Kapitel   bespricht   die  Ohrmuschel, 


Tafel  V 


ULUUJlltUJIlJ'l!itt^f!J!'-!».llLi-i!L!.  LLIJL.JIJTIIM^'.1  jj?!y?II!IJiTWjJ!  jüllllülj  »H.1  M.  ?y,*<  "** » u  ■mju.i^u  uitujji|  jMWIW||lj 


C^ristusfbSnjtuLicui  Lkirutdüs  eb&tna&rituaLS 
OxccLUTttijsi  musfEhusiau  ffUmiipL  JVoriwu 
OrdCinaiitisÄnnoChüfU.  }S7$.fätai  .fj.0füt&j6to. 


VOLCHER  KOYTER 


Volcher  Koyter.  107 


das  4.  die  Höhlen  des  Warzenfortsatzes,  das  5.  den  äußeren 
Gehörgang.  Dann  folgt  die  Besprechung  der  Trommelhöhle  mit 
ihren  Teilen,  sowie  des  „Aer  implan tatus"  im  ö\,  7.,  8.,  9.,  10.,  11.  und 
12.  Kapitel.  Den  Inhalt  des  13.  Kapitels  bildet  Anatomie  und  Physio- 
logie der  Tuba  Eustachii,  während  die  folgenden  drei  Abschnitte  sich 
mit  dem  inneren  Ohr  beschäftigen.  Das  letzte  Kapitel  (17.)  ist  der 
Beschreibung  des  Acusticus  gewidmet. 

Für  die  Anatomie  bringt  das  Werk  kaum  etwas  Neues,  ja  im 
ganzen  zeigt  es  fast  einen  Rückschritt  gegenüber  Falloppio,  für  dessen 
Anschauungen  der  Verfasser  sich  nicht  immer  mit  Bestimmtheit  aus- 
spricht. Das  Buch  erscheint  daher  mehr  als  ein  Kompendium,  welches 
die  Meinungen  der  wichtigsten  Autoren  berücksichtigt,  ohne  stets  eine 
selbständige  Entscheidung  über  Wert  oder  Unwert  des  Geleisteten  zu 
fällen.  Koyter  läßt  uns  nur  erkennen,  daß  die  otologischen  Kenntnisse 
seines  Zeitalters  sich  in  den  wesentlichen  Hauptzügen  auf  das  äußere 
und  mittlere  Ohr  erstreckten,  wogegen  für  die  genauere  Erforschung 
des  Labyrinths  erst  ein  schwacher  Ansatz  vorhanden  war.  Eine  über- 
sichtliche Zusammenstellung  des  damaligen  Wissens  erhalten  wir  in  den 
„Tabulae  ossium  humani  corporis"  p.  44  (enthalten  in  dem  Werke  „Extern, 
et  int.  part.  hum.  corp.  tabulae"),  wo  Koyter  die  Bestandteile  des  Ge- 
hörorgans gruppiert. 

Koyter  unterschied  die  einzelnen  Teile  der  Ohrmuschel,  kannte 
den  schiefen  Verlauf  des  Gehörgangs,  die  Insertion,  Stellung  und 
grobe  Struktur  des  Trommelfells,  die  Kommunikation  der  Zellen  des 
Warzenfortsatzes  mit  der  Trommelhöhle,  er  beschrieb  die  meisten 
wichtigeren  Teile  der  Trommelhöhle  und  der  drei  Gehörknöchelchen, 
beide  Labyrinthfenster,  die  Chorda,  das  Promontorium1),  den 
Hammerinu^kel,  den  Aquaeductus  (canalis)  Fa  1 1"  p  p  i  i  und  gah  eine 
gute  Beschreibung  der  Tuba  Eustachii.  Mangelhaft  dagegen  ist  das 
Wenige,  was  Koyter  über  die  drei  Bogengänge,  den  Vorhof2)  und  die 
Schnecke  berichtet,  ebenso  seine  Darstellung  des  Nervenverlaufs,  bei  der 
er  die  Ansicht  des  Falloppio,  daß  der  Acusticus  einen  eigenen  Nerven 
bilde,   schüchtern   hervorhebt    i. 

Ausführlich,  und  wenn  auch  nicht  immer  zutreffend,  sind  die  Er- 
klärungen, die  Koyter  über  den  Nutzen  der  einzelnen  Bestandteile  des 
Ohres  gibt. 

Die  Ohrmuschel  sei  nicht  knöchern,  weil  sie  durch  Insulte  leicht 
frakturiert  werden  könne,  anderseits  nicht  fleischig,  weil  sie  dann  zur 
Schallaufnahme  nicht  geeignet  wäre.  Die  Formation  des  äußeren  Ohres 
diene  durch  ihre  gewundenen  Erhebungen  und  Yert  iet'ungen  am  besten 
zur  Aufnahme,  Reflexion  und  Verstärkung  des  Schalles.  Der  Einschnitt 
zwischen  Tragus    und  Antitragus    soll  flüssigen   Stollen ,    wie  /..  B.  Eiter 


lQg  Volcher  Koyter. 


oder  anderen  im  Inneren  des  Ohres  angesammelten  Flüssigkeiten,  einen 
günstigen  Abfluß  gewähren. 

Die  Enge  des  äußeren  Gehörgangs  habe  den  Nutzen,  daß  der 
Schall  mehr  kondensiert  und  zusammengehalten,  vor  Zerstreuung  be- 
wahrt bleibe,  wogegen  die  Schrägheit  seines  Verlaufs  wiederum  die  Ein- 
wirkung eines  zu  heftigen  Schalles  abschwäche,  das  Trommelfell  vor  den 
Schädlichkeiten  zu  kalter  oder  zu  warmer  Luft  schützen  könne  und 
außerdem  das  Eindringen  fremder  Körper  oder  kleiner  Tiere  erschwere 
oder  gänzlich  unmöglich  mache.  Der  Hauptnutzen  des  Trommelfells, 
das  er  vom  Periost  ableitet  und  dessen  Ränder  er  in  der  seichten 
Furche  des  Annulus  tympanicus  inserieren  läßt,  bestehe  darin,  daß  es  eine 
schützende  Scheidewand  für  die  hinter  ihr  gelegenen  zarten  Teile  des 
Mittelohrs  gegen  das  Eindringen  von  Staub,  Sand,  Wasser,  kleiner 
Tiere  u.  s.  wr.  bilde.  Ueberdies  habe  das  Trommelfell  den  Zweck,  die 
Vermengung  der  äußeren  zu  kalten,  zu  warmen  und  unreinen  Luft  mit 
dem  reinen  „Aer  implantatus"  zu  verhindern,  anderseits  die  Fortleitung 
des  Schalles  zu  erleichtern.  Das  Trommelfell  sei  fest  und  doch  dünn; 
fest,  zur  Abwehr  der  Schädlichkeiten,  dünn,  um  zur  Schalleitung  ge- 
eignet zu  sein. 

Die  Trommelhöhlen  wand  sei  knöchern,  und  zwar  härter  als  die 
übrigen  Knochen,  um  besser  der  Resonanz  dienen  zu  können.  Durch 
ihre  Lage  zwischen  Proc.  mamillaris  und  dem  Gelenk  des  Unterkiefers 
erkläre  sich  die  Steigerung  der  Ohrenschmerzen  bei  Bewegungen  der 
Kiefer.  Die  Trommelhöhle  sei  deshalb  größer  als  die  anderen  Höhlen, 
weil  sie  den  größten  Teil  des  „Aer  implantatus"  enthalte,  der  ihr  von 
den  Zellen  des  Warzenfortsatzes  zugeführt  werde. 

Die  Gehörknöchelchen,  die  nach  Koyter  bei  Neugeborenen 
dieselbe  Größe  wie  bei  Envachsenen  haben,  stützen  das  Trommelfell, 
damit  es  bei  großen  Schallintensitäten  nicht  zerreiße,  und  dienen  als  feste 
Körper  sehr  gut  der  Fortpflanzung  des  Schalles,  was  Koyter  durch  ein 
interessantes  physiologisches  Experiment  beweist,  jedoch  sei  der  eigent- 
liche Nutzen  noch  nicht  recht  klar1). 

Die  beiden  Fenestrae  leiten  den  mitgeteilten  Schall  in  die  folgenden 
Höhlen.  Ausführlich  verbreitet  sich  Koyter  über  den  Zweck  der  Ohr- 
trompete. Er  besteht  teils  in  der  Erneuerung  der  in  der  Trommelhöhle 
enthaltenen  Luft,  teils  in  der  Ableitung  von  Flüssigkeiten,  welche  sich 
in  der  Trommelhöhle  abgesetzt  haben5),  teils  darin,  die  von  einem  sehr 
heftigen  Schall  im  Cav.  tymp.  komprimierte  Luft  entweichen  zu  lassen, 
wodurch  eine  Zerreißung  des  Trommelfells  hintangehalten  werde.  Endlich 
habe  die  Tube  den  Nutzen,  daß  bei  krankhafter  Beschaffenheit  der  Mem- 
brana  tympani  der  Schall  vom  Mund  aus  in  das  Mittelohr  geleitet  werden 
könne,  wodurch  das  Hören  ermöglicht  wird;    daher  käme  es  auch,    daß 


Volcher  Koyter.  109 


Schwerhörige  bei  offenem  Munde  besser  hören  und  daß  man  die  Schwin- 
gungen eines  Musikinstruments  bei  verschlossenen  Gehörgängen  deutlieb 
empfinde,  wenn  man  ein  mit  dem  Instrumente  in  Berührung  be- 
findliches Stäbchen  zwischen  die  Zähne  stecke.  Hier  begeht 
Koyter  den  Irrtum,  die  Leitung  durch  die  Schädelknochen  mit  der  Luft- 
leitung durch  die  Tube  zu  verwechseln.  Die  Bogengänge  und  die 
Schnecke,  bei  denen  die  Kleinheit  des  Raumes  durch  die  Windungen 
ersetzt  werde,  verstärken  durch  ihre  Gestalt,  ähnlich  wie  manche  Musik- 
instrumente, den  Schall6).  Im  Gegensatz  zu  Eustachio  und  Fabricio 
mißt  er  den  inneren  Ohrmuskeln  keine  Bedeutung  für  den  Hörakt  bei 
und  bestreitet  namentlich  ihre  willkürliche  Funktion7). 

Die  Schallw  ahrnehmung  geht  nach  K  oyter,  dessen  An- 
schauungen von  den  meisten  seiner  Zeitgenossen  als  maßgebend  an- 
gesehen wurden,  folgendermaßen  vor  sich.  Vom  äußeren  Ohr  gelangt 
der  Schall  in  den  Gehörgang,  wird  hier  verstärkt  und  durch  das 
Trommelfell  und  die  Kette  der  Gehörknöchelchen  (die  durch  feste 
Artikulation  gleichsam  ein  Kontinuum  bilden,  sowie  durch  ihre  Härte 
zur  Leitung  am  meisten  geeignet  sind)  zu  dem  Vorhof-  und  Schnecken- 
fenster fortgepflanzt  und  von  hier  aus  den  knöchernen  Partien  und  dem 
Hörnerv  mitgeteilt 8).  Durch  die  Erschütterung  des  Hammers  wird 
auch  die  Chorda  tympani9)  erschüttert  und  dadurch  die  innere  Luft  der 
Paukenhöhle  in  Schwingung  versetzt.  Diese  innere  Luft,  die  nach 
Koyter  der  wahre  Träger  und  Leiter  des  Schalles  ist10),  der  „Aer  im- 
plantatus",  an  dessen  Dasein  man  bis  Cotugno  glaubte,  muß  sich  leidend 
und  ruhig  verhalten,  um  selbst  für  die  leisesten  Stöße  der  äußeren  Luft 
empfänglich  zu  sein.  Der  Name  rühre  davon  her,  daß  die  Alten,  die  sich 
den  Ursprung  des  „aer"  nicht  erklären  konnten,  annahmen,  die  innere 
Luft  sei  von  Anfang  her  vom  Schöpfer  eingepflanzt.  Koyter  leitet  sie 
von  der  äußeren  Luft  ab,  die  in  den  Zellen  des  Warzenfortsatzes  einen 
Erwärmungs-  und  Reinigungsprozeß  durchmache11). 

Im  Labyrinth  und  in  der  spiralförmig  gewundenen  Schnecke,  welche 
nicht  blind  enden  könne,  sondern  einen  Ausgang  haben  müsse,  wird  der 
Schall  auf  ähnliche  Weise  wie  in  musikalischen  Instrumenten  verstärkt 
und  von  den  Verzweigungen  des  Hörnerven  aufgenommen,  der  sie  zum 
Perzeptionsorgan  fortleitet. 

Prüft  man  den  Inhalt  dieses  Abschnittes  genauer,  so  muss  rühmend 
anerkannt  werden,  daß  Koyter  es  verstanden  hat,  auf  Grund  der  spär- 
lichen Kenntnisse  seiner  Zeit  eine  lichtvolle  Darstellung  der  damals  über- 
haupt möglichen  Gehörsphysiologie  zu  gehen,  die,  abgesehen  von  manchen 
Irrtümern,  so  manches  enthält,  was  auch  durch  spätere  Forscher  kaum 
wesentlich  geändert  werden  konnte.  Zum  Schlüsse  dürren  wir  nicht  un- 
erwähnt lassen,  daß   Koyter  das   Gehörorgan   verschiedener  Tiere,   z.  B. 


1  1 1 1  Volcher  Koyter. 


der  Vöge\  l2),  in  seinen  Beobacbtungskreis  zog,  und  daß  er  auch  dasselbe  in 
verschiedenen  EntwicHungsepochen  des  Menschen  eingehend  studierte13). 
So  darf  sein  Werk  für  alle  Zeit  als  ein  Muster  bezeichnet  werden,  das 
einer  reinen  Begeisterung  für  den  komplizierten  Bau  jenes  Organs  ent- 
sprang,  welches  nach  Koyter  den  erhabensten  Meisterwerken  der  Natur 
zugezählt  werden  muß.     „Adde  quod  in  auditus  instrumento  multa  cognitu 

ii ainus  jucunda  et  utilia  quam  difficilia  admirationeque  obstupendum 

nobis  per  obscuram  quandam  nebulam  vix  notum  D.  0.  M.  artificium 
quam  dignissima  sint." 

1)  „De  auditus  instrumento",  Cap.  12-  Tuberculum  inter  utramque  fenestram 
positum  superiori  sedi  parvae  conchae,  quae  in  frenorum  ornamenta  adhibetur. 

2)  1.  c.  Tertius  meatus  communis  est  portae  anteriori  et  posteriori  foramini, 
vel  utraeque  fenestrae ,  ubi  videlicet  termini  fenestrarum  congrediuntur  et  unde 
labyrinthus  et  Cochlea  prodeunt. 

3)  1.  c.  Cap.  17.  Equidem  multoties  ductum  huius  nervi  secutus  et  eodem 
modo  sese  habere  deprehendi. 

4)  Videmus  solide  corpora  aptissima  esse  ad  soni  communicationem ,  vel  de- 
lationem ,  cujus  rei  experientia  fieri  potest.  Invenias  tibi  trabem  vel  ferrum ,  quam 
potes  longissimum ,  colloces  aliquem  ab  altero  fine ,  tu  vero  stes  ab  altero ,  ferias 
digitorum  condylo  partem  tu  am  ita  leniter,  ut  ictus  vix  a  te  percipiatur,  alter  vero 
ex  altero  fine  trabis  collocatus,  si  aurem  proprius  ad  trabem  admoverit,  quamvis 
longissime  a  te  dissitus  exquisitius  tarnen  ictus  percipiet,  atque  sed  aliquo  post 
tempore,  siquidem  per  lignum  sonus  non  ita  cito,  atque  per  aerem  permeare  potest: 
idem  attestantur  Musica  instrumenta.  Attribus  itaque  iis  (ossiculis).  ut  sonum  per 
myringae  commotionem  iis  participatum ,  foraminibus ,  per  quae  sonus  ad  nervum 
auditorium  deferetur  et  ossibus  vicinis  communicent  .  .  .  sed  verus  usus  ossiculorum 
nos  latet.    1.  c.  Cap.  9. 

")  1.  c.  Cap.  13. 

e)  1.  c.  Cap.  14. 

7)  1.  c.  Cap.  10. 

A.er  externus  soni  qualitate  affectus  in  membranam  myringam  incurrit, 
mviiiix  pulsata  ossicula  membrana  colligata  commovet,  ossicula  porro  nervum  quen- 
dam  per  transversura  membranae  expansum  percutiunt,  ex  illa  nervi  sive  funiculi 
percussione  ipse  nervus  in  membranam  percutitur,  unde  aer  inclusus  alterationem 
et  sonos  excipit,  soni  vero  per  aurium  tortuosos  et  flexuosos  anfractus  eitra  ullam 
turbam  fertur  pervaditque  ad  nervum  auditorium,  hoc  demum  exploratore  et  ministro 
strepitua  imago  ad  sentiendi  principium  transmittitur.    1.  c.  Cap.  1. 

9)  Tribuitur  itaque  cbordae  hie  usus,  ut  aerem  percutiat,  ex  exceptione  verbe- 
rationis  faetae  a  tribus  ossiculis.    1.  c.  Cap.  11. 

°)  A.er  hie  qualiscumque  sit,  est  primum  et  praeeipuum  audiendi  instrumentum 
^cilicet  animae.    1.  c.  Cap.  7. 

")  I.  c.  Cup.  8. 

1  )  Vide  „Observationes  anatom." :  De  anatome  avium.  Extern,  et  intern,  part. 
h.  c.  Norimberg  1572. 

i  Meatus  auditorius,  sive  canalis  externus  non  unde  quaque  in  pueris  osseus 
est,  sed  quasi  omnino  cartilaginosus  et  ad  septimum  usque  mensem  post  pro- 
creationem  sejungi  potest.    1.  c.  p.  5. 


Fabricius  ab  Aquapendente.  111 

Fabricius  ab  Aquapendente 

(1537—1619). 

Girolamo  Fabrizio,  einer  der  hervorragendsten  Schüler  Falloppios, 
wurde  1537  in  dem  zum  Kirchenstaate  gehörigen  Städtchen  Aquapendente 
geboren.  Er  genoß  eine  sehr  sorgfältige  Erziehung,  studierte  anfangs 
Philologie  und  Philosophie,  widmete  sich  aber  später  in  Padua  unter 
Falloppio,  von  diesem  vielfach  gefördert,  der  Anatomie  und  Chirurgie. 
Schon  1562  wurde  er  in  Anbetracht  seiner  eminenten  wissenschaftlichen 
Leistungen  der  Nachfolger  seines  Lehrers.  Die  Universität  Padua  ehrte 
seine  Verdienste  durch  den  Ehrentitel:  „Professor  supraordinarius", 
der  venezianische  Senat  durch  seine  Erhebung  in  den  Adelstand.  Er 
genoß  den  unbestrittenen  Ruhm  eines  großen  Anatomen  und  gefeierten 
Lehrers  und  sein  Ruf  als  Arzt  und  Chirurg  war  so  bedeutend ,  daß  die 
Vornehmsten  des  Landes  ihn  zu  Rate  zogen.  Er  nahm  nur  von  den 
Reichsten  Honorare  an.  Hochadelige  Herren  belohnten  seine  Dienste 
mit  wertvollen  Kunstgegenständen,  die  er  in  seiner  Villa  bei  Padua  zu 
einem  Museum  vereinigte,  das  die  Aufschrift:  „Lucri  Neglecti  Lucrum " 
trug.  Sein  Andenken  wurde  durch  eine  Bildsäule  verewigt.  Fabrizio 
war  der  erste  der  Paduaner  Professoren,  die  gleichzeitig  das  anatomische 
und  chirurgische  Lehramt  ausübten.  Das  von  ihm  auf  eigene  Kosten 
erbaute  anatomische  Theater  gibt  Zeugnis  für  die  Begeisterung,  mit  der 
er  die  anatomische  Wissenschaft  zu  fördern  bestrebt  war. 

Von  seinen  Werken  kommen  für  die  Ohrenheilkunde  in  Betracht: 
„De  visione,  voce  et  auditu".  Venet.  1600.  f.  Patav.  1600.  f.*);  .,De 
formato  foetu".  Venet.  1600.  Die  beste  Gesamtausgabe  ist  die  von 
Albinus  (Leid.   1737). 

Einen  Fortschritt  seinen  Vorgängern  gegenüber  bedeutet  seine 
Schilderung  des  äußeren  und  mittleren  Ohres,  die  er  mit  wenig  ge- 
lungenen Abbildungen  illustriert. 

Vermengt  mit  zahlreichen  in  seinem  Zeitalter  beliebten  philologi- 
schen Erklärungen,  beschreibt  er  die  Ohrmuschel  mit  allen  ihren  Er- 
habenheiten und  Vertiefungen  recht  gut,  den  äußeren  Gehörgang  mit 
Rücksicht  auf  seinen  Verlauf,  das  Trommelfell  und  den  Annulus  tym- 
panicus.  In  der  Trommelhöhle,  welche  er  als  „concha"  bezeichnet, 
fand  er  manche  Einzelheiten,  die  seinen  Vorgängern  unbekannt  ge- 
blieben sind. 

Eingehend  werden  dieGehörknöchelchen  geschildert.  Bemerkens- 


*)  Der  auf  das  Gehörorgan  bezügliche  Abschnitt  besteht  aus  folgenden  Teilen 
„De  aure,  auditus  organo,  de  dissectione  et  hiatoria"   (P.  I.  Taf.  1).   —    „De  actione 
auris,   h.  e.  de  auditu"  (P.  IT).  —    „De  uidlitatibus,    tum  totiua  auris,    tum  partium 
illius"  (P.  III). 


112  Fabricius  ab  Aquapendente. 


wert  ist,  daß  sich  unter  den  sonst  formlosen  und  unrichtigen  Abbildungen 
der  Gehörknöchelchen  (S.  255)  eine  Reproduktion  des  Hammers  mit 
seinem  langen  Fortsatze  befindet,  den  Caecilius  Folius  später  als  neue 
Entdeckung  beschreibt. 

Fabrizio  teilte  den  Irrtum  mancher  zeitgenössischer  Anatomen,  daß 
die  Knöchelchen  kein  Periost  (periostio  nequaquam  operta)  besäßen  und 
hielt  sie  für  hohl  und  mit  Mark  gefüllt.  Er  ging  näher  auf  ihre  ge- 
lenkige Verbindung  ein,  indem  er  die  Artikulationsflächen  beschreibt  und 
die  Verbindung  von  Hammer  und  Amboß  als  Ginglymus  auffaßt  (ea  scilicet 
de  articulationis  specie,  quae  YlTT^°lJl0sl^)S  appellatur.  1.  c.  P.  I,  Cap.  5, 
p.  251).  Die  Knöchelchen  sind  nach  ihm  beim  Fötus  ebenso  groß  wie 
beim  Erwachsenen  (dura  perfeetaque  ossa  etiam  in  nascentibus  infantibus). 
Die  Chorda  faßt  er  als  corpus  sui  generis,  nicht  als  Nerv  auf.  Was  die 
Muskeln  des  inneren  Ohres  anbelangt,  so  ist  ihm  der  innere  Hammer- 
muskel gut  bekannt;  er  nennt  ihn  „Musculus  malleum  ad  ineudem 
movens".     Den  Steigbügelmuskel   hingegen   hält   er  für  ein  Ligament1). 

Ferner  beschreibt  er  einen  von  ihm  im  Jahr  1599  entdeckten  Muskel, 
der  angeblich  von  der  Mitte  der  Gehörgangswand  entspringt  und  zu 
jener  Stelle  des  Trommelfells  hinzieht,  wo  der  Hammer  befestigt  ist. 
Dieser  Muskel  soll  nach  Fabrizio  das  Trommelfell  mit  dem  Hammer  nach 
außen  ziehen,  wäre  somit  ein  Antagonist  des  inneren  Hammermuskels 
(Muse.  Tens.  tymp.)  Die  Abbildung  dieses  Muskels  findet  sich  auf  S.  254 
(Fig.  17).  Fabrizio  konnte  jedoch  diesen  Muskel  nicht  bei  allen  von 
ihm  untersuchten  Gehörorganen  nachweisen.  Eine  Bestätigung  dieses 
Befundes  finden  wir  bei  den  späteren  Autoren  nicht,  mit  Ausnahme  des 
Casserio,  der  diese  fragwürdige  Entdeckung  im  Jahre  1593  gemacht 
haben  will.  Die  betreffende  Stelle  bei  Fabrizio  lautet:  „Praeterea  hoc 
anno  1599  Musculum  invenire  visus  sum  in  meatu  auditorio,  qui  JCÖpo? 
axoDOTixös  dicitur,  qui  extra  membranam  est,  exiguus,  carneus,  non  expers 
tendinis,  qui  a  medietate  ipsius  duetus  seu  meatus  reeta  fertur,  usquequo 
in  membranam  exterius  ad  ejus  ferme  centrum  inseratur,  ea  scilicet  parte, 
qua  malleus  intus  membranae  annectitur  quam  exterius  una  cum  malleo 
fcrahit"  (1.  c.  P.  I,  Cap.  6,  p.  251).  Die  Funktion  dieser  beiden  Muskeln 
des  Trommelfells  besteht  nach  seiner  Ansicht  darin,  die  Membrana 
fcympani  \«m-  Zerreißung  zu  schützen  (1.  c.  P.  III,  Cap.  6,  p.  263.  De 
Musculi  et  articulationis  Mallei  utilitatibus).  Von  der  Tube,  die  er  „aquae- 
duetus"  nennt,  kennt  er  das  tympanale  und  pharyngeale  Ostium;  auch 
hat  er  sie  des  öfteren  vom  äußeren  Gehörgange  aus  mit  einer  Schweins- 
borste oder  einem  silbernen  Drahte  sondiert.  Eine  ausführliche  Be- 
schreibung dieses    Kanals  aber  vermissen  wir  (1.  c.   P.  I,  Cap.  9,  p.  252). 

Seine  bildliche  Darstellung  des  Promontoriums  entspricht  durch- 
wegs den  jetzt  bekannten  anatomischen  Verhältnissen  der  inneren  Trom- 


Tafel  VI 


Marria  Ia.br  icio  aactat  fk  NotnilM":  Roma 
Peiiitula  Fabripium ;  tu  cpuxjue  ^'i^nb  Aqt 
>biV  Fabriciq  (reiius:  mclita  Roma  ►  cU^ilici; 
Peiulentem  iiit  cojfitfä  NobilkaVit   Aquaiu . 


'iiililiilliill!iliillillil!lllllllulilUlllullly||llllü 


FABRICIUS  AB  AQUAPENDENTE 


Fabrizio  ab  Aquapendente.  H3 


rnelhöhlenwand ,  doch  ist  die  Kenntnis  und  Bezeichnung  der  beiden 
Labyrinthfenster  mangelhaft. 

Unter  allen  Teilen  des  Gehörorgans  ist  das  Labyrinth  am  schwäch- 
sten beschrieben.  Dies  geht  schon  daraus  hervor,  daß  er  nicht  sicher 
weiß,  daß  das  Vorhoffenster  in  das  Vestibulum  führt.  Er  beruft  sich 
bloß  auf  die  Autorität  seines  Lehrers,  dem  er  in  „rebus  abstrusis",  wie 
er  sich  ausdrückt,  großes  Vertrauen  schenkt2).  Der  Vorhof  selbst  ist 
ihm  fast  unbekannt,  die  Bogengänge  läßt  er  aus  einer  nicht  zu 
zählenden  Menge  von  Kanälen  bestehen  und  hält  es  für  vergebliche 
Mühe,  sie  darstellen  zu  wollen^).  Auch  die  Schnecke,  die  er  oft  seinen 
Schülern  demonstrierte,  kannte  er  höchst  oberflächlich4).  Gleich  Vesal 
steht  er  auf  dem  Standpunkt,  daß  der  N.  acusticus  in  der  Trommelhöhle 
endet,  hält  es  jedoch  nicht  für  ausgeschlossen,  daß  manche  kleinere 
Zweige    des  Nerven  in  anderen  Höhlungen  des  Ohres  sich  ausbreiten  5). 

Von  größerem  Werte  ist  der  physiologische  Teil  seiner  Ab- 
handlung*), namentlich  soweit  er  sich  auf  den  Nutzen  der  einzelnen 
Teile  des  Ohres  bezieht,  wo  allerdings  meist  Bekanntes  aus  Hippo- 
krates,  Aristoteles  und  Galen  vorgebracht  wird.  Eine  Unmasse  von 
Fragen,  z.  B.  warum  die  Ohren  am  Kopfe  stehen,  weshalb  vorne  und 
nicht  hinten,  weshalb  sie  oben  breiter  sind  als  unten,  weshalb  sie  un- 
beweglich sind  u.  s.  w.  wird  ebenso  wie  der  Nutzen  jeder  Erhabenheit 
und  Vertiefung  der  Ohrmuschel  mit  peinlichster  Weitläufigkeit  erledigt. 

Bevor  wir  die  Anschauungen  Fabrizios  vom  Nutzen  der  übrigen  Teile 
des  Gehörorgans  besprechen,  wollen  wir  kurz  auf  seine  Hörtheorie  eingehen. 

Im  wesentlichen  schließt  er  sich  hierin  Koyter  an.  Der  Träger 
der  Schall  Wahrnehmung  ist  wieder  der  „aer  implantatus",  welcher  die 
angeblich  zahllosen  Höhlungen  des  Gehörorgans  nach  dem  Gesetze  „natura 
horret  vaccuum"  ausfüllt6);  der  Gehörnerv  spielt  nach  Fabrizio  nur 
eine  sekundäre  Rolle,  insofern  er,  da  nur  Festes  oder  Luftförmiges  als 
Schallleiter  diene,  die  Lebensluft,  den  „Spiritus  animalis"  ausströmen  lasse. 
Diese  vermische  sich  mit  dem  aer  implantatus  und  teile  ihm  die  wesent- 
lichen Eigenschaften  mit,  worauf  sie  als  „species  sensibilis"  wieder  zur 
Seele  zurückkehre7).  Der  Schall  selbst  ist  nach  seiner  Meinung  nichts 
anderes  als  eine  „evaporatio",  welche  die  Höhlen  des  Ohres  durchdringe. 
Da  nach  Fabrizios  Theorie  (wie  bei  Koyter)  das  Trommelfell  die  äußere, 
unreine,  unruhige,  kalte  Luft  vom  „aer"  strenge  trennt  und  abschließt, 
so  erwächst  ihm  bei  Erklärung  der  Fortpflanzung  des  Schalles  eine 
Schwierigkeit8),  die  er  dadurch  beheben  will,  daß  er  den  Schall  als 
solchen  vom  Trommelfell  aufgenommen  und  dann  in  das  Tympanum 
übertragen    werden    läßt,    ohne    daß    äußere    Luft    eindringen    könnte"). 


*)  In  P.  II  u.  III. 

Politzer.  Geschichte  der  Ohrenheilkunde.    I. 


1 1  \  Fabrizio  ab  Aquapendente. 


Würde  dies  der  Fall  sein,  so  müßte  die  Luft  dem  Gehörnerv  und  dem 
Gehirne  schädlich  werden  und,  da  sie  durch  ihre  heftige  Bewegung  den 
„aür  implantatus"  und  damit  den  Lebensgeist  verdrängen  würde,  wäre 
Taubheit  die  nächste  Folge. 

Im  Lichte  dieser  Theorie  betrachtet  Fabrizio  das  mittlere  und  innere 
Ohr.  Weiche  Gewebe,  sagt  er,  nehmen  an  seinem  Aufbau  deshalb  nicht 
teil,  weil  der  Schall  nur  durch  harte  Körper  geleitet  wird.  Das  Trommel- 
fell ist  sehr  dünn,  um  zur  Schallleitung ,  fest,  um  zur  Trennung  der 
äußeren  und  inneren  Luft  geeignet  zu  sein,  trocken  zur  Schallaufnahme 
und  konkav,  um  den  anprallenden  Schall,  der  wie  ein  Wasserwirbel 
sresen  den  Umbo  schlage,  zu  konzentrieren  und  zu  verstärken. 

Bei  Erörterung  des  Nutzens  der  Gehörknöchelchen  erwähnt  er  ihre 
Härte  und  Glätte10)  als  günstig  und  bemerkt,  daß  sie  angeheftet  und 
schwebend  aufgehängt  seien  (durch  den  Hammer  am  Trommelfell),  damit 
der  Schall  ähnlich  wie  auf  eine  schwingende  Glocke  am  besten  über- 
trafen werden  könne.  Hohl  seien  die  Gehörknöchelchen  deshalb  nur, 
um  Mark  zur  Ernährung  enthalten  zu  können,  anderseits  behindern  sie 
Verletzungen  des  Trommelfells,  die  ihre  Schwere  begünstigen  würde. 
Auch  die  Mehrheit  der  Gehörknöchelchen  und  die  Aktion  des  äußeren 
und  inneren  Hammermuskels  verhindere  dies  letztere. 

Das  eigentliche  Aufnahmsorgan  sei  die  Trommelhöhle,  wo  der 
Schall,  wenn  er  schwach  ist,  aufhöre,  während  er  sich  sonst  in  den 
inneren  Höhlen  verliere.  Die  Löcher  des  inneren  Ohres  haben  den 
überschüssigen  Schall  durchzulassen,  die  großen  den  tiefen,  die  kleinen 
den  hohen  Ton.  Die  Höhlen  des  Labyrinths  und  der  Schnecke,  die 
ihrerseits  in  ihrer  Gestalt  dem  Schall  akkommodiert  sein  sollen,  haben 
keine  andere  Bestimmung  als  die,  den  überschüssigen  Schall  aufzunehmen, 
damit  Reflexion  und  Echo  vermieden  werde. 

In  der  Frage  über  die  willkürliche  Bewegung  der  inneren  Ohr- 
muskeln nimmt  Fabrizio  einen  bejahenden  Standpunkt  ein,  indem  er  sich 
auf  eigene  Erfahrung  stützt  und  meint,  man  könne  diese  Bewegung, 
welche  synergistisch  mit  den  Muskeln  der  anderen  Seite  verlaufe,  wahr- 
nehmen11). Jedoch  diente  sie  weniger  zum  Hören  selbst,  als  vielmehr 
zur  Hinwegschaffung  der  (verdorbenen)  Luft. 

Der  Nutzen  der  Ohrtrompete,  deren  Entdecker  er  merkwürdiger- 
weise nicht  nennt,  ist  nach  Fabrizios  Darlegung  ein  vierfacher.  Sie 
dient  erstens  zur  Reinigung 12)  und  Trockenhaltung  des  Gehörorgans, 
zweitens  zur  Zuleitung  neuer  Luft  und  Ergänzung  der  „eingepflanzten", 
drittens  zur  Abschwächung  starken  Schalles,  der  eine  Trommelfellruptur 
bedingen  könnte,  endlich  damit  Personen,  deren  Trommelfell  verletzt  ist, 
auf  dem  Wege  der  Tuba,  namentlich  bei  weitgeöffnetem  Munde,  hören 
könnten. 


Fabrizio  ab  Aquapendente.  H5 


Auch  die  Entwicklungsgeschichte  des  Ohres  hat  Fabrizio  in  den 
Kreis  seiner  Beobachtungen  gezogen.  Es  ist  ihm  bekannt,  daß  die  Ge- 
hörknöchelchen im  Fötus  vorhanden,  beim  Neugeborenen  fast. so  groß 
wie  beim  Erwachsenen  sind,  und  daß  die  Trommelhöhle  beim  Fötus 
mit  Schleim  erfüllt  ist.  Hingegen  dürfte  er  noch  nicht,  wie  be- 
hauptet wurde,  die  Existenz  der  noch  nach  der  Geburt  das  Trommelfell 
bedeckenden  dicken  Epidermislage  klar  erkannt  haben,  da  er  von  einer 
das  Trommelfell  bedeckenden  und  ablösbaren  Pseudomembran  spricht. 
Die  Gegengründe,  die  Morgagni  gegen  Fabrizio13)  vorbringt,  sind  so 
überzeugend,  daß  wir  uns  ihnen  anschließen  müssen. 

In  seinem  die  operative  Chirurgie  behandelnden  Werke  „Opera 
medica"  widmet  Fabrizio  den  Ohr  er  krankungen  nur  einen  kurzen 
Abschnitt.  Bei  den  im  Gehörgange  vorkommenden  Operationen  scheint 
er  besonderes  Gewicht  auf  eine  günstige  Beleuchtung  des  tieferen  Ge- 
hörgangsabschnittes gelegt  zu  haben.  Es  ergibt  sich  dies  aus  einer  von 
Morgagni  erwähnten,  von  Fabrizio  angewendeten  Untersuchungsmethode, 
die  darin  bestand,  daß  er  die  Sonnenstrahlen  durch  ein  kleines  Loch  im 
Fensterladen  in  den  Gehörgang  fallen  ließ.  Zu  demselben  Zwecke  soll 
sich  Fabrizio  auch  einer  mit  Wasser  gefüllten  Flasche  bedient  haben, 
durch  welche  die  konzentrierten  Strahlen  einer  Kerze  in  den  Gehörgang 
geleitet  wurden11). 

Bei  allen  operativen  Eingriffen  im  Ohre,  die  sich  vorzugsweise  auf 
die  Extraktion  von  Fremdkörpern  beziehen,  legt  Fabrizio  besonderes 
Gewicht  auf  den  Schutz  des  Trommelfells  gegen  etwaige  Verletzungen. 
Die  von  Paul  von  Aegina  bei  schwer  zu  extrahierenden  Fremdkörpern 
empfohlene  halbmondförmige  Inzision  hinter  der  Ohrmuschel  mit  darauf- 
folgender Ablösung  des  knorpelig-membranösen  Gehörgangs  verwirft  er 
als  einen  zu  schwerwiegenden  Eingriff,  bei  dem  das  ausfließende  Blut  das 
Operationsfeld  verdunkle  und  in  den  nächsten  Tagen  eine  Entzündung 
entstehe.  Fabrizio  bedient  sich  zur  Entfernung  der  Fremdkörper  öfters 
kleiner  Zangen  mit  gezähnten  Branchen  oder  eines  Instruments,  das  an 
einem  Ende  eine  ohrlöffelförmige  Aushöhlung  und  am  anderen  ein  Häkchen 
hatte.  Letzteres  benützte  er  bei  weichen  Fremdkörpern,  jenes  schob  er 
unter  härtere  Substanzen.  Zur  leichteren  Herausbeförderung  des  Fremd- 
körpers empfiehlt  er  den  äußeren  Gehörgang  ad  maximum  zu  strecken. 
Vor  der  Extraktion  mit  einer  spitzen  Sonde  wurde  stets  die  Stelle  auf- 
gesucht, wo  das  Instrument  anzusetzen  sei15). 

»)  1.  c.  Cap.  5,  p.  251. 

-)  Ovalis  cavitas  est  (nämlich  die  Trommelhöhle),  cui  stapes  incumbit,  ipsum- 
que  ostium  magna  ex  parte  occupat  cluditque,  a  quo  Fallopius,  cui  in  rebus  ab- 
strusis  maximam  fidem  adhibeo  utque  praeceptorem  colo,  vult  in  labyrinthum  iri. 
„De  visione  voce  et  auditu"  in  „Opera  omnia  anatomica  et  physiologica".  Lugd. 
Batav.  1737.     P.  I,  Cap,  7,  p.  252. 


116 


Giulio  Casserio. 


s)  1.  c.  Tertiuni  foramen,  ut  patet,  in  alias  ducit  cavitates,  quae  tarnen  in- 
numerae  sunt,  invicemque  intricatae  ut  merito  labyrinthus  dicantur  et  admirari  qui- 
dem  eas  licet  dinumerare  autem  seu  ad  ordinem  quendam  redigere  aut  dirigere 
non  est  ut  quispiam  tentet. 

rundum  foramen  ducit  in  cochleam  quam  ego  multos  jam  annos,  Organum 
ad  ostensionem  parans,  transverse  ipsam  per  totum  cochlearem  ductum  forte  incidi 
diuque  servari  et  solenni  complurium  annorum  spectaculo  auditoribus  meis  inspec- 
tandam  proposui  quotannis  publice  plenis  tbeatris  ostendi.     1.  c.  Cap.  7. 

5)  .  .  .  atque  in  nonnullas  diductum  propagines  sie  in  plerasque  ossis  cavernulas 
majoris  momenti  discurrit,  donec  ad  primam  praeeipuamque  cavitatem,  concham 
appellatam,  ubi  ossicula  consistunt,  perveniat  termineturque.  Quam  rem  ita  aeeipi 
velim,  ut  negandum  haudquaquam  sit,  nonnullas  minoris  momenti  propagines  in  aliis 
cavernulis  cessare  sed  tarnen  potiores  ad  potiorem  et  majorem,  uti  dictum  est,  ac- 
cedere.     1.  c.  Cap.  10,  p.  253. 

6)  Hie  ille  aer  est,  qui  ab  Aristotele  et  priscis  complantatus,  inaedificatus  et 
congenitus  appellatur.     1.  c.  P.  I,  Cap.  8,  p.  252;  ferner  P.  III,  Cap.  10,  p.  265. 

7)  1.  c.  P.  III,  Cap.  9.  p.  265.     De  Nervi  Auditorii  utilitatibus. 

8)  Verum  hoc  loco  difficultas  non  levis  insurgit,  quomodo  scilicet  per  banc 
membranam,  quae  aerem  complantatum  ab  externo  separat,  fieri  possit  alteratio 
ipsius  soni  in  cornplantato  aere,  cum  seeundo  de  anima  Aristoteles  dicat  externum 
aerem  motum  per  continuitatem  internum  quoque  movere.  1.  c.  P.  III,  Cap.  4.  De 
Membranae  utilitatibus. 

9)  1.  c.  Cap.  4. 

10)  Quae  tarnen  opei-ta  non  sunt  ut  reliqua  ossa,  sed  nuda,  alioqui  ad  soni 
reeeptionem  ac  delationem  forent  inepta,  ac  perinde  contingeret  ac  si  jam  proposita 
dura  corpora  aliquo  molli  panno  involveres.  1.  c.  P.  III,  Cap.  5,  p.  262.  De  ossi- 
culorum  utilitatibus. 

n)  lllud  praeterea  habet  notatu  dignum  hie  motus,  quod  in  utraque  aure 
eodem  tempore  fit,  neque  ullo  modo  separatim  in  altera  tantum  aure  fieri  potest, 
ut  videatur  hie  modus  quandam  habere  analogiam  cum  oculorum  motu,  siquidem 
uno  moto  oculo  alter  quoque  movetur.     1.  c.  P.  I,  Cap.  6,  p.  263. 

12)  Der  Schleim  der  Trommelhöhle  werde  vermittels  der  Tuba  durch  Seiten- 
lage, noch  mehr  durch  Niesen  entfernt.     1.  c.  P.  III,  Cap.  11. 

13)  Morgagni,  Epist.  Anat.  Ep.  V,  2. 

,4)  Morgagni,  De  sedibus  et  causis  morborum.     4.  T.  T,  p.  229  u.  230. 
15)  Opera  Chirurgica  Venetiis  1619.  —  De  Aurium  Chirurgia  p.  39 — 41. 


Giulio  Casserio 

(1561—1616). 

Bevor  wir  von  den  italienischen  Anatomen  dieser  glanzvollen  Periode 
scheiden,  müssen  wir  noch  eines  Mannes  gedenken,  mit  dem  die  Reihe 
der  hervorragenden  Anatomen  des  Cinquecento  abschließt:  Giulio  Cas- 
serio (Casserius  Placentinus),  der  sich  mit  besonderer  Vorliebe  der  Ohr- 
anatomie widmete  und  dessen  Leistungen  die  seines  Lehrers  Fabrizio 
ab  Aquapendente  weit  übertreffen.  Dieser  war  es,  dessen  Scharfblick 
das  hervorragende  Talent  Casserios  erkannte  und  ihn  als  seinen  würdigsten 
Nachfolger  auf  dem  Lehrstuhle  zu  Padua  bezeichnete. 


Tafel  VII 


^T,ntulu£y4rJre?r.(MSSZRJ  maßne  iMa 
CajuriTnulh  irernuore  nomzn  tiuv 


i&r 


JULIUS  CASSERIUS 


Giulio  Casserio.  117 


Giulio  Casserio  wurde  zu  Piacenza  1561  geboren  und  trat  als 
Famulus  in  die  Dienste  des  Fabrizio.  Da  er  bald  ausgezeichnete  An- 
lagen verriet,  ließ  ihn  Fabrizio  bei  seinen  Vorlesungen  assistieren  und 
gab  ihm  dadurch,  wie  durch  manche  andere  gütige  Förderung  reich- 
liche Gelegenheit  zum  gründlichen  Studium  der  Anatomie.  Casserio 
benützte  die  Zeit  so  vortrefflich,  daß  er,  ausgerüstet  mit  den  nötigen 
Kenntnissen,  sehr  bald  den  Doktorhut  an  der  Universität  Padua  erwarb. 
In  seiner  Ausbildung  stetig  fortschreitend,  vermochte  er  bald  seinen  durch 
Krankheit  verhinderten  Lehrer  in  den  anatomischen  Vorlesungen  zu  ver- 
treten, und  als  Fabrizio,  vom  Alter  gebeugt,  sein  Lehramt  aufgab,  wurde 
1604  Casserio  auf  seinen  Vorschlag  zum  Professor  der  Anatomie  in  Padua 
ernannt.  Dieses  Amt  bekleidete  er  zum  Ruhme  der  Universität  bis  zu 
seinem  1616  erfolgten  Tode. 

Besondere  Verdienste  erwarb  sich  Casserio  durch  seine  Unter- 
suchungen über  Stimm-  und  Gehörwerkzeuge,  deren  vergleichende 
Anatomie  er  in  hervorragendem  Maße  förderte. 

Die  Werke  Casserios  verraten  einen  stupenden  Fleiß  und  seltene 
Exaktheit  und  gehören  zu  dem  Besten  in  der  älteren  anatomischen  Lite- 
ratur, stehen  aber  in  Bezug  auf  Diktion  und  Darstellungsweise  hinter 
den  Werken  seiner  Zeitgenossen  zurück,  ein  Mangel,  der  vielleicht  aus 
dem  Bildungsgang  des  Autors  erklärlich  wird.  Dagegen  ersetzen  sie 
diesen  Mangel  durch  viele  gelungene  Abbildungen ,  deren  Casserio  eine 
so  große  Zahl  lieferte,  wie  keiner  seiner  Vorgänger  und  wenige  seiner 
Nachfolger*). 

An  praktischer  Fähigkeit,  besonders  als  Chirurg,  übertraf  Casserio 
den  Fabrizio  beträchtlich,  dagegen  stand  er  als  Theoretiker  weit  hinter 
ihm  zurück. 

Seine  Leistungen  in  der  Ohranatomie  übertrafen  aber  unbestritten 
die  seines  Lehrers.  Casserio  geht  ausgreifender  ins  Detail,  wo  Fabrizio 
in  der  Schilderung  nur  andeutungsweise  vorgeht. 

Die  für  die  Otologie  in  Betracht  kommenden  Werke  sind  das  in 
schöner  Austattung  edierte  Werk:  „De  vocis  auditusque  organis  historia 
anatomica  tractatibus  II.  explicata".  Ferrar.  (1600).  Mit  37  Kupfern 
in  Fol.  und  „Pentaesthesion,  h.  e.  de  quinque  sensibus  über".  Venet. 
1609.  f.  33  Kupfertafeln.  —  Francofurti  1610.  Lib.  IV,  148-265.  Ferner 
„Tabulae  anatomicae".  LXXIX.  Omnes  novae  nee  ante  hoc  visae.  Venet. 
1627.  f.  cum  supplementis  Dan.  Bucretii.     S.  1.  et  a.  f.    Francof.   1632. 


i  Bucretius,  der  seine  Tafeln  später  herausgab,  erzählt,  daß  bei  Casserio 
tili  Maler  (Kduard  Fialectus)  und  ein  Kupferstecher  (Franciscus  Yalesius)  wohnten, 
wodurch  er  seine  Entdeckungen  rasch  fixieren  konnte.  Auch  ein  deutscher  Maler. 
Joseph  Murer,  wird  als  einer  seiner  Mitarbeiter  genannt. 


2X8  Giulio  Casserio. 


Was  in  den  genannten  Werken  Casserios  zunächst  auffällt,  ist  die 
reiche  Fülle  von  Tatsachen  aus  der  vergleichenden  Anatomie  des  Ohres. 
Diese  bearbeitete  er  zu  dem  Zwecke,  um  in  den  Bau  des  menschlichen 
Ohres  besser  einzudringen,  und  es  gelang  ihm,  bei  Tieren  manches  auf- 
zufinden, was  die  weitere  Forschung  auch  beim  Menschen  feststellte1). 
In  ausgezeichneten  Tafeln2)  ließ  er  das  Gehörorgan  im  Zusammenhange 
oder  in  die  einzelnen  Bestandteile  gesondert  darstellen,  wozu  außer  dem 
menschlichen  Gehörorgan  auch  das  vom  Schwein,  Schaf,  Rind,  Ziege, 
Hund,  Pferd,  Katze  und  Maus  wie  auch  das  von  Fischen  und  Vögeln  als 
Objekt  diente. 

In  welch  subtiler  Weise  Casserio  die  vergleichende  Anatomie  des 
Ohres  behandelte,  beweist  seine  Abbildung  der  Gehörknöchelchen  ver- 
schiedener Tierarten  (Fig.  4).  Die  Gehörknöchelchen  des  Menschen  dürfte 
er  bloß  im  mazerierten  Zustande  gesehen  haben,  wie  aus  der  vollkommen 
unrichtigen  Darstellung  der  Hammeramboßverbindung  erhellt. 

Bei  der  Zergliederung  der  Gehörorgane  von  Tieren  fand  er  den 
von  Varoli  beim  Menschen  beschriebenen  Steigbügelmuskel3),  der 
beim  Pferde  und  Hunde  im  Jahre  1601  aufgefunden  und  zum  ersten  Male 
abgebildet  wurde,  ferner  dielnzisuren  des  knorpelig-membranösen Gehör- 
ganges. Die  Entdeckung  des  fälschlich  als  Muskel  bezeichneten  Levator 
tympani  minor  veröffentlichte  er  im  selben  Jahre  wie  Fabrizio  und 
beruft  sich,  seine  Priorität  wahrend,  auf  das  Zeugnis  mit  Namen  an- 
geführter Personen  (Pentaestheseion,  Cap.  11). 

Casserio  war  auch  der  erste,  der  die  Verschiedenheiten  der  Form 
und  Insertion  der  inneren  Ohrmuskeln  der  Tiere  von  denen  des 
Menschen  eingehend  schilderte. 

Ebenso  genau  beschrieb  Casserio  die  äußeren  Ohrmuskeln,  die 
bisher  nur  zum  Teile  bekannt  waren  und  von  manchen  Nachfolgern 
gänzlich  geleugnet  wurden.  Er  bildet  den  M.  superior  auriculae  s. 
Attollens  sowie  die  drei  Rückwärtszieher,  M.  retrahentes,  ab,  während 
Falloppio  die  letzteren  für  einen  Muskel  ansah  und  Eustachio  wie  auch 
Colombo  überhaupt  nur  einen  einzigen  Muskel  der  Ohrmuschel  zugaben. 
Aeußerst  eingehend  schildert  Casserio  die  einzelnen  Unterabschnitte  der 
Ohrmuschel,  wobei  er  hauptsächlich  die  Bezeichnungen  des  Rufus  von 
Ephesus  benützt  und  die  Struktur  der  Ohrmuschel  (Haut,  Fett,  Knorpel, 
Bänder,  Muskel)  eingehender  Betrachtung  in  teleologischer  Hinsicht 
unterzieht4). 

Genauer  als  seine  Vorgänger  beschreibt  Casserio  die  Art  der  Ver- 
laufsrichtung des  äußeren  Gehörganges5)  und  die  Stellung  des  Trommel- 
fells, welch  letzteres  nach  seiner  Ansicht  vom  Periost  abstammt.  Da- 
gegen spricht  er  sich  über  die  Natur  der  Chorda  tympani  nicht  be- 
stimmt aus.     Bei  der  Schilderung  der  Trommelhöhle  erwähnt  er  eine 


Giulio  Casserio. 


119 


von  der  Vena  jugul.  Intern,  abstammende  Vene  und  eine  Arterie,  die  von 
der  Art.  tempor.  entspringt. 

Was  die  Gehörknöchelchen6)  betrifft,  unterscheide!  Casserio  am 
Hammer  den  Kopf,  den  Stiel  und  einen  größeren  und  kleineren  Fort- 
satz7). Bezüglich  des  Hammermuskels,  den  er,  wie  Eustachio,  Musculus 
internus  nannte,  meinte  er,  daß  sieh  derselbe  in  zwei  Sehnen  spalte,  mit 


1^0  Giulio  Casserio. 


denen  er  sich  am  Hammer  befestigen  soll8).  Ferner  beschrieb  er  den 
Aquaeductus  Falloppii  (Canalis  facialis)9)  ziemlich  genau  und  war 
der  erste,  der  die  auch  von  Guido  Guidi  erwähnte  Membrana  fenestrae 
Cochleae,  die  er  von  dem  Periost  des  Labyrinths  herleitete,  exakt 
schilderte10).  Hingegen  scheint  er  der  Anatomie  der  Ohrtrompete  nur 
wenig  Beachtung  geschenkt  zu  haben ,  da  ihre  Abbildung  in  seinen 
Tafeln  fehlt. 

Vorzüglich  für  die  damalige  Zeit  sind  Casserios  Untersuchungen 
und  Abbildungen  des  inneren  Ohres,  die  lange  Zeit  als  unübertroffen 
galten.  So  kennt  er  den  Vorhof  und  weiß,  daß  die  Bogengänge 
mit  fünf  Oeffnungen  in  diesen  einmünden*)11). 

Ganz  im  Gegensatz  zu  seinem  Lehrer  setzt  er  die  Zahl  der  Bogen- 
gänge auf  drei  fest  und  berichtet  eingehend  über  ihre  Lage  und  Größe12). 

Die  Schnecke,  deren  Windungszahl  er  noch  mit  drei  bestimmt, 
bildete  er  losgetrennt  vom  Knochen  ab  und  erkannte  in  ihr  als  erster 
mit  Sicherheit  den  schon  von  Eustachio  erwähnten13)  membranösen 
Teil  der  lamina  spiralis  (septum  spirale).  Auch  scheint  er  wenigstens 
beim  Kalbe  den  Verlauf  des  Schneckennerven  verfolgt  zu  haben11); 
irrtümlich  jedoch  beharrte  er  bei  der  alten  Anschauung,  daß  Facialis 
und  Acusticus  Zweige  eines  Nerven  seien,  woraus  er  die  „Sympathie" 
der  Ohren,  der  Zunge  und  des  Kehlkopfes  ableitet.  Alle  diese  Beschrei- 
bungen, unter  denen  sich  gerade  die  des  inneren  Ohres  durch  eine  alle 
vorhergehenden  an  Exaktheit  und  Detailkenntnis  überbietende  Genauig- 
keit  auszeichnen,   sind  durch  treffliche  bildliche  Darstellungen  erläutert. 

Casserio  beschäftigte  sich  auch  mit  der  Entwicklungsgeschichte 
und  kam  zu  folgenden  Ergebnissen.  Das  Felsenbein  ist  bei  Kindern 
vom  Schuppenteil  noch  deutlich  getrennt,  der  Processus  styloides  ist 
knorpelig,  der  Gehörgang  ist  knorpelig  (bei  Erwachsenen  teils  knöchern, 
teils  knorpelig),  der  Annulus  tympanicus  deutlich  erkennbar,  die  drei 
Gehörknöchelchen  sind  bei  Neugeborenen  nicht  so  fest,  wie  bei  Erwach- 
senen etc. 

Noch  wollen  wir  erwähnen,  daß  er  sich  über  die  Beschaffen- 
heit und  den  Nutzen  des  Ohrenschmalzes  eingehend  ausspricht  und  die 
Existenz  der  Drüsen  des  Gehörgangs  andeutet. 

Casserios  Physiologie  enthält  eine  Menge  wenig  origineller 
Ansichten  über  den  Nutzen  der  einzelnen  Teile  des  Gehörorgans15). 
Seine  Physiologie   des   Hörens   gleicht   im  wesentlichen    der   des   Koyter 


*)  Von  vergleichend-anatomischem  Interesse  ist  der  Befund  Casserios  bei 
Fischen  (Esox  Lucius),  bei  denen  er  Hörsteinchen  auffand,  von  denen  er  sagt,  daß 
sie  in  einem  ovalen,  wass  er  gefüllten  Bläschen  enthalten  sind.  „Vesicula  ovalem 
figuram  praeseferens,  aqua  plena;  cui  insunt  duo  corpuscula  ossea  discontinua, 
divisa  ac  ab  omni  vinculo  libera."     1.  c.  Lib.  I,  Cap.  20. 


Giulio  Casserio.  121 


und  Fabrizio,  doch  teilt  er  dem  Nerven,  den  er  als  „instrumentum 
auditus"  ansieht,  eine  größere  Rolle  als  dem  „aer  in  genitus8  zu,  an 
dem  er  noch  festhält10).  Hinsichtlich  der  Rolle  der  Gehörknöchelchen 
für  den  Hörakt  steht  Casserio  insofern  im  Widerspruch  mit  der  Ansicht 
seines  Lehrers,  als  er  die  Kette  der  Gehörknöchelchen  bloß  als  eine 
Stütze  für  das  Trommelfell  ansieht,  während  sie  mit  der  Fortleitung 
des  Schalls  nichts  zu  tun  hätten17),  eine  Ansicht,  die  auch  in  neuerer 
Zeit  von  Secchi  und  Zimmermann  vertreten  wird. 

Die  Förderung .  welche  die  Ohranatomie  durch  Casserio  erfahren, 
muß  umso  höher  angeschlagen  werden,  als  die  nächsten  Dezennien  arm 
.an  neuen  Entdeckungen  waren. 

Ego  una  cum  delineatione  Auriculae  hominis  etiam  brutales  quasdain  aures 
perfiguravi:  sunt  quidem  ubique  in  animalibus  vivis  conspicuae  et  obviae:  iuvabit 
tarnen,  in  suo  musaeo  eas  cum  humano  conferre  posse  etsi  ipsa  animalia  ibidem 
non  adsint. 

2)  Tabulae  duodecim. 

3)  Pentaesthes. ,  Lib.  I,  Cap.  12,  Tab.  IX,  Fig.  24,  25  Equus.  Musculus  in- 
ternus a  nomine  hactenus  inventus  et  observatus  suo  tendine  tenuissimo  Btapedi 
adjunctus. 

4)  1.  c.  Lib.  I,  Cap.  5,  p.  19.  Dort  heißt  es  auch  betreffs  der  Muskeln:  nun- 
quam  mihi  obtigit   caput  hominis,  cui  omnes  (musculi  auriculae)  defuere. 

5)  1.  c.  Cap.  6,  p.  41. 

6)  De  tribus  quippe  ossiculis  quorum  conformatio  adeo  elegans,  ac  artificiosa, 
usus  adeo  excellens  ac  nobilis,  ut  utrumque  oratione  satis  superque  exprimere  im- 
possibile  sit.     I.  c.  Lib.  I,  Cap.  12,  p.  66. 

;)  1.  c.  Cap    12,  p.  66. 

B)  1.  c.  Cap.  13,  i».  79  beschreibt  ihn  beim  Pferd  und  Schwein  etc.  Insertion: 
1)  in  elatiorem  mallei  apophysin,  2)  altero  in  cervicem. 

9)  1.  c.  Cap.  6,  p.  40. 

10)  „Fenestra  ovalia  tortuosa"  .  .  .  „attamen  merabrana  cui  Stapedis  basis  ap- 
posita  est  clausuni  existit".     1.  c.  Cap.  11,  p.  58. 

")  1.  c.  Cap.  11,  p.  59. 

12)  Unus  transversim,  ab  interioribus  extrorsum;  alius  recta,  ab  anterioribus 
retrorsum.     Tertius  oblique  a  posterioribus  extrorsum.     ibid. 

1S)  Duplici  constat  helice,  altera  ossea  latiori,  quae  a  labyrinthq  est  continua. 
altera  membranosa  est  molli,  quam  ea  format  membrana,  quae  duplex  hoc  antruni 
vestiens  utramque  obserat  fenestram.     ibid. 

")  1.  c.  Tal..  X,   Fig.  17,  p.  60. 

1S)  1.  c.   Lib.  III,  Cap.  1. 

18)  Nervus  est  primaria  pars  in  auditus  organo.     1.  c.  sec.  II,  Cap.   12. 

17)  1.  c.  sect.  II,  Cup.  9. 

Außer  den  im  Texte  angeführten  Autoren  wurden  als  Quellen  benützt: 

G.  B.  Morgagni:  Epist.  anatomicae  17. 

M.  Portal:  Histoire  de  l'Anatomie  et  Chirurgie.     Paris  1770. 

C.  G.  Lincke:   Handbuch  der  theoret.  u.  prakt.  Ohrenheilkunde  1837. 

Edm.  Dann:  Skizze  einer  Geschichte  der  Ohrenheilkunde.     Berlin  1*34. 

St  anislaus  von  Stein:  Literatur  der  Anatomie  u.  Physiologie  des  Ohres 
(russisch).     Moskau  1890. 


122  Ohranatomie  im  16.  Jahrhundert. 


Während  des  Druckes  kam  mir  die  Inauguraldissertation  des  Stud.  med. 
Max  Mayer  Karl  in,  Königsberg  1905,  zur  Hand,  die  keine  uns  unbekannte 
Daten  enthält. 


d)  Stand  der  Ohranatomie  in  Deutschland  und  Holland 
im  16.  Jahrhundert. 

Trotz  des  lebhaften  geistigen  Verkehrs,  der  sich  gegen  Ende  des 
16.  Jahrhunderts  zwischen  Italien  und  den  benachbarten  Ländern  ent- 
wickelte ,  dauerte  es  sehr  lange ,  bis  die  in  Italien  schon  in  höchster 
Blüte  stehende  anatomische  Wissenschaft  in  Deutschland,  Frankreich  und 
Holland  festen  Fuß  faßte.  Besonders  gilt  dies  von  Deutschland.  Noch 
zersplitterten  hier  die  Universitäten  in  scholastischen  und  philologischen 
Fehden  ihre  Kräfte,  noch  war  der  Aberglaube  gegen  die  Zergliederung 
menschlicher  Leichen  in  den  großen  Massen  des  Volkes  nicht  geschwunden, 
und  noch  weit  bis  in  das  16.  Jahrhundert  hinein  ist  von  seiten  der 
regierenden  Fürsten  keine  Förderung  der  aufkeimenden  Wissenschaft  zu 
entdecken.  Wie  tief  die  Aversion  gegen  die  Zergliederung  der  mensch- 
lichen Leichen  selbst  in  gelehrten  Kreisen  wurzelte,  beweist  die  Tat- 
sache, daß  noch  zu  Beginn  des  18.  Jahrhunderts  der  Anatom  Jacob  Trew 
sich  veranlaßt  sah,  eine  Verteidigung  der  Anatomie  zu  veröffentlichen. 
Bei  den  im  16.  Jahrhundert  an  den  deutschen  Universitäten  vorge- 
nommenen spärlichen  Sektionen  begnügte  man  sich  im  allgemeinen  mit 
der  oberflächlichen  Besichtigung  der  äußeren  Körperteile  und  der  in  den 
großen  Höhlen  eingeschlossenen  Organe. 

Die  noch  erhaltenen  deutschen  anatomischen  Werke  aus  dem  Ende 
des  15.  bis  zur  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  liefern  ein  trauriges  Bild  von 
dem  damaligen  Stande  dieser  Wissenschaft.  Zu  ihnen  gehört  „die  erste 
in  deutscher  Sprache  geschriebene  höchst  armselige  und  stümperhafte 
Anatomie",  welche  den  Anhang  zu  der  im  Jahre  1497  gedruckten 
Cirurgia  von  Hieronymus  Brunschwig  bildet*),  ferner  die  Schriften 
von  Joh.  Peyligk  und  Magnus  Hundt,  „Der  Spiegel  der  Artzny"  des 
Laurentius  Phryesen,  „Das  Feldtbuch  der  Wundartzney"  des  Hans 
von  Gersdorf,  „Die  Anatomie"  des  Gualtherus  Hermannus  Ryff  u.  a. 
Alle  diese  medizinischen  Inkunabeln,  die  zum  Teil  durch  beigefügte  rohe, 
nichts  weniger  als  naturwahre  Holzschnitte  illustriert,  ein  mehr  anti- 
quarisches Interesse  bieten,  enthalten  fast  nur  mangelhafte  und  unrichtige 
Beschreibungen.  Erst  die  Anatomie  des  Joh.  Dryander,  der  sich  um 
die  medizinische  Philologie  große  Verdienste  erwarb  und  wie  es  scheint, 
zuerst    anatomische  Vorlesungen    zu  Marburg   hielt,   verdient  einige  Be- 


i  Hyrtl,  Lehrbuch  der  Anatomie.     20.  Aufl.,  p.  54. 


Felix  Plater.  123 


aclitung,  doch  stützt  er  sich  ganz  auf  Galen  und  gehört  zu  den  er- 
bittertsten Gegnern  Vesals  *). 

Bei  dieser  Sachlage  darf  es  nicht  befremden,  daß  die  Anatomie 
des  Gehörorgans  in  Deutschland  erst  sehr  spät  zur  Entwicklung  kam, 
zumal  die  an  und  für  sich  schwierige  Präparation  des  Organs  eine 
bereits  ausgebildete  Technik  erfordert.  Zu  dieser  fehlten  aber  geeignete 
Instrumente,  was  aus  der  Tatsache  erhellt,  daß  bis  gegen  Ende  des 
16.  Jahrhunderts  unter  den  auf  den  Titelblättern  der  Anatomien  dar- 
gestellten Sektionsinstrumenten    sich   nicht  einmal  die  Pinzette  findet**). 

Die  ersten  deutschen  Anatomen,  welche  den  Spuren  Vesals  folgten, 
sind  Felix  Plater,  Kaspar  Bauhin  und  Salomon  Alberti.  Sie 
allein  kommen  für  die  Geschichte  unseres  Fachs  im  16.  Jahrhundert  in 
Betracht.  Ihre  anatomischen  Entdeckungen  können  nicht  entfernt  mit 
denen  der  Italiener  verglichen  werden,  doch  müssen  wir  es  dieser  ge- 
ringen Zahl  von  Forschern  als  Verdienst  anrechnen,  daß  sie  sich  zuerst 
bemühten,  die  Ergebnisse  ihrer  großen  Vorgänger  und  Zeitgenossen 
durch  eigene  Untersuchungen  zu  bestätigen  oder  richtigzustellen.  Ihre 
Leistungen  sollen  hier  kurz  erwähnt  werden. 

Felix  Plater  (Platerus,  1536 — 1614),  dessen  Lebenslauf  durch 
G.  Freitags  Auszüge  aus  den  Tagebüchern  allgemein  bekannt  geworden 
ist***),  gehört  zu  den  interessantesten  Gestalten  der  Geschichte  der 
Medizin.  Für  die  Anatomie  bekundete  er  schon  sehr  frühe  ein  lebhaftes 
Interesse,  das  er  während  seiner  Studienzeit  zu  Montpellier  durch  eifrige 
Sezierübungen  betätigte.  Der  große  Mangel  an  Sektionsmaterial  ver- 
anlaßte  ihn,  unterstützt  von  Freunden,  in  finsteren  Nächten  frische  Leichen 
aus  den  Gräbern  zu  entwenden. 

Nach  Vesal  war  es  Plater,  der  in  Basel  (1557)  an  mensch- 
lichen Leichen  Anatomie  lehrte.  Im  ganzen  dürfte  er  während  50  Jahren 
fast  dreihundertmal  Kadaver  zergliedert  haben.  Als  Professor  in 
Basel  widmete  er  sich  eifrig  der  anatomischen  Forschung,  deren  Er- 
gebnisse er  in  dem  Hauptwerke:  De  corporis  humani  structura  et  usu 
libri  III  tabulis  methodice  explicati,  iconibusque  accurate  illustrati, 
Basiliae  1583  u.  1603  (mit  50  Kupfertafeln),  niederlegte.  Die  Ab- 
bildungen sind  zum  Teil  Vesal  und  Ivoyter  entnommen,  zum  Teil  neu 
hinzugefügt,  doch  ist  eine  Anzahl  von  diesen  schematisch  und,  wie  die 
hier  wiedergegebenen  zwei  Figuren  zeigen,  auch  jeder  Realität  bar. 

Platers  Beschreibung   des  Gehörorgans,    welche    in    dem   ge- 


::)  Haeser,  Geschichte  der  Medizin.     !l.  Bd.,  ]>.  23. 
**)  Hyrtl,  I.e.  p.  65  meint,  Fallopio,  Eustachio,  vielleicht  auch  Vesal  müßten 
sich  der  Pinzette  bedient  huben,   wenn  dieselbe  auch  erst  bei  Vidius  «largestellt  ist. 
***)  Gr.  Freitag,  Bilder  aus  deutscher  Vergangenheit.     4.  Aufl.,  Leipzig  1863, 
I,  S.  262. 


124 


Felix  Plater. 


nannten  Werke  enthalten  ist,  muß  insofern  lobend  erwähnt  werden,  als 
er  im  Gegensatz  mancher  seiner  Zeitgenossen  die  Errungenschaften  der 
Italiener  verwertet  hat.  Seine  Schilderung  des  knöchernen  Gehörgangs 
und  der  Trommelhöhle  sowie  des  Trommelfells  enthält  nur  Bekanntes. 
Vom  Hammer  kennt  er  zwei  Fortsätze1).  Genauer  als  seine  Vor- 
gänger schildert  er  die  Ligamenta  der  Gehörknöchelchen,  von  denen 
er  das  Ligam.  process.  min.  incudis  als  neu  beschreibt2).  Die 
wirkliche  Lage  der  Gehörknöchelchen  scheint  er,  wie  die  betreffende 
Abbildung  zeigt,  nicht  richtig  erfaßt  zu  haben.  Zutreffend  ist  seine  Be- 
schreibung der  Trennung  der  knöchernen  Ohrtrompete  von  dem  Canalis 
pro  tensore  tympani  durch  eine  dünne  Knochenlamelle 3).  Durch  den 
knöchernen  Kanal  der  Ohrtrompete  dringe  beim  Schneuzen  Luft  in  das 
Ohr,  wodurch  Sausen  entstehe4).  Besser  als  die  beigegebenen  Ab- 
bildungen vermuten  lassen,  ist  seine  Beschreibung  der  Bogengänge 
und  der  Schnecke.  Bei  den  knöchernen  Bogengängen  erwähnt  er 
deren  ampulläre  Erweiterung5). 

Im  Gegensatze  zu  der  in  mancher  Beziehung  richtigen  Beschreibung 
einzelner  Teile  des  Gehörorgans  sind  die  hier  reproduzierten  schemati- 
schen Zeichnungen,  welche  die  Topographie  des  Hörapparates  versinn- 
lichen sollen*),  primitiv  und  mangelhaft.  Die  Texterklärung  zeigt  die 
Irrtümmer  der  damaligen  Vorstellung  von  den  Lageverhältnissen  der 
einzelnen  Teile  des  Gehörorgans,  insbesondere  von  dem  Verlauf  der 
Nerven  und  Gefäße  im  Ohre. 


Fig.  5.  Auditus  organi  vasorum,  membranarum  ossiculorum,  foraminurnque  delineatio. 
aa  Aerem  admittens  meatus,  foramen  1  auditus  organi  (Aeußerer  Gehörgang). 
A  Nervus  auditorius  quinti  paris  cerebri,  bipartitus  ubi  foramen  4  auditus  organi 
subit  (Hör-  und  Gesichtsnerv),  ßbb  Vena  iugularis,  cum  nervea  portione,  primam 
cavitatem  (Trommelhöhle)  auditus  organi.  per  illius  foramen  2,  iuxta  b  pervadens. 
c  c  Arteria,  auditus  Organum  per  illius  foramen  3  subiens,  et  nervus  per  idem  foramen 
elapsus.  C  Eodem,  extra  auditus  Organum  per  foramen  illius  5  procidens.  d  d  Hu- 
milior  nervi  quinti  paris  portio  (Hörnerv),  in  secundam  et  tertiam  cavitatem  (Bogen- 
gänge und  Schnecke)  pertingens.  e  e  Elatior  nervi  quinti  paris  portio  (Gesichtsnerv) 
per  canalem  anfractuosum  (Kanal  des  N.  facialis)  ad  c  usque,  ubi  elabitur,  ductus. 
f  Tympanum  auris  primam  cavitatem  claudens.  g  Ossicula  auditus  tria,  invicem 
iuncta.  h  Cavitas  tertia,  seu  buccinum  auditus  organi  (Schnecke),  i  Cavitas  secunda, 
seu  fodina  (Vorhof),  tribus  cuniculis  (Bogengänge)  excurrens,  auditus  organi.  k  1  Canalis 
seu  aquaeductus.  nervum  et  arteriam  vehens,  duobus  foraminibus  1  se  aperiens. 


")  Tab.  XLIX,  Fig.  20. 


Kaspar  Bauhin.  125 


Die  an  den  anatomischen  Teil  sich  anschließenden  physiologischen 
Bemerkungen  entbehren  jedes  Interesses. 

*)  Processulos  duos  habet  sede  posteriori  tenues,  acutos  quorum  elätior  liga- 
mento  inhaeret,  hurnilior  orbitae  merubranae  irnrnersus  est,  1.  c.  L.  I,  p.  33. 

'-)  Crura  duo  seu  processus  mutuos  distantes  emittit,  quorum  brevius  ac  fere 
latius,  ligamento  nectitur  orbitae,  1.  c.  p.  33. 

3)  Privati  Cavitati  primae  gemini  Canales.  mutuo  accumbentes  tenuissima 
tantum  ossea  squama  invicem  dirempti,  1.  c.  Lib.  I,  p.  31  und  Lib.  III,  Tab.  7, 
Fig.  4 ;  litt,  i  i. 

4)  Per  hos  canales  crederem  aerem  nonnumquam  irrumpere,  cum  impetuosius 
nasum  emungendo  sentimus  aurium  sibilum.     ibid. 

5)  Cuniculos  tres  seu  Canales,  qui  ex  ipsa  amplo  initio  prodeuntes,  an- 
gustiores  sensim ,  ut  observavi ,  facti ,  per  ossis  substantiam  delati  et  reflexi ,  rursum 
in  hanc  cameram  recurrunt  illicque  rursum  desinunt,  1.  c.  p.  32. 

Kaspar  Bauhin  (1560—1624),  der  Nachfolger  F.  Platers  auf 
dem  Lehrstuhle  der  Anatomie  in  Basel,  entstammte  einer  französischen 
Familie  aus  Amiens  und  zeichnete  sich  als  Arzt,  Anatom  und  Botaniker 
aus.  Seine  anatomischen  Kenntnisse  erwarb  er  als  Schüler  des  Fabricius 
ab  Aquapendente  und  als  Freund  und  Studiengenosse  des  Casserio. 
Er  ist  der  Entdecker  der  Blinddarmklappe  und  der  Begründer  der  noch 
gegenwärtig  zum  Teil  gebräuchlichen  anatomischen  Terminologie. 

Sein  „Theatrum  anatomicum",  Francoforti  ad  Moenum,  1605,  ist, 
wie  Bauhin  selbst  zugibt,  nur  ein  Auszug  aus  den  Werken  der  großen 
Italiener,  illustriert  durch  verkleineite  Abbildungen  aus  den  Anatomien 
des  Vesal,  Eustachio,  Fabrizio  und  Plater1),  doch  enthält  der 
Abschnitt  über  das  Gehörorgan  manches  interessante  Detail. 

Die  Ohrtrompete  wird  in  ihren  Einzelheiten  ausführlich  be- 
schrieben; doch  nimmt  er,  wie  Koyter,  irrtümlich  das  Vorhandensein 
einer  Klappe  an  der  Rachenmündung  an,  „damit  dieser  Gang  nur 
nach  Bedarf  offen  sei"  2).  „Um  dies  zu  bewirken,  ende  die  Tube 
beiderseits  dort,  wo  sich  ein  ,faucium  musculus'  befinde;  daher  werde, 
wenn  der  Schlund  während  des  Schlingaktes  erweitert  wird,  auch  die 
Tube  gleichzeitig  geöffnet"  3).  Erwähnenswert  ist  seine  Mitteilung,  daß 
man  das  Trommelfell  bei  weitem  Gehörgange  sowohl  bei  Sonnenlicht 
als  auch  bei  künstlicher  Beleuchtung  sehen  könne4).  Die  Gehör- 
knöchelchen schildert  er  in  der  Art  seines  Vorgängers.  Das  Linsen- 
knöchelchen  ist  ihm  gänzlich  unbekannt.  Was  die  Chorda  an- 
belangt, so  stimmt  er  am  meisten  der  Anschauung  des  Eustachio  bei, 
daß  diese  ein  Ast  des  4.  Nervenpaares  sei.  Dem  Musculus  tensor 
tympani  schreibt  er,  wie  Casserio,  zwei  feine  Sehnen  zu,  von  denen 
sich  die  eine  am  Hammergriff,  die  andere  am  Hammerhalse  inseriert5). 
Die  Bogengänge  beschreibt  er  den  Entdeckungen  seiner  Vorgänger 
entsprechend   und   behauptet,    daß   sie  sich  beim  Kinde  leichter  heraus- 


\2(\  Salomon  Alberti. 


präparieren  lassen;  er  findet  sie  mit  einem  sehr  dünnen  und  weichen, 
membranösen  Ueberzuge  ausgekleidet6).  Bezüglich  der  Schnecke, 
die  nach  ihm  drei  bis  vier  Windungen  besitzt,  lehnt  er  sich  an  die 
von  Eustachio  gegebene  unklare  Beschreibung  des  membranösen 
Teiles  an. 

Seine  Hörtheorie  stützt  sich  im  wesentlichen  auf  Fabrizio  und 
Casserio7).  Er  erkannte  den  Nutzen  der  Gestalt  und  Stellung  des 
äußeren  Ohres  für  die  Schallaufnahme8),  meinte,  daß  das  Trommelfell 
zum  Schutze  der  dahintergelegenen  zarten  Teile  diene 9),  und  daß  sich 
der  Schall  vom  Trommelfell  durch  die  Gehörknöchelchen  fortpflanze10). 
Der  Nutzen  der  Tuba  Eustachii  bestehe  darin,  daß  die  durch  Mund  und 
Nase  eindringenden  Schallwellen  durch  sie  in  die  Trommelhöhle  geleitet 
werden,  von  der  aus  sie  durch  die  Gehörknöchelchen  und  die  Membran 
des  Schneckenfensters  zum  Hörnerv  gelangen11). 

')  1.  c.  L.  III,  Tab.  23—26,  p.  168—175. 

2)  1.  c.  p.  422  u.  423.  De  canali,  qui  ex  aure  in  os  fertur.  „Dein  tunica  mucosa 
valvulae  instar  obductus ,  ne  semper  hie  meatus  in  ore  patente  sit  orificio ,  sed  pro 
necessitate  pateat,  alias  quasi  coneidat,  ne  facile  mali  vapores  ex  ore  in  aures  transeant. 

3)  Ibid.  quare  dum  fauces  dilatantur  sive  aperiuntur  ab  bis  musculis  ad  de- 
glutitionem  etiam  meatus  hie  reseratur. 

*)  1.  c.  p.  425.  De  Membranula  Conchae  seu  tympani.  Haec  in  viventibus 
patulas  aures  habentibus,  vel  in  Sole,  vel  candela  apposita  extrinsecus  conspici  potest. 

5)  1.  c.  p.  437.  De  Musculis  Auris  internae.  Duos  tendines  gracillimos  producit 
et  alterum  elatiori  mallei  apophysi,  alterum  ejus  cervici  infigit. 

6)  1.  c.  p.  445.  De  Labyrintho  et  Cochlea,  sive  cavitate  seeunda  et  tertia  ossis 
petrosi.  Canaliculi  quoque  hi  in  superficie  interiore  membranula  quodam  mollissima 
ac  tenuissima  vestiuntur. 

7)  1.  c.  p.  448—454. 
s)  1.  c.  p.  412—419. 
9)  1.  c.  p.  425—428. 

10)  1.  c.  p.  451—454. 
")  1.  c.  p.  422— 425. 

Zu  den  deutschen  Aerzten,  die  sich  mit  Ohranatomie  befaßten,  gehört 
auch  Salomon  Alberti  (1540 — 1G00)  aus  Naumburg,  Professor  zu  Witten- 
berg, bekannt  durch  seine  Schrift  über  die  Tränenwerkzeuge. 

In  seiner  „Historia  plerarumque  partium  humani  corporis,  in  usum 
tyronum  edita",  Viteberg  1585  etc.  (mit  30  Holzschnitten)  beschreibt  er 
in  dem  das  Gehörorgan  behandelnden  Abschnitte  besonders  ausführlich 
die  Schnecke,  die  er  entdeckt  zu  haben  vorgibt.  Er  kennt  den  Modiolus 
und  behauptet,  daß  der  Schneckenkanal  mit  einem  Nerv  gefüllt  sei. 
Auch  gab  er  nach  Morgagni1)  dem  Vestibulum  zuerst  seinen  Namen 
und  unterschied  es,  im  Gegensatz  zu  seinen  Vorgängern,  als  eigenen 
Bestandteil  des  Labyrinths '-'). 

Unter    den    holländischen  Anatomen   verdient  noch  Petrus  Pavus, 


Günther  von  Andernach.  127 


Pieter  Paaw  (Paauw,  Pavus,  1564 — 1617)  genannt  zu  werden.  Er 
war  seit  1589  Professor  zu  Leiden,  wo  er  als  Anatom  und  Chirurg 
wirkte.  In  seinem  Werke  über  Osteologie:  Primitiae  anatomicae  de 
humani  corporis  ossibus,  L.  B.  1615,  beschrieb  er  auch  das  Gehörorgan, 
doch  stützte  er  sich  hierbei  vorwiegend  auf  die  Zergliederung  von  Tieren. 
Für  seine  Angabe,  daß  der  Hammer  mit  dem  stapes  artikuliert3),  finden 
wir  keine  Erklärung.  Pavus  scheint  das  Os  lenticulare  zuerst  beim 
Ochsen  aufgefunden  zu  haben1).  Die  zu  seiner  Zeit  noch  wenig  be- 
kannte Tuba  Eustachii  ist  in  dem  genannten  Werke  meistens  gut  be- 
schrieben. 

Von  den  im  16.  Jahrhundert  erschienenen  otologischen  Abhandlungen  seien 
noch  erwähnt : 

Matthesius,  De  admirabili  auditus  instrumenti  fabrica.     Vitteberg  1577. 
Werner,  Johannes,  Disputatio  de  visionis  et  auditus  doctrina.  Helmstad  1590- 
Havenreuter,  J.  Ludovicus,  De  sensibus.     Argentorati  1593. 
Goclenius,  Rud.,  De  sensu  et  sensibus.     Francofurt  1596. 
Poll,  Michael,  De  auditu.     Francof.  ad  Viadr.  1600. 

*)  Morgagni,  Ep.  anat.  XII,  Cap.  2. 

2)  Histor.  pler.  c.  h.  part. 

s)  De  hum.  corp.  Ossib.  Part.  I,  Cap.  8. 

4)  Nach  Wildberg,  vide  Lincke,  Handb.  d.  Ohrenheilkunde,  I.  Bd.  p.  127. 

e)  Stand  der  Ohranatomie  in  Frankreich  im  16.  Jahrhundert. 

In  Frankreich,  wo  die  Schulen  von  Montpellier  und  Paris  noch 
spät  bis  in  das  16.  Jahrhundert  hinein  den  Lehren  Galen s  anhingen, 
währte  es  lange,  bis  die  Anatomie  zur  Blüte  kam.  Von  den  großen 
Errungenschaften  Vesals  und  seiner  italienischen  Zeitgenossen  wurde 
in  Frankreich  gar  nicht  oder  in  polemischer  Weise  Kenntnis  genommen. 
Eigene  Entdeckungen  in  der  Otologie  von  größerer  Bedeutung  sind  in 
diesem  Jahrhundert  von  den  französischen  Anatomen  nicht  zu  verzeichnen. 
Die  hervorragendsten  Professoren  in  Montpellier  und  Paris,  Günther 
von  Andernach  und  Jacobus  Sylvius,  beide  Lehrer  des  jugend- 
lichen Vesal,  waren  zur  Zeit,  als  dieser  in  Frankreich  studierte,  strenge 
Galenisten  und  wandten  erst  später,  nach  dem  Bekanntwerden  des  Werkes 
Vesals,  ihre  Aufmerksamkeit  den  epochalen  anatomischen  Entdeckungen 
der  Italiener  zu. 

Günther  von  Andernach.  Dies  gilt  insbesondere  von  Joh.  (i  ü  nther 
von  Andernach  (1487—1574),  der  sich  schon  in  jungen  Jahren  des 
Rufes  eines  ausgezeichneten  Philologen  erfreute.  Als  Professor  der 
griechischen  Sprache  in  Löwen  und  später  als  Professor  der  Anatomie 
an  der  Universität  in  Paris  zählte  Vesal  vorübergehend  zu  seinen 
Schülern.    Noch  Anhänger  Galens,  hat  er  in  seinem  ausführlichen  Werke 


Charles  Estienne. 


„Joannis  Guintherii  Andernaci  medici  clarissimi,  de  medicina  veteri  et 
nova  tum  cognoscenda,  tum  faciunda  Commentarii  duo;  Basileae  1571", 
dem  wir  unsere  folgenden,  die  Otologie  betreffenden  Notizen  entnehmen, 
die  Entdeckungen  der  neueren  Zeit  nicht  ganz  außer  acht  gelassen.  So 
erwähnt  er  das  Trommelfell  und  beschreibt  die  drei  Gehörknöchelchen, 
die  ihm  durch  die  Publikationen  Vesals  und  der  Italiener  bekannt 
wurden  11.  Hingegen  ist  seine  Beschreibung  der  Trommelhöhle  und  des 
Labyrinthes,  die  durch  die  italienischen  Anatomen  bereits  eine  große 
Förderung  erfahren  hatte,  sehr  mangelhaft. 

Auch  Günthers  Besprechung  der  Ohrenkrankheiten  2)  läßt  deutlich 
den  Anhänger  der  alten  Richtung,  insbesondere  der  hippokratischen 
und  galenischen  Schule  erkennen,  insofern  er  das  alte  abgebrauchte 
System  der  Einteilung  in  Dolor,  Surditas,  Sonitus  beibehält.  Nur  einige 
an  sich  unbedeutende  Bemerkungen,  die  vielleicht  einigen  Anspruch  auf 
Selbständigkeit  erheben  dürften  und  die  Methode  Günthers  charakteri- 
sieren, seienx  hier  kurz  angeführt.  Bei  Feststellung  der  Krankheits- 
ursachen, welche  subjektive  Geräusche  hervorrufen,  berücksichtigt  er 
Temperatur,  Habitus  und  frühere  Lebensweise  des  Patienten,  stellt  ferner 
fest,  ob  die  Geräusche  dauernd  oder  in  Intervallen  auftreten.  Sind  sie 
dauernd,  so  werden  blähende  oder  unverdauliche  Speisen,  ein  angefüllter 
(a  corpore  repleto)  oder  ein  leerer  (aut  exinanito)  Körper,  allzu  große 
Hitze  oder  Kälte,  als  ursächliche  Momente  hervorgehoben.  Treten  sie 
in  Intervallen  auf,  so  sind  dicke  schleimige  Flüssigkeiten  und  ähnliches 
mehr  die  Ursache.  Angeborene  Schwerhörigkeit  bringt  er  unter  anderem 
auch  mit  einem  fehlerhaften  Bau  des  Gehörorgans  in  Zusammenhang 3) 
und  hält  sie  für  unheilbar. 

*)  1.  c.  Coinm.  I,  Dialog.  IV,  p.  93  u.  94. 

2)  1.  c.  Conim.  I.  Dialog.  VIII,  p.  620—624. 

3)  A  structurae  vitio,  quo  aut  figura  adest  depravata  aut  instrumentum  aliquod 
deest,  1.  c.  p.  623. 

Zu  den  verdienstvollsten  Männern  der  französischen  Schule  dieser 
Epoche  zählen  Charles  Estienne,  Guido  Guidi  und  Laurent.  Für 
die  Otologie  haben  alle  diese  Namen  keine  hohe  Bedeutung  und  an 
keinen  knüpft  sich  irgend  eine  Avertvollere  Entdeckung,  Guidi  aus- 
genommen, der  als  erster  den  nach  ihm  benannten  Vidianischeii  Nerven 
genauer  beschrieb.  Die  beiden  anderen  stehen  hinter  ihren  Zeitgenossen 
und  Vorgängern  sogar  weit  zurück. 

Charles  Estienne  (Stephanus),  gegen  1503  in  Paris  geboren, 
stammte  aus  der  berühmten  und  gelehrten  Buchdruckerfamilie  Estienne 
und  entwickelte  frühzeitig  eine  vielseitige  wissenschaftliche  Tätigkeit, 
durch  die  er  sich  große  Anerkennung  im  Gelehrtenkreise  erwarb,  während 
er   gleichzeitig    durch    die   Verfolgung   seiner    dem   Protestantismus    an- 


Charles  Estienne.  129 


hängenden  Familie  vielfache  Kränkungen  erlitt.  Er  erreichte  ein  Alter 
von  60  Jahren. 

Seine  „De  Dissectione  partium  corporis  humani  libri  tres.  etc.", 
Parisiis  1545,  mit  zahlreichen  großen  Holzschnitten  ausgestattet,  galt 
in  Frankreich  lange  als  das  beste  anatomische  Werk.  In  seiner  Dar- 
stellung ein  Anhänger  Galen  s,  zeigt  er  doch  in  vielem,  besonders  in 
der  Schilderung  der  Bänder  des  menschlichen  Körpers,  eine  auch  von 
späteren  Anatomen  anerkannte  Selbständigkeit.  Die  Aehnlichkeit  mehrerer 
Abbildungen  seines  Werkes  mit  denen  in  der  „Fabrica"  Vesals  ver- 
leitete neuere  Historiker  zu  der  Annahme,  Vesal  hätte  Abbildungen 
des  Estienne  kopiert.  Diese  Annahme  entbehrt  jeder  Begründung.  Ob 
umgekehrt  Estienne  die  „Fabrica"  für  die  bildliche  Ausstattung  seines 
Werkes  benützt  hat,  muß  dahingestellt  bleiben;  textlich  scheint  dies  nicht 
der  Fall  zu  sein ,  da  die  anatomische  Schilderung  des  Gehörorgans  von 
Estienne  von  den  zeitgenössischen  Entdeckungen  der  Italiener  nicht 
einmal  die  30  Jahre  früher  publizierte  Schilderung  des  Trommelfells  und 
der  Gehörknöchelchen  in  der  „Isagoga"  des  Berengario  da  Carpi 
enthält. 

So  wertvolle  Details  sein  anatomisches  Werk  im  allgemeinen  auch 
besitzt,  teilt  es  bezüglich  der  Ohranatomie  doch  noch  vollständig  die  An- 
schauung alter  und  mittelalterlicher  Autoren,  indem  es  über  das  Gehör- 
organ bloß  sagt,  daß  der  Gehörgang  anfangs  gerade,  dann  gewunden 
verlaufe  und  sich  gegen  das  Gehirn  zu  mit  mehreren  Löchern  öffne, 
durch  welche  der  Schall  eindringe  *). 

*)  Ultra  praedictum  sinum,  forainen  auris  apparet,  quocl  primo  rectum  et 
simplex,  procedendo  flexuosum  est,  deinde  vero  iuxta  cerebrum  in  multa  alia  tenuia 
foramina  diducitur,  per  quae  facultas  audiendi  nobis  est.    1.  c.  Lib.  I,  p.  19. 

Vidus  Vidius  (Guido  Guidi),  ein  Florentiner,  ging  im  Jahre  1542 
als  Professor  der  Anatomie  nach  Paris,  wo  er  unter  großem  Beifall  lehrte. 
Dort  verblieb  er  6  Jahre,  worauf  ihn  Herzog  Cosmo  I.  von  Toscana 
zurückberief  und  zum  Professor  der  Philosophie  und  Medizin  in  Pisa  er- 
nannte,.. Sein  anatomisches  Werk  erschien  erst  im  Jahre  1611,  lange 
nach  seinem  Tode  (1569),  von  seinem  Neffen  Julian  Guidi  heraus- 
gegeben, und  enthält  auch  die  Ergebnisse  späterer  Zeit:  De  anatomia 
corporis  humani  libri  VII,  tabulis  LXXVII  in  aere  incisis  strata;  Venetiis 
Hill  (Frankf.  1611,  1626*),  1645,  1677).  An  vielen  Stellen  sowie  in 
der  ganzen  Anordnung  erscheint  dieses  Werk  mit  seinen  vielfach  mangel- 
haften Tafeln  als  eine  Kopie  des  Vesaischen  Buches.  Originelles  findet 
sich  darin  nur  wenig.     Doch  gebührt  Vidius  das  Verdienst,  den  gemein- 


*)  Diese  Ausgabe  wurde  als  Quelle  benutzt. 
Politzer,  Geschichte  der  Ohrenheilkunde.    I. 


J30  Vidus  Vidius. 


schaftlichen  Stamm  des  Vidianischen  und  des  Gaumennerv  zuerst  genau 
beschrieben  zu  haben. 

Die  Beschreibung  des  Gehörorgans  findet  sich  an  zwei  verschiedenen 
Stellen  des  Werkes,  und  zwar  im  2.  und  7.  Buche. 

Im  2.  Buche1),  das  die  gesamte  Osteologie  des  Menschen  enthält, 
bespricht  er  unter  Hinweis  auf  die  Arbeiten  Vesals  und  des  be- 
deutendsten Anatomen  Spaniens,  Juan  Valverde  de  Amusco,  der 
bekanntlich  die  Vesaischen  Lehren  in  seinem  Vaterlande  verbreitete, 
die  Struktur  des  Schläfebeins.  Eine  kurze  Skizze  dieser  Beschreibung 
gestattet  einen  Einblick  in  die  gehöranatomischen  Kenntnisse  des  Vidius. 

Vom  Proc.  mastoid.  weiß  er,  daß  er  im  kindlichen  Alter  solid,  beim 
Erwachsenen  jedoch  hohl  sei.  Am  Schläfebein  werden  vier  „foramina"  der 
früheren  Anatomen  und  ein  fünftes  von  ihm  aufgefundenes  geschildert. 
Seine  Darstellung  dieser  „foramina"  ist  nicht  klar  genug,  da  er  jeder 
Namensbezeichnung  aus  dem  Wege  geht.  Als  erstes  „foramen"  be- 
schreibt er  den  Meatus  auditor.  ext.,  als  zweites  das  Foram.  stylomastoid., 
von  dem  er  sagt,  daß  es  viele  für  blind  endigend  gehalten  haben,  weil 
der  Kanal,  in  den  es  führe,  so  gewunden  sei,  daß  man  schwer  eine  Borste 
durchstecken  könne.  Vidius  jedoch  sah,  daß  die  Borste  aus  dem  Meatus 
auditor.  int.  herauskomme  und  weiß  auch ,  daß  durch  diesen  Kanal  die 
Portio  dura  (N.  facialis)  des  5.  Hirnnerv  (N.  acusticus)  verläuft.  Ob 
er  diese  Entdeckung  unabhängig  von  Falloppio  gemacht  hat,  läßt  sich 
schwer  feststellen.  Tatsache  ist,  daß  er  an  anderen  Stellen  das  Werk 
des  Falloppio  zitiert.  Welches  die  anderen  beiden  „foramina"  sind, 
läßt  sich  bei  der  Unklarheit  des  Textes  nicht  entscheiden,  zumal  auch 
die  entsprechenden  Abbildungen  2)  nicht  zur  Aufklärung  beitragen.  Das 
fünfte,  von  ihm  selbst  mitgeteilte  „foramen"  ist  das  For.  mastoid.,  das 
neben  der  Lambdanaht  in  der  Nähe  des  Proc.  mast.  liegt  und  einem 
Emissarium  zum  Eintritt  in  den  Sinus  diene 3).  Außer  diesen  fünf  großen 
„foramina"  gebe  es  noch  andere  kleine  Löcher  (parvula  alia),  gleichsam 
Spalten  (rimae),  in  die  eine  eingeführte  Borste  nicht  allzu  tief  ein- 
zudringen vermag. 

Die  bereits  von  Falloppio  konstatierte  Tatsache,  daß  bei  Kindern 
an  Stelle  des  Meatus  auditorius  externus  ein  ringförmiges  Knöchelchen 
(Annulus  tymp.)  sich  findet,  welches  sich  leicht  durch  Kochen  isolieren 
lasse  und  erst  später  mit  den  übrigen  Teilen  des  Schläfebeins  verwachse, 
wird  von  Guidi  eingehend  erörtert,  ohne  daß  er  Falloppio  nennt4).  Die 
Trommelhöhle  und  das  Labyrinth  werden  als  vier  „sinus"  beschrieben. 
In  dem  ersten  der  vier  „sinus",  der  Trommelhöhle,  die  er  nur  als 
Sinus  bezeichnet,  kennt  er  das  runde  und  ovale  Fenster,  die  drei  Gehör- 
knöchelchen und  die  Chorda.  Beim  Stapes  bemerkt  er,  daß  dieser  mit 
seiner  Basis  das  nicht  immer  offen  stehende  ovale  Fenster  verschließe  5). 


Viel us  Vidius. 


131 


Der  letzte  Passus  kommt  auch  für  seine  Hörtheorie  in  Betracht.  Er  sao-t 
die  Gehörknöchelchen  seien  durch  Häutchen  miteinander  verbunden 
(Membranulis  alligantur)  und  die  artikulierenden  Flächen  mit  Gelenks- 
knorpel bedeckt.  Die  Nervenstruktur  der  Chorda,  die  nach  seiner 
Beschreibung  den  Stapes  mit  dem  zweiten  Fortsatz  des  Incus  verbindet 
erkennt  er  nicht  an  und  läßt  es  dahingestellt,  ob  sie  ein  kleiner  Nerv 
oder  eine  kleine  Arterie  sei6).  Als  zweiten  „sinus"  schildert  er  den 
Vorhof  und  die  Bogengänge,  ohne  auch  diese  mit  einem  eigenen  Namen 
zu  bezeichnen,  und  als  dritten  die  Schnecke.  Erwähnenswert  ist 
seine  Angabe,  daß  man  im  zweiten  und  dritten  „sinus8  drei  bis  vier 
kleine  Löchelchen  finde,  durch  die  haardünne  Aeste  der  weichen  Portion 
des  5.  Hirnnerven  (N.  acust.)  zu  der  weichen  und  dünnen  Membran  o-ehen, 
welche  diese  beiden  „sinus"  innen  auskleidet7).  Als  vierten  „sinus" 
endlich  beschreibt  er  den  inneren  Gehörgang  mit  den  kleinen  dort  sicht- 
baren Löchelchen8). 

Im  7.  Buche9)  fügt  er  dem  bereits  Mitgeteilten  einige  neue  Be- 
merkungen hinzu.  So  erwähnt  er,  daß  der  Canalis  facialis  kleine  Löcher 
besitze,  durch  die  Gefäße  und  Aeste  des  Facialis  austreten.  Ferner  hält 
er  die  Membranen,  die  das  runde  und  ovale  Fenster  verschließen,  für 
Derivate  des  Periosts  der  Trommelhöhle10).  Die  inneren  Ohrmuskel 
übersieht  er  gänzlich. 

Recht  kurz  und  bündig  äußert  er  sich  über  die  Hörtheorie  X1). 
Es  sei  nicht  genügend  festgestellt,  inwieweit  die  einzelnen  Teile  des 
Gehörorganes  zum  Hören  beitragen.  Durch  den  Schall  würden  die  Gehör- 
knöchelchen in  Bewegung  gesetzt  und  das  ovale  Fenster  auf  diese  Weise 
geöffnet,  so  daß  durch  dieses  und  das  runde  der  Schall  in  die  anderen 
„sinus",  welche  „membranula  ex  nervulo  quinti  pari  dilato"  ausgekleidet 
seien,  eindringen  könne.  Dort  sei  nämlich  der  Sitz  der  vom  Gehirn  ver- 
liehenen Hörfähigkeit.  Daneben  erklärt  er  an  anderer  Stelle12)  die  Luft, 
welche  „in  intimo  foramine  auris  residet",  als  das  „praeeipuum  instru- 
mentum  auditus". 

Zu  erwähnen  wäre  noch  einiges,  was  von  Vidius  über  Ohr- 
pathologie mitgeteilt  wird.  Bei  Kongestionen  des  Blutes  nach  dem 
Ohre  läßt  er  Blutegel  in  der  Nase  ansetzen.  Schwerhörigkeit  und 
Taubheit  will  er  durch  laute  Geräusche  günstig  beeinflussen.  End- 
lich empfiehlt  er,  das  Ohr  nicht  zu  verstopfen,  damit  einerseits  der 
Schall  ungehindert  einfallen  und  anderseits  das  Cerumen  abfließen 
könne  13). 

>)  Cap.  2,  p.  24  u.  25. 

2)  1.  c.  L.  II,  Tab.  V,  Fig.  1—6  (A,  B,  C,  D),  p.  29. 

3)  His  quatuor  adde  quintum,  quod  ab  externa  parte  calvariae  deprehenditur 
iuxta   suturam    lambdoidem  ad  originem  processus  mastoidis:    interdum  non  in  solo 


132  Di  Laurent. 


osse  temporum,    sed  partim  etiam  in  occipitia  insculpitur;  exit  per  hoc  vena,  quae 
a  fönte  sanguinis  durae  membranae  cerebri  fertur  ad  occipitium,  1.  c. 

4)  .  .  .  initio  foraminis  os  parvum  annuli  modo  figuratum  deprehenditur  in- 
fantibus, praesertim  ubi  coquatur,  separatum  a  reliquo  osse,  cum  quo  aetatis  pro- 
gressu  coalescit,  1.  c. 

5)  ...  et  sua  basi  ovatum  foramen  quod  diximus  claudit;  neque  enim  semper 
patet,  1.  c. 

6)  Discurrit  et  per  bunc  primum  sinum  chorda  tenuisshna ,  qua  stapes  cum 
altero  crure  incudis  coniungitur:  videtur  autem  aut  nervulus,  aut  parva  arteria,  1.  c. 

7)  Deprehenduntur  tarnen  tria,  aut  quatuor  minima  foramina  in  secundo,  ac 
tertio  sinu,  per  quae  ramuli  mollis  nervi  quinti  paris  capillorum  modo  tenues  ad 
membranulam  feruntur,  mollem,  ac  tenuem.  quae  eosdem  sinus  internos  ambit,  1.  c. 

8)  Mollis,  qui  praebet  audiendi  facultatem  per  minima  foramina  in  hoc  sinus 
vix  conspicua,  distribuitur  in  reliquos  sinus  iam  dictos,  ac  membranam  ipsos  circum- 
dantem,  1.  c. 

9)  1.  c.  Cap.  V,  p.  303  u.  304. 

10)  Unum  ovatam  figuram  habens  situm  est  ad  superiorem,  ac  mediam  partem 
sinus ;  tenuissimaque  membrana  clauditur  ambiente  Universum  sinum,  clauditur 
autem  a  basi  stapedis.  Alteram  versus  posteriorem  atque  inferiorem  partem  est 
rotundum.  atque  eadem  membrana  obductum,  per  quod  patet  auditus  per  unam 
viam  in  secundum  sinum,  per  alteram  in  tertium,  1.  c. 

n)  ...  illud  tarnen  in  aperto  est,  quod  ubi  agitetur  membrana,  agitatur  etiam 
malleus  per  manubriolum  membranae  illigatum ;  et  propterea  incus,  et  stapes,  et  ita 
aperitur  ovatum  foramen,  adeo  ut  sonus  per  hoc,  et  per  alterum  rotundum  penetrare 
ad  alios  sinus  possit  obductos  membranula  ex  nervulo  quinti  pari  dilata,  ubi  domi- 
cilium  est  facultatis  audiendi  a  cerebro  transmissae.  Sed  haec  coniectura  magis 
quam  scientia  comprehenduntur. 

12)  1.  c.  p.  303. 

13)  Artis  medicinalis  Tom.  V,  Francof.  1595.  Lib.  IV,  Cap.  10—12,  p.  168—177. 
Lib.  VI,  Cap.  5,  p.  274—275. 

Du  Laurent.  Zu  den  in  dieser  Epoche  wirkenden  französischen 
Anatomen  zählt  Andreas  Laurentius  (f  1609),  Kanzler  der  Universität 
Montpellier,  später  Dekan  der  Pariser  Fakultät  und  Leibarzt  am  franzö- 
sischen Hofe.  In  seiner  „Historia  anatomica"  v)  bezeichnet  Du  Laurent 
als  äußeres  Ohr  bloß  die  knorpelige  Ohrmuschel,  die  nicht  nur  zum 
Schmuck ,  sondern  auch  zur  Schallaufnahme  dient 2).  Geht  sie  aus 
irgend  einem  Anlasse  verloren,  so  vernimmt  man  Schall  und  Stimme 
nur  wie  das  Rauschen  des  Wassers  oder  das  Zirpen  der  Zikade3).  Die 
Beweglichkeit  der  Ohrmuschel  bei  manchen  Menschen  schreibt  er  der 
Wirkung  besonderer  Muskeln  zu 4).  Das  Ohrenschmalz  habe  die  Auf- 
gabe ,  kleine  Tierchen ,  die  etwa  versuchen  ins  Ohr  einzudringen ,  fest- 
zuhalten. 

Das  innere  Ohr,  zu  dem  Du  Laurent  auch  den  äußeren  Gehör- 
gang  und  das  Trommelfell  rechnet,  wird  von  vier  Gängen  (meatus, 
cavitas)  gebildet.  Den  ersten  Gehörgang,  der  durch  das  Trommelfell 
nach  innen  zu  seinen  Abschluß  findet,  beschreibt  er  als  gewunden,  schief, 


Du  Laurent.  133 


rund  und  eng  („tortuosus  est,  obliquus,  rotundus,  angustus");  das 
Trommelfell  dagegen  als  zart ,  dicht ,  trocken ,  durchsichtig  und  sehr 
empfindlich.  („Tenuis  est,  densa,  sicca,  pellucida  et  exquisitissimi  sehsus.") 
Des  Schutzes  wegen  ist  es  schief  gestellt.  Es  entstammt  weder  der  Pia 
mater,  noch  dem  5.  Gehirnnerv,  sondern  der  harten  Hirnhaut5).  Ge- 
staltet es  sich  bei  der  Bildung  zu  dick  und  zu  dicht,  so  bewirkt  es 
unheilbare  Taubheit,  während  es  von  Flüssigkeit  (Eiter)  triefend,  Schwer- 
hörigkeit erzeugt6).  Der  zweite  Gang,  der  sich  an  das  Trommelfell 
anschließt  (Trommelhöhle),  von  Aristoteles  „Cochlea",  von  anderen 
„pelvis"  genannt,  enthält  neben  Luft  (aer  vernaculus)  die  Gehör- 
knöchelchen, von  denen  Du  Laurent  bemerkt,  daß  sie  sonderbarer- 
weise beim  Knaben  ebenso  groß  sind  wie  beim  Greise  („et,  quod  mirum 
est,  eorum  in  puerulo  eadem  est  quae  in  sene  magnitudo").  Von  der 
Chorda  meint  D  u  L  a  u  r  e  n  t ,  sie  sei  so  klein ,  daß  man  nicht  ent- 
scheiden könne,  ob  sie  Nerv,  Vene  oder  Arterie  sei.  („Tarn  exilis  est 
cliorda,  ut  quid  sit,  nervus  an  vena,  an  arteria  dubitetur.")  Auch  das 
Vorhandensein  von  Muskeln,  die  ihrer  Kleinheit  Avegen  sich  fast  der 
Beobachtung  entziehen,  wird  erwähnt.  Du  Laurent  wendet  sich  gegen 
die  Ansicht  des  Arantius,  daß  nur  der  Hammer  sich  bewege.  Er  weiß, 
daß  die  Knöchelchen,  die  Chorda  und  die  ausnehmend  kleinen  Muskeln 
nur  Organe  der  Fortleitung  sind 7).  Denn  nicht  durch  die  Bewegung 
und  das  Zusammenschlagen  der  Knöchelchen  werden  Töne  ausgelöst. 
( ..Errant  autem  qui  ossicula  ita  moveri  putant,  ut  invicem  percussa  stre- 
pitum  edant.")  Noch  findet  man  im  zweiten  Gange  einen  knorpeligen 
Kanal,  der  zum  Gaumen  hinführt  (Tuba  Eustachii),  und  zwei  Fensterchen, 
von  denen  das  untere,  wie  Du  Laurent  bemerkt,  keinen  Namen  besitzt. 
Es  folgt  der  dritte  Gang,  das  Labyrinth,  so  geheißen,  weil  es  von 
vielen  verborgenen  Gängchen  und  Kämmerchen  gebildet  wird.  („Tertia 
sequitur  cavitas,  quam  labyrinthum  vocant,  quod  multis  quasi  cuniculis 
et  conclavibus  furtim  agatur. ")  Der  Zweck  dieser  Windungen  ist  es,  die 
Töne  durch  die  Verengungen  zu  verschärfen  und  ihre  Zerstreuung  zu 
verhindern.  („Horum  anfractuum  hunc  usum  agnoscimus,  ut  sonws  per 
angusta  transiens  loca  acutior  fiat,  nee  dissipetur. ")  Der  vierte  Gang, 
von  Falloppio  „Cochlea"  genannt,  beherbergt  den  Hörnerv,  der  vom 
.").  Hirnnerv  seinen  Ausgang  nimmt  und  die  Töne  zum  Gehirne  (ad 
sensum  communem)  leitet. 

Was  die  Physiologie  des  Gehörorgans  betrifft8),  so  gibt  Laurent 
über  das  Hören  folgende  Erklärung:  Die  Luftwelle,  von  Avicenna 
„Klangwelle"  (unda  vocalis)  genannt,  pflanzt  sich  bis  zum  Ohre  fort 
gleich  Kreisen  im  Wasser.  Sie  dringt  in  den  ersten  (äußeren)  Gehör- 
gang  ein  und  bewegt  das  Trommelfell.  Die  Bewegung  setzt  sich  ver- 
mittels   der  Gehörknöchelchen  und  der  inneren  Luft  (..vernaculus  aer  et 


134  ^u  Laurent. 


congenitus"),  sowie  durch  die  Fenster  in  die  gewundenen  Gänge  und 
das  Labyrinth  fort  und  gelangt  schließlich  in  die  Schnecke.  Von  hier 
leitet  der  Hörnerv  die  Töne  im  Gehirn  weiter. 

Aristoteles  hatte  behauptet,  das  erste  und  wichtigste  Organ  des 
Gehörsinns  sei  die  im  Ohr  befindliche  Luft.  Laurent  zieht  diese  Be- 
hauptung in  den  Kreis  seiner  Betrachtungen  und  leugnet  die  dem  aer 
ingenitus  zugeschriebene  Bedeutung.  Die  innere  Luft  sei  nur  das 
innere  Medium,  das  wichtigste  Instrument  des  Gehörorgans  aber  sei  der 
5.  Hirnnerv. 

Du  Laurent  untersucht  ferner  die  merkwürdigen  Beziehungen 
zwischen  dem  Ohr  auf  der  einen ,  Gaumen ,  Zunge  und  Larynx  auf  der 
anderen  Seite.  Er  gelangt  hierbei  trotz  der  Richtigkeit  der  angegebenen 
Symptome  zu  durchwegs  falschen  Erklärungen.  Wenn  wir  gespannt 
zuhören,  halten  wir  den  Atem  an;  wenn  wir  gähnen,  hören  wir 
schlecht*);  reizt  man  mit  einem  Messer  das  Trommelfell**),  so  entsteht 
sofort  ein  trockener  Husten;  Schwerhörige  sprechen  mühsam  und  durch 
die  Nase;  Taubgeborene  sind  auch  stumm.  Faßt  man  mit  Mund  und 
Zähnen  eine  Zither  und  verschließt  beide  Ohren ,  so  hört  man  besser. 
Für  dies  alles  lassen  sich  zwei  Gründe  anführen.  Der  5.  Hirnnerv  gibt 
einen  größeren  Ast  für  das  Ohr,  einen  kleineren  für  Zunge  und  Larynx 
ab;  daher  verbinden  sich  Störungen  des  Gehörs  leicht  mit  denen  der  Zunge. 
Jene  volkstümliche  Ansicht,  Taube  seien  auch  stumm,  weil  sie  die  Sprache 
nicht  lernen  könnten,  hält  er  für  falsch.  Denn  warum  atmen  und 
seufzen  die  Tauben  auch  schwer?  Und  würden  sie  nicht  selbst  Worte 
und  Sprache  erfinden,  um  ihre  Gefühle  und  Empfindungen  auszudrücken, 
wofern  sie  nur  Worte  hervorbringen  könnten?  —  Der  zweite  Grund  dieser 
Zusammenhänge  liegt  im  Ductus  cartilagineus  (Tuba  Eustachii).  Wenn 
man  den  Atem  anhält,  um  gut  zu  hören,  so  geschieht  dies,  damit  der 
zweite  Gehörgang  (Trommelhöhle)  nicht  mit  Luft  gefüllt  und  das  Trommel- 
fell dadurch  gespannt  werde.  Beim  Gähnen  wird  es  so  gespannt  und  auf- 
gebläht, daß  wir  Töne  nicht  aufnehmen  können.  Schließlich  erregt  man 
durch  Druck  auf  das  Trommelfell  Speichelabsonderung  und  Husten,  weil 
durch  den  Druck  das  Ohrenschmalz  (sordes)  durch  die  Ohrtrompete  zur 
Zunge  gelangt! 

Die  vorhergehende  Schilderung  des  Standes  der  Otologie  in  Frank- 
reich im  16.  Jahrhundert  zeigt,  daß  die  Leistungen  der  französischen 
Anatomen  in  diesem  Zeiträume  für  die  Entwicklung  der  Ohrenheilkunde 
fast  ohne  jegliche  Bedeutung  sind.  Erst  im  17.  Jahrhundert  geht  die 
Führerschaft  auf  diesem  Wissensgebiete  auf  die  Franzosen  über. 


)  Wurde  bereits  von  Aristoteles  beobachtet.    Problem.  Sekt.  XI.  29  u.  44. 
**)  Nicht  durch  Reizung  des  Trommelfells  sondern  der  Gehörgangswände  wird 
Husten  ausgelöst. 


Paracelsus.  135 

')  Historia  anatomica  humani  corporis  et  singularum  eius  partium.  Francoforti 
ad  Moenura  1600.     Lib.  XI,  Cap.  12  u.  13. 

2)  S.  426 — 427 :  „Non  sunt  ad  ornatum  tantura .  ut  existimarunt  quidam .  con- 
structae  auriculae,  sed  ut  irruentis  aeris  sonurn  excipiant;  et  si  forte  audiendi  meatum 
praeterfugerit  aer,  a  posteriore  parte  repulsus,  antrorsum  versus  cavitatem  ingrediatur/ 

3)  S.  427:  „Quibus  ex  vulnere  aut  alia  quauis  de  caussa  praecisae  sunt  aures, 
ii  sonos  et  articulatas  voces  fluitantis  aquae  aut  resonantis  cicadae  in  modum  ex- 
audiunt." 

4)  S.  427:  „Aures  uni  homini  fere  semper  immobiles  sunt:  si  quando  tarnen 
eas  moveri  contingat,  ut  in  quibusdam  obseruavi,  exiguorum  musculorum  opera  id 
fieri  existimandum." 

5)  S.  427:  „Ortum  ducit  non  a  pia  meninge,  nee  a  neruo  quintae  conjugationis 
dilatato ,  ut  voluerunt  quidam ,  sed  a  portiuneula  durae  meningis ,  cuius  naturam 
omnino  refert." 

6)  S.  427:  ,Hoc  in  loco  dignum  est  obseruatione,  membranam  hanc  a  prima 
conformatione  crassiorem  et  densiorem  surditatis  insanabilis  caussam  esse.  Quod  si 
aliquando  humoris  influxu  madeat,  gravem  et  difficilem  auditum  parit." 

7)  S.  428:  „Haec  igitur  pulsationis  sunt  Organa,  ossieula  tria,  eborda  etmusculi." 

8)  1.  c.  Lib.  XI,  Controversiae  anatomieae  questiones,  IX,  X,  XI. 


f)  Pathologie  und  Therapie  der  Ohrerkrankungen 
im  16.  Jahrhundert. 

Der  wissenschaftliche  Fortschritt  in  der  Erkenntnis  und  Behandlung 
der  Ohrenkrankheiten  im  16.  Jahrhundert  stand  in  keinem  Verhältnisse 
zu  dem  durch  die  großen  anatomischen  Entdeckungen  hervorgerufenen 
Umschwung  in  der  Methode  wissenschaftlicher  Forschung.  Als  hauptsäch- 
liches Hindernis  des  Fortschrittes  der  Ohrpathologie  ist  in  erster  Reihe 
der  gänzliche  Mangel  einer  pathologischen  Anatomie  des  Gehör- 
organs anzusehen.  Die  frühen  Ansätze  zu  dieser  finden  wir  erst  im  fol- 
genden Jahrhundert.  Auch  hatten  die  durch  die  Reformation  hervorge- 
rufenen Wirren  und  die  verheerenden  Epidemien  in  Europa  das  Interesse 
von  dem  weniger  wichtig  scheinenden  Spezialfache  vollständig  abgelenkt, 
und  man  sucht  in  den  Schriften  dieser  Periode  vergeblich  nach  einer  eine 
Reform  der  Ohrpathologie  anbahnenden  Idee.  Obwohl  nun  unter  den 
hervorragenden  Aerzten  dieser  Zeit  manche  noch  der  arabistischen  Doktrin- 
medizin anhängen,  während  andere  sich  in  unnützen  Spekulationen  ergehen 
oder  noch  dem  krassen  Mystizismus  und  Aberglauben  huldigen,  zeigt  sich 
doch  schon  bei  vielen  eine  Rückkehr  zu  den  lange  vernachlässigten  Lehren 
der  Hippokratiker.  Indem  man  wieder  anfing,  sich  der  auf  die  Beobachtung 
der  Krankheitserscheinungen  basierenden  ärztlichen  Kunst  zuzuwenden, 
wurde  ein  Fortschritt  in  der  Otologie  angebahnt,  der  allerdings  erst  in 
den  folgenden  Jahrhunderten  zu  Tage  tritt.  Bemerkenswert  bleibt  es 
immerhin,  daß  die  Begründer  der  Ohranatomie:  Vesal,  Falloppio,  In- 
grassia,  Eustachio,    die   sich  eines   hohen  Rufes   als  Aerzte  und  Chi- 


13(3  Paracelsus. 


rurgen  ihrer  Zeit  erfreuten,  fast  nichts  für  die  Reformierung  der  Patho- 
logie des  Ohres  geleistet  haben. 

Die  große  Mehrzahl  der  in  dieser  Periode  erschienenen  medizinischen 
Werke  enthalten  fast  ausnahmslos  einen  Abschnitt  über  Ohrerkrankungen 
und  deren  Behandlung.  Doch  ergibt  eine  Durchsicht  dieser  Werke  fast 
nie  eine  selbständige  Bearbeitung  des  Gegenstandes,  sondern  meist  Wie- 
derholungen früherer  Autoren.  Nur  hie  und  da  finden  wir  eine  von  den 
älteren  Aerzten  abweichende,  originellere  Auffassung  der  Ohrpathologie 
oder  einen  interessanten  Krankheitsfall  oder  endlich  einen  praktischen 
Eingriff,  der  verzeichnet  zu  werden  verdient.  Ich  werde  mich  daher  im 
folgenden  nur  auf  eine  kurze  Schilderung  der  ohrenärztlichen  Literatur 
dieser  Periode  beschränken,  ohne  auf  die  einzelnen,  meist  wertlosen 
Schriften  näher  einzugehen.  In  der  folgenden  Darstellung  wurde  mehr 
auf  die  geschichtliche  Bedeutung  der  Autoren  als  auf  die  chronologische 
Reihenfolge  Rücksicht  genommen. 

Paracelsus.  Zu  jenen  Männern,  die  sich  in  ihren  Anschauungen 
von  der  mittelalterlichen  Tradition  lossagten,  und  die  Pathologie  nach 
eigenartigen  —  allerdings  vielfach  mystisch  beeinflußten  - —  Ideen  zu 
reformieren  bestrebt  waren,  zählt  Aureolus  Philippus  Theophrastus 
Paracelsus  (1491  —  1541)  Bombast  ab  Hohenheim,  eine  der  meistge- 
nannten und  doch  dunkelsten  Persönlichkeiten  seiner  Zeit.  In  seinen 
zahlreichen,  nur  zum  Teile  von  ihm  selbst  verfaßten  Schriften  sind  der 
Behandlung  der  Ohrkrankheiten  an  verschiedenen  Stellen  kurze  Abschnitte 
gewidmet.  Ein  Verächter  der  arabischen  und  Galenischen  Medizin,  ver- 
wirft er  die  von  ihnen  empfohlenen,  reizenden  Einspritzungen  bei  Ohr- 
entzündungen (Recepta  universa,  quae  infusiones  in  aures  suadent,  im- 
proba  sunt  et  falsa*).  Indes  ist  die  von  Paracelsus  vorgeschlagene  Be- 
handlung der  Otitis  kompliziert  genug  und  seine  Verordnungen  entbehren, 
wie  die  folgenden  Rezepte  zeigen,  keineswegs  stark  reizende  Ingredienzien. 
Als  besonders  wirksam  preist  er  die  Solutionen  der  Tutia  (Nihil  enim  in 
aures  infundi  debet,  nisi  Receptum  sit  ex  Tutiä).  Die  von  Paracelsus 
empfohlenen  Rezepte  lauten: 

%.  Tutiae  praeparatae  sine  aceto  o  ß.  Carabae  ^j.  Reduc  in  liquorem.  Deinde 
buius  liquori8  5  vij  ß.  Alcohol  vini  exiccati  3  ij.  Reduc  per  maris  praeparationem. 
Fiat  Sief.     Hoc  debet  in  moduni  Emplastri  imponi. 

H-.  Seminis  Jusquiami  papaveris,  lolij.  nigellae  an.  3ß.  Fellia  tauri  §ß.  cam- 
phonie  liquefacta  ad  pondus  omnium.     Reduc  in  siccum  Sief.  —  Id.  p.  510  a. 


*)  Die  von  mir  benützte  Ausgabe  ist:  Aur.  Philipp.  Theoph.  Paracelsi 
Bombast  ab  Hohenheim  opera  omnia  medico-chemico-chirurgica  tribus  voluminibus 
comprehensa.  Genevae  1658.  —  Vol.  I.  Paragraphorurn  Liber  XIII  et  XIV.  De 
doloribus  Aurium  et  oculorum,  p.  509  b. 


Paracelsus.  137 


An  anderer  Stelle  bezeichnet  Paracelsus  die  von  den  Alten  an- 
gewendete Therapie  der  Ohraffektionen  als  vollkommen  unnütz  (Prae- 
terea  nulla  cura  a  veteribus  in  dolore  aurium  tradita  utilis  est,  sed  sunt 
omnes  erroneae),  ohne  dabei  eine  bessere  an  deren  Stelle  zu  setzen.  Sein 
Skeptizismus  gegenüber  der  Behandlung  von  Ohrenleiden  charakterisiert 
sich  auch  durch  folgenden  Satz:  si  surditas  adfuerit,  frustra  est  omnis 
cura.  Nam  quod  natura  semel  adimit,  reparare  medicus  nullo  pacto 
potest*).  Ebenso  hält  er  die  Verwundung  des  Ohres  für  unheilbar**), 
berichtet  jedoch  über  einen  Fall***)  von  Heilung  der  Schwerhörigkeit  nach 
Verlust  der  Ohrmuschel.  Subjektive  Geräuschef)  werden  nach 
Paracelsus  durch  heftige  Geräusche  (fragor  tormentorum,  campanarum 
sonitus,  molendinorum  tumultus)  hervorgerufen.  Als  Heilmittel  empfiehlt 
er  wiederholte  Skarifikation  der  Ohrmuschel,  Cucurbitula  hinter  dem  Ohre, 
und  endlich  Venaesektion  unter  der  Zunge. 

Für  das  Entstehen  von  Würmern  macht  er  ein  Sperma,  Fäulnis 
und  Hitze  im  Ohre  verantwortlich  und  schreibt  vor,  jede  Wurmart  durch 
ein  anderes  spezifisches  Mittel  zu  töten.  So  empfiehlt  er  Agaricus,  Kaute, 
Engelwurzel,  Johanniskraut,  Koloquinthen,  Mehl  von  einer  faulen  Tanne 
und  weißen  Vitriol  ff). 

J.  Fernelius.  Als  einer  der  ältesten,  jedoch  nicht  als  bedeutendster 
in  dieser  Reihe  ist  Johannes  Fernelius  (1497  — 1558)  zu  nennen,  der 
in  seiner  „Universa  Medicina"  (I.  ed.  Venetiis  1564)  die  „Aurium  morbi 
et  symptomata,  horumque  causae  et  signa"  behandelt,  aus  denen  hier  die 
markantesten  Stellen  hervorgehoben  werden  sollen  ff  f). 

Wenn  Fernelius  Ohren  schmerz,  subjektive  Geräusche 
und  Schwerhörigkeit  denselben  Ursachen  entspringen  läßt  (Jam  vero 
dolor,  tinnitus,  auditusque  gravis,  et  omnia  audiendi  symptomata,  ex  iis- 


)  Ibid.  Scholia  in  Libros  paragr.  p.  549  a. 
**)  Id.  vol.  III.  Chirurgia  Magna,  Tract.  I,  Cap.  3.  p.  3b. 

)  Ibid.  Cap.  16.     Surditas  a  vulnere  curata.  p.  IIb  und  Chirurgia  vulnerum. 
Cap.  16.  Surditas  illuvione  vulneris  curata.  p.  83  b. 

f)   Ibid.  Aurium  Tinnitus.     Chir.  Mag.  Tract.  III,  Cap.  15,  p.  37a. 
i'f)  Weitere   bedeutungslose  Bemerkungen  über  das  Gehörorgan  finden  sich  in 
dem  umfangreichen  Werke  des  Paracelsus  an  folgenden  Stellen: 

Vol.  I.  De  caduco  Matricis  Paragr.  VI.  Surditas  ex  caduco.  p.  687  b.  Modus 
pharmacandi.    Tract.  I. 

Vol.  II.    Archidoxis  über  I.    De  Prologo  et  Microcosmo.    Surdi  cur  fiant.  p.  II». 
Lib.  nonus  de  signatura  rerum  natura.    Aures  magnae,  quid;  depressae,  quid. 
p.  109  a. 

Vergl.  ferner:  Schriften  des  Paracelsus,  herausg.  v.  Job.  Huser,  Straßburg 
1618.  Vol.  I,  p.  192,  455  u.  536,  Ohrenheilk.  von  Lincke,  Bd.  II,  p.  28  und  Sudhof, 
Paracelsus,  1905. 

fff)  Trajecti  ad  Rhenum  1556,  Pathologiae  Lib.  V,  Cap.  6,  p.  93. 


138  Johannes  Fernelius. 


dem  saepe  causis  procedunt),  so  bedeutet  das  sicherlich  einen  Fortschritt 
gegenüber  der  Anschauung  vieler  seiner  Vorgänger,  welche  diese  Einzel- 
symptome als  ebensoviele  Krankheitsbilder  behandelten.  Die  subjek- 
tiven Ohrgeräusche,  die  durch  Bewegung  und  Erregung  von  Stoffen 
im  inneren  Ohre  entstehen  (ex  motu  et  agitatione  eorum  nascitur  quae 
intimam  aurem  occupant),  unterscheidet  Fernelius  in  Sibilus,  Tinnitus, 
Sonitus,  Strepitus  und  Fluctuatio.  —  Sibilus  (Sausen)  entstehe  infolge 
eines  schwachen  Hauches,  der  spärlich  entweicht  (ex  flatu  tenui  exiliter 
elabente),  tinnitus  (Klingen)  infolge  unterbrochenen  Ausströmens  jenes 
Hauches  (ex  illius  cursu  interrupto) ,  sonitus  (Brausen)  infolge  einer 
dichteren  Luft,  die  voller  herausströmt  (ex  crassiore  plenius  erumpente), 
strepitus  (Rasseln)  infolge  heftigen  Antriebes  (ex  valido  impulsu) 
und  endlich  die  fluctuatio  durch  Hin-  und  Herwogen  von  Flüssig- 
keit (ex  humoris  jactatione).  Seine  Therapie  der  Ohraffektionen,  ebenso 
kompliziert  wie  die  der  Vorgänger,  bietet  nichts  Erwähnenswertes. 

Rondeletti,  Lehrer  Vesals  und  Professor  an  der  Universität  Montpellier, 
bringt  in  seinem  vorzugsweise  der  Therapie  der  Krankheiten  gewidmeten  Werke*) 
nur  eine  Anzahl  komplizierter  Rezepte  gegen  Ohrschmerz  (p.  293).  gegen  Ohrgeräusche 
(p.  297)  und  gegen  Schwerhörigkeit  (p.  298).  Seine  Mitteilungen  unterscheiden  sich 
nur  wenig  von  dem  unwissenschaftlichen  Wust,  dem  wir  so  oft  bei  den  Autoren  des 
Mittelalters  begegnen. 

Hier  wäre  noch  der  früher  (S.  76)  als  Anatom  angeführte  Alessandro  Bene- 
detti  (f  1525)  zu  erwähnen,  der  in  seinem  pathologisch-therapeutischen  Werke**) 
sich  dahin  ausspricht,  daß  die  klinischen  und  pathologisch-anatomischen  Beobachtungen 
die  einzige  Grundlage  eines  Fortschrittes  der  medizinischen  Wissenschaften  bilden 
müssen.  Trotzdem  ist  in  seiner  Ohrpathologie  kaum  eine  Spur  dieses  Ideenganges 
zu  entdecken.  Seine  Therapie  gefällt  sich  vielmehr  in  der  Anpreisung  der  phan- 
tastischsten Mittel,  z.  B.  Sperma  eines  Ebers  oder  eine  Mischung  von  Mäusekot  und 
Honig  gegen  Ohrenschmerz,  Urin  von  Kindern,  Speichel  eines  nüchternen  Menschen, 
und  in  P^ssig  aufgelösten  Taubenmist  gegen  Ohrwürmer  etc. 

Ebensowenig  Erfreuliches  bieten  die  medizinischen  Werke  dieser  Zeitepoche 
des  Antonio  Donato  d'Altomare  (Donatus  ab  Altomari,  geb.  1520) !),  des  Gio- 
vanni Battista  Monte  (Montanus,  geb.  1498) 2),  des  Vittore  Trincavella 
(geb.  1496) 

')  De  medendis  humani  corporis  malis  ars  medica.  Venet.  1570,  Cap.  33 — 35, 
p.  145-151. 

2)  Consultationes  medicae.    1583. 

3)  Consilia  medica.     Basel  1587. 


ensi 


*)  Gulielmi  Rondelpttii,  doct.  medici,  et  medicinae  in  schola  Monspeli 
profFesoris  Regij   et  Cancellarij    Methodus    curandorum  omnium   morborum    corporis 
humani  in  tres  libros  distincta.     Lugduni  MDLXXV. 

**)  Omnium  a  vertice  ad  calcem  morborum  signa ,  causae ,  indicationes  et 
remediorum  compositiones  utendique  rationes  generatim  libris  XXX,  conscripta 
Basileae  1539.     Lib.  III,  Cap.  1—30. 


Hieronymus  Mercurialis.  139 


Hieronymus  Mercurialis.  Einer  fast  ebenso  großen  Popularität 
als  Mediziner  wie  Paracelsus  erfreute  sich  im  16.  Jahrhundert  Gero- 
nimo  Mercurialis.  1530  zu  Forli  in  der  Romagna  geboren,  ab- 
solvierte er  seine  Studien  in  Bologna,  wurde  in  Padua  zum  Doktor 
promoviert  und  1569  daselbst  zum  Professor  ernannt.  Im  Jahre  1587 
folgte  er  einem  Rufe  nach  Bologna,  von  wo  er  1599  nach  Pisa  über- 
siedelte.    Er  starb  1606  in  seiner  Vaterstadt. 

In  seinem  in  der  Uebergangszeit  aus  der  arabischen  in  die  neu- 
hippokratische  Periode  verfaßten,  reichhaltigen  therapeutischen  Werke*) 
werden  die  Erkrankungen  des  Gehörorgans  weitläufig  behandelt.  Wenn 
in  diesem  Werke  auch  vorwiegend  dasjenige,  was  die  Alten  und  die 
Araber  gelehrt  hatten,  zusammengetragen  ist,  so  findet  sich  darin  doch 
auch  manches  Selbständige  und  Eigentümliche,  das  wir  zur  Charakteri- 
sierung der  medizinischen  Denkweise  der  damaligen  Zeit  erwähnen  wollen. 
Die  Taubheit  und  Schwerhörigkeit,  lehrt  Mercurialis,  kann  durch  patho- 
logische Veränderungen  im  Gehirn  oder  im  Gehörorgane  selbst  be- 
dingt werden,  sie  kann  angeboren  oder  erworben,  veraltet  oder  frisch, 
essentiell  oder  sympathisch  (durch  consensus)  sein.  Liegt  die  Ursache 
im  Gehirn,  so  wird  die  Schwerhörigkeit  durch  die  „mala  intemperies", 
Tumoren,  Verletzungen,  Entzündungen  (Phrenitis)  etc.  hervorgerufen,  in- 
dem nämlich  keine  genügende  Versorgung  des  Gehörorgans  mit  den  zur 
Funktion  nötigen  „Spiritus  animales"  stattfindet.  (Viele  und  reine  Lebens- 
geister erzeugen  gutes  Gehör,  wenige  oder  krankhaft  veränderte  ein 
schlechtes.) 

Ist  die  Ursache  im  Gehörorgan  selbst  gelegen,  so  kann  sie  bestehen 
in  „mala  intemperies",  Solutio  continui  (in  den  Knochen  oder  im  Trommel- 
felle), oder  in  der  Verschließung  durch  Sordes  (Ohrenschmalz)  und  „hu- 
mores". 

Im  Alter  wird  Schwerhörigkeit  beobachtet,  weil  zu  wenige  und  zu 
schwache  Nervengeister  vom  Gehirn  zum  Ohre  dringen. 

Aeußere  Veranlassungen  bilden  starke  Geräusche,  Fremdkörper, 
kaltes  Wasser,  schädliche  Medikamente,  Dämpfe  (Auripigment,  Queck- 
silber, Arsenik).  Sehr  häufig  trete  Schwerhörigkeit  im  Gefolge  von  Krank- 
heiten auf  (Epilepsie,   „Lethargie",   „Phrenitis",  Lungenkrankheiten). 

Der  Zusammenhang  mit  Lungenkrankheiten  wurde  (schon  seit  Ari- 
stoteles) aus  dem  funktionellen  Zusammenhange  des  Sprechorgans  (Luft- 
röhre) mit  dem  Gehörorgan  erklärt. 

Der  Konnex  mit  cerebralen  Prozessen  erkläre  sich  dadurch,  daß  das 
Ohr  dem  Gehirne  vermöge  der  Beziehung  des  Gehörsinnes   zur  Vernunft 

*)  De  Compositione  rnedicamentorum  tractatus,  tres  libros  complectens,  eiusdem 
de  oculorum  et  auriurn  affectionibus  praelectiones  seorsim.  editae.  Francoforti  1591 
(I.  Edit.  1584,  p.  138—182). 


]  \()  Hieronymus  Mercurialis. 


am  nächsten  stehe  und  weil  sich  die  Entzündungen  auf  dem  Wege  der 
harten  Hirnhaut  in  das  Gehörorgan  fortpflanzen,  welches  ja  von  ihren 
Fortsetzungen  ausgekleidet  sei.  Das  verhältnismäßig  häufige  Vorkommen 
angeborener  Taubheit  erklärt  Mercurialis  aus  folgenden  Momenten: 
1.  Sei  das  Ohr  in  utero  Schädlichkeiten  am  leichtesten  ausgesetzt,  weil 
es  offen  stehe;  2.  werde  es  wegen  seiner  Leere  leicht  verstopft;  3.  seien 
die  Hörnerven  wegen  ihrer  nachbarlichen  Beziehungen  zum  Gehirne 
empfindlicher  und  daher  leichter  verletzbar *). 

Innere  Ursachen  bewirken  stets  doppelseitige  Gehörsfehler,  im  Gegen- 
satz zu  äußeren. 

Was  die  Diagnostik  anlangt,  so  steht  Mercurialis  einfach  auf 
dem  Standpunkt  des  „Ex  juvantibus",  wofür  wir  zwei  Beispiele  anführen 
wollen:  „Quod  si  fiat  auditus  vitiuni  a  stomacho,  cognoscetis  hoc  iudicio; 
quia  cibo  et  cocto  evacuato  stomacho,  melius  audiunt;  pleno  et  crudo  de- 
terius."  ...  „Si  intemperies  fuerit  frigida  ex  adverso  cognoscetur;  quia 
in  aure  frigiditas  percipietur,  lenietur  affectus  usu  calidorum."  In  der 
Prognostik  verhält  er  sich  sehr  zurückhaltend,  indem  er  angeborene 
oder  auch  sehr  veraltete  Fälle  einfach  für  unheilbar  erklärt. 

Auf  einer  sehr  reichen  Belesenheit  basieren  die  therapeutischen  und 
prophylaktischen  Vorschriften  des  Mercurialis. 

Vor  allem  gebietet  er  zur  Verhütung  der  Schwerhörigkeit  Ver- 
meidung zu  großer  Kälte  oder  Hitze,  Exzesse  im  Trinken  und  Essen  und 
heftiger  Geräusche.  Alles,  was  schwere  Dünste  aufsteigen  lasse,  wie 
z.  B.  starker  Wein,  manche  Nahrungsmittel,  wie  Lauch  (nach  Rufus  von 
Ephesus:   „allium  maxime  nocere")  wirke  schädlich. 

Von  großem  Nutzen  bei  Taubheit  seien  starker  Schall  (Hörtrompete), 
weil  er  erwärmend  wirke  und  die  stockenden  Säfte  auflöse,  zerteile,  aus- 
treibe 2). 

Die  lokale  Therapie  Mercurialis'  verfügt  über  schwache,  mittel- 
starke, starke  Mittel.  Zu  den  schwachen  zählt  Oleum  amygdalarum, 
amararum,  Oleum  laurinum,  juniperinum,  Succus  absinthii,  Mel  alembi- 
carum,  Adeps  anserinus,  acetum,  Aqua  marina,  Succus  raphane  cum  sale. 
Zu  den  mittelstarken:  Succus  rutae,  Fei  taurinum,  vulpinum,  lepo- 
rinum,  Pulvis  aristolochiae  cum  melle,  Succus  ceparum ,  porri ,  crocus, 
muscus,  galbanum,  myrrha,  Oleum  sabinae,  Succus  sambuci,  Succus  traga- 
canthae,  Succus  cucumeris  asinini,  Succus  cyclaminis.  Zu  den  starken: 
Beide  Nieswurz,  Salpeter,  Castoreum,  Ol.  Euphorb.,  Ol.  sinap.  (letzteres 
besonders  von  Avenzoar  und  Maimonides  empfohlen),  Ameiseneier 
in  Ol.  oliv,  gekocht,  Aalgalle  etc. 

Die  Medikamente  sollen  stets  temperiert,  fein  zubereitet,  in  geringer 
Menge  angewendet  werden,  und  zwar  in  Form  von  Instillationen,  Ein- 
güssen, Kollyrien,  Vaporisationen 3),  Bähungen,   Pflastern  etc. 


Hieronymus  Mercurialis.  141 


Zur  Instillation  l)  bediente  man  sich  der  sogenannten  wTs-p/ota 5) 
und  der  Kollyrien  (J). 

Außer  den  genannten  Medikamenten  empfiehlt  Mercurialis  auch 
Nies-  oder  Kau  mittel. 

Die  zweite  Hauptgruppe  in  der  Pathologie  des  Ohres  bildet  bei 
Mercurialis  das  Ohrensausen.  Ursache  desselben  sei  die  Ansamm- 
lung von  Dünsten,  und  die  Feuchtigkeit  spiele  nur  insofern  eine  Rolle, 
als  sie  die  Ausgänge  versperrt  und  sich  in  Dünste  auflöst 7).  Zur  Be- 
seitigung des  Leidens  empfiehlt  er  Narcotica  und  scharfe  Mittel  oder  auch 
Kauterien  8). 

Endlich  unterzieht  Mercurialis  auch  den  „Ohrenschmerz"  einer 
eingehenden  Betrachtung  und  gedenkt  hierbei  der  Entzündung  des  Trommel- 
fells, die  er  durch  Ausdehnung  der  zarten  Venen  und  durch  vermehrten 
Blutandrang  verursacht  hält9). 

Der  Ohrenschmerz  gehört  nicht  dem  Gehörsinn,  sondern  dem  Tast- 
sinn an  (Galen),  sei  von  inneren  oder  äußeren  Ursachen  abhängig,  trete 
beständig  oder  intermittierend  auf,  mit  oder  ohne  Jucken  (Avicenna). 
Hitze  (heiße  Luft,  heißes  Wasser,  Ofenhitze  etc.)  vermöge  Ohrenschmerz 
durch  Verderbnis  der  Säfte  hervorzurufen. 

In  der  Prognose  hält  sich  Mercurialis  an  Hippokrates, 
Galen,  Celsus  und  Avicenna.  In  der  Therapie  sind  zwei  Wege  ein- 
zuschlagen, je  nachdem  die  Ursache  behoben  werden  kann,  oder  aber 
lediglich  die  Betäubung  beabsichtigt  wird.  Unter  den  lokalen  Medika- 
menten erwähnt  er  Albumen,  Lac.  mulieris,  Succ.  coriandri,  Succ.  grana- 
tor,  Ol.  rosar.  (bei  Intemperies  calida),  Succ.  cepar.  mint,  ad  ignem  una 
cum  oleo,  cui  immersum  sit  piper  vel  euphorbium.  Um  die  supponierten 
Dämpfe  zu  zerstören,  empfiehlt  Mercurialis  folgendes: 

Ego  vero  accipio  cepam  seu  corticem  cepae  in  quo  pono  5  ]j  vel  üj  olei  chamo- 
millae;  deinde  addo  3j  pulv.  anisor.  et  tantideru  pulv.  piperia  albi,  jubeo,  ut  cortex 
supra  prunas  ignitas  eontineatur  usque  quo  totum  oleum  absorbeatur .  deinde  con- 
tundi  curo  et  exprimi  succum,  qui  instillatus  in  aurem  dolentem  ex  vaporibus 
dolorem  trahit. 

Unter  den  Mitteln  zur  Entfernung  der  Fremdkörper  verwendet 
er  nichts,  was  nicht  bereits  die  früheren  Autoren  angegeben  hätten.  Zu- 
nächst müsse  das  Ohr  ausgewaschen  (ausgespritzt)  werden,  was  oft  allein 
schon  genüge10).  Führt  dies  nicht  zum  Ziele,  so  soll  die  Sonde  oder 
mit  Terpentin  bestrichene  Wolle  zur  Verwendung  kommen. 

')  .  .  .  tribus  de  causis  potissimum  auditum  a  nativitate  oblaedi:  una  est,  quia 
foetus  in  utero  habet  omnia  fere  instrumenta  sensuum  occlusa,  exeeptis  auribus :  nam 
neque  nares,  neque  os,  neque  oculos  apertos  habet,  aures  ut  plurimum  habet  patentes; 
et  propterea  facile  fit,  ut  aliquid  ex  utero  in  aures  labatur,  quod  quidem  contingere 
non    potest    aliis   sensibus;    altera   ratio    est,    quia    instrumentum    auditus    internum 


"[42  Hieronymus  Mercurialis. 


vacuum  est,  ut  dixi:  vacuum  autem  in  utero,  et  capite  humidissimo  facile  repleri 
potest;  tertia  ratio  est,  quia  nervi  auditorii,  cum  sint  propinquiores  cerebro,  sunt 
magis  possibiles;  et  hinc  fit,  ut  etiam  facilius  ottendantur.    1.  c.  p.  148. 

2)  „Capite  vero  vacuo  juvat  sonitus;  nam  medici  praecipiunt,  ut  tubae  appo- 
nantur  auribus.  ratio  autem,  cur  haec  juvent  est  duplex;  prima,  quia  calefaciunt 
meatum  auditorium,  quae  calefactio  non  trabit  a  capite;  (|uia  non  est  plenum,  sed 
discutit  reliquias  bumorum  existentium  in  instrumento;  altera,  quoniam  vehemens 
illa  inclamatio  suo  impulsu  elidit  bumores  ex  locis  impactis,  et  ita  surditatem  solvit." 
1.  c.  p.  154. 

3)  Beispiel  für  eine  Vaporisation:  Rp.  myrrbae ,  galbani,  croci  ana  3-J-ß- 
fol.  rosar. .  major.,  sabinae,  ää  5. ß.  terantur  omnia,  et  super  carbones  ponantur 
adurenda,  et  dum  comburuntur,  baunatur  fumus  per  fistulam  in  aures.    1.  c.  p.  158. 

4)  Beispiel  für  eine  Instillation:  Rp.  mellis,  succi  cej^arum,  olei  sinapis 
ää  3.  £.  castorei  §.ß.  misce,  et  guttatim  infundatur  in  aurem.    1.  c.  p.  158. 

5)  „Nam  medici  habent  instrumentum  quoddam,  quod  Graeci  appellant  wxk-(ytizov, 
Celsus  et  Scribonius  vocant  modo  strigilem.  modo  clysterem  auricularem,  est  boc  in- 
strumentum veluti  ab  una  parte  concavum,  habet  conculam,  quae  impletur  liquore 
et  deinde  immittitur  intra  anfractus  auris.    1.  c.  p.  157. 

f')  Beispiel  für  ein  „Collyrium":  Rad.  ellebori  nigri,  nitri,  castorei  ää  ^.j. 
myrrbae  croci  ää^-ß-  cum  albumine  ovi  formetur  collyrium.  1.  c.  p.  159.  Quando 
enim  tractavi  de  bis,  dixi  sub  illis  intelligi  medicamenta  ad  modum  fistulae,  quae 
omnibus  cavis  partibus  imponuntur:  fiunt  interdum  ex  medicamentis ,  interdum  ex 
panno  lineo,  vel  gossypio,  quae  contorta  et  aliquo  liquore  oblita  induntur  in 
aures.  1.  c.  p.  157.  Collyria  vero  ex  gossypio,  aut  lino  ita  parantur,  accipitur  haec 
materia,  et  intorquetur:  ad  modum,  quo  utuntur  chirurgi  in  imponendis  his  collyriis 
in  vulneribus  et  postquam  intortum  est  collyrium,  illinitur  oleo  et  musco  vel  melle. 
1.  c.  p.  159. 

7)  Dixi  falsam  esse,  nisi  sano  modo  intelligatur;  quia  etiam  humores  con- 
currunt  ad  tinnitum :  humores  inquam  intra  aures ,  hoc  pacto ,  tum  quia  claudunt 
intra  aurem  flatus;  tum  quia  ex  ipsis  fiunt  vapores,  qui  deinde  faciunt  tinnitum;  ut- 
cumque  fit,  sicuti  docui,  vera  causa  est  vaj)or,  qui  interdum  multus  est,  et  tum  semper 
tinnitum  facit;  interdum  paucus,  et  tunc  non  facit  tinnitum,  nisi  in  his,  qui  pollent 
auditu  subtili.    1.  c.  p.  162. 

s)  Expertus  sum  cauteria  facta  in  bracchio  auri  affectae  multum  conferre,  quia 
humores  illi  ex  quibus  continuo  flatus  fiunt,  paulatim  per  haec  emissaria  evacuantur. 
1.  c.  p.  170. 

9)  In  hac  non  trita  speculatione,  ita  statuendum  judico.  nullibi  internas  posse 
oriri  inflammationes,  praeterquam  in  hac  tunica  (Trommelfell) ;  in  qua  tametsi  venae 
sint  admodum  exiles,  tarnen  tempore  doloris  paulatim  dilatantur,  et  quo  maior  fit 
attractio  materiae  ad  ipsam,  eo  magis  venae  distenduntur,  et  fiunt  capaces  sanguinis 
ita  copiosi,  ut  possit  fieri  inflammatio  in  hac  pellicula  arida.    1.  c.  p.  172. 

10)  „Quia  ex  elotione  interdum  sola  exeunt  haec  corpora."    1.  c.  p.  181. 

Ein  Zeitgenosse  des  Mercurialis,  der  deutsche  Praktiker  Johann  Crato 
von  Krafftheim  (ursprünglich  Krafft,  1519—1585)  hat  in  seiner  Schrift  „Con- 
siliorum  et  epistolarum  medicinalium  libri  VII",  Frankfurt  1589,  sich  nur  wenig 
mit  den  Krankheiten  des  Ohres  beschäftigt.  Er  bespricht  bloß  folgende  Arten  von 
Ohraffektionen:  Schwerhörigkeit1),  Schwerhörigkeit  im  Verein  mit  Ohrensausen2), 
Ohrensausen  infolge  Magen-  und  Gehirnerkrankung3),  Ohrensausen  infolge  eines 
Magenleidens4)  und  empfiehlt  für  diese  Erkrankungen  verschiedene  äußerst  kom- 
plizierte Rezepte,  wie  Einträufelungen,  Purgativmittel,  Räucherungen  etc. 


Hieron yinus  Capivacci.  J43 


J)  1.  c.  Lib.  VI.     In  difficultate  auditus  consilium  XLII. 

2)  Ibid.     In  difficultate  auditus  et  tinnitu  aurium  cons.  XLIII. 

3)  Ibid.     In  tinnitu  aurium  e  ventriculi  et  cerebri  vitio  cons.  XLIV. 

4)  Ibid.     De  tinnitu  aurium  e  ventriculi  vitio  cons.  XLV. 

Hieronymus  Capivacci.  Ein  Schüler  Rondelets  und  Landsmann 
des  Mercurialis,  der  Paduaner  Hieronimo  Capivaccio  (Capo  di 
Vacco,  gest.  1589),  nimmt  in  seinem  Werke  „Opera  omnia  quinque  Sec- 
tionibus  comprehensa,  Cap.  I,  p.  587 — 591,  De  laeso  auditu"  *)  in  der 
Darstellung  der  Ohrenkrankheiten  einen  ziemlich  selbständigen  Stand- 
punkt unter  seinen  Zeitgenossen  ein.  Er  gibt  zunächst  eine  allgemeine 
Uebersicht  über  die  Aetiologie  der  Ohraffektionen.  Die  Krankheiten, 
durch  die  das  Gehör  verletzt  werden  kann,  teilt  er  ein  in  Erkrankungen 
des  Gehirns,  Erkrankung  (Verdickung)  des  Hörnerven,  des  Labyrinthes, 
des  Trommelfells,  des  knöchernen  und  knorpeligen  Gehörganges  und  des 
gesamten  Gehörorgans. 

Von  Affektionen  des  Trommelfells  werden  erwähnt  schlechte  Zu- 
sammensetzung (mala  compositio),  abnorme  Verdickung  (densitas  praeter 
naturam)  und  Geschwüre  mit  darauf  folgender  Narbenbildung  (cicatrix, 
quae  interdum  sequitur  ulcera).  Läsionen  der  Gehörknöchelchen 
haben,  wie  er  aus  ihrer  Anatomie  zu  erklären  sucht,  keinen  Einfluß  auf 
die  Gehörsschärfe  (errant  enim  valde  qui  credunt,  auditum  laedi  ob  vitia 
ossiculorum:  ignorantque  anatomes). 

Bei  Besprechung  der  differentialdiagnostischen  Momente  der  Trommel- 
fell- und  Labyrintherkrankung  teilt  er  einen  interessanten  Versuch  mit: 
Man  nehme  einen  Eisenstab  von  Ellenlänge.  Das  eine  Ende  wird  auf 
die  Zähne  des  Patienten,  das  andere  auf  die  Saiten  einer  Zither  auf- 
gesetzt. Hört  der  Patient  die  Töne  des  Instrumentes,  so  läßt  sich  daraus 
der  Schluß  ziehen,  daß  die  Ursache  der  Taubheit  in  einer  Erkrankung 
des  Trommelfells  liege.  Vernimmt  der  Patient  die  Töne  nicht,  so  rühre 
die  Taubheit  von  einer  Erkrankung  des  Labyrinthes  her**). 

Die  Wichtigkeit  dieses  Versuches  für  die  spätere  Entwicklung  der 
Differentialdiagnose  zwischen  Hörstörung  infolge  eines  Schallleitungs- 
hindernisses oder  einer  Erkrankung  des  nervösen  Apparates  bedarf  keiner 
weiteren  Ausführung. 


*)  Herausgegeben  von  J.  H.  Bayer,  Frankfurt  1603. 

**)  Quare  maxime  diligentia  est  opus,  ut  cognoscatur  an  auditus  sit  ablatus. 
ob  morbuni  myringae,  vel  potius  nervi  expansi :  quod  sie  cognoscitur.  Sumatur 
ferrum  longitudine  cubiti;  et  una  extremitaa  imponatur  supra  dentes,  altera  autem 
extremitas  imponatur,  verbi  gratia,  supra  chordas  citharae:  et  quispiam  ferro  com- 
moveat  chordas  citharae :  tunc ,  si  aeger  sentit  sonum  citharae ,  surditas  dependet  a 
morbo  myringae:  si  non  sentit,  surditas  dependet  a  morbo  nervi  expansi,  ut  prorsus: 
extineta  sit  vis  facultatia. 


]  | !  Arnatus  Lusitanus. 


Der  Nachfolger  des  Capivaccio  im  Lehramte,  Ercole  Sassonia  (Herkules 
Saxonia,  1551  — 1607),  behandelt  in  seinem  Werke*)  die  Ohrerkrankungen  sehr  ober- 
iliichlich  und  gelangt  wiederholt  zu  unhaltbaren  Hypothesen,  von  denen  nur  der 
Absonderlichkeit  halber  die  folgende  zitiert  sei:  Schwerhörige,  deren  Hörnerv  er- 
krankt ist,  sprechen  leise,  weil  gleichzeitig  der  Zungennerv  affiziert  sei,  während 
Taube,  mit  Erkrankung  irgend  eines  anderen  Teiles  des  Gehörorganes ,  mit  lauter 
Stimme  sprechen.  Noch  sonderbarer  klingt  es,  daß  Sassonia  dies  als  differential- 
diagnostischen  Behelf  heranziehen  will.  Von  praktischem  Interesse  ist  ein  Verfahren, 
das  Sassonia  zur  Entfernung  von  gequollenen  Bohnen  aus  dem  äußeren  Gehör- 
gange vorschlägt.  Durch  eine  in  den  Gehörgang  bis  zur  Bohne  vorgeschobene  Kanüle 
wird  ein  glühender  Draht  eingeführt  und  mit  diesem  die  Bohne  durchbohrt.  Durch 
wiederholtes  Durchbrennen  werde  der  Fremdkörper  so  verkleinert,  daß  es  dann 
leicht  gelingt,  ihn  zu  entfernen. 

Amatus  Lusitanus.  Als  einer  der  tüchtigsten  und  rationellsten 
Therapeuten  dieser  Periode  ist  Amatus  Lusitanus  (geb.  1511)  zu 
nennen,  in  dessen  „Curationum  Medicinalium  Centuriae  septem" 
1551  mehrere  interessante  Krankengeschichten  in  Betracht  kommen.  Die 
eine  in  der  „Centuria  sexta"  enthaltene  führt  die  Ueberschrift:  „Curatio 
quinta,  in  qua  agitur  de  puero  loquente,  qui  postea  ob  morbum  saevum 
supervenientem ,  mutus  factus  est"1).  Ein  5j'ähriger  Knabe,  der  das 
Sprechen  mit  zwei  Jahren  erlernt  hatte,  wurde  von  einer  fieberhaften 
Krankheit  befallen ,  nach  welcher  er  an  Armen  und  Beinen  gelähmt, 
gleichzeitig  taub  und  stumm  wurde.  Da  die  Lähmung  der  Extremitäten 
nach  einiger  Zeit  nachließ,  hoffte  Amatus  die  Taubstummheit  heilen  zu 
können,  was  ihm  auch  angeblich  gelang.  Er  empfahl  eine  durch  eine 
genau  angegebene  Diät  geregelte  Lebensweise  und  eine  sehr  komplizierte 
Medikation,  von  der  folgendes  Rezept  Zeugnis  gibt: 

„Rec.  olei  amygdalarum  amararum ,  uncias  duas,  vini  optimi  albi,  uncias 
duas  et  alterius  mediain,  maioranae  pug.  medium,  ellebori  nigri,  scryptulum  medium, 
misce,  et  ad  ignem  fiat  decoctio  usque  ad  vini  consumptionem ;  et  fiat  expressio,  et 
colatura,  cui  adde  moschi  grana  duo,  misce,  et  utere,  ac  per  aures  ex  eo  parum 
infunde,  quod  moscato  gossypio  occludebatur,  item  succum  hunc  per  nares  attra- 
hebat2)." 

Die  zweite  Krankengeschichte  betrifft  einen  Fall  von  Taubheit  bei 
einem  34jährigen  Manne,  der  die  gallische  Krankheit  (Lues)  durchge- 
macht hat:  „Curatio  vigesima  quinta,  in  qua  agitur  de  surdidate  contracta 
ob  malum  vitae  regimen*  :1). 

')  p.  162;  Venetiis  1560. 
2)  p.  166;  ibidem. 
8)  p.  188;  ibidem. 


)   l'antheum    medicinae    selectum    etc.     Francoforti    1604.     Lib.    I,    Cap.  20, 
p.  133-138.     Lib.  IX,  Cap.  41,  p.  783. 


Petrus  Forestus.  145 


Petrus  Forestus  (1522—1597).  Zu  den  Schriftstellern  dieser 
Periode,  die  auch  die  Krankheiten  des  Gehörorgans  in  den  Bereich  ihrer 
Beobachtungen  zogen,  zählt  Pieter  van  Foreest,  der  von  seinen' Lands- 
leuten den  Ehrentitel  eines  holländischen  Hippokrates  erhielt.  Sprengel 
urteilt  in  seiner  Geschichte  der  Arzneikunde  über  ihn  folgendermaßen: 
,,Nicht  nur  für  sein  Jahrhundert,  sondern  für  alle  folgenden  Zeitalter  ist 
Forests  Sammlung  von  Beobachtungen  klassisch;  er  erzählt,  was  seine 
Vorgänger  selten  tun,  seine  Beobachtungen  vollständig,  hascht  nicht  nach 
Seltenheiten,  sondern  sucht  die  gewöhnlichen  Erscheinungen  des  kranken 
Zustandes  mit  aller  Treue  und  Einfachheit  des  geraden,  rechtschaffenen 
Mannes  und  scharfsinnigen  Arztes  vorzutragen."  Auch  für  seine  Beobach- 
tungen über  Erkrankungen  des  Gehörorgans :: )  läßt  sich,  wenn  man  nicht 
strenge  ins  Gericht  geht,  dieses  Urteil  akzeptieren;  die  15  mitgeteilten 
Krankengeschichten  sind,  obwohl  sie  nichts  Epochemachendes  enthalten, 
immerhin  vorurteilsfrei  beobachtet  und  deshalb  lesenswert.  Minder  inter- 
essant sind  die  beigegebenen  Scholien,  welche  deutlich  das  arabische  Vor- 
bild, gleichzeitig  aber  auch  die  hohe  Gelehrsamkeit  des  Verfassers  erkennen 
lassen.  In  der  ersten  Beobachtung  (De  auris  dolore  intensissimo)  schil- 
dert Forest  den  Krankheitsverlauf  eines  Schankburschen ,  der  seit  drei 
Monaten  an  Ohrenschmerzen  litt  und  bei  dem  eine  innere  Ohrenentzün- 
dung auf  die  Hirnhaut  übergriff  und  zum  raschen  Tode  führte.  Daran 
schließt  sich  die  kurze  Krankengeschichte  einer  Frau,  die  seit  zwei 
Wochen  an  heftigen  Schmerzen  des  linken  Ohres  erkrankt  war,  bei  der 
es  ihm  aber  gelang,  durch  drastische  Purgantien,  Schröpfköpfe  auf 
Nacken  und  Schulter  und  Umschläge  aus  gebratenen  Zwiebeln,  Ka- 
millenöl  und  frischer  Butter  die  Schmerzen  bald  zu  beheben.  Die  zweite 
Beobachtung  (De  aurium  dolore  ex  frigore  contractu)  enthält  die  Be- 
schreibung eines  durch  Erkältung  hervorgerufenen  Ohrenschmerzes.  Als 
Gegenstück  zu  diesem  Falle  dient  die  dritte  Beobachtung  (De  aurium 
dolore  ex  calore  contractu)  einer  Ohrenaffektion ,  die  durch  Einwirkung- 
großer  Hitze  entstanden  sein  soll.  Ferner  erwähnt  er  einen  Fall,  in 
dem  die  Ohrenerkrankung  durch  Einlegen  eines  Stückchens  Zwiebel  in 
das  Ohr  gegen  Zahnschmerz  hervorgerufen  wurde.  Von  den  anderen 
Beobachtungen  erwähnen  wir  einen  Fall,  wo  ein  Knabe  sich  eine  Muschel 
ins  Ohr  gesteckt  hatte,  die  darin  ein  halbes  Jahr  verweilte,  bis  sie  die 
Mutter  mit  einer  Haarnadel  herauszog,  ferner  den  Fall  einer  Frau,  die 
sieben  Jahre  hindurch  taub  war,  so  daß  sie  nicht  einmal  das  Glocken- 
geläute hören  konnte  und  nach  vielen  erfolglosen  Kuren  auf  den  Rat 
eines  alten  Weibes  Moschus  ins  Ohr  steckte ,    wodurch   sie  plötzlich  von 


*)  Observationum  et  curationum  medicinalium  ac  chirurgicarum  Opera  omnia. 
Francoforti  1619.     Lib.  XII.     De  aurium  morbis.    p.  56 — 83. 

Politzer,  Geschichte  der  Ohrenheilkunde.    1.  10 


146  J°h-  Heurnius. 


ihrem  Leiden  befreit  wurde.  Forest  gibt  an,  daß  er  selbst  in  einigen 
Fällen,  bei  denen  ein  eitriger  Ausfluß  aus  den  Ohren  bestand,  die  Taub- 
heit durch  Anwendung  von  Moschus  zur  Heilung  brachte.  Bei  der  Be- 
sprechung der  Otitis  behandelt  er  ausführlicher  als  seine  Vorgänger  die 
nachfolgenden  Eiterungen  und  Ulzerationen.  Hierbei  legt  er  besonderes 
Gewicht  auf  die  Erkenntnis,  ob  die  Krankheit  bloß  die  äußeren  oder  auch 
die  inneren  Partien  des  Gehörorganes  affiziert  habe,  weil  davon  Prognose 
und  Therapie  in  hervorragendem  Maße  abhängen.  Die  Entzündung  der 
inneren  Teile  schließt  er  aus  der  Intensität  der  Symptome  und  der  gleich- 
zeitigen  „Paraphrenesis". 

Joh.  Heurnius.  Eine  der  ältesten  Schriften  des  10.  Jahrhunderts, 
in  der  auch  die  Pathologie  des  Ohres  ausführlicher  behandelt  wird,  ist 
die  des  holländischen  Arztes  Jan  van  Heurne  (Heurnius,  1543  — 1601), 
„De  morbis  oculorum,  aurium,  nasi,  dentium  et  oris  über"  *),  die  posthum 
vom  Sohne  des  Verfassers,  Otto  Heurnius  (1577  — 1652),  herausgegeben 
wurde.  Der  Hauptinhalt  des  Buches  stellt  sich  als  eine  wertlose  Kompi- 
lation dar,  in  der  die  Therapie  den  weitesten  Raum  einnimmt,  die  in 
ihrer  Kompliziertheit  und  Absonderlichkeit  an  die  Arabisten  erinnert. 

Von  einigem  Interesse  dürften  die  prophylaktischen  Maßregeln  sein, 
die  das  Werkchen  enthält  und  die  auch  von  den  späteren  Autoren  viel- 
fach zitiert  werden. 

Es  heißt  da:  „ Meide  die  heftigen  Nord-  und  Südwinde;  denn  der 
Frost  schadet  den  Nerven  sehr.  Hast  du  in  solcher  Zeit  einen  Weg,  so 
gib  Baumwolle  ins  Ohr,  in  welche  zwei  Körner  Moschus  oder  Bibergeil 
eingeschlossen  sind.  Achte  stets  darauf,  daß  dir  kein  Wasser  beim  Regen 
ins  Ohr  falle.  Reinige  dir  häufig  deine  Ohren  mit  Essig  und  Honig. 
Beim   Waschen  des  Kopfes  verschließe  die  Ohren  u.  s.  w."**). 

Ein  anderer  holländischer  Arzt  in  der  zweiten  Hälfte  des  IG.  Jahrhunderts. 
Godefridus  Stechius  (Versteeg,  Steegh),  behandelt  in  seiner  „Ars  medica,  sive 
medicinae"  (Francofurti  1606,  Lib.  VIII,  Cap.  13)  die  Ohrerkrankungen  höchst  ober- 
flächlich und  nach  den  alten,  rein  empirischen  Prinzipien.  Unter  anderem  empfiehlt 
er  gegen  subjektive  Geräusche  nach  Syphilis  ein  Dekokt  von  Guajakholz  und  Ehren- 
preis in  Wasser,  welches  über  grünen  Nußschalen  destilliert  wurde.  Sein  Vorschlag, 
ein  Trommelfell,  welches  durch  heftiges  Geräusch  nach  innen  gedrängt  wurde,  durch 
Saugen  zu  reponieren,  ist  keineswegs  neu,  da  dieses  Verfahren,  wie  ich  gezeigt  habe, 
schon  von  Simeon  im  11.  Jahrhundert  (s.  8.  Gl)  und  nach  ihm  von  anderen  Aerzten 
empfohlen  wurde. 


*)  Lugd.  Batav.  1602. 

**)  Vita  calidos  incursus  Aquilonis  et  austri :  frigus  enim  nervis  indicit  bellum. 

Si  iter  tunc  agendum,  indat  auri  gossipium  cui  inclusa  sint  mosci  aut  castorei  grana 

duo.    Caveat  ne  aqua  ex  pluvia  aurem  ingrediatur.    Saepe  eluat  aures  aceto  et  melle. 

Si  caput  lavandum,  obstruat  aures  ...    1.  c.  Cap.  8.    De  passionibus  aurium.    p.  61. 

***)  Ephem.  med.  physic,  Dec.  II.  Ann.  6,  Obs.  123,  p.  254. 


Felix  Plater.  147 


Anschließend  hieran  sei  eine  Mitteilung  des  Joh.  Ludwig  Hanneman 
(1640 — 1724)  erwähnt,  nach  der  ein  Chirurg  die  Methode  der  Luftverdünnung  bei 
Tauben  mit  großem  Erfolge  angewendet  haben  soll.  Das  Verfahren  bestand  darin, 
daß  er  dem  Patienten  eine  Röhre  ins  Ohr  steckte ,  an  der  er  so  lange  sog ,  bis  der 
Patient  einen  Schmerz  im  Ohre  verspürte. 

Felix  Plater  (1530—1(314).  der  bereits  früher  (S.  123)  als  Anatom 
genannt  wurde,  galt  als  einer  der  gefeiertesten  Aerzte  des  16.  Jahr- 
hunderts. Seine  therapeutischen  Vorschriften  wurzeln  ganz  in  den  An- 
schauungen der  absonderlichen  Systeme  des  Paracelsus  und  Mer- 
curialis. 

In  seinen  „Observationum  libri  tres",  die  von  seinem  Sohne  Fran- 
ziskus mit  einer  beigefügten  „Mantissa  observationum"  herausgegeben 
wurden  (Basileae  1680),  findet  sich  nur  weniges,  was  für  die  Patho- 
logie und  Therapie  der  Ohrerkrankungen  in  Betracht  kommt. 

Ausführlicher  und  für  die  Bedeutung  Platers  charakteristischer  ist» 
sein  „Praxeos  medicae  opus  cum  centuria  posthuma,  emendatum  et  auct. 
a  Feiice  Platero".  Basileae  1656 *).  Abweichend  von  der  Galenschen 
Einteilung  der  Ohrerkrankungen,  versucht  er  diese  auf  Grundlage  der 
neuen  anatomischen  Entdeckungen  zu  klassifizieren.  Seine  Einteilung  in 
Verletzungen  der  Funktionen  des  Gehörorgans,  in  Ohrenschmerz  und 
Ohrenfluß  muß  jedoch  schon  deshalb  als  mißglückt  bezeichnet  werden, 
weil  er  die  Krankheitssymptome  als  selbständige  Erkrankungen  auffaßt. 
Von  einigem  Interesse  jedoch  sind  seine  vorurteilsfreien  Beobachtungen 
über  Ohrenerkrankungen. 

Er  erwähnt  eine  Art  von  Taubheit,  die  in  Alpengegenden  auftreten 
soll  und  dadurch  charakterisiert  ist,  daß  sie  sich  gleich  von  Geburt  an 
zeigt,  wobei  das  betreffende  Individuum  stets  an  einem  Kröpfe  leidet.  Er 
führt  sie  auf  einen  Erguß  von  Flüssigkeit  aus  dem  Kopfe  ins  Ohr  zurück*). 

Dieser  Symptomenkomplex  entspricht  unseren  jetzigen  Erfahrungen 
über  den  endemischen  mit  Taubheit  komplizierten  Kretinismus  in  Alpen- 
gegenden. 

Als  Krankheiten  des  Trommelfells  führt  Plater  Verwundungen 
durch  Ohrlöffel,  Abszesse,  Geschwüre,  Verdickung,  Erschlaffung  und 
vermehrte  Spannung  an,  ohne  daß  er  diese  Veränderungen  jemals  durch 
Okularinspektion  des  Trommelfells  am  Lebenden  gesehen  hätte.  Als 
krankhafte  Veränderungen  der  Gehörknöchelchen  werden  Verbil- 
dungen  und  Ankylose  erwähnt.  Die  von  ihm  beobachteten  Fälle  von 
Ulzerationen  am  Ost.  pharyng.  tubae  Eust.  dürften  nach  Kuh  (De  in- 
flammat.   auris    mediae.     Vratisl.   1S42)    als    syphilitische   Geschwüre   an- 

*)  Sicuti  inAlpinis  regionibus,  hac  de  causa  multos  difßcilem  auditum 
ab  ortu.  vel  mox  in  aetatis  progressu  unä  cum  strumis,  illis  ob  similem  causam 
familiaribus  habere  cernimus. 


•j^g  Felix  Plater. 


zusprechen  sein.  —  Erwähnenswert  ist  noch  ein  Fall,  betreffend  ein 
Mädchen,  bei  dem  nach  einem  Sturze  anfangs  reines  Blut,  später  eine 
große  Menge  von  Serum  aus  dem  Ohre  floß ,  bei  dem  es  sich  zweifellos 
um  eine  Basisfraktur  gehandelt  hat. 

Bei  der  nüchternen  Beobachtung  Pia ters  erscheint  es  befremdlich, 
daß  er  die  Tatsache,  daß  Taubgeborene  oder  solche,  die  in  den  ersten 
Lebensjahren  taub  geworden  sind ,  stumm  bleiben ,  gänzlich  mißdeutet. 
Er  ist  nämlich  der  Ansicht,  daß  eine  Verletzung  irgend  eines  gemein- 
samen Astes  zwischen  Hör-  und  Sprachnerv  Taubstummheit  zur  Folge 
habe 2).  Hingegen  sind  folgende  Beobachtungen  an  Taubstummen  von 
großem  Interesse:  1.  Ein  Taubstummer,  der  aus  der  Art  der  Bewegung 
der  Lippen  die  Sprache  anderer  verstehen  gelernt  hat3).  2.  Ein  Taub- 
stummer, mit  dem  man  sich  dadurch  verständigen  konnte,  daß  man 
ihm  auf  einem  Tische  mit  dem  Finger  die  Buchstaben  aufzeichnete4) 
und  3.  ein  bemerkenswerter  Fall,  wo  ein  Taubstummer,  der  auch  blind 
war,  dadurch  Mitteilungen  empfing,  daß  man  ihm  mit  dem  Finger  auf 
den  entblößten  Armen  Schriftzeichen  aufschrieb 5). 

')  S.  108 :  In  auditus  laesione  observationes. 

2)  Surcia  et  muta  puella.  ab  infantia.     Obs.  lib.  III.     Basileae  1680,  p.  109. 

3)  S.  112:  Surdus  et  mutus  ab  ortu,  qui  scribere  potuit  et  ex  motu  labiorum 
aliquid  intelligere. 

4)  S.  112:  Surdus  qui  etiam  verba,  ex  solo  ductu  digitorum  literas  exprimente, 
percipiebat. 

5)  S.  112:  Surdus,  mutus.  coecus,  cui  eadem  opera  literae  et  verba  exprimi 
potuerunt. 


Einen  größeren  Nutzen  aus  den  Errungenschaften  der  Anatomie  zog 
in  dieser  Periode  die  technische  Ausbildung  der  Chirurgie.  Nament- 
lich waren  es  die  häufig  wiederkehrenden  Kriege  in  Deutschland,  Frank- 
reich, Italien  und  den  Niederlanden,  in  welchen  den  die  Kriegsheere  be- 
gleitenden Aerzten  zur  Ausbildung  chirurgischer  Kenntnisse  reichliche 
•Gelegenheit  geboten  wurde. 

Der  Gewinn  für  die  Otiatrie  in  chirurgischer  Hinsicht  war  jedoch 
sehr  gering.  Was  sich  darüber  in  den  Schriften  dieser  Periode  findet, 
beschränkt  sich  auf  die  chirurgische  Behandlung  der  Hieb-  und  Schuß- 
wunden der  Ohrmuschel  und  der  äußeren  Ohrgegend,  auf  die  Abtragung 
gut-  und  bösartiger  Neubildungen  der  Ohrmuschel  und  auf  die  operative 
Entfernung  von  Fremdkörpern  und  Polypen  aus  dem  äußeren  Gehörgange. 
Operative  Eingriffe  am  Gehörorgane  selbst  waren  zu  jener  Zeit  noch 
unbekannt. 

Ambrosius  Pare.  Zu  den  hervorragendsten  Vertretern  der  Chi- 
rurgie des  16.  Jahrhunderts  zählt  unstreitig  Ambroise  Pare*  (1510  bis 


Ambroise  Pare.  149 


1590),  der  von  seinen  Landsleuten  als  der  Begründer  der  französischen 
Chirurgie  gefeiert  wird.  Seinem  außergewöhnlichen  Talente  gelang  es, 
sich  aus  kleinen  Anfängen  in  den  Feldzügen  unter  Heinrich  IL,  Karl  IX. 
und  Heinrich  III.  die  Stellung  eines  „Chirurgien  ordinaire  du  Roi"  zu 
erringen.  Die  in  seinen  Werken  niedergelegten  kriegschirurgischen  Er- 
fahrungen werden  noch  heute  mit  Nutzen  gelesen. 
Hochbetagt  starb  Pare  im  Jahre  1590. 

A.  Pares  Bedeutung  wurde  von  Gurlt  in  seiner  vortrefflichen  Ge- 
schichte der  Chirurgie  und  von  M  a  l[g  a  i  g  n  e  eingehend  gewürdigt. 

Die  mir  als  Quelle  dienende  Ausgabe  der  Werke  Pares  „Oeuvres 
completes  revues  et  collationnees  sur  toutes  les  editions  avec  les  variantes 
etc.  par  J.  F.  Malgaigne,  3  Vol.,  Paris  1840"  enthalten  zerstreut  mehrere 
das  Ohr  betreffende  Kapitel.  Der  Abschnitt  über  den  Bau  und  den 
Nutzen  der  einzelnen  Teile  des  Gehörorgans  (Vol.  I,  p.  279)  ist  sehr 
lückenhaft  und  den  zeitgenössischen  Autoren  entlehnt.  War  doch  Pare 
bei  der  Publikation  der  ersten  Ausgabe  seines  Werkes  die  Entdeckung 
des  Steigbügels  noch  unbekannt.  Dasselbe  gilt  von  seiner  Aetiologie  und 
Symptomatologie  der  Ohrerkrankungen  (Vol.  II,  p.  601)  und  von  seiner 
Erklärung  der  subjektiven  Geräusche.  Hier  steht  er  noch  ganz  unter  dem 
Einflüsse  der  mittelalterlichen  Otiatrie. 

Viel  wertvoller,  weil  auf  eigener  kriegschirurgischer  Erfahrung  ba- 
sierend, sind  seine  Angaben  über  die  Behandlung  der  Wunden  der 
Ohrmuschel  (Vol.  II,  p.  89).  Hier  empfiehlt  er  beim  Nähen  der 
Wunde,  die  Nadel  nicht  durch  den  Knorpel  durchzustechen,  da  dieser 
leicht  gangränös  werde  *).  Bei  Hiebwunden,  die  den  Gehörgang  treffen, 
müsse  man  durch  Einlegen  von  Schwamm  und  trockenen  Medikamenten 
in  den  Gehörgang  die  starke  Entwicklung  von  Granulationen  verhindern, 
welche  zur  Obstruktion  des  Ohrkanals  führen  können. 

Was  Pare  als  Ohrgeschwüre  (Vlceres  des  oreilles)  bezeichnet, 
umfaßt  der  Textierung  nach  alle  eitrigen  Entzündungen  des  äußeren  und 
mittleren  Ohres,  mit  mäßigem  oder  starkem  Sekret-  und  Eiterabfluß,  der 
zuweilen  vom  Gehirn  stammt.  Seine  komplizierte  Therapie  ist  noch  ganz 
von  Galen  beeinflußt.  Gegen  Eiterausfluß,  der  sich  nicht  genügend  aus 
dem  Gehörgang  entleeren  könne,  müsse  das  Sekret  mit  einer  eigenen 
Spritze  (Pyoulcos)  ausgezogen  werden  2).  Zu  dessen  Heilung  werden  lau- 
warme Einträufelungen  von  konzentriertem  Essig  und  Ochsengalle  oder 
Einblasungen  von  in  Essig  gekochtem,  fein  pulverisiertem  Eisenrost  in 
den  Gehörgang  empfohlen. 

In  einem  besonderen  Kapitel  (Vol.  II,  p.  442)  bespricht  Pare 
die  angeborenen  und  erworbenen  Atresien  des  äußeren  Ge- 
hörgangs und  die  Fremdkörper  im  Ohre.  Die  Beseitigung  der  tief- 
greifenden Atresien  ist  nach  Pare  viel  schwieriger  als  die  der  oberfläch- 


150  Ambroise  Pare. 


liehen.  Bei  ihrer  Behandlung,  operativ  sowohl  als  durch  Aetzmittel, 
müsse  man  wegen  der  großen  Empfindlichkeit  dieser  Teile  und  ihrer 
Nähe  zum  Gehirne  sehr  vorsichtig  vorgehen ,  da  bei  Ergriffensein  des 
letzteren  der  Kranke  in  Konvulsionen  tödlich  endet3). 

Zur  Entfernung  von  Fremdkörpern  aus  dem  Gehörgange  benützt 
Pare  Pinzetten  und  gekrümmte  Instrumente  nach  Art  eines  „cure-oreille1, 
und  bei  stark  eingekeilten  Körpern  eine  kleine  „tire-fond",  deren  man 
sich  zur  Extraktion  von  Bleikugeln  aus  Schußwunden  bedient.  Gelingt 
der  instrumentale  Eingriff  nicht,  so  wird  in  der  Tiefe  des  Ohres  eine 
kleine  Inzision  gemacht,  um  Platz  für  das  einzuführende  Instrument  zu 
schaffen. 

Individuen,  die  das  ganze  Ohr  verloren  haben  (Vol.  II,  p.  442), 
empfiehlt  er  den  Defekt  durch  langen  Haarwuchs  zu  decken  oder  eine 
entsprechend  geformte  Mütze  zu  tragen  (Calotte). 

Interessant  ist  die  Methode  Pares,  bei  teilweisem  oder  gänzlichem 
Verlust  die  Ohrmuschel  durch  eine  Prothese  zu  ersetzen.  Ist  noch  ein 
Rest  erhalten,  so  werden  mittels  eines  kleinen  „portepiece"  an  dem  Rand 
des  stehej  gebliebenen  Ohrknorpels  eine  Anzahl  kleiner  Oeffnungen  ge- 
macht und  nach  Ueberhäutung  dieser  Oeffnungen  ein  künstlich  geformtes 
Stück  an  den  stehengebliebenen  Rest  angeheftet.  Bei  Totalverlust  der 
Ohrmuschel  wird  ein  schön  geformtes  Ohr  aus  Pappe  oder  gepreßtem 
(gesottenem)  Leder  durch  eine  federnde  Spange  befestigt1). 

1)  Et  de  ton  aiguille  ne  toueberas  au  Cartilage ,  de  peur  que  la  partie  ne 
tombe  en  gangrene  (ce  que  souuentes  fois  est  arriue)  inais  seulement  prendras  le 
cuir,  et  ce  peu  de  chair  qui  est  autour  le  dit  Cartilage:  et  auec  compresses  et 
bandages  (Vol.  II,  p.  89). 

2)  Que  si  la  boue  et  sanie  ne  pouuoit  estre  euacuee,  ü  faudroit  la  tirer  par 
une  seringue  propre,  dite  Pyoulcos  (Vol.  II,  p.  263). 

:i)  Or  il  faut  traiter  ce  mal  bien  curieusement ,  de  peur  de  faire  tomber  le 
malade  en  conuulsion,  et  le  faire  mourir,  pour  la  grande  sensibilite  de  ceste  partie, 
et  qu'elle  est  proebe  du  cerueau  (Vol.  II,  p.  442). 

4)  On  doit  troüer  le  cartilage  auec  une  petite  porte-piece,  et  y  faire  des  trous 
tant  qu'il  sera  necessaire.  Apres  la  cicatrisation  des  dits  trous.  on  attachera  une 
oreille  artificielle :  et  oü  l'oreille  auroit  este  du  tout  amputee ,  on  y  en  appliquera 
une  artificielle  de  papier  colle,  ou  cuir  boüilli,  faconnee  de  bonne  graee  (Vol.  II.  p.  610). 

Ein  Zeitgenosse  Par 6a  und  Freund  des  Par  acelsus,  der  berühmte  deutsche 
Wundarzt  Felix  Wuertz  (Wi  rtz,  1514—1575)  gibt  in  seiner  „Practica  der  Wund- 
arzney,  darin  allerlei  schädliche  Mißbräuche  des  Wundarztes  abgeschafft  werden  etc."*) 
einige  nützliche  Winke  zur  chirurgischen  Behandlung  des  Obres.  Um  einen  sicheren 
kosmetischen  Erfolg  bei  genähten  Wunden  der  Ohrmuschel  zu  erzielen,  rät  er,  die 
Nähte  baldigst  zu  entfernen,  da  es  sonst  leicht  zur  Eiterung  komme,  wodurch  un- 
schöne Narben  entstehen. 


*)  Basel  1612,  p.  108:  ferner  p.  469. 


Fabricius  Hildanus.  151 


Fabricius  Hildanus  (1560 — 1634)*).  Zu  den  berühmten  Chirurgen 
deutscher  Abstammung,  deren  Wirken  in  die  zweite  Hälfte  des  16.  und 
die  erste  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  fällt,  zählt  Fabricius,  nach. seinem 
Geburtsorte  van  Hilden  genannt.  Trotz  ungünstiger  Lebensverhältnisse 
in  der  Jugend  eignete  er  sich  einen  solchen  Bildungsgrad  an,  daß  er 
sich  im  16.  Lebensjahre  der  Wundarzneikunst  widmen  konnte.  Dem 
Brauche  jener  Zeit  gemäß  nahm  er  zunächst  Dienste  bei  mehreren 
Wundärzten  und  ging  dann,  mit  praktischen  Kenntnissen  ausgerüstet,  an 
die  Hochschule  in  Köln,  wo  er  Gelegenheit  fand,  sich  wissenschaftlich 
auszubilden.  Nach  5jährigem  Aufenthalte  daselbst  (1596)  finden  wir 
Fabricius  bald  in  Genf,  bald  in  Lausanne,  Basel,  Bern,  überall  in- 
folge seines  großen  Rufes  von  zahlreichen  Kranken  aufgesucht  und  trotz 
intensiver  Berufstätigkeit  eine  fruchtbare,  schriftstellerische  Tätigkeit 
entwickelnd,  stets  umgeben  von  Aerzten  aller  Länder,  die  seinen  Ruf  als 
Lehrer  verbreiteten. 

Fabricius  wird  mit  Recht  als  derjenige  bezeichnet,  der  zuerst  in 
Deutschland  die  Wichtigkeit  der  Kenntnis  der  Anatomie  für  die  Medizin 
im  allgemeinen  und  die  Chirurgie  im  besonderen  anerkannte*1").  Von 
seinen  zahlreichen  Schriften  sind  für  die  Otiatrie  nur  seine  „Observatio- 
num  et  curationum  chirurgicarum  centuriae"  (1606  — 1641)  von  Inter- 
esse***). Diese  enthalten  eine  Anzahl  von  Beobachtungen  über  ope- 
rative Eingriffe  bei  Fremdkörpern  und  Polypen,  von  denen  hier  einige 
kurz  mitgeteilt  werden  sollen. 

Am  ausführlichsten  ergeht  sich  Fabricius  über  die  Frem d- 
körper  des  äußeren  Gehörganges,  von  denen  er  fünf  Fälle 
(observationes)  schildert.  Die  Observatio  IV.  der  ersten  Centuriaf) 
beginnt  Fabricius  mit  einer  brieflichen  Mitteilung  an  Kaspar  Bau- 
hin über  eine  anatomische  Entdeckung,  durch  die  er  den  Symptomen- 
komplex des  betreffenden  Falles  zu  erklären  versucht.  Seiner  Ansicht 
nach  soll  nämlich  ein  Ast  des  „fünften  Nervenpaares "  (Gesichts- 
und Hörnerv)  zum  Rückenmark  verlaufen  und  Aestchen  durch  den 
ersten  und  zweiten  Halswirbel  für  die  Muskeln  des  Kehlkopfes  .ab- 
geben. Als  eine  Stütze  für  diese  Annahme  gilt  ihm  das  Auftreten  von 
Husten  beim  Kitzeln  des  Ohres.    Jetzt  wissen  wir,  daß  der  vom  Gehör- 


*)  Traugott  Wilh.  Gust.  Benedikt.   „Commentatio  de  Fabricio  Hildano". 
Inauguraldissert.  Breslau  1847. 

**)  Vergl.  seine  kleine  Schrift  „  Kurze  Beschreibung  der  Fuertrefflichkeit,  Nutz- 
und  Notwendigkeit  der  Anatomey".     Bern  1624. 

***)  I.  ed.  Basel  1606;   von   mir   wurde  als  Quelle  benützt:    Guilhelmi  Fabricii 
Hildani  opera  observationum  et  curationum  medicochirurgicarum  quae  extant  omnia. 
Francofurti  ad  Moenum  1646. 
f)  1.  c.  p.  15. 


152 


Fabricius  Hildanus. 


gange  ausgelöste  Reflexhusten  durch  den  Raums  auricularis  N.  vagi  ver- 
mittelt wird.  Durchwegs  hypothetisch  und  nur  auf  die  Symptome  des 
folgenden  Falles  gegründet  ist  seine  angebliche  anatomische  Entdeckung, 
daß  Zweige  vom  Gesichts-  und  Hörnerven  mit  dem  vierten,  fünften  und 
sechsten  Armmuskelnerven  (Spinalnerven)  zu  den  Armen  und  Fingern,  ja 

sogar  zu  den  Beinen   und  Zehen  ver- 
laufen. 

Einem  10jährigen  Mädchen  ge- 
riet beim  Spiele  eine  erbsengroße 
Glaskugel  ins  Ohr.  Da  den  vier 
zitierten  Chirurgen  die  Extraktion  nicht 
gelang,  beschloß  die  Mutter,  das  Kind, 
das  über  die  heftigsten  Ohrenschmer- 
zen klagte,  „Dei  et  naturae  arbitrio'' 
zu  überlassen.  Die  Ohrenschmerzen 
ließen  wohl  bald  nach,  doch  stellten 
sich  heftige,  bis  zur  Sagittalnaht  aus- 
strahlende Kopfschmerzen  ein,  deren 
Intensität  nach  der  Witterung  wech- 
selte. Außerdem  entwickelte  sich  eine 
Gefühllosigkeit  im  linken  Arme ,  die 
sich  auch  auf  Daumen  und  Zeigefinger 
erstreckte,  später  bis  zur  Lende  fort- 
schritt  und  schließlich  auch  Unter- 
schenkel und  Fuß  ergriff,  bis  die  ganze 
linke  Körperhälfte  anästhetisch  war  *). 
Darauf  wechselte,  besonders  des  Nachts, 
Gefühllosigkeit  mit  den  heftigsten 
Schmerzen  in  den  oberen  und  unteren 
Extremitäten.  Gleichzeitig  litt  das 
Mädchen  an  trockenem  Husten  und 
unregelmäßiger  Menstruation.  Nach 
5jährigem  Leiden  traten  außerdem  epi- 
leptiforme  Konvulsionen  auf  und  der 
Arm  verfiel  der  Atrophie2).  Durch  die 
bedenklichen  Symptome  geängstigt, 
konsultierte  die  Mutter  ohne  Erfolg 
,  ohne  jedoch  diesen  vom  Vorhanden- 
sein des  Fremdkörpers  im  Ohre  Mitteilung  zu  machen.  Auch  Fabricius, 
der  über  die  Krankheitsursache  nicht  informiert  wurde,  erzielte  durch 
interne  und  externe  Medikation  kein  Resultat ,  bis  ihn  die  Patientin  auf 
die  nun  seit  8  Jahren  in  ihrem  Ohre  befindliche  Glaskugel  aufmerksam 


Fig.  6.     Reproduktion    des    Speculum 

Auris  des  Fabricius  Hildanus  aus 

dem  zitierten  Werke,  p.  17. 

„medicos,  chirurgos  et  empiricos' 


Fabricius  Hildanus.  153 


machte.  Durch  die  hierauf  von  ihm  ausgeführte  Extraktion  wurde  die 
Patientin  mit  einem  Schlage  von  allen  ihren  Beschwerden  befreit.  Nach 
dem  geschilderten  Symptomenkomplex  dürfte  es  sich  in  diesem  Falle 
um  eine  durch  den  Fremdkörper  im  Gehörgange  bedingte  Reflexneurose 
gehandelt  haben. 

Im  Anschlüsse  an  diese  Krankengeschichte  schildert  er  den  Vor- 
gang bei  der  Extraktion  des  Fremdkörpers  und  fügt  dem  Texte  in 
rohen  Holzschnitten  die  Instrumente  bei,  deren  er  sich  hier  soAvie  bei 
ähnlichen  Operationen  bediente.  Darunter  befindet  sich  auch  die  Ab- 
bildung des  zangenförmigen  gespaltenen  Ohrspekulums,  dessen  Kon- 
struktion mit  den  späteren  Itardschen  und  Kr  am  ersehen  Specula 
übereinstimmt.  Fabricius  benützte  sein  Spekulum  hauptsächlich  zur 
Erweiterung  und  besseren  Beleuchtung  bei  operativen  Eingriffen  im  Ge- 
hörgange; von  einer  Inspektion  des  Trommelfells  war  dabei  keine  Rede. 

Pietro  de  la  Cerlata  (s.  S.  63)  galt  lange  als  der  erste,  der  sich  eines  Ohr- 
spekulums bedient  haben  soll.  Die  Stelle  über  den  Ohrenspiegel  in  seiner  Chirurgia 
(Venet.  1492,  Lib.  V,  Track  IX,  Cap.  9.  p.  114),  die  beweisen  soll,  daß  der  Ohren- 
spiegel ein  langgekanntes  Instrument  sei,  lautet:  „Si  autem  fuerit  (sc.  surditas)  a 
Verruca  aut  a  re  aliqua  ingressa,  scitur  per  patientem  et  per  inspectionem  ad  solem 
trahendo  aurem  et  ampliando  cum  speculo  aut  alio  instrumento."  Diese  Stelle 
ist  jedoch  wörtlich  der  „ Grande  Chirurgie"  des  Guy  de  Chauliac  (14.  Jahrhundert) 
entnommen.  (La  grande  Chirurgie  de  M.  Guy  de  Chauliac  composee  l'an  de  Grace 
1363.  Tours  1598,  p.  530,  lin.  19— 21.)  Auch  die  Angabe  Gurlts.  daß  Vigo  (S.  64) 
des  Ohrenspiegels  als  erster  gedacht,  trifft  nicht  zu,  da  Chauliac  lange  vor  Vigo 
gelebt  hat.  —  In  späterer  Zeit  wird  das  Ohrspekulum  auch  von  Falloppio  (Opera 
omnia.  Francof.  1606,  Tom.  II,  Tract.  II,  p.  238)  erwähnt.  —  Ein  dem  Ohrspekulum 
des  Fabricius  ähnlicher,  als  Dilatator  benutzter  „ Ohrspiegel "  wird  von  Konrad 
von  Solingen  in  seinen  „Handgriffe  der  Wundarznei"  (Wittenberg  1712.  S.  155. 
Taf.  III,  Fig.  7)  abgebildet. 

Hier  eine  kurze  Skizze  der  von  Fabricius  geübten  Alethode  der 
Fremdkörperextraktion 3) :  Nachdem  die  Patientin  an  einen  sonnigen  Ort 
gebracht  wurde,  erweiterte  er  mit  seinem  Zangenspekulum  den  vorher 
mit  Mandelöl  eingefetteten  Gehörgang,  suchte  hierauf  mit  einer  Somlr 
(specillum)  eine  Stelle,  wo  er  am  besten  mit  seinem  Ohrlöffel  (cochleare) 
zwischen  Fremdkörper  und  Gehörgang  ansetzen  konnte  und  stemmte 
dann  mit  einiger  GeAvaltanwendung  die  bereits  durch  Ceruminalmassen 
festgeheftete  Glaskugel  heraus.  Außerdem  hatte  er  noch  zur  eventuellen 
Verwendung  eine  gerade  Pinzette  (tenaculum)  zur  Verfügung.  Ein  von 
ihm  ersonnenes  Instrumentarium  zur  Entfernung  von  Erbsen,  mit  dem 
der  Operateur  dem  Kranken  weniger  Schmerzen  bereitet  als  mit  dem 
^cochleare",  welches  aber  zu  seiner  Anwendung  eine  größere  Geschick- 
lichkeit erfordert,  findet  auch  hier  Erwähnung.  Es  besteht  aus  zwei 
ineinanderpassenden  Röhren,    von  denen  die   mit  kleinerem  Durchmesser 


154  Fabricius  Hildanus. 

an  ihrem  vorderen  Ende  eine  trepanartige  Zahnung  besitzt.  Zuerst  wird 
die  weitere  Röhre  bis  an  den  Fremdkörper  geschoben,  dann  durch  diese 
die  kleinere  gezahnte  Röhre  eingeführt  und  durch  kleine  Drehungen  an 
den  Fremdkörper  fixiert.  Endlich  wird  durch  die  kleinere  Röhre  ein 
kleiner  Bohrer  in  die  Erbse  eingebohrt  und  zum  Schlüsse  beide  Röhren 
mit  Bohrer  und  Fremdkörper  herausgezogen.  Als  Beispiele  werden 
(Observ.  V,  Cent.  I)  zwei  nach  dieser  Methode  mit  Erfolg  operierte  Fälle 
angeführt. 

Schließlich  berichtet  Fabricius  (Observ.  VI)  über  die  Entfernung 
einer  in  den  äußeren  Gehörgang  geratenen  Nadel  und  (Observ.  X  der 
Cent.  VI)*)  über  einen  Fall,  wo  eine  Taubheit  durch  Extraktion  einer 
mit  Cerumen  („sordes  aurium")  bedeckten  Grille  sofort  beseitigt  wurde4). 

Die  Observ.  I.  der  III.  Cent.**)  bespricht  in  recht  ausführlicher  Weise 
die  Entfernung  eines  Polypen  des  äußeren  Gehörganges,  der 
nach  Variola  bei  einem  8jährigen  Mädchen  sich  gebildet  haben  soll. 
Der  Polyp,  den  Fabricius  wegen  seiner  Form  und  Härte  „fungus 
scirrhosus''  nennt,  ragte  aus  dem  Ohre  heraus  und  hatte  den  Gehörgang 
bereits  stark  erweitert.  Eigentümlicherweise  verschob  Fabricius  die  Ent- 
fernung wegen  der  herrschenden  Kälte  auf  das  nächste  Frühjahr  und  ver- 
suchte in  der  Zwischenzeit  interne  und  externe  Mittel.  Da  die  Basis  des 
gestielten  Polypen  tief  im  Gehörgange  in  der  Nähe  des  Trommelfells  saß 
und  die  Patientin  einer  Exzision  abgeneigt  war,  erdachte  sich  Fabricius 
einen  Apparat,  um  den  Polypen  hart  an  seinem  Ursprung  abbinden  zu 
können.  Er  verwendete  hiezu  eine  U -förmig  gebogene,  an  ihren  beiden 
Enden  und  in  der  Mitte  durchlochte  elastische  Silberspange,  die  sich 
mit  ihren  beiden  Enden,  den  Polypenstiel  umfassend,  in  den  Gehörgang 
einschieben  ließ.  Nachdem  Fabricius  nun  einen  einfachen  Knoten  um 
den  Polypen  geschürzt  hatte,  zog  er  die  Enden  des  Fadens  durch  die 
Endlöcher  seiner  Silberspange  und  schob  diese  und  damit  die  Ligatur 
so  tief  als  möglich  in  den  äußeren  Gehörgang,  während  gleichzeitig  sein 
Assistent  mit  einem  Faden,  der  durch  das  Mittelloch  der  Spange  geführt 
wurde,  den  Polypen  nach  außen  spannte.  Der  Faden  wurde  zuerst  locker 
liegen  gelassen  und  erst  in  den  nächsten  Tagen  nach  und  nach  stärker 
zugeschnürt.  Als  der  Polyp  abgefallen  war,  behandelte  er  den  zurück- 
gebliebenen Rest  mit  ätzender  Flüssigkeit,  wobei  er  den  normalen  Teil 
des  äußeren  Gehörganges  durch  eingelegte  Wachsplättchen  schützte. 
Erwähnt  sei  noch,  daß  Fabricius  ein  curettenartiges  Instrument  (von 
ihm  „cultellus  separatorius"  genannt)  abbildet,  das  ihm  zur  Entfernung 
von  Granulationen  (carunculas)  im  äußeren  Gehörgang  diente. 

Die  Observ.  IV.  ergeht  sich   eingehend   über   einen  Fall,    bei  dem 

*)  1.  c.  p.  507. 
**)  1.  c.  p.  183—188. 


Tafel  VIII 


Ihtude  fchetzt  van    FJBJUCIVS  HlLDAAN 
Zyn  hjhaam  fchonk  hy'jraf,  na  dat  hy  z»  vetl  iure 


Den  kranken, m  nun  ntci,  4etrjux'  haä  by  aefla&n 
De  jztel  in  '  tUahaam  tum  syn  bocken  is  qeuaarm. 

\Y-  VA 


GUILELM.   FABRICIUS  HILDANUS 


Fabriciua  Hildanus.  155 


ein  Kirschkern  in  das  rechte  Ohr  eines  12jährigen  Knaben  geriet,  von 
dem  behandelnden  Arzt  mit  einem  spitzen  Haken  noch  tiefer  hinein- 
gestoßen und  erst  durch  die  hierauf  folgende  Eiterung  spontan  ausge- 
stoßen wurde.  Interessant  ist  die  Beobachtung,  daß  der  Knabe  an 
Schwindelanfällen  litt,  schwankenden  Gang  zeigte  und  den  Kopf  auf  die 
rechte  Seite  hängen  ließ. 

Die  nächstfolgenden  drei  Kapitel  (Observ.  V,  VI  und  VII)  schildern 
Fälle  von  Ertaubung  infolge  heftiger  Lufterschütterung  (Glockengeläute, 
Explosion  eines  Geschosses),  ferner  infolge  eines  traumatischen  Insultes 
(Sturz  aus  der  Höhe).  Die  Unheilbarkeit  in  diesen  Fällen  bringt  F  a- 
bricius  mit  der  Zerreißung  des  Trommelfells,  das  er  für  eine  Aus- 
spannung des  Hörnerven  ansieht,  in  Zusammenhang;  auch  denkt  er  an 
die  Möglichkeit  einer  bloßen  Erschlaffung  dieser  Membran,  sowie  an  eine 
Dislokation  der  Gehörknöchelchen. 

In  der  Observ.  XXV.*)  berichtet  Fabricius  von  einer  schweren 
Taubheit,  die  sich  im  Anschlüsse  an  eine  Instillation  von  Flüssigkeit 
in  den  äußeren  Gehörgang  entwickelte.  Wir  geben  die  mitgeteilte 
Krankheitsgeschichte  wegen  der  von  Fabricius  an  seine  Hörer  ge- 
richteten Lehren  etwas  ausführlicher.  Ein  8j ähriges  Mädchen  war  an 
einem  Ohrenkatarrh  mit  gleichzeitigen  subjektiven  Geräuschen  erkrankt. 
Von  einem  „Empiricus"  wurde  ihm  eine  ölige  Flüssigkeit  ins  Ohr 
eingebracht.  Hierauf  bekam  das  Kind  heftige  Schmerzen,  die  durch 
mehrere  Tage  anhielten,  ferner  stellten  sich  Fieber  und  andere  schwere 
Symptome  ein.  Zwei  herbeigerufene  erfahrene  Aerzte  wendeten  ver- 
schiedene innere  und  äußere  Medikamente  an.  Die  Schmerzen  und  auch 
die  anderen  bedrohlichen  Symptome  verschwanden  nach  und  nach;  doch 
blieb  eine  von  Tag  zu  Tag  zunehmende  Schwerhörigkeit  zurück,  und  im 
24.  Lebensjahre  war  die  Patientin  bereits  so  taub,  daß  sie  das  Explosions- 
o-eräusch  einer  in  ihrer  nächsten  Nähe  abgefeuerten  Kanone  nicht  hören 
konnte.  Im  Anschlüsse  an  diese  mit  den  genauesten  Daten  versehene 
Krankheitsgeschichte  richtet  Fabricius  an  die  Studierenden  der  Me- 
dizin (tyrones)  die  Mahnung,  bei  Ohrenleiden  keine  örtlichen  Mittel 
zu  gebrauchen,  bevor  nicht  allgemeine  angewendet  wurden,  insbesondere 
dann,  wenn  die  Ohrerkrankung  schwer  und  der  Körper  mit  schlechten 
Säften  erfüllt  sei;  ferner  mögen  die  Ohrmittel  nicht  scharf  (acre),  son- 
dern sehr  mild  (lenissimum)  sein,  weil  die  Flüssigkeit  sich  leicht  bis  zum 
Trommelfell  ergieße,  dann  aber  wegen  der  Krümmung  des  äußeren  Ge- 
höro-anges  nicht  wieder  ausfließen  könne.  Deshalb  benützt  Fabricius 
Wieken  aus  feinem  Flachs  und  Baumwolle  (turundas  ex  carbaso  et 
gossypio),  die  er  an  der  Spitze  mit  dem  Arzneimittel  befeuchtet.    Auch 


►)  1.  c.  Cent.  V,  p.  405—406. 


[56  Fabricius  Hildanus. 


darin,  meint  Fabricius,  habe  jener  „Empiricus"  einen  groben  Fehler 
begangen,  daß  er  in  beide  Ohren  zu  gleicher  Zeit  das  scharfe  Medika- 
ment einflößte.  Zum  Schlüsse  wird  noch  erwähnt,  wie  man  Flüssigkeit 
aus  der  Tiefe  des  Ohres  entfernen  könne.  Man  nimmt  einen  mit  Be- 
tonienwasser  getränkten  und  dann  gut  ausgepreßten  Schwamm,  führt  ihn 
in  den  Gehörgang  ein  und  läßt  den  Patienten  auf  der  kranken  Seite 
liegen;  doch  muß  der  Schwamm  eventuell  häufig  gewechselt  und  ge- 
reinigt werden. 

Die  nächste  Krankheitsgeschichte  (Observ.  XXVI.)*)  behandelt  den 
Fall  eines  8jährigen  Knaben,  der  nach  einer  schweren  Erkrankung  nicht 
nur  taub,  sondern  auch  stumm  blieb.  Fabricius  erklärt  ganz  richtig, 
daß  der  Knabe,  der  seine  Muttersprache  als  Kind  noch  nicht  beherrschte, 
diese  einfach  vergaß,  und  sie,  nachdem  er  einmal  taub  wurde,  nicht 
wieder  erlernen  konnte. 

Die  Observ.  XXXIX.**)  handelt  von  einem  Abszeß,  der  sich  bei 
einem  40jährigen  Weibe  hinter  dem  linken  Ohre  bildete  und,  nachdem 
er  Faustgröße  erreicht  hatte,  spontan  nach  außen  durchbrach.  Da  die 
Krankheit  letal  endete,  dürfte  es  sich  in  diesem  Falle  um  ein  Ueber- 
greifen  einer  Schläfenbeincaries  mit  Abszeß  im  Warzenfortsatze  auf  das 
Gehirn  gehandelt  haben.  Anknüpfend  hieran  rät  Fabricius,  bei 
solchen  Abszessen  nicht  bis  zum  spontanen  Durchbruch  zu  warten,  son- 
dern früher  zu  inzidieren. 

Am  Schlüsse  der  Observ.  II.***)  spricht  Fabricius  „de  puru- 
lentis  auribus".  Ein  24jähriges  Weib  hatte  seit  ihrer  Kindheit  „puru- 
lentas  aures",  aus  denen  manchmal  „cocta  et  digesta  materia",  bisweilen 
auch  „subtilis  et  tenuis"  floß.  Gleichzeitig  bestanden  Schmerzen  und 
zeitweilig  ein  „foetor".  Bei  naßkalter  Witterung  klagte  die  Patientin 
auch  über  Schmerzen  in  den  Armen.  Bei  der  Okularinspektion  fand  nun 
Fabricius  den  äußeren  Gehörgang  mit  Eiter  erfüllt  und  beim  Aus- 
wischen der  Ohren  zog  er  ein  Stückchen  halb  verfaulten  Knorpel  heraus. 
Hierbei  beobachtete  er,  daß  bei  dieser  Patientin,  wenn  sie  Mund  und 
Nase  verschloß  und  eine  heftige  Exspirationsbewegung  ausführte,  Luft 
aus  den  Ohren  entwich,  indem  Blasen  im  Eiter  entstanden5).  Als  Fa- 
bricius diesen  Versuch  mehrmals  wiederholte,  berichtete  ihm  die  Pa- 
tientin, daß  sie  ihr  Gehör  bedeutend  gebessert  finde  und  daß  ihr  die 
Krankheit  wenig  Unannehmlichkeiten  mehr  bereite. 

Eine  ähnliche  Krankengeschichte  behandelt  die  Observ.  III.  der 
III.  Cent. f)  in  der  Form  eines  Briefes    an  seinen  Freund  Georg  Horst, 


*)  1.  c.  Cent.  V,  p.  406. 
**)  1.  c.  Cent.  I,  p.  33. 
***)  Cent.  III,  p.  189. 

-;-)  P.  189. 


Gaspal'  Tagliacozzi.  157 


dem  er  gleichzeitig  von  der  Erkrankung  seines  Sohnes  an  der  Pest  Mit- 
teilung macht.  Ein  oOjähriger  Mann,  der  vor  einigen  Jahren  am  linken 
Ohre  an  einem  schmerzhaften  Katarrh  litt,  bekam  im  äußeren  Gehör- 
gange einen  „abscessus"  und  wurde,  wie  Fabricius  sich  ausdrückt, 
mehr  durch  die  Natur  als  durch  die  Arzneimittel  geheilt.  Von  da  an 
zeigte  es  sich  aber,  daß  bei  Verschluß  von  Mund  und  Nase  und  gleich- 
zeitiger heftiger  Exspirationsbewegung  Luft  aus  dem  Gehörgange  aus- 
strömte, die  von  den  Danebenstehenden  deutlich  wahrgenommen  werden 
konnte 6).  Schmerzen  waren  seither  nicht  vorhanden,  und  als  wunderbar 
hebt  Fabricius  hervor,  daß  das  Gehör  kaum  verschlechtert  war.  Es 
handelt  sich  hier  zweifellos  um  eine  abgelaufene  Mittelohreiterung  mit 
persistenter  Perforation  des  Trommelfells. 

*)  Accidebant  praeterea  levo  brachio  quasi  Stupores,  usque  ad  cligitos  pollicem 
et  indicem,  progredientes  ad  lumbos  usque  tibiam  et  pedem:  et  ut  paucis  dicam. 
totum  latus  sinistrum  continuis  ijs  ceu  stuporibus  languebat. 

2)  Quum  annis  quatuor  aut  quinque  sie  doleret,  aeeiderunt  interdum  epilepticae 
convulsiones :  ipsurn  quoque  brachium  in  atrophiam  ineidit. 

3)  Primo  locum  splendidum  elegi,  ita  quidem  ut  radii  solares  in  auris  meatum 
penetrarent.  Mox  meatum  auris  undique  inunxi  oleo  amygdalarum  dulcium.  Deinde 
dilatato  nonnihil  speculo  (infra  figurato)  auris  medio  (quo  facilius  eo  possem  intro- 
spicere)  tum  oculis  contemplari,  tum  specillo  explorare  coepi  .  .  . 

4)  „Admoto  speculo  auris  in  profundo  aliquid  praeternaturale  video:  im- 
missis  itaque  instrumentis .  qualia  hie  depieta  sunt,  materiam  quandam  pinguem 
flavamque,  sordes  aurium  prae  se  ferentem,  et  prope  membranam  tympani  tenaciter 
baerentem  extraxi :  hinc  in  ipso  momento  tinnitus  remisit,  et  auditum  recuperare 
coepit.  Materiam  autem  banece  cum  diligenter  inspexisse  grillum  semiputrid  um, 
sordibusque  auris  involutum  esse  reperi." 

5)  Id  autem  observatione  dignum  in  boc  affectu  oecurrit ,  nimirum  aerem. 
clausis  naribus  et  ore ,  tarn  violenter  ex  auribus  efflare  et  exspirare .  ut  impositis 
pennis  .  .  . 

6)  Ab  eo  tempore,  quotiens  cumque  os  et  nares  claudit  ac  bucas  inflat  spiri- 
tumque  vi  expellere  tentat,  flatus  tarn  impetuose  per  aurem  illam  sinistram  exspirat, 
ut  sibilus  satis  clarus  ab  ipsis  quoque  adstantibus  facile  pereipiatur,  et  candela  si 
auri  admoveas,  exstinguatur. 

Gaspar  Tagliacozzi.  Den  Chirurgen  des  16.  Jahrhunderts  ist  der 
Bolognese  Gaspar  Tagliacozzi  (1546 — 1599)  beizuzählen.  Ihm  ver- 
dankt die  Chirurgie  das  Wiederaufleben  der  schon  im  Altertume  geübten 
oto plastischen  Operationen.  Wie  früher  erwähnt,  haben  schon 
die  Inder  und  später  Celsus  und  die  Byzantiner  versucht,  verloren  ge- 
gangene Stückchen  der  Ohrmuschel  auf  plastischem  WTege  zu  ersetzen. 
Später  war  es  der  sizilianische  Wundarzt  Branca  aus  Catania  und 
dessen  Familie,  die  dieses  Verfahren  übten.  Von  ihnen  ging  die  Kenntnis 
der  plastischen  Operationen  auf  die  Familie  Vianeo  (Bojani)  zu  Tropaea 
in   Kalabrien  über,  von  der  sie  Tagliacozzi  erlernt  haben  dürfte. 

Tagliacozzi,    der    sich    eingehend    mit    dieser    Operationsmethode 


Li 


Gaspar  Tagliacozzi. 


beschäftigte,  beschreibt  in  seinem  1597  zu  Venedig,  ein  Jahr  später  in 
Frankfurt  erschienenen  Werke*)  die  plastischen  Operationen  an  der 
Nase,  an  den  Lippen  und  am  Ohre  nach  Methoden,  die  sich  zum  großen 
Teile  noch  bis  jetzt  in  der  Chirurgie  erhalten  haben.  Das  am  Schlüsse 
des  Werkes  angegebene  Verfahren  zur  Wiederherstellung  von  Ohr- 
defekten wird  durch  mehrere  rohe  Holzschnitte  illustriert.  Bei  ganz- 
lichem  Mangel  der  Ohrmuschel  rät  er  von  jeder  kosmetischen  Operation 
ab.  Nach  seiner  Erfahrung  könne  nur  bei  partiellen  Defekten  ein  günstiges 
Resultat  erzielt  werden,  und  zwar  seien  die  Chancen  für  den  Ersatz  des 

unteren  Teiles  der  Ohrmuschel  viel 
günstiger  als  bei  Defekten  des  obe- 
ren Abschnittes,  weil  dieser  eine  kom- 
pliziertere Form  habe  und  wegen 
seiner  vom  Kopfe  abstehenden  Stel- 
lung schwerer  ernährt  werde.  Zum 
Ersatz  des  Defektes  entnimmt  er  Haut- 
lappen der  benachbarten  Gegend  hin- 
ter und  unter  dem  Ohre,  und  zwar 
bei  Mangel  des  oberen  Teiles 
von  der  oberen  Gegend  des  Pla- 
num mastoideum  (Fig.  7),  und 
bei  Mangel  des  unteren  Ab- 
schnittes von  der  s  eitlichen 
Halsgegend  *).  Bei  der  Lappenbil- 
dung am  Planum  mastoideum  wird 
die  über  dem  Warzenfortsatz  ver- 
laufende Arterie  verletzt2).  Mit  ge- 
radem Schnitt 3)  durchtrennt  er  das 
vorher  mit  Schwarzstift  umzeichnete 
Hautstück  und  heftet  den  gestielten  Lappen  in  einem  Akte  an  die 
unter  Schonung  des  Knorpels1)  sorgfältig  wundgemachten  Ränder  der 
Ohrmuschel  an. 

'l  1.  c.  p.  604.     Icon  vigesimasecunda. 

")  Cum  enim  per  locum  ex  quo  tradux  excinditur,  insignis  quidam  arteriae 
ramus  perreptet,  quem  velis  nolis  oportet  incidere.    1.  c.  p.  547. 

3)  Nee  negligere  illud  oportet,  ut  quantum  fieri  poterit,  ad  reetam  lineain 
ducatur  sectio.    1.  c.  p.  552. 

')  Interea  feriet  autem  curtam ,  et  acutissimo  ferro  ad  extremam  eius  oram 
Collum  detrahet,  cavens  ne  cartilaginem  dilaceret.    1.  c.  p.  552. 


Fig.  7.  Ersatz  des  defekten,  oberen  Ab- 
schnittes der  Ohrmuschel  B  durch  einen 
oberhalb  des  Planum  mastoid.  entnom- 
menen Haut  läppen  A.  —  Reproduktion 
aus  dem  zitierten  Werke  Tagliacozzis, 
p.  604. 


*)  Cheirurgia  nova  Gasparis  Taliacotii  de  narium,  aurium.  labiorumque  defectu, 
per  insitionem  cutis  ex  humero,  arte  hactenus  omnibus  ignota,  sarciendo  etc., 
Francofurti  1598.     Lib.  II,  Cap.  20  De  curtarum  aurium  chirurgia.    p.  546 — 558. 


Ütologische  Literatur  im  16.  Jahrhundert.  159 

Außer  den  im  Texte  angeführten  Autoren  sind  noch  folgende  in  dieser  Periode 
erschienene  Schriften  zu  erwähnen,  die  nur  unwesentliche  otologische  Details  enthalten. 

Hieronymus  Cardanus,  De  Subtilitate.     Lib.  XXI. 

Carbo  Ludovicus,  Inferior  horno  vel  de  sui  ipsius  cognitione.  Coloniae 
1597.     De  auribus  et  auditu  spirituali.     Cap.  55  u.  56. 

Jo.  Ferrerius,  Auditum  esse  magis  necessarium  quam  visum.    Parisiis  1539. 

Cipriano  Giambelli,  Trattato  dell'  Anima.  Trevigi  1594.  Della  Vista  e 
dell'  Udito.     Lib.  1. 

Baccius  Andreas,  De  thermis,  lacubus,  fluminibus,  balneis  totius  orbis. 
Venetiis  1571.     De  Aurium  morbis.     Lib.  III,  Cap.  1,  p.  138. 

Jo.  Alphonsus  de  Fonsecha.  Medicorum  Incipientium  medicina  etc. 
Madriti  1598.     Luminar.  2.  Cap.  3,  p.  104  et  seqq.  multa  de  auribus. 

Galeotus  Martius,  De  Homine.    Basileae  1517.    De  Auribus.    Lib.  I,  p.  12. 

Sim.  Maiolus,  De  Irregularitate.  Romae  1585.  De  Aurium  defectibu*. 
Lib.  I,  Cap.  25. 

Franc.  Petrarcha,  De  remediis  utriusque  fortunae.  Basileae  1581.  De 
Auditu  perdito.     T.  I. 

Plutarchus,  De  Auditione  libellus:  inter  Moralia.     Basileae  1573. 

Bartolomeo  Montagnana  (f  1525),  Selectiorum  Operum,  ubi  consilium  de 
Aegritudinibus  aurium.     Francofurti  1604. 

Barthelemy  Pardoux  (Perdulcis  1545—1611),  Univer^a  medicina  ex  medi- 
corum principum  sententiis.  Lugduni  1651.  Lib.  XIII,  Sect.  4.  Cap.  3  et  seqq.,  de 
Aurium  tinnitu,  surditate  et  parotide. 

Giovanni  Battista  della  Porta  (1536 — 1615).  Magia  naturale.  Napoli  1677. 
Lib.  XX,  Caj).  5  d'un  istrumento  per  udir  da  lontano. 

Id..  Fisonomia,  ridotta  dallo  Stelluti.  Roma  1637.  Fol.  36,  Lib.  II,  delle  Orecchie. 

Id..  Phytognoruonica  Plantarum  etc.  Rothomagi  1650.  Lib.  III,  Cap.  40, 
magnarum  aurium  animalia  ad  auditus  gravitatem  valere. 

Thomas  Feyens  (Fienus  1567),  Simiotice.  de  Signis  medicis.  Lugduni  1633. 
Part.  2a.  Cap.  3.  £  7,  ab  auribus. 

Johann  Dolaeus  (1651 — 1707),  Encyclopaedia  chirurgica  rationalis.  Franco- 
furti 1703.     Lib.  I,  Cap.  14—15,  p.  109 — 131.    De  aurium  dolore,  inflammatione  etc. 

Marcellus  Donatus,  De  medica  historia  mirabili  libri  VI.  Mantuae  1586. 
Lib.  II,  Cap.  12.  p.  77—78. 

Duncan  Liddel  (1561 — 1613),  Ars  medica,  succincte  et  perspicue  explicata. 
Hamburgi  1608.     Lib.  III,  Cap.  7,  p.  301—304. 

Reinert  Solenander,  Consiliorum  medicinalium  sectiones  quinque.  Francof. 
1596.     Sect.  I,  Cons.  3  et  4,  p.  14—20:  Sect.  II,  Cons.  10  et  11,  p.  130—132. 

Joh.  Schenk  von  Grafenberg  (1530 — 1598),  Observationes  medicinal. 
Francof.     Lib.  I.  p.  175- 17s. 

Henricus  Petraenus  (1589 — 1620),  Nosologia  harmonica .  dogmatica  et 
hermetica.     Marburg  1615.     Diss.  XI,  p.  204—223. 

Jean  Baptiste  van  Helmont  (1577 — 1644),  Opera.  Herausgeg.  von  seinem 
Sohne  Franciscus  Mercurius  Helmont.     Lugd.  Bat.  1677. 

Marcus  Aurelius  Severinus  (1580 — 1656).  De  efficaci  medicina.  Franco- 
furti 1646.     Lib.  VII,  p.  295. 

Hieronymus  Provenzalis,  De  sensibus.  Romae  1597.  Part.  II.  Cap.  26 
et  seqq.,  de  sensu,  organo  et  situ  auditus. 

Raph.  Volaterranus.  Commentaria.  Lib.  XXIV.  Fol.  738,  Aures.  Lugduni  1552. 


Stand  der  Otiatrie  im  17.  Jahrhundert. 


Ein  Ueberblick  der  Leistungen  auf  otologischem  Gebiete  im  17.  Jahr- 
hundert ergibt  nur  wenig  Erfreuliches.  Den  Leistungen  der  großen 
Italiener  in  der  vorhergehenden  Epoche  gegenüber  erscheinen  die  Ergeb- 
nisse des  17.  Jahrhunderts  eher  als  ein  Rückschritt.  Dies  gilt  insbesondere 
von  Deutschland,  wo  die  wissenschaftliche  Forschung  durch  den  dreißig- 
jährigen Krieg  auf  das  niedrigste  Niveau  herabgedrückt  wurde,  während 
sich  gleichzeitig  in  Frankreich  und  in  den  Niederlanden  eine  erfolg- 
reiche wissenschaftliche  Tätigkeit  entwickelt,  die  auch  unserem  Fache 
zu  gute  kommt. 

Immerhin  sind  in  diesem  Jahrhundert  mehrere  für  den  Fortschritt 
der  Naturwissenschaften  und  der  Medizin  epochale  Ereignisse  zu  ver- 
zeichnen, deren  Ergebnisse  für  die  Otologie  allerdings  erst  im  folgenden 
Jahrhundert  zu  Tage  treten.  Wir  meinen  die  Erfindung  des  Mikroskops 
und  die  neue  Richtung  der  naturwissenschaftlichen  Forschung  durch  die 
von  dem  genialen  Baco  von  Verulam  inaugurierte  induktive  Methode. 

Wir  würden  jedoch  zu  weit  gehen,  wollten  wir  das  ganze  17.  Jahr- 
hundert als  eine  sterile  Zeit  für  die  Otologie  bezeichnen.  Denn  am  Aus- 
gang des  Jahrhunderts  begegnen  wir  zwei  Forschern ,  deren  Leistungen 
einen  Wendepunkt  in  der  Otologie  bedeutet:  Du  Verney  und  Val- 
salva.  Da  das  Wirken  des  Letzteren  zum  Teil  in  das  folgende  Jahr- 
hundert fällt  und  mit  dem  seines  Schülers  Morgagni  im  engen  Konnexe 
steht,  so  erscheint  es  gerechtfertigt,  Valsalva  an  die  Spitze  der  italieni- 
schen Anatomen  des  18.  Jahrhunderts  zu  stellen. 

a)  Anatomie  und  Physiologie  des  Gehörorgans  im 
17.  Jahrhundert. 

(Erste  Periode.) 

Die  lange  Periode  von  Casserio  bis  Du  Verney  ist  hinsichtlich 
der  anatomischen  Entdeckungen  am  Gehörorgane  mit  der  vorhergehenden 
großen  italienischen  Epoche  nicht  in  Vergleich  zu  ziehen.  Trotz  des 
raschen  Anwachsen  der  Spezialliteratur  ist  die  Summe  hervorragender, 
neuer  anatomischer  Beiträge  nur  recht  bescheiden.    Immerhin  aber  zeigt 


Die  Ohranatomie  in  Italien  im  17.  Jahrhundert.  161 

das  vorliegende  historische  Material,  daß  der  Kreis  der  Forscher,  die 
der  Ohranatomie  ihr  Interesse  zuwendeten,  immer  größer  wurde  und 
daß  die  französischen,  englischen,  dänischen,  niederländischen  und  deut- 
schen Anatomen,  die  nun  —  allerdings  spät  —  den  hohen  Wert  der 
Forschungsergebnisse  der  Italiener  anerkannten,  sich  eifrig  am  Aufbau 
der  Anatomie  beteiligten. 

Während  im  16.  Jahrhundert  außerhalb  Italiens  die  Ohranatomie 
nur  andeutungsweise  behandelt  wurde,  finden  wir  im  17.  Jahrhundert 
kein  anatomisches  Werk,  in  dem  dieser  Teil  der  Anatomie  nicht  be- 
rücksichtigt würde.  Ja  wir  finden  Schriften,  die  ein  bestimmtes  Thema, 
z.  B.  das  Schläfebein,  das  Trommelfell,  die  Gehörknöchelchen  u.  a.,  ge- 
sondert behandeln. 

Im  ganzen  stellt  sich  dieser  Zeitraum  als  Uebergangsperiode  dar. 
Die  groben  anatomischen  Verhältnisse  waren  zum  großen  Teile  auf- 
gedeckt. Für  die  feinere  Zergliederung  aber  fehlte  noch  jene  aus- 
gebildete Technik  und  Schärfe  der  Beobachtung,  welche  die  Männer  der 
folgenden  Periode,  Valsalva  und  Morgagni,  charakterisiert. 

Die  physiologischen  Anschauungen  über  die  Gehörfunk- 
tion bewegen  sich  anfangs  noch  zum  großen  Teile  in  dem  Gesichtskreis 
des  Koyter  und  Casserio,  doch  wurden  später  im  Anschluß  an  den 
großen  Aufschwung,  den  die  Physik  insbesondere  durch  französische  und 
italienische  Forscher  nahm,  die  Kenntnisse  über  den  Schall  und  über 
Schallfortpflanzung  wesentlich  vertieft  und  erweitert. 

Auch  in  diesem  Zeitabschnitt  leisteten  die  Italiener  noch  Einiges, 
doch  behaupteten  sie  nicht  mehr  in  dem  Maße  das  Uebergewicht  wie 
in  der  früheren  Periode.  Jetzt  sind  es  namentlich  französische  und 
niederländische  Forscher,  deren  Leistungen  rühmend  hervorgehoben  wer- 
den müssen.  Von  den  Männern,  die  sich  um  die  Ohranatomie  verdient 
gemacht  haben,  sind  zu  erwähnen:  die  Italiener  Caecilius  Folius, 
Marchetti,  die  Deutschen  Heinrich  Glaser,  Michael  Lyser,  Bohn 
und  der  Schweizer  Bonet,  die  Niederländer  De  le  Boe  Sylvius, 
Tulpius  und  Spighel,  die  Dänen  Nicolaus  Steno,  Bartholin, 
der  Engländer  Th.  Willis,  die  Franzosen  Claude  Perrault  und 
Jean  Mery  u.  a.  —  Für  die  Physiologie  des  Gehörorgans  und  die 
Schallehre  kommen  in  Betracht  Kircher,  Molinetti,  Willis,  Lamy, 
Bartoli,  Mersenne  und  Gassend i. 

Italien. 

In  dem  Vaterlande  der  wichtigsten  anatomischen  Entdeckungen  auf 
otologischem  Gebiete  trat  nach  Casserio  ein  lange  dauernder  Stillstand 
ein.  Die  glänzende  italienische  Epoche  der  anatomischen  Forschung 
fand  im  17.  Jahrhundert  nur  kleine  Epigonen.    Erst  im  18.  Jahrhundert 

Politzer,  Geschichte  der  Ohrenheilkunde.    I.  11 


152  Caecilius  Folius. 


wurde  durch  Valsalva  und  Morgagni,  Cotugno  und  Scarpa  die 
Reihe  jener  Forscher  geschlossen,  welche  den  Ruhm  der  italienischen 
Anatomen  für  immer  begründet  haben. 

Das  Hauptinteresse  in  dieser  Periode  hatte  sich  den  Tiersektionen, 
die  allerdings  auch  für  die  Ohranatomie  manches  Ersprießliche  ergaben, 
und  der  von  Malpighi  begründeten  mikroskopischen  Anatomie  zuge- 
wendet. In  der  auf  Zergliederung  von  Tieren  basierenden  anatomischen 
Forschung  haben  sich  Rondeletti,  Ulysses  Aldrovandi x),  namentlich 
aber  Marc  Aurelius  Severinus  (1580 — 1656)  hervorgetan.  Letzterer 
bevorzugte  die  Sektion  von  Tieren  vor  der  menschlichen  Anatomie  und 
legte  seine  Ergebnisse  in  der  „Zootomia  Democritea"  (Nürnberg 
1654)  nieder.  Die  mikroskopische  Anatomie  wurde  in  glänzendster  Weise 
durch  Malpighi  (gest.  1694)  gefördert.  Seine  mit  Silvestro  Bon- 
figlioli  unternommenen  Untersuchungen  über  das  Gehörorgan  brachten 
jedoch  nichts  Neues.  Erst  seinem  Schüler  Valsalva  war  es  vorbehalten, 
sein  ganzes  Talent  und  seinen  unermüdlichen  Eifer  in  den  Dienst  der 
otologischen  Forschung  zu  stellen. 

Unter  den  vor  Valsalva  wirkenden  Anatomen  seien  im  folgenden 
jene  Italiener  genannt,  denen  die  Ohranatomie  wenn  auch  keine  hervor- 
ragende, so  immerhin  eine  erwähnenswerte  Förderung  verdankt. 

')  De  piscibus  libri  quinque.  De  Cetis  liber  unus.  Francofurti  1670.  1.  c. 
Lib.  IV,  Cap.  2.  p.  159;  Lib.  I,  Cap.  19;  Lib.  II,  Cap.  25,  p.  23. 

Caecilius  Folius.  Zu  den  Anatomen,  die  sich  durch  Entdeckung 
eines  einzelnen  Details  einen  Namen  in  der  Anatomie  erworben  haben, 
zählt  Cecilio  Folio  (1615 — 1650).  Zu  Modena  geboren,  studierteer  an 
der  Universität  Padua,  wo  er  an  der  anatomischen  Lehrkanzel  der  Nach- 
folger Veslings  wurde.  Nach  Niederlegung  seines  Lehramtes  nahm  er 
bleibenden  Wohnsitz  in  Venedig.  Er  hinterließ  die  Resultate  seiner 
anatomischen  Untersuchungen  über  das  Gehörorgan  in  einer  dem  Tho- 
mas Bartholinus  gewidmeten  Tafel  mit  sechs  anatomischen,  in  Kupfer- 
stich ausgeführten  Abbildungen,  welche  wohl  zu  den  besten  jener  Zeit 
gehören,  nach  unseren  heutigen  Anforderungen  aber  durchaus  keinen 
Anspruch  auf  Naturtreue  erheben  können.  Wir  finden  daher  das  über- 
s(  liwengliche  Lob,  welches  Portal  dieser  Tafel  widmet,  in  keiner  Weise 
gerechtfertigt. 

Die  den  Titel  „Nova  auris  internae  delineatio"  (Venet.  1645) 
führende  Tafel*),  der  außer  der  Widmung  nur  zwei  Seiten  Figuren- 
erklärung,  aber  kein  beschreibender    Text  beigegeben   ist,    enthält  unter 


*)  Von  mir   wurde    die  in    den    „Disputation,    anatomicar.    selectar".   Vol.  III 
des  Albr.  v.  Hall  er  enthaltene  Tafel  des  C.  Folius  benützt. 


Caecilius  Folius.  \Q% 


anderem  die  bekannte  Entdeckung   des  Folio,    die    des   langen  Ham- 
merfortsatzes (Processus  longus   spinosus  s.  Folii). 

Zwar  war  dieser  schon  dem  Koyter  (Proc.  primus),  Casserio  (Proc. 
anterior  elatior  et  exilior)  und  Fabricius  ab  Aquapendente  nicht  ganz  unbe- 
kannt, wurde  aber  von  Caecilius  Folius  zuerst  als  eigener  Fortsatz  be- 
schrieben und  abgebildet.  Dieser  Fortsatz  führt  wohl  auch  mit  mehr 
Berechtigung  den  Namen  „Processus  Ravii"  nach  dem  deutschen  Ana- 
tomen Jac.  Ravius,  der  den  beim  Neugeborenen  in  seiner  ganzen 
Länge  darstellbaren,  grazilen  langen  Fortsatz  zuerst  beschrieb,  während 
Folius  nur  den  kurzen  Rest  desselben  beim  Erwachsenen  darstellte 
und  abbildete.  Von  inneren  Ohrmuskeln  nennt  Folius  den  Muse.  rot. 
intern,  (tensor  tympani)  sowie  einen  Muse.  aur.  extern.,  der  sich  an  dem 
langen  Fortsatz  inseriert.  Dieser  Musculus  Folii  (laxator  major  s.  obli- 
quus)  ist  aber  wohl  nichts  anderes  als  das  vordere  Band  des  Hammers 
(ligamentum  mallei  anterius  s.  process.  long,  mallei). 

Von  den  sechs  Abbildungen  der  Tafel  stellt  die  erste  das  Laby- 
rinth und  die  Schnecke  mit  der  Fenestra  rotunda  (Cochleae)  und 
ovalis  (vestibuli)  dar.  Die  halbzirkelförmigen  Kanäle  (Circumvolutiones) 
werden  ziemlich  gut  abgebildet.  In  der  Erläuterung  spricht  Folius  von 
einem  kleinen  Loch,  welches  in  eine  der  Schneckentreppen  einige 
Blutgefäße  durchtreten  läßt.  Der  Fazialkanal  wird  als  Aquaeductus 
Fallopiae  bezeichnet,  durch  den  die  Portio  dura  des  Nervus  audi- 
torius  geht. 

Die  zweite  Abbildung  enthält  unter  anderem  Detail  der  Trom- 
melhöhle auch  den  obenerwähnten  langen  Hammerfortsatz  („subtilior 
Processus,  cui  alligatur  musculus  alter  auris  externus"). 

Die  dritte  Abbildung  bringt  die  Gehörknöchelchen  zur  An- 
sicht, von  denen  jedoch  nur  der  Amboß  und  Stapes  gut  getroffen  sind, 
während  das  Detail  des  Hammers  mit  seinem  zu  lang  geratenen  Hals, 
dem  viel  zu  kurzen  Hammergriff  und  der  falschen  Stellung  des  langen 
Fortsatzes  sofort  als  mißlungen  in  die  Augen  fällt.  Was  Folius  als 
Stapedis  osseus  globulus  in  dieser  Abbildung  bezeichnet,  wird  von  Manchen 
als  das  Linsenbein  gedeutet. 

Die  vierte  Figur  stellt  die  Schnecke  in  zwei  und  einer  halben 
Windung  mit  ihren  beiden  Skalen  dar,  die  fünfte  die  einzelnen  Teile 
des  Gehörorgans  im  Zusammenhange  in  richtiger  topographischer  Lage. 

An  der  sechsten  mehr  schematischen  Abbildung  sieht  man  unter 
anderem  die  Scheidewand,  welche  die  Schnecke  in  zwei  Treppen  teilt 
(„intermedium  quoddam  cochleam  in  duos  gyros  dividens"),  ferner  daß 
zwei  Bogengänge,  der  senkrechte  und  hintere,  mit  einer  gemein- 
schaftlichen Oeffnung  in  den  Vorhof  münden,  woraus  sich  also  im 
ganzen  fünf  Oeffnungen  ergeben. 


164  Domenico  de  Marchetti. 


Domenico  de  Marchetti  (1626 — 1688),  Assistent  Veslings  und 
Nachfolger  auf  dem  Lehrstuhle  für  Anatomie  zu  Padua,  schildert  in 
seinem  Handbuche  der  Anatomie*)  das  Gehörorgan  im  Sinne  seines 
Lehrers,  weicht  jedoch  in  mancher  Beziehung  von  ihm  ab.  So  beschreibt 
er  irrtümlicherweise  den  kurzen  Amboßschenkel  in  Verbindung  mit  dem 
Trommelfellring  und  erwähnt  ein  membranöses  Ligament,  das  den  langen 
Amboßschenkel  mit  dem  Stapes  verbindet *).  Er  leugnet  ferner  das  von 
Sylvius  und  seinem  Lehrer  Vesling  beschriebene  Linsenbein  (ossiculum 
quartum)  oder  wenigstens  dessen  konstantes  Vorkommen 2).  Schnecke 
und  Labyrinth  (Bogengänge)  schildert  er  eigentümlicherweise  als  zwei 
vereinigte  Knochen  in  „tympani  cavitate"  s),  das  Labyrinth  als  aus  vier 
runden  Höhlungen  bestehend  (ex  quatuor  constituitur  cavitatibus  rotundis), 
von  denen  der  „aer"  gereinigt  (puriorfactus)  zur  Schnecke  hinabsteigt. 
Von  der  Schnecke  weiß  er,  daß  sie  aus  zwei  Windungen  und  dem  Teile 
einer  dritten  besteht.  Unverständlich  ist  die  Beziehung,  in  die  er  die 
trockene  und  gebrechliche  Substanz  der  Schnecke  mit  der  besseren  Kon- 
servierung des  Tones  bringt4).  Das  innere  Ohr  versorgen  seiner  Ansicht 
nach  Aeste  vom  dritten  (N.  trigeminus)  und  fünften  Nervenpaare  (N.  fac. 
u.  acust.).  Als  Ast  des  dritten  Nervenpaares  sieht  er  die  Chorda  an,  die 
einerseits  durch  die  Trommelhöhle  verlaufe,  sich  mit  dem  Gesichtsnerv 
verbinde  und  sich  anderseits  im  Warzenfortsatze  ausbreite.  Ob  Mar- 
chetti, wie  von  Manchen  behauptet  wird,  einer  der  ersten  war,  die 
mit  Entschiedenheit  das  Vorkommen  des  später  vielfach  diskutierten 
„foramen  Rivini"  im  Trommelfelle  gesehen  hat,  kann  aus  den  in  der 
„Anatomia"  vorliegenden  Angaben  nicht  mit  Sicherheit  festgestellt  werden. 
Für  diese  Ansicht  Marchettis  scheint  vielleicht  die  im  physiologischen 
Teile  entwickelte  Theorie  zu  sprechen,  daß  die  äußere  Luft  in  den 
Gehörgang  und  dann  in  die  Trommelhöhle  gelange5);  doch  ist  bei  der 
Trommelfellbeschreibung  und  auch  sonst  an  keiner  Stelle  von  einem 
„foramen"  die  Rede.  Endlich  sei  noch  die  auf  falschen  Voraussetzungen 
basierende  Meinung  Marchettis  erwähnt,  daß  die  „audiendi  facultas" 
allen  Teilen  des  Gehörorgans  insgesamt  zukomme,  dem  Nerv,  dem 
Trommelfell,  den  Knöchelchen,  und  nicht  irgend  einem  dieser  Teile  allein5). 
')  Ex  Pedibus  primus,  et  brevior,  annulo  tympani  connectitur:  alter  vero,  liga- 
mento  membranoso,  ossiculo  alteri  adhaeret,  quod  Os  Stapes  dicitur.    p.  225. 

2)  Additur  a  Sylvio,  et  ä  Veslingio,  quartum  ossiculum,  quibus  ego  non 
assentior:  quoniam  in  medio  istorum  ossiculorum  nibil  aliud  reperitur,  nisi  liga- 
mentum,  quod  ipsa  ossicula  alligat.    p.  225. 

3)  Caeterum,  in  tympani  cavitate,  duo  ossa  unita,  sed  ä  figura  distincta  resident, 
quorutn  unum  cocblea,  alterum  verö  Labyrinthus  nuncupatur.    p.  226. 

*)  Anatomia,  cui  responsiones  ad  Riolanum,  Anatomicum  Parisiensem,  in  i25sius 
Animadversionibus  contra  Veslingium  additae  sunt.  I.  edit.  Paduae  1652.  III.  edit. 
Lugd.  Batav.  1688,  Cap.  16,  p.  220—230.     De  Auribus. 


Antonio  Molinetti.  165 


4)  Est  Cochlea  aurium  cavitas,  in  processu  petroso  posita,  ex  duobus  gyris  cum 
aliqua  portione  tertii ,  cujus  substantia  siccissima  est,  facileque  frangibilis,  a  natura 
sie  producta,  ut  melius  sonum  conservare,  et  puriorem  detinere  possit.    p.  227. 

5)  Cui  dabitur  igitur  ex  istis  portionibus  sensus  auditus?  Non  nervo:  nam, 
eo  laeso,  auditus  amittitur:  non  membranae  tympani,  non  ossibus;  nam,  illis  quoque 
laesis ,  cessat  audiendi  facultas.  Vidi  ego  quendam  membrana  tympani  carentem, 
cui  sensus  auditus  defecerat:  unde  audiendi  facultas  non  est  propria,  sed  communis 
omnibus  istis  partibus.    p.  229. 

Antonio  Molinetti  (gest.  1673),  ein  venetianischer  Arzt,  später 
Professor  zu  Padua,  gibt  in  seinen  Werken:  „Dissertationes  anatomicae 
et  pathologicae  de  sensibus  et  eorum  organis"  (Padua  1669)*)  und 
„Dissertationes  anatomico-pathologicae,  quibus  humani  corporis  partes 
aecuratissime  describuntur  morbique  singulas  divexantes  explicantur" 
(Venedig  1675)**)  nichts,  was  einen  Fortschritt  in  unserem  Fache  be- 
deuten könnte.  Im  letzten  Werke  nimmt  eine  weitläufige  und  ge- 
künstelte Parallele  zwischen  der  Physiologie  des  Auges  und  des  Ohres 
den  größten  Raum  ein.  Seine  anatomische  Beschreibung  ist  an  vielen 
Stellen  mangelhaft,  am  oberflächlichsten  wird  das  innere  Ohr  behandelt. 
Die  Chorda  beschreibt  er  richtig  als  Ast  des  fünften  Nervenpaares  und 
zwar  der  „pars  dura"  (N.  facialis)  und  erklärt  alle  Angaben,  die  sie 
vom  vierten  Nervenpaare  herleiten,  als  Irrtümer1).  Er  läßt  sie  in  den 
Hammermuskel  gehen  und  sich  dort  ausbreiten 2).  Auf  diese  irrige 
Annahme  baut  er  eine  eigentümliche  Hypothese  der  Chordafunktion. 
Die  mit  dem  Trommelfell  und  Hammer  gleichzeitig  erschütterte  Chorda 
soll  den  Hammermuskel  mehr  oder  minder  innervieren,  wodurch  in 
weiterer  Folge  das  ovale  Fenster  durch  die  Stapesplatte  mehr  oder  minder 
fest  verschlossen  werde3).  Er  behauptet  ferner,  daß  der  Folianische 
Fortsatz  dem  Annulus  tympanicus  fester  als  dem  Hammer  anhafte 4). 
Daß  Schwerhörige  bei  geöffnetem  Munde  besser  hören,  erklärt  er  damit, 
daß  die  durch  die  Tube  eindringende  Luft  die  Schwingungen  der 
Stapesmembran  verstärke  und  somit  die  „innere  Luft"  des  Labyrinthes 
in  intensiverer  Weise  erschüttere  5).  Seine  gehörphysiologischen  An- 
schauungen, die  noch  immer  im  „aer  ingenitus"  fußen,  sprechen  sich 
in  folgender  Hypothese  aus:  der  Schall,  resp.  die  Erschütterung  der 
äußeren  Luft  pflanzt  sich  durch  das  Trommelfell  und  die  Gehörknöchel- 
chen fort  und  gelangt  zur  Membran  des  Stapes.  Dieser  teilt  Moli- 
netti eine  wichtige  Rolle  zu;  sie  wird  nämlich  in  Schwingungen  ver- 
setzt, dadurch   der  Schall    verstärkt   und    die   im    Labyrinthe    befindliche 


*)  Cap.  7,  p.  39  nach  Lincke  (1837).     Cf.:   Bibliotheca  anatomica  sive  recens 
in    anatomia   inventorum   thesaurus  locupletissimus  etc.     Gencve  2  voll.  1699.    T.  II, 
p.  273.     Memoires  de  Trevoux  1707.  p.  415  .  .  .  1685. 
**)  Lib.  IV,  Cap.  7—10,  p.  160—172. 


Itiii  Antonio  Molinetti. 


Luft  erschüttert.  In  den  Bogengängen  wird  der  Schall  (resp.  die  in 
Schwingung  versetzte  innere  Luft)  konzentriert  und  reflektiert  und  ge- 
laugt hierauf  in  die  Schnecke.  Dort  trifft  er  auf  die  Endigungen  des 
Hörnerven,  von  denen  er  zum  Gehirne  geleitet  wird. 

')  Nunc  autem  de  origine  dicamus,  et  quidem  communis  hactenus  sententia 
obtinuit ,  originem  nerui  huius  esse  a  coniugatione  quarta  nervorum  cerebri ;  quod 
opinione  magis,  quam  rei  veritate  asseritur;  cum  enim,  surculum  esse  coniugationis 
quintae  impossibile  duxerint,  in  quartana  fere  omnes  concessere,  persuasi  scilicet  ab 
alia  nulla  ex  magis  distantibus  propagari  neruulum  posse :  nulla  igitur  bactenus 
certior  cognitio  de  ortu  huius  nerui  fuit;  cum,  neque  illi ,  qui  ita  opinati  sunt, 
manantem  a  quarta  neruum  ostendere  potuerint.  Nee  mirum ,  nam  a  quinta  suam 
trahit  originem,  quae  res  omnino  ita  se  habet,    p.  166. 

2)  Rimulam  inde  nactus  alteram,  ad  latus  pariter  Tympani,  per  illam  in  mus- 
culum  contendit,  describendum,  deineeps,  per  quem  diffunditur.    p.  167. 

3)  Sequitur  igitur  necessario ,  vt  quoties  aer  sonorus ,  hoc  est  ab  extrinseco 
percussus,  membranam  Tympani  percutit,  neruus,  qui  inter  membranam  et  malleum 
est,  percussionem  excipiat  eiusque  modum  impertiat  statim  musculo  illi  interno  auris; 
hie  vero  aptans  se  usui ,  subito  corripitur ,  et  magis  quidem  ac  minus ,  pro  modo 
percussionis  primae ;  Correptus  itaque  musculus  Mallei  processum  trahit.  cui  inseritur, 
Incudisque  positum  proinde  inuertit,  cuius  caput  articulatur  capiti  Mallei.  vt  posteä 
dicam :  cumque  ineudis  processui  oblongo.  superiori  angulo,  et  obtusiore  stapes  ad- 
haereat,  sequitur  etiam  necessario,  vt  ad  modum  trahentis  musculi,  stapes  eleuetur. 
et  magis,  vel  minus  attollatur  ä  foramine  ouali  labyrinthi,  quod  naturaliter  obsidet, 
vt  diximus,  illudque  magis  aut  minus  patulum  esse  cogat.    p.  167. 

4)  Arctius  quippe  annulo  adhaeret,  vel  circulo  Tympani,  quam  Malleo. 
p.    167. 

5)  Causam  denique  colligamus ,  propter  quam ,  qui  minus  perfecta  audiunt, 
dieta  excipere  ore  aperto  student,  scilicet  aer  ex  palato  per  foramen  dictum  Tym- 
panum  subit,  et  insinuatus  in  aerem  Tympani,  motum  ex  percussione  membranae 
adaugens,  eundem  cogit  in  membranulam  Stapedis  maiori  cum  impetu  ferri,  et  illum 
pariter  mouere  vehementiüs,  qui  est  in  labj'rintho. 

D.  Bartoli.  Hier  wäre  noch  des  vielseitigen  Jesuiten  Daniele  Bartoli 
(1608 — 1684)  zu  gedenken,  dem  die  Akustik  ein  wertvolles  physikalisch-physiologisches 
Werk:  „Del  Suono,  de  Tremori  armonici  e  dell'  Udito",  Komae  1679, 
Bononia  1680,  verdankt.  In  diesem  sucht  er  nachzuweisen,  daß  feste  Körper  ebenso 
wie  die  Luft  geeignet  sind .  den  Schall  fortzupflanzen  und  zu  übertragen ,  und  daß 
die  Konsonanz  der  tönenden  Körper  abhängig  sei  von  der  Uebereinstimmung  ihrer 
Vibrationen.  Er  schloß  im  Gegensatz  zu  Kircher  und  Gassendi,  daß  sich  starker 
Schall  nicht  schneller  und  leichter  als  schwacher  fortpflanze  und  erklärte  den 
Mechanismus  des  sogen.  Ohres  des  Dionys  von  Syrakus  aus  akustischen  Ge- 
setzen. Nach  Hai ler  in  seinen  „Praelectiones  Academicae  Boerhavü"  soll  Bartoli 
die  Funktion  der  Tuba  als  Ventilationsapparat  der  Trommelhöhle  bereits  gekannt 
haben.  Seine  Angaben  über  den  Nutzen  der  einzelnen  Teile  des  Gehörorgans  bieten 
ebenso  wie  seine  Notizen  über  Pathologie  und  Therapie  der  Ohrenerkrankungen 
nichts  Erwähnenswertes. 

Unter  den  italienischen  Anatomen  sind  noch  Colle,  Cortesius  und  Man- 
fredi  zu  nennen. 

Giovanni  Colle  aus  Belluno.  Professor  zu  Padua  (gest.  1631),  bringt  in  seiner 


Johannes  Wesling.  167 


Sammlung  chirurgischer  und  anatomischer  Merkwürdigkeiten*)  nur  wenig  Bemerkens- 
wertes über  das  Gehörorgan. 

Giambattista  Cortesi  (1553 — 1639['?])  aus  Bologna,  Schüler  des  um  die 
Rhino-  und  Otoplastik  verdienten  Tagliacozzi,  teilte  in  seinem  medizinischen 
Sammelwerke  auch  einiges  aus  der  Ohranatomie  mit  und  fügte  mangelhafte  eigene 
Abbildungen  hinzu**). 

Paolo  Manfredi,  Professor  zu  Rom,  wendet  sich  in  seinem  „Novae  circa 
aurem  observationes"***)  vorzugsweise  der  Detailanatomie  der  Gehörknöchelchen  zu, 
an  denen  er  Feinheiten  erkannte ,  die  den  früheren  Anatomen  entgangen  waren. 
Besonders  hervorzuheben  ist  seine  Schilderung  der  Gelenksverbindungen  der  Gehör- 
knöchelchen, das  Ligament  zwischen  Amboß  und  Linsenbein,  die  Membran  des  Stapes 
und  die  Furchen  seiner  Schenkel. 

Von  minderer  Bedeutung  für  diese  Epoche  in  Italien  sind  Curtius  Mari- 
nellusf),  Aemilius  Parisanusff),  Octav.  Scarlatinusfff),  welche  die  Ana- 
tomie des  Gehörorgans  bloß  vorübergehend  streiften,  Cremoninus  Caesar*-;-)  und 
Bonaventura**-;-),  die  die  Physiologie  des  Gehörorgans  kursorisch  behandelten. 

Deutschland. 

Die  Leistungen  der  Deutschen  auf  otologischem  Gebiete  müssen  in 
dieser  Periode  als  sehr  geringfügig  bezeichnet  werden,  da  die  Ana- 
tomen fast  durchwegs  ihre  Daten  aus  italienischen  und  fremdländi- 
schen Werken  entlehnten.  Wir  können  uns  daher  auf  eine  kurze 
Uebersicht  der  otologischen  Literatur  der  zeitgenössischen  deutschen 
und  schweizer  Autoren  beschränken.  Hervorzuheben  sind  die  anatomi- 
schen Schriften  J.  Veslings,  Michael  Lysers,  J.  H.  Glasers, 
die  physiologischen  Arbeiten  Joh.  Bohns  und  des  Physikers  Ath. 
K  i  r  c  h  e  r  und  das  die  pathologische  Anatomie  behandelnde  Werk  des 
Theophile  Bonet. 

Johannes  Veslingius  (Wesling,  1598 — 1649)  aus  Minden,  ein 
Westfale ,  der  seine  medizinische  Ausbildung  in  Wien  erhielt ,  wurde 
nach  vorübergehendem  Aufenthalte  in  Venedig,  wo  er  Privatvorlesungen 
über  Anatomie  veranstaltete,  wegen  seiner  hervorragenden  Begabung  im 
Jahre  1632  als  Professor  der  Anatomie  nach  Padua  berufen.  Die  Hoch- 
schätzung seiner  Zeitgenossen  ergibt  sich  aus  der  Tatsache,  daß  sein 
Hauptwerk,  das  „Syntagma  anatomicum",  ins  Italienische,  Deutsche, 
Englische  und  Niederländische  übersetzt  wurde  1). 


*)  Elucidarium  anatomico-chirurgicum  ex  Graecis,  Arabibus  et  Latinis  selectum. 
Venet.  1621.     Cf.  Haller,  Element,  phys.     Vol.  V,  Lib.  XV,  Sect.  §  12. 
**)  Miscelleanorum  medicorum  Decades  X,  vid.  Dec.  I. 
***)  Novae  observationes  circa  uveam  oculi  et  aurem.     Romae  1668. 

f)  Anatomia.     Patav.  1652. 
ff)  De  morbis  nobiliores  animae  facultates  obsidentibus.     Venet.  1615. 
fff)  Homo  et  ejus  partes,  figuratus  et  symbolicus.     Bonon.   1680. 

*f)  Tractatus  de  sensibus  externis.     Messan.    1637. 
**f)  Quid  sit  sonus?     Mediol.    1681. 


158  Johannes  Wesling. 


Vesling  teilt  das  Gehörorgan  in  eine  „Auris  externa",  wozu  er 
bloß  die  Ohrmuschel  mit  dem  äußeren  Ohrmuskel  rechnet,  und  in 
ein  „Auditus  Organum",  unter  welchem  Begriff  er  die  übrigen  Teile 
des  Gehörorgans,  nämlich  den  äußeren  Gehör  gang,  die  Trommel- 
höhle, das  Labyrinth  und  die  Schnecke  zusammenfaßt.  Das 
Trommelfell  ist  nach  ihm  nur  eine  Ausspannung  des  Periosts,  mit  dem 
es  ununterbrochen  zusammenhängt,  und  wegen  der  in  ihm  verlaufenden 
und  unter  ihm  hinwegziehenden  Nerven  sehr  empfindlich.  Manchmal  will 
er  es  doppelt  beobachtet  haben2).  Ob  Vesling  unter  einem  von  ihm 
erwähnten,  als  „subtensumque  exile  ac  nerveum"  beschriebenen  Ligament 
die  Chorda  versteht,  wie  es  sein  Kommentator  Gerard  Blasius  deutet, 
läßt  sich  aus  dem  vorliegenden  Text  nicht  mit  Sicherheit  feststellen  3). 
Unklar  ist  auch  seine  Beschreibung  des  Annulus  tympanicus,  den 
er  nicht  unter  diesem  Namen  kennt.  Er  spricht  von  ihm  bloß  als 
einer  „proximae  cavitatis  orbita",  in  die  das  Trommelfell  fest  eingefügt 
worden  sei,  die  obere  Stelle  ausgenommen,  an  der  es  leicht  gelinge,  das 
Trommelfell  herauszuziehen  (unsere  jetzige  Incisura  Rivini) 4).  Die  Ge- 
hörknöchelchen hält  er  wie  alle  anderen  Anatomen  jener  Zeit  für 
„membranis  destituta"  (periostlos);  den  Hammergriff  (pediolus  sive  cauda) 
beschreibt  er  als  am  Ende  ein  wenig  nach  einwärts  gedreht,  wodurch 
er  das  ihm  anhaftende  Trommelfell  leicht  gegen  die  Mitte  hinein- 
ziehe5).  Die  Hammer-Amboßverbindung  sieht  er  für  wenig  fest 
an.  Den  Hammermuskel  fand  er  mit  zwei,  in  seltenen  Fällen  mit  einer 
Sehne  sich  am  Hammer  inserieren.  Verhältnismäßig  zutreffend  darge- 
stellt sind  Amboß  und  Steigbügel,  weniger  das  Linsenbein,  von 
ihm  „Ossiculum  quartum"  genannt.  Dieses  beschreibt  er  als  dem  Steig- 
bügelligament (wofür  er  die  Sehne  des  Muse.  Stapedius  hält)  eingefügt 6). 
Erwähnt  werden  ferner  das  Antrum  mastoideum  („antrum  laxum"), 
die  Tube  („e  tympano  ad  palatum  meatus"),  die  „fenestra  ovalis" 
und  die  „fenestra  rotunda".  Mangelhaft  geschildert  ist  der  Vorhof 
und  die  Bogengänge  („Labyrintbus"),  denen  er  vier  Foramina  zu- 
spricht, und  die  Schnecke  („Cochlea"),  die  er  mit  zwei  Windungen  und 
einer  teilweisen  dritten  darstellt.  Er  erspart  sich  hier  eine  weitläufige 
Beschreibung,  indem  er  auf  die  wenig  gelungenen  Abbildungen  verweist. 
Den  Hörnerv  („portio  mollior")  findet  er  am  Ende  des  inneren  Gehör- 
ganges vom  Gesichtsnerv  (portio  durior)  durch  einen  leichten  Knochen- 
vorsprung geschieden.  Der  größere  Teil  des  Hörnerven  begibt  sich  in 
die  Mitte  der  Schnecke,  ein  kleinerer  in  die  Bogengänge,  beide  der 
Hörfunktion  dienend 7).  Ein  kleiner  Ast  unseres  dreigeteilten  Nerven 
(„a  quarta  nervorum  conjungatione")  verlaufe  mit  dem  „fünften  Nerven- 
paar", werde  in  einer  versteckten  Grube  des  inneren  Ohres  aufgenommen 
und  gelange  in  die  Trommelhöhle,  wo  er  sich  in  zwei  Aeste  teile,  von 


Michael  Lyser.  169 


denen  der  eine  sich  mit  dem  Gesichtsnerven  verbinde,  während  der 
andere  die  Höhlungen  des  Warzenfortsatzes  innerviere.  Dieser  Ast  ver- 
sorge mit  sensiblen  Fasern  die  Schleimhaut,  mit  motorischen  die  inneren 
Ohrmuskeln  8).  Obwohl  Vesling  noch  am  Aer  ingenitus  des  „Labyrinthes" 
und  der  Schnecke  festhält,  räumt  er  ihm  doch  bei  der  Hörfunktion  keine 
Rolle  mehr  ein ,  sondern  hält  die  Schnecke  für  das  eigentliche  Per- 
zeptionsorgan  9). 

a)  Syntagrna  anatomicum,  publicis  dissectionibus  in  auditorium  usum  diligenter 
aptatum.  Padua  1641.  —  Ich  habe  hier  „Joannis  Veslingii  Syntagrna  anatomicum, 
commentario  atque  appendice  ex  veterum,  recentiorum,  propriisque,  observationibus, 
illustratum  et  auctum  a  Gerardo  Blasio,  Ed.  II,  Amstelodami  1666"  verwendet.  De 
Auribus.  Cap.  16.  p.  246—259. 

2)  Periostii  expansio  quaedam  videtur,  quo  separato  et  ipsa  protinus  secedit, 
sensuque  propter  nervös,  et  quos  suscipit,  et  qui  sub  ea  progrediuntur,  exquisito  valde 
praedita.     Duplex  interdum  conspicitur.    1.  c.  p.  249. 

3)  Est  autem  velamentum  auris  internum,  tenue  quidem,  attamen  ob  singularem 
lentorem,  subtensumque  exile  ac  nerveum  ligamentum  satis  firmum,  ut  non  minus 
externam  aeris  vim ,  citra  facilem  noxam  sustineat,  quam  illapsam  soni  speciem  sic- 
citate  conservet,  atque  in  cavitates  auris  penitiores  trajiciat.    1.  c.  p.  249. 

4)  Adhaeret  firmiter  ossiculo,  cui  mallei  nomen  impositum  est,  tum  proximae 
cavitatis  orbitae,  si  partem  excipias,  quae  superiorem  auditorii  meatus  regionem 
attingit.  In  ea  enim  laxior  omnino  connexio  est,  ut  evolvi  membrana  atque  explicari 
nonnihil  queat.    1.  c.  p.  250. 

5)  Reliquurn  ossiculi,  sive  id  pediolo  sive  caudae  compares,  extremo  suo  intror- 
sum  aliquantulum  contortum,  adhaerentem  sibi  membranam  leviter  circa  medium 
intorquet.    1.  c.  p.  251. 

6)  Stapedi  additur  ossiculum  quartum,  rotundum,  perexiguum.  ligamento 
Stapedis  innexum,  quod  Francisco  Sylvio  inventum  adscribitur.    1.  c.  p.  252. 

7)  .  .  .  altera  mollior,  in  extremo  ossei  meatus,  ä  priore  leviter  prominente 
apophysi  dirempta.  Haec  parte  majore  Cochleae  centro  insistit,  minore  ad  labyrinthi 
circulos  porrigitur,  utrobique  audiendi  munus  officiumque  consummans.    1.  c.  p.  254. 

8)  Addit  sese  his  ramulus  singularis,  ä  quarta  nervorum  conjungatione  huc 
productus.  Is  internae  auris  secretiore  cuniculo  receptus  in  tympanum  progreditur 
egressuque  bifidus,  i)artim  quinti  paris  duriori  portioni  descendenti  se  jungit,  partim 
in  mammiformis  processus  cavernas  spargitur.    1.  c.  p.  254. 

9)  Nam  cum  partem  respicimus,  quae  in  primis  sonum  conservat.  intendit  et 
ad  scopum  intimum  perducit,  penes  Cochleam  utique  principatus  steterit:  cum  eam 
quae  ad  recepti  soni  perceptionem  requiritur  pervestigamus,  utique  Nervi  mollioris 
expansio,  qui  intimo  Cochleae  gyro  accumbit,  reliquis  partibus  dignitate  praecellit. 
1.  c.  p.  254. 

Michael  Lyser.  Eine  um  die  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  er- 
schienene, für  ihre  Zeit  sehr  nützliche  Schrift  über  anatomische  Sektions- 
technik, welche  auch  ein  Kapitel  über  die  Zergliederung  des  Gehör- 
organs enthält,  hat  den  Schüler  des  Bartholinus,  Michael  Lyser 
(1(526 — 1659),  zum  Verfasser.  Das  Buch,  welches  nach  einer  Aeußerung 
Th.  Bartholinis    so   vortrefflich  sei,    daß  es  nunmebr  den  Besuch  von 


170  Michael  Lyser. 


Padua,  Basel  und  Paris  behufs  anatomischer  Studien  unnötig  mache, 
führt  den  Titel  „Culter  anatomicus"  und  erschien  zuerst  1653  1).  Das 
Werk  ist  das  erste  seiner  Art,  denn  die  „Administrationes"  Galens, 
die  „Dissection  du  corps  humain"  des  Charles  Etienne,  das 
„Encheiridium  anatomicum"  betreffen  nur  die  Behandlung  der  Muskel 
und  die  Skelettopoe,  enthalten  aber  nichts  auf  unser  Fach  Bezügliches. 
Wohl  finden  sich  einzelne  die  Sektionstechnik  betreffende  Details  bei 
Nicol.  Massa  (siehe  S.  76)  und  Eustachio  (siehe  S.  97).  Die 
Sektionsmethode  Lysers  jedoch,  obwohl  nach  unseren  heutigen  Begriffen 
äußerst  primitiv,  umfaßt  das  ganze  Gehörorgan.  Wir  geben  im  folgen- 
den das  Wichtigste  aus  dem   „Culter  anatomicus". 

Bemerkenswert  ist  vor  allem  die  Präparationsmethode  des  Trom- 
melfells und  der  Gehörknöchelchen.  Beim  Mazerieren  und  Aus- 
einandernehmen der  Schädelknochen  empfiehlt  er  weitgehende  Vorsicht, 
um  zu  verhüten,  daß  das  innere  Ohr  eine  Verletzung  erleide,  das 
Trommelfell  zerreiße  oder  die  Gehörknöchelchen  aus  ihrer  natürlichen 
Lage  gebracht  werden.  Er  weist  mit  besonderem  Nachdrucke  darauf 
hin,  daß  man  vom  Gehörgange  aus  das  Trommelfell  und  wie  er  hinzu- 
setzt,  wenn  man  über  scharfe  Augen  verfüge,  auch  den  durch  das 
Trommelfell  durchscheinenden  Hammer  sehen  könne.  Um  die  Topo- 
graphie der  Gehörknöchelchen  und  des  Hammermuskels  zu 
studieren,  zerbreche  man  vorsichtig  mit  der  eisernen  Zange  (Knochen- 
zange) den  der  Stirne  zugewendeten  Teil  des  Schläfebeins  unter  Schonung 
der  Pyramide.  Nach  dieser  nicht  ganz  klaren  Angabe  ist  es  wahr- 
scheinlich, daß  er  bei  der  Präparation  der  Trommelhöhle  die  vordere 
Wand  des  knöchernen  Gehörgangs  und  die  laterale  Wand  des  knöchernen 
Teils  der  Tub.  Eust.  bis  zum  Annulus  tymp.  entfernt,  diesen  aber 
stehen  läßt 2). 

Vestibulum  und  Schnecke  werden  durch  Entfernung  der  inneren 
Trommelhöhlenwand  mittels  einer  feinen  Säge  und  unter  vorsichtiger 
Anwendung  der  Feile  freigelegt 3). 

Bei  der  Präparation  der  Bogengänge  wird  von  der  Eminentia 
arcuata  J)  aus  die  zwischen  den  drei  Gängen  liegende  Knochensubstanz 
entfernt  und  zwar  die  äußere  härtere,  kompakte  durch  Zerstoßen  mit 
dem  Hammer,  die  übrige  spongiöse  mit  dem  Skalpell.  Hierauf  eröffnet 
er  die  Bogengänge ,  wenn  der  Knochen  noch  frisch  ist,  durch  Schaben 
mit  dem  Meißel,  wenn  er  bereits  trocken  ist,  mit  der  Feile.  Auf  diese 
Weise  könne  man  die  Gänge  bis  zu  ihrem  Zusammentreffen  freilegen. 
Sollte  dies  nicht  erwünscht  sein,  so  genüge  es  auch,  eine  Schweinsborste 
durch  die  einzelnen  Bogengänge  durchzuführen  5). 

Zum  Schlüsse  bemerkt  Lyser,  daß  man  beim  Schläfenbein  des 
Neugeborenen  einen  solchen  Apparataufwand  nicht  nötig  habe   und,    da 


J.  H.  Glaser.  171 

der  Knochen  dünner  und  weicher  sei,  ohne  Verwendung  einer  Säge  mit 
dem  Meißel  auskomme. 

Ueberdies  schrieb  Lyser  eine  „Dissertatio  de  auditu"  (Lipsiae 
1653),  in  welcher  er  Schläfenbeine  verschiedener  Altersstufen,  die  Emi- 
nentia  pyramidalis,  das  Rostrum  Cochleae  schilderte,  ohne  neue 
Details  vorzubringen. 

\)  Michaelis  Lyseri  Culter  anatomicus ,  hoc  est:  Methodus  brevis,  facilis  ac 
perspicuus  artificiose  et  compendiose  huinana  incidendi  cadavera.  (Edit.  Hafn.  1653, 
1665,  Francof.  1679.  Lugd.  Batav.  1731).  Von  mir  benützte  Ausgabe:  Utrecht  1706. 
Lib.  III,  Cap.  9.    „De  auriuni  consectione." 

2)  Dum  vero  Cranii  ossa  disjungis,  cave  nimia  vehementia  utaris,  quae  Aurem 
interiorem  laedat,  et  vel  tympanum  rumpat,  vel  Ossicula  auditus  loco  moveat.  Quo 
facto,  Auribus  a  sordibus  emundatis,  Tympanum  inspicias:  si  acie  Oculorum  vales, 
Malle  um  etiam  per  membranam  transparentem  contueri  poteris.  Deinde  forcipe 
ferrea  partem  ossis ,  quae  fronti  obvertitur ,  circumspecte  confringas ,  ita  ut  meatus 
auditorii  ad  os  petrosum  ingressus  manifestus  fiat,  ac  dimidia  pars  ejus  ablata  sit, 
quo  ossiculorum  in  concha  positorum  situm  contempleris :  ne  tarnen  os  lithodes  vel 
minimum  vieles  vitabis ,  in  quo  Labyrinthus  et  Cochlea  reconduntur.  Occurret  hie 
tibi  musculusaurisinternae,  qui  malleo  movendo  dicatus.  1.  c.  Lib.  III,  Cap.  9. 
De  Auriuni  consectione.  p.  97 — 98. 

3)  Jam  serra  tibi  in  promptu  sit,  subtilis  admodum,  qua  laminam  osseam,  quae 
tertium  latus  incrustat  rescindas;  prineipio  apparebit  Cochleatus  duetus,  cujus 
locus  est  oppositus  foramini,  pro  auditorio  nervo  firmato:  non  tarnen  directe  oppo- 
nitur;  sed  Cochlea  temporum  ossi  vicinior  est.  Si  majorem  Cochleae  partem  serra 
reseeveris,  videbis  quoque  Labyrinthi  meatus  binos,  qui  supra  Cochleam  in  idem 
foramen  coeunt.  Si  integer  Cochleae  duetus  serra  non  apertus  fecit,  lima  radendo  eum 
amplius  aperies;  non  enim  in  omnibus  locis  eminet  aequaliter.    1.  c.  p.  98 — 99. 

4)  In  latere  seeundo  levis  quaedam  observatur  protuberantia,  non  ita  longe  ab 
osse  temporum:  sub  hac  latitat  unus  ex  duetibus,  qui  pro  basi  trianguli  haberi  debet. 
1.  c.  p.  99. 

3)  Hos  circulos  deinde  aperies:  si  recens  et  nondum  exsiccatum  fuerit  Os 
scalpro  radendo  id  perfici  potest:  sin  aridum,  lima  hinc  negotio  erit  aptissima;  foramina, 
quae  limato  osse  apparent,  prolongabis  nonnihil,  et  si  libet,  utriusque  ad  communem 
coneursum  persequeris:  quod  si  hoc  non  placuerit,  setam  suillam  per  singulos  gyros 
trajicias.  ut  omnium  extrema  per  fenestram  ovalem  exeant.    1.  c.  p.  99  u.  100. 

J.  Heinrich  Glaser.  Der  Baseler  Anatom  Johann  Heinrich 
Glaser  (1629—1675)  gilt  als  der  Entdecker  der  nach  ihm  benannten 
Glas  er  sehen  Spalte  (Fissura  petrotympanica  s.  Glaseri).  In  seiner 
Hauptarbeit  ..De  Cerebro"*),  die  von  dem  Arzte  Johann  Jakob  Stae- 
helin  nach  seinem  Tode  herausgegeben  wurde,  konnte  ich  jedoch  eine 
darauf  bezügliche  Stelle  nicht  finden.  Immerhin  ist  es  möglich,  daß 
Glaser  von  seiner  Entdeckung  in  einer  seiner  Dissertationsschriften,  die 
mir  nicht  vorliegen,  Mitteilung  gemacht  hat. 

*)  Tractatus  posthumus  de  cerebro ,  in  quo  hujus  non  fabrica  tantum .  sed 
actiones  omnes  prineipes,  sensus  ac  motus  ex  veterum  et  recentiorum  placitis  et  obser- 
vationibus  perspicue  ac  methodice  explicantur.     Basileae  1680. 


1  7  2  J-  H.  Glaser. 

Lincke*),  der  sonst  stets,  wenn  auch  nicht  immer  richtig,  die 
Quellen  zitiert,  unterläßt  dies  bei  Beschreibung  der  Glas  ersehen  Spalte. 
Auch  bei  Sprengel  und  Portal  konnte  ich  keinen  näheren  Aufschluß 
finden,  wo  Glaser  diese  seine  Entdeckung  publiziert  habe. 

Was  den  Inhalt  seines  dem  Willis  nachgeahmten  Werkes  „De 
Cerebro",  anbelangt,  so  sieht  Glaser  das  Ohrenschmalz  als  ein  Exkre- 
ment der  Gehirnrinde  an,  welches  von  der  Gehirnbasis  dem  Hörnerven 
entlang  in  den  äußeren  Gehörgang  zwischen  Knorpel  und  Haut  ge- 
langt, wo  es  sich  in  die  dort  befindlichen  Drüsen  einsaugt,  von  denen  es 
dann  in  den  Gehörgang  ausgeworfen  wird  x).  Am  Gehörorgane  des  Kalbes 
will  Glaser  nun  folgende  Beobachtung  gemacht  haben,  durch  die  er  den 
Weg,  den  das  Cerumen  nimmt,  zu  erklären  versucht.  Der  Trommel- 
fellring habe  in  der  Gegend  des  Hammerkopfes  ein  kleines  Loch,  das 
von  der  Trommelhöhle  in  den  äußeren  Gehörgang  führe.  Das  den  Ge- 
hörgang auskleidende  „pericranium"  bilde  auch  die  Auskleidung  jenes 
kleinen  Loches  und  formiere  das  Trommelfell.  Es  fließe  also  Flüssig- 
keit durch  diesen  von  Glaser  entdeckten  Kanal  in  den  äußeren  Gehör- 
gang oberhalb  des  Pericraniums  und  gelange  so  zu  den  Drüsen 2). 
Glaser  bemerkt  ferner,  daß  das  Trommelfell  in  der  Nähe  jenes  Kanals 
bei  genauer  Untersuchung  dichter  erscheine,  daß  Flüssigkeit  durch  diesen 
Kanal  von  innen  nach  außen  gelangen  könne,  aber  nicht  umgekehrt.  Beim 
Menschen,  wo  er  diese  Spalte  nicht  auffinden  konnte,  sah  er  im  sogen, 
äußeren  Hammermuskel,  der  seiner  Ansicht  nach  am  oberen  Teil  des 
Gehörganges  entspringt  und  seine  Sehne  zum  Hammer  schickt,  auch 
einen  Weg,  der  von  innen  nach  außen  führe 3)  und  auf  dem  eben  das 
Exkrement  zu  den  Drüsen  komme.  So  mißglückt  nach  dieser  Dar- 
stellung der  Versuch  Glasers  war,  die  alte  Hypothese  von  der  Sekretion 
des  Cerumens  durch  das  Gehirn  mit  der  neuen  Kenntnis  der  Drüsen 
des  äußeren  Gehörganges  in  Einklang  zu  bringen,  so  ergibt  sich  doch 
aus  seinen  Angaben  keineswegs  mit  Bestimmtheit,  daß  er  eine  Lücke 
zwischen  Ring  und  Trommelfell  nachwies,  wie  Lincke**)  irrtümlich 
behauptet. 

Auf  gleich  spekulativer  und  hypothetischer  Grundlage  basiert  die 
Hör  theo  rie  Glasers.  Zur  Verrichtung  eines  äußeren  Sinnes  (sensatio) 
sind  notwendig:  „facultas,  instrumentum ,  objeetum,  medium".  Die 
Hörfähigkeit  führt  er  auf  den  Lebensgeist  zurück,  als  Organ  des 
Hörens  bezeichnet  er  ausdrücklich  nicht  den  „aer  internus",  sondern  die 
feine,  in  den  Höhlungen  des  inneren  Ohres  ausgebreitete,  vom  Hörnerv 
stammende   „membrana",  weil  dorthin  der  Lebensgeist   reichlich   fließen 


*)  1.  c.  I,  p.  48. 
**)  1.  c.  p.  99. 


Joh.  Bohn.  173 

und  sich  mit  dem  eingeborenen  vereinigen  könne ,  als  Objekt  den  Ton, 
als  Medium  endlich  die  atmosphärische  Luft,  den  Aer  internus  und  auch 
das  Wasser.  Die  durch  den  Ton  erschütterte  Luft  bewegt  das  Trommel- 
fell, dieses  die  innere  Luft  und  diese  wieder  die  Fasern  der  ausge- 
spannten Membran,  welche  ihren  Impuls  dem  „spiritui  acoustico"  mit- 
teile, wodurch  der  Ton  wahrgenommen  werde4). 

An  einer  anderen  Stelle  hält  er  den  Hörnerv  wie  alle  anderen 
Sinnesnerven  auch  für  ein  Organ    des  Tastgefühls 5). 

*)  Hoc  amaruni  excrementum  ex  corticali  substantia  descendit  ad  basin  cerebri 
et  secundum  duetum  nervi  auditorii  fluit  in  glandulosam  carnem  in  nieatu  aurium 
externo,  inter  cartilaginem  et  cutem  sitam,  quae  illud  inibibit  et  in  nieatum  audi- 
torium  eructat. 

2)  Quia  in  vitulo  observare  est.  circulum  illum  osseum,  qui  tympanum  continet, 
prope  mallei  caput  findi,  fissura  haec  exiguum  foramen  eflbrmat  ex  pelvi  in  meatum 
auditoriurn;  meatus  auditorius  pericranio  succingitur,  hoc  pericranium  continuatur  per 
fissuram  eamque  succingit;  cum  fissuram  transiit,  expanditur  et  facit  tympanum. 
Ergo  humor  ex  pelvi  per  hunc  canalem  in  meatum  auditorium  fluit  super  pericranio. 

3)  In  foetu  humano  hanc  rimulam  non  reperio  forte  nee  in  adulto.  Externus 
musculus  malleolum  movens,  externe  in  superiore  meatus  auditorii  parte  ortus  ten- 
dinem  suum  intromittit  ad  malleum;  videntur  ergo  viae  esse,  ab  internis  ad  externa; 
hoc  probabile  tantum. 

4)  Hie  motus  tympanum  pellit;  tympanum  pulsum  aerem  internum  movet;  in- 
ternus motus  pellit  fibras  membranae  expansae,  fibrae  hae  impulsae  impulsum  spiritui 
acoustico  communicant ,  per  quem  impulsum  sentit  sonum ;  Spiritus  insitus  influenti 
animali  hunc  impulsum  communicat;  influens  animalis  fibris  cerebri;  fibrae  cerebri 
spiritui  cerebri,  anima  in  eo  residens  cognoscit  sonum  et  eum  a  colore  distinguit. 

5)  Ergo  nervus  opticus,  auditorius,  olfactorius,  gustatorius,  quoque  instrumentum 
tactus  est  tactusque,  consequenter  per  omnia  sensoria  se  diffundit. 

Zu  den  Physikern  dieser  Periode ,  die  wesentlich  Neues  über  den  Schall 
vorbrachten  und  auch  die  Physiologie  des  Gehörorgans  in  den  Bereich  ihrer  Er- 
örterungen zogen,  zählt  Athanasius  Kircher  (1601—1680),  ein  deutscher  Ge- 
lehrter, der  in  seiner  „Phonurgia  nova  sive  conjugium  mechanica-physicum  Artes  et 
naturae".  Romae  1673  (welche  Schelhammer  benützte)  die  Aufnahme  und  Fort- 
pflanzung des  Schalles  durch  das  äußere  Ohr  nach  akustischen  Gesetzen  zu  erklären 
suchte.  Nach  Kircher  wird  durch  die  Ohrmuschel  die  Schallintensität  nach  Art 
eines  Echos  verstärkt.  Seine  Ansicht,  daß  starker  Schall  sich  schneller  fortpflanze 
als  schwacher,  wurde  durch  spätere  Forscher  als  irrtümlich  erwiesen. 

Johannes  Bohnius.  Einer  der  genialsten,  hervorragendsten  Aerzte 
seiner  Zeit  war  der  Leipziger  Professor  Johann  Bohn  (1(340 — 1718), 
dem  wir  die  Begründung  der  Experimentalphysiologie  und  der  gericht- 
lichen Medizin  verdanken.  Wiewohl  die  Physiologie  des  Gehörorgans 
in  seinen  Werken  etwas  stiefmütterlich  behandelt  wird,  läßt  doch  das 
Wenige,  das  er  uns  mitteilt,  mit  voller  Berechtigung  auf  den  klaren 
Blick  und  das  unbeirrte  Urteil  eines  ernsten  Forschers  schließen. 

In  seinem  berühmtesten   Werke,   dem    „Circulus   anatomico-physio- 


174  J°h-  Bohn. 

logicus  seu  Oeconomia  corporis  animalis  etc."  *),  welches  er  dem  Malpighi 
widmete,  wird  bloß  der  Gehörsinn  behandelt. 

Bohn  bestreitet  hier  die  von  vielen  Anatomen  aufgestellte  Be- 
hauptung, daß  das  Trommelfell  bei  hohen  Tönen  von  seinen  Muskeln 
gespannt  werde,  bei  tiefen  Tönen  aber  erschlaffe.  Die  Funktion  der  Ge- 
hörknöchelchen erklärt  er  im  Großen  und  Ganzen  als  dunkel,  schließt 
sich  jedoch  am  ehesten  noch  der  Meinung  an,  wonach  sie  als  Schall- 
leiter fungieren.  Eine  eingeborene  Luft,  den  Aer  implantatus,  in  der 
Trommelhöhle  stellt  er  entschieden  in  Abrede ,  denn  es  könne  ja 
jederzeit  atmosphärische  Luft  durch  die  Tube,  die  er  wie  so  viele  seiner 
Zeitgenossen  Aquaeductus  Fallopii  nennt,  in  die  Trommelhöhle  eintreten 
und  auf  diese  Weise  die  dort  enthaltene  Luft  erneuern.  Von  hervor- 
ragend historischem  Interesse  ist  die  scharfe  Kritik  Bohns,  durch  die  er 
dem  Glauben  vom  „aer  ingenitus"  im  Labyrinthe  einen  gewaltigen 
Stoß  versetzte.  Nicht  auf  Grund  anatomischer  Anschauung,  sondern 
durch  scharfsinnige,  folgerichtige  Ueberlegung  zu  seiner  Ansicht  gelangt, 
muß  Bohn  als  ein  Vorläufer  Cotunnis  angesehen  werden.  Obwohl  er 
aber  mit  Entschiedenheit  den  ,,aer  implantatus"  bekämpfte,  kam  er  doch 
nicht  zum  Schlüsse,  daß  die  Labyrinthhöhle  Flüssigkeit  enthalte.  Er  polemi- 
siert insbesondere  gegen  Duverney**)  der  noch  ganz  im  Banne  der  alten 
Aristotelischen  Hypothese  steht.  In  einem  so  engen  Räume,  wie  es  das 
Labyrinth  sei,  meint  Bohn,  könne  die  eingeschlossene  Luft  durch  so 
viele  Jahre  hindurch  eine  dauernde  und  gleichförmige  Elastizität,  wie 
sie  ihr  zugeschrieben  werde,  kaum  bewahren.  So  wie  man  alles  Orga- 
nische als  perspirabel  annehmen  müsse,  so  werde  auch  jener  Hohlraum 
unmöglich  von  Flüssigkeitsströmungen  verschont  bleiben,  zumal  die 
Labyrinthhöhle  von  Arterien  und  Venen  durchzogen  sei.  Es  ergibt  sich 
hieraus,  daß  Bohn  durch  seine  theoretischen  Erwägungen  der  von  Co- 
tunni  später  anatomisch  festgestellten  Tatsache,  daß  das  Labyrinth  mit 
Flüssigkeit  gefüllt  sei,  sehr  nahe  gekommen  war. 


*)  Lipsiae  1680,  1686,  1697,  1710.     (Von    mir  wurde  die  Ausgabe  vom  Jahre 
1686  benützt.)     Progymnasma  XXVI:  De  Auditu  p.  393—411. 

**)  Quando  vero  Idem  Clarissimus  Vir  (sc.  du  Verney)  aerem  Labyrintho  in- 
clusum  implantatum  censet.  ideo.  quod  ejus  fenestrae  seu  foramina  bina  adeo  exacte 
clausa  sint,  ut  nee  cum  aere  tympani,  nee  cum  ambiente  hinc  aliquod  intercedere 
videatur  commercium :  cum  venia  ipsius  mihi  ambigere  liceat  de  modo,  quo  ejusmodi 
aer,  aretiori  ejusmodi  spatiolo  inclusus,  adeo  perpetuam  et  uniformem  elasticitatem 
per  tot  annorum  seriem  colat,  ut  praestando  sine  interruptione  auditui  semper  praesto 
sit.  Sicut  enim  totum  corpus  cum  Hippocrate  persjjirabile  coneipere  debemus,  sie 
nee  ab  emanationibus  humorumeavitashaeceritimmunis,  potissimuni 
cum  insignis  satis  arteria  ac  vena  eam  permeat;  per  consequens  brevi  obtundent 
hac  spiram  illam  aeri  huic  implantato  connatam  ac  usui  ejus  congruam  reddent. 
1.  c.  p.  407. 


Theophile  Bonet,  175 


Auch  die  physiologische  Bedeutung  der  Schnecke  hat  Bohn  bereits 
geahnt.  Wenn  er  auch  diese  nicht  als  einziges  Apperzeptionsorgan  für 
das  Hören  bezeichnet,  so  glaubt  er  doch,  daß  sie  sich  infolge  ihres 
Baues  besser  als  Vorhof  und  Bogengänge  für  das  Hören  eignen 
müsse.  Sie  sei  gewissermaßen  das  Ende  des  ganzen  Gehörorgans  und 
scheine  am  meisten  Sensibilität  (Nervenfasern)  vom  Hörnerv  zu  er- 
halten*). Zum  Schlüsse  bestreitet  er  die  auf  sophistische  Klügelei  auf- 
gebaute Annahme  des  Fabricius  ab  Aquapendente,  daß  ein  Ton  nur  von 
etwas  Gleichartigem,  nämlich  nur  von  Luft  aufgenommen  werden  könne, 
eine  vielgebrauchte  Hypothese,  um  die  vom  „Aer  innatus",  zu  stützen. 
Wäre  die  Prämisse  des  Fabrizio  richtig,  so  müßte,  wie  Bohn  be- 
merkt, auch  das  Tastorgan,  wenn  es  etwas  Weiches  empfindet,  weich, 
wenn  es  etwas  Hartes  wahrnimmt,  hart  sein.  Ebenso  müßte  man  an- 
nehmen, daß  das  Geschmacksorgan  schmackhaft  sei.  Endlich  tritt  Bohn 
dem  weitverbreiteten  Glauben  entgegen,  daß  das  häufige  Vorkommen 
von  gleichzeitiger  Taubheit  und  Stummheit  (Taubstummheit)  auf  die 
anastomotischen  Beziehungen  zwischen  Hörnerv  und  Nerv  des  Kehl- 
kopfes zurückzuführen  sei. 

Aus  dieser  kurzen  Skizze  ergibt  sich  die  Bedeutung  Bonns  für 
die  Physiologie  des  Gehörorgans.  Seinem  scharfen  Verstände  verdankt 
die  Otologie,  daß  die  auf  naturphilosophischer  Grundlage  aufgebauten 
Hypothesen  über  die  Funktion  des  Gehörorgans  erschüttert  und  der 
künftige  Fortschritt  in  der  Entwicklung  der  Gehörphysiologie  angebahnt 
wurden. 

Theophile  Bonet.  Der  Genfer  Anatom  Theophile  Bonet  (1620 
bis  1689)  wird  mit  Recht  als  Vorläufer  Morgagnis  auf  dem  Gebiete 
der  topischen  pathologisch-anatomischen  Forschung  bezeichnet.  In  seinem 
großen  Werke  „Sepulchretum  sive  anatomia  practica  ex  cadaveribus 
morbo  denatis,  proponens  historias  et  observationes  omnium  humani 
corporis  affectuum  ipsorumque  causas  reconditas  relevans.  Genevae  1700", 
das  außer  eigenen  auch  eine  große  Anzahl  von  pathologischen  Befunden 
fremder  Autoren  enthält,  findet  sich  nur  Weniges  über  pathologische 
Veränderungen  am  Gehörorgane1).  W.  Kram  er,  der  bekanntlich  den 
Wert  der  pathologischen  Anatomie  des  Ohres  unterschätzte,  rügt,  daß 
Bonet  seinen  Leicheneröffnungen  nach  tödlich  abgelaufenen  Ohren- 
krankheiten die  •  Krankheitsgeschichten  nicht  nur  nicht  beigefügt,  son- 
dern   auch    nicht    einmal    das    krankhaft    ergriffene    Gehörorgan    genau 


*)  Quia  nihilominus  ultimus  quasi  totius  organi  auditorii  seu  auris  internae 
terminus  Cochleae  est,  haec  que  plus  sensibilitatis  a  nervo  majore  videtur  habere, 
accuratius  forsan  et  ultiroate  magis  hie  specierum  impressionem  fieri,  verosimile  est, 
imprimis  cum  lamina  hujus  spiralis  seu  testudo  facile  contremiscere  sonosque  egregie 
multiplicare  et  refractos  nervorum  fibrillis  potenter  magis  imprimere  queat. 


17ti  Theophile  Bonet. 


untersucht  hat,  so  daß  man  Bonets  Leistungen  nur  als  Beispiel  be- 
trachten muß,  wie  solche  Leicheneröffhungen  nicht  gemacht  werden 
dürfen,    wenn  sie  der  Wissenschaft  irgend  einen  Nutzen  bringen  sollen. 

Trotz  dieser  nicht  ganz  unberechtigten  Kritik  der  otologischen 
Befunde  Bonets  beanspruchen  diese,  mit  Rücksicht  auf  den  damaligen 
Tiefstand  der  Medizin,  dennoch  einiges  Interesse. 

Unter  den  von  Bonet  erwähnten  pathologisch-anatomischen  Be- 
funden sind  hervorzuheben:  ein  Fall  von  Taubstummheit  mit  beider- 
seitigem Mangel  des  Steigbügels.  Ein  ganz  analoger  von  Petrus 
Mersennus  beobachteter  Befund  bei  einem  Taubstummen  wird  von  Bonet 
zitiert.  Bonet  fand  ferner  als  anatomische  Grundlage  der  Taub- 
stummheit besondere  Kleinheit  der  Gehörknöchelchen  und 
Defekt  des  Ambosses  (Obs.  IV.:  Surdus  quidam  a  nativitate  ob  de- 
fectum  ossiculi  Incudis  dicti). 

Von  anderen  Beobachtungen  Bonets  seien  erwähnt  die  Obs.  IL, 
die  einen  Fall  von  Taubheit  infolge  eines  Hirntumors  behandelt 
(Surditas  a  tumore  Steatomatico  inter  cerebrum  et  cerebellum),  die 
Obs.  V.,  in  der  er  einen  versteinerten  Ceruminalpfropf  beschreibt 
(Auditus  laesio  a  Sordibus  aurium  lapi  descentibus),  ferner  die  Obs.  VI., 
in  der  er  den  Sektionsbefund  einer  Frau  schildert,  die  an  heftigen 
Kopf-  und  Ohrenschmerzen  litt  und  bei  der  nach  Eröffnung  des  Schä- 
dels große  Flüssigkeitsmengen  (Hydrocephalus)  vorgefunden  wurden 
(Aurium  dolor  a  cerebro  humidiore). 

Aus  den  beigefügten  Additamenta,  in  denen  sieben  Beobach- 
tungen mitgeteilt  werden,  sei  angeführt  ein  Fall  von  Taubheit  infolge 
Schleimansammlung  in  der  Trommelhöhle  (Obs.  IL:  Surditas 
orta  a  muco  multo  internam  tympani  cavitatem  obsidente),  ferner  Fälle, 
in  denen  die  Schwerhörigkeit  auf  eine  übermäßige  Spannung  des 
Trommelfells  und  auf  Anhäufung  krustöser  Exkremente  im  Ge- 
hörgange zurückgeführt  wird  (Obs.  III.  und  IV.:  Surditas  nativa  ob 
membranam  tympano  supertensam,  Auditus  laesio  ob  condensata  excre- 
menta  crustulae  forma  obducentia  membranam  tympani). 

Endlich  sucht  er  in  der  Obs.  VI.  zu  beweisen,  weshalb  angeborene 
Taubheit  weitaus  häufiger  ist  als  die  angeborene  Schädigung  irgend 
eines  anderen  Sinnesorganes  (Cur  a  nativitate  plures  sensu  Auditus  pri- 
ventur  quam  ullo  alio,  ex  nervorum  origine  detecta). 

')  1.  c.  Tom.  prim.  Lib.  I,  Sectio  XIX,  p.  435. 

Von  Spezialschriften  dieser  Epoche  wäre  besonders  das  Werk  des  Witten- 
berger Professors  Konrad  Viktor  Schneider  (1614—1680)  „De  osse  teinporum" 
(\  iteberg  1653)  zu  erwähnen,  in  welchem  er  manches  Detail  des  Schläfenbeins  besser 
beschreibt  als  die  Vorgänger  und  Zeitgenossen.  In  seinem  Werke  „De  Catarrhis" 
(1660—1664),  welches  im  pathologisch-therapeutischen  Abschnitt  dieses  Jahrhunderts 


Kerckring.     Sulzberger.     Jessen.  177 

ausführlicher  besprochen  werden  soll,  ist  als  wichtig  hervorzuheben,  daß  er  den  seit 
Jahrtausenden  eingewurzelten  Irrtum  von  der  Entstehung  der  Katarrhe  durch  den 
vom  Gehirn  herabfließenden  Schleim  für  immer  beseitigte.  Daß  er  die  Tuba  Eustachii 
als  Aquaeductus  Fallopii  bezeichnete,  war  ein  Irrtum,  den  unglaublicherweise  viele 
sonst  hochstehende  Anatomen,  wie  Rio  lan,  die  beiden  Bartholin,  Tulpiusu.  a., 
teilten  1). 

Theodor  Kerckring  aus  Hamburg,  ein  Schüler  des  Sylvius  de  leBoe, 
der  lange  Zeit  in  Amsterdam  als  Arzt  tätig  war,  gibt  in  seinem  von  Monat  zu  Monat 
erscheinenden  „Spicilegium  anatomicum"  2)  die  Entwicklung  des  Gehörorgans  be- 
treffende belanglose  Angaben  3). 

Von  den  physiologischen  Schriften  verdienen  namentlich  Erwähnung:  Johann 
Rupr,  Sulzberger:  „Diss.  de  sensibus  externis"  (Lipsiae  1619);  Tob.  Burckard 
„Diss.  de  quinque  sensibus  externis"   (Lipsiae  1625). 

Außerdem  wären  noch  eine  Anzahl  anatomisch-physiologischer  Autoren  von 
minderer  Bedeutung  anzuführen: 

Joh.  Jessen  aus  Breslau  (1566 — 1621),  der  Prager  Rektor,  der  nach  der 
Schlacht  am  Weißen  Berge  enthauptet  wurde;  Martin  Jacob  gab  in  seinen  „Exer- 
citationes  rcspl  rrjs  -loy-q-"  eine  Abhandlung  über  das  Hören4);  Agerius  Nicolaus 
(„De  sensibus  externis",  Agentor.  1623;  „De  auditu  sono",  ibid.  1626);  Franciscus 
Hildanus,  einer  der  besten  Chirurgen  seiner  Zeit,  berührt  auch  einiges  Ana- 
tomische in  seinen  „Observat.  Chirurg,  centuriae"  (1606 — 1641);  Candisius  Gottfried 
(„De  auditu",  Viteberg  1628);  Laurenberg  Petrus  aus  Rostock5),  Daniel 
Müller0),  N Osler  Georg7),  Joh.  Hombug8),  Ch.  Fasel tus9),  Mengolus10), 
Samuel  Skunk  n),  Merhof12),  Professor  der  Rhetorik  zu  Rostock,  Georg  Frank 
von  Fr  ankenau I3),  J.  Ott14).  Die  hier  genannten  sind  Verfasser  von  meist 
physiologischen  Abhandlungen  über  den  Gehörsinn  auf  spekulativer  Grundlage,  wäh- 
rend Christian  Tintorius  aus  Danzig 15),  Brehm16),  Salzmann"),  ein 
Schüler  des  Casserius  und  Bauhin,  Eichhorn18),  Fridericius  19)  und  der  Jenenser 
Anatom  Werner  Rolf  ink  (1599— 1677) 20),  der  auch  einen  mangelhaften  Abriß  der 
Geschichte  der  otologischen  Entdeckungen  lieferte,  vorwiegend  die  Anatomie  des  Ohres 
auf  Grund  fremder  Forschungen  darstellten. 

1)  „De  catarrhis",  L.  III,  S.  I,  Cap.  10. 

2)  „Spicilegium  anatomicum,  continens  observationum  anatomicarum  rariarum 
centuriam  unam;  nee  non  osteogeniam  foetuum,  in  qua  quid  cuique  ossiculo  singulis 
accedat  mensibus,  quidque  decedat  et  in  eo  per  varia  immutetur  tempora,  aecura- 
tissime  oculis  subjicitur"  (Amstelodami  1670,  1673;  Lugd.  Batav.  1717 — 1729). 

3)  Vergl.  ferner  vom  selben  Autor:  „Anthropogeniae  iconographiae,  sive,  con- 
firmatio  foetus  ab  ovo  usque  ad  ossificationis  prineipia  in  supplementum  osteogeniae 
foetuum"  (Amstelodami  1671;  Parisiis  1672). 

4)  „Theorematum  anthropologicorum  s.  exercitationes  rcepl  xyj?  ^tr/Yji;"  XI. :  De 
auditu.     Viteberg  1606. 

5)  „Disputationes  de  visu,  auditu,  odoratu,  gustu  et  tactu."  Hamburg  1616. 
„Anat.,  corp.  hum."  Francof.  1665.  Exercit.  XI:  De  capite  in  genere,  pericranio, 
meningibus.  cerebro,  sensoriis. 

G)   „@eu>pta  duorum  exteriorum  sensuum,  visus  et  auditus  specialis."    Lips.  1638. 
')  „De  sensibus."     Altdorf  1640. 
*)  Exercitatio  VI.     De  auditu.     Helmstadt  1655. 
9)  „De  auditu."    Witteberg  1668.     „De  natura  soni."    ibid.  1668. 
i0)  „Musica  speculativa."    Colon.  1670.    Mit  einer,  nach  Hallers  Urteil,  lächer- 
lichen Beschreibung  des  Gehörorgans. 

Politzer,  Geschichte  der  Ohrenheilkunde.    I.  12 


j-j-g  Nico!.  Tulpius. 


n)  „De  sensibus."     Halle  1G72. 

12)  „Epistola  de  scypho  vitreo  per  certum  humanae  vocis  sonum  rupto."  Kiel 
1672.  Handelt  über  Natur  und  Ursachen  des  Schalls,  und  über  das  Zerspringenlassen 
von  Gläsern  durch  die  Stimme. 

13)  „De  auribus  mobilibus."  Heidelberg  1676.  Ferner  „Satyrae  medicae."  Lipsiae 
1722.    20.  Satyr,  11.  de  Auribus  humanis. 

'*)   „Epistola  de  sono  vocis  humanae."    1679. 

15)  „Disput,  anat.  de  fabrica  et  usu  auris  humanae."     Gedani  1639. 

16)  „Diss.  de  auditu  in  genere  et  tinnitu  in  specie."     Ingolstadiae  1651. 

1:)  „Observata  anatomica  hactenus  inedita."  Amstelod.  1669  (berichtet  über  ein 
Gehörknöchelchen  der  Vögel). 

16)  „Dissert.  anat.  de  aure."     Jenae  1670. 

,9)  „De  aure."     Jenae  1670. 

-°)  „Dissertationes-  anatomicae  synthetica  methoda  exaratae."     Jenae  1656. 

Niederlande. 

Die  nach  schweren  Kämpfen  errungene  Unabhängigkeit  der  Nieder- 
lande hatte  nicht  nur  einen  raschen  Aufschwung  aller  Kulturzweige, 
sondern  auch  eine  rege  Forschungstätigkeit  an  den  medizinischen  Schulen 
zur  Folge.  Unter  den  auf  anatomischem  sowie  auf  physiologischem 
Gebiete  zu  hohem  Ruhme  gelangten  Aerzten  dieser  Epoche  sind  in  erster 
Reihe  Nie.  Tulpius  und  De  le  Boe  Sylvius  zu  nennen.  Ihre 
Leistungen  in  der  Otologie  sind  indes  sehr  geringfügig.  Nur  der  histori- 
schen Vollständigkeit  halber  beschränken  wir  uns  auf  eine  kurze  Skizze 
derselben. 

Nicolaas  Pieters  Tulpius,  1593  zu  Amsterdam  geboren,  fungierte 
von  1628 — 1653  als  Leiter  der  Anatomie  und  wurde  1654  zum  Bürger- 
meister von  Amsterdam  gewählt.  Ein  berühmtes  Gemälde  Rembrandts 
stellt  Tulpius  mit  mehreren  seiner  Schüler  bei  einer  „anatomischen 
Vorlesung"   dar.     Er  starb   1674  im  Haag. 

In  seinen  „Observationum  medicarum  libri  tres  cum  figuris  aeneis* 
Amstelod.  1641  berührt  er  auch  die  Ohranatomie  und  Gehörsphysiologie. 
Seine  Beschreibung  der  Lage  der  Tuba  Eustachii  ist  nichts  weniger 
als  zutreffend,  indem  er  ihren  Verlauf  als  vom  Rachen  beiderseits  gegen 
die  Seitenteile  des  Kiefers  zwischen  Warzen-  und  Griffelfortsatz  auf- 
steigend schildert J). 

Seine  Angabe,  die  Ohrtrompete  sei  bisweilen  auch  dadurch  von 
Nutzen,  daß  bei  Erstickungsgefahr  die  Atmung  durch  den  Tubenkanal 
gehen  könne,  zeigt,  welch  vage  Vorstellung  Tulpius  vom  Baue  des 
Mittelohres  hatte.  Er  erwägt  die  Möglichkeit  des  Durchdringen  der 
Luft  bei  durchlöchertem  Trommelfell  und  glaubt,  daß  manche  Individuen 
schwer  atmen,  weil  die  Luft,  die  zur  Respiration  nötig  wäre,  statt  in 
die  Lungen  zu  gelangen,  durch  das  durchlöcherte  Trommelfell  entweiche  2). 

Interessant  ist  eine  von  Tulpius  vorgebrachte  Krankengeschichte"), 


De  le  Boe  Sylvius.     Adr.  Spieghel.  179 

weil  aus  ihr  hervorgeht,  daß  ihm  die  Bedeutung  des  Tubenverschlusses 
für  das  Gehör  nicht  unbekannt  war. 

')  „Ex  ore  ascendere  utrimque,  ad  latera  maxillae  versus  aures  inter  processum 
rnastoideum  ac  stiliformein."  Obs.  Med.  Lib.  I,  Cap.  35,  nach  Morgagni  Ep.  VII, 
Cap.  10,  p.  187. 

2)  Scilicet  Tubas  „concedere  interdum  exiturn  per  aures"  spiritui,  „ob  gutturis 
angustiam  alias"  aegrum  eerto  suffbcaturo,  adeo  non  dubitabat  Tulpius,  ut  affirmaret, 
ab  ejusmodi  periculo  se  „vidisse  duos  aegros  liberatos  effuso  spiritu  per  vias  jam 
commemoratas".     1.  c. 

3)  Obs.  Med.  Amstelod.  1674,  Lib.  I.  Cap.  35  §  4. 

Sylvius  deleBoe  (1614 — 1672),  der  sich  als  Anatom  und  Physiolog, 
insbesondere  aber  als  Begründer  der  Chemiatrie  eines  europäischen  Rufes 
erfreute,  wurde  1614  zu  Hanau  geboren.  Er  entstammte  einer  edlen 
französischen  Familie  (Dubois),  welche  in  der  zweiten  Hälfte  des 
16.  Jahrhunderts  wegen  Verfolgung  der  Hugenotten  nach  den  Nieder- 
landen ausgewandert  war. 

Sylvius,  der  mehrere  holländische  und  deutsche  Universitäten 
besuchte  und  zu  Basel  die  Doktorwürde  erwarb,  ließ  sich  zuerst  in  Hanau 
nieder,  begab  sich  dann  nach  zweijährigem  Aufenthalt  in  Paris  nach 
Leiden,  wo  er  im  Jahre  1658  die  Professur  der  praktischen  Medizin 
mit  fast  gleichem  Erfolge  wie  später  Boerhaave  bekleidete;  er  starb 
am  14.  Nov.  1672. 

So  wertvoll  auch  die  sonstigen  anatomischen  Arbeiten  Sylvius' 
sein  mögen,  so  beschränkt  sich  das  Resultat  seiner  Untersuchung  am 
Gehörorgane  auf  das  nach  ihm  benannte  Os  lenticulare,  sowie  ein 
bei  Tieren  vorkommendes  Sesamknöchelchen  an  der  Sehne  des  Steig- 
bügels. Die  Priorität  dieser  Entdeckung  blieb  jedoch  vielleicht  mit  Recht 
nicht  unbestritten,  Drelincourt  hat  sie  dem  Realdo  Colombo, 
Morgagni  dem  Anatomen  Aranzi,  andere  haben  sie  dem  Caecilius 
Folius  zugeschrieben.  Diese  große  Meinungsverschiedenheit  über  den 
Entdecker  des  Linsenknöchelchens  erklärt  sich  daraus,  daß  viele  Ana- 
tomen am  Ende  des  langen  Amboßscherikels  ein  kleines  Knötchen  (tuber- 
culum)  geschildert  haben. 

Die  Pathologie  und  Therapie  des  Ohres  von  De  le  Boe  wird  im 
nächsten  Abschnitte  besprochen  werden. 

')  Sylv.  opera,  Utrajecti  1695,  p.  185,  cf.  Vesling,  Syntag.  anat.  Cap.  16,  \>.  215. 

Adriaan  van  den  Spieghel,  zu  Brüssel  1578  geboren,  studierte 
in  Löwen,  Avar  ein  Schüler  des  Fabrizio  und  der  Nachfolger  Casserios 
auf  dem  Lehrstuhle  zu  Padua,  den  er  zwei  Jahrzehnte  mit  ausgezeichnetem 
Erfolge  bis  zu  seinem  Tode  (1625)  bekleidete;  er  wird  wegen  seiner 
langjährigen  Tätigkeit  in  Italien  von  den  Medikohistorikern  den  italieni- 
schen Anatomen  zugezählt. 


180  ^ils.     Van  Linden. 


Seine  Anatomie  des  Gehörorgans  hält  sich  streng  an  die  seiner 
Lehrer  Fabrizio  und  Casserio:  selbst  deren  Irrtümer  werden  ohne 
Kritik  und  Nachprüfung  wiederholt.  Die  Gehörknöchelchen  erklärt  er 
für  periostfrei  J),  erwähnt  den  von  Fabrizio  fälschlich  angenommenen 
äußeren  Trommelfellmuskel  und  spricht  dem  inneren  Hammermuskel, 
dessen  Ursprung  er  falsch  beschreibt,  zwei  Sehnen  zu  2).  Seine  Schilderung 
des  Labyrinths  entspricht  in  keiner  Weise  dem  zu  seiner  Zeit  bereits 
vorgeschrittenen  Stande  der  Ohranatomie.  Nach  ihm  ist  das  Labyrinth 
eine  runde  Höhle ,  die  in  zahlreiche  gewundene ,  gegen  den  Warzen- 
fortsatz sich  erstreckende  Gänge  übergeht.  Gesondert  vom  Labyrinthe 
beschreibt  er  in  ganz  mangelhafter  Weise  die  Schnecke  3).  Endlich  sei 
noch  erwähnt,  daß  er,  wie  Vesal  ein  Jahrhundert  früher,  den  Hörnerven 
in  der  Trommelhöhle  enden  läßt1). 

Seine  Physiologie  des  Ohres,  die  nur  wenige  Zeilen  umfaßt,  ent- 
hält nichts  Bemerkenswertes. 

')  Adriani  Spigelii,  De  humani  corporis  fabrica  libri  decem.  Opus  post- 
humum.     Venetiis  1627.     Lib.  II,  Cap.  9,  p.  40. 

2)  1.  c.  Lib.  IV,  Cap.  5,  p.  103. 

3)  Secunda  (sc.  caverna),  Labyrinthus  dicitur,  et  in  ossis  petrosi  radice  insculpta, 
rotunda  est,  in  innumeros  et  anfractuosos  meatus,  magna  ex  parte  posterius  ad  mam- 
millaris  processus  interiora  tendentes,  desinit.  Tertia,  quam  Cochleam  appellant, 
omnium  minima  est,  cochlearumque  gyros  affabre  exprimit,  in  anteriore  sede  pro- 
cessus petrosi  sub  primae  cavitatis  tuberculo  sita.     1.  c.  Lib.  X,  Cap.  10,  p.  328. 

4)  Caeterum  mollis  illa  portio,  cum  dura  portione  fertur:  at  ubi  ad  primam 
auris  illam  cavitatem  pervenit,  membranae  in  modum  per  ipsam  expanditur,  sicque 
merito  Nervus  auditorius  dici  meretur,  cum  Spiritus  omnes  ad  auditum  ipse  suggerat. 
1.  c.  Lib.  VII,  Cap.  2,  p.  207. 

Von  geringerer  Bedeutung  für  die  Ohranatomie  in  dieser  Epoche  sind: 

Ludovicus  Bils  (Jonker  Longs  de  Bils,  1624 — 1670)  in  Rotterdam,  ein  reicher 
Dilettant  auf  anatomischem  Gebiete,  der  sich  durch  ein  Verfahren  zur  Konservierung 
anatomischer  Präparate  bekannt  machte  und  sein  Präpariertalent  an  der  Zergliede- 
rung des  Gehörorgans  betätigte.  Seine  kleine  Schrift  „Anatomisch  Vertoon  van  het 
Gehoor",  ßrüghe  1655,  die  auch  ins  Lateinische  übersetzt  wurde,  ist  mit  mittelmäßigen 
Abbildungen  ausgestattet.  Neu  ist  seine  Angabe,  daß  das  Gehörorgan  (Schläfebein) 
in  vier  durch  Nähte  abgegrenzte  Partien  geteilt  sei1). 

Joh.  Ant.  van  der  Linden  (1609—1664),  der  in  seiner  „Medicina  Physio- 
logica",  Amsterdam  1653,  das  Gehörorgan  des  Kindes  und  Erwachsenen  einer  ver- 
gleichenden Betrachtung  unterzieht,  ohne  dem  Bekannten  Neues  hinzuzufügen. 

Ferner :  P 1  e m p i u s  2) ,  D r e  1  i n c o u r t 3)  und  Dieme  rbroeck4),  von  dem 
eine  gute,  jedoch  nichts  Neues  bietende  Beschreibung  des  Ohres  vorliegt,  in  der  er 
die  Annahme  eines  Aer  ingenitus  in  der  Trommelhöhle  scharf  bekämpft,  endlich 
Gerard  Blaes5)  und  der  Gröninger  Deusing6),  der  in  seiner  „Oeconomia  cor- 
poris humaniu  die  Hörfunktion  in  keineswegs  klarer  Weise  bespricht. 

Die  größte  Bedeutung  unter  den  holländischen  Anatomen  erreichte 
Ruysch,  dessen  Wirken  indes  schon  zum  großen  Teile  in  die  folgende 
Periode  fällt. 


Thom.  Bartholinus.     Nik.  Steno.  181 


1)  Opera  Bilsii  cum  titulo  inventorurn  anatomicoruui  antiqui-novoruin  cum 
Cl.  virorum  epistulia  et  testimoniis  conjuncta.    Anist.  1682. 

2)  Vopiseus  Fortunatus  Plempius  (1601—1671).  Fundamenta  medicinae 
libri  sex.     Lovanii  1638. 

3)  Charles  Drelincourt  (163S— 1697),  Praeludia  anatomica.    Amsterd.  1672. 

4)  Isbrand  van  Diemerbroeck  (1609 — 1674),  Anatome  corporis  humani. 
Utraject.  1672. 

5)  Gerard  Blaes  (Blasius),  Commentarium  in  syntagma  anatomicum  Joh.  Ves- 
lingii  etc.     Amsterdam  1659. 

6)  Anton  Deusing  (1612 — 1666),  Oeconomia  corporis  humani  in  quinque 
partes  distributa.  P.  V.  de  sensuum  functionibus ,  sensuum  functione  in  genere  et 
appetito  sensitive     Gröning.  1661. 

Dänemark. 

Fast  alle  bedeutenden  dänischen  Anatomen  des  17.  Jahrhunderts 
wandten  ihr  Interesse  der  Ohranatomie  zu,  und  es  finden  sich  manche 
treffliche  Beobachtungen  und  Bemerkungen  in  anatomischer,  pathologischer 
oder  therapeutischer  Richtung  in  den  „Acta  medica  et  philosophica 
Hafniensia",  einer  der  ersten  medizinischen  Zeitungen,  sowie  in  den 
Sammelschriften:  ..Cista  medicinalium  centuriae  IV."  niedergelegt.  Ge- 
nannt zu  werden  verdienen  Thomas  Bartholin  und  Steno. 

Thomas  Bartholinus  (1616 — 1680),  Professor  der  Anatomie  zu 
Kopenhagen,  einer  der  berühmtesten  Anatomen  seiner  Zeit,  arbeitete  die 
„Institutiones  anatomicae"  seines  Vaters  um  und  versah  sie  mit  nur 
zum  Teile  guten  Abbildungen.  In  seiner  „Anatomia  nova  ex  Caspari 
Bartholini  parentis  institutionibus  etc.  locupleta"  *),  Lugd.  Batav.  I.  ed. 
1641  (1645,  1651,  1673)  und  in  anderen  Ausgaben  ist  die  Ohranatomie 
sehr  flüchtig  und  in  manchen  Daten  fehlerhaft  behandelt.  So  nennt  er 
von  den  inneren  Ohrmuskeln  bloß  den  Trommelfellspanner  und  den 
von  Casserius  irrtümlich  als  Muskel  beschriebenen  „Musculus  externus 
auris  internae",  während  er  den  Steigbügel muskel  gar  nicht  er- 
wähnt. Der  Tube,  die  er  als  „Aquaeductus  Fallopii"  bezeichnet,  schreibt 
er,  da  er  den  ..Aer  ingenitus"  noch  immer  in  die  Trommelhöhle  verlegt, 
eine  Klappe  zu,  welche  das  Ausströmen  von  ..Exkrementen"  wohl  ge- 
statte, jedoch  keine  atmosphärische  Luft  eintreten  lasse. 

Nikolaus  Steno  (Stenon,  Stenson,  Stenonius  1638 — 1682) 
förderte  nur  wenige,  aber  bemerkenswerte  Details  in  der  Ohranatomie 
zu  Tage.  Geboren  zu  Kopenhagen ,  studierte  er  zuerst  daselbst ,  später 
in    Leiden     und    Paris.      Nach    einem    längeren    Aufenthalte    in    Padua 


*)  leb  benützte  die  3.  Ausgabe  vom  Jahre  1651,  Lib.  III,  p.  352 — 356;  Lib.  IV, 
p.  492 — 494.  Siehe  ferner  vom  selben  Autor:  De  Luce  hominum  etc.  Hafniae  1669. 
Lib.  III,  Cap.  11  und  Histor.  Anatom,  centur.  IV.  Amstelodami  1654.  Histor.  80- 
Auris  perforatio. 


132  Kaspar  Bartholinus. 


wurde  er  Professor  zu  Kopenhagen.  In  dieser  Stellung  verblieb  er  nur 
kurze  Zeit,  da  er  von  Innozenz  XL  zum  Bischof  von  Titiopel  i.  p. 
und  zum  apostolischen  Vikar  für  Niedersachsen  ernannt  wurde.  Als 
solcher  lebte  er  am  Hofe  zu  Hannover  und  in  Hamburg.  Steno,  einer 
der  größten  Anatomen  seiner  Zeit,  förderte  seine  Wissenschaft  fast  in 
allen  ihren  Zweigen.  Für  die  Otologie  ist  seine  1661  erschienene  In- 
auguraldissertation: „De  glandulis  oris  et  nuper  observatis  inde  pro- 
dentibus  vasis",  welche  die  erste  Beschreibung  des  nach  ihm  benannten 
Ausführungsganges  der  Parotis  enthält,  insofern  von  Bedeutung,  als  in 
ihr  zum  ersten  Male  der  Ohrenschmalzdrüsen  Erwähnung  geschieht. 
Auf  diese  kommt  er  auch  in  seiner  größeren  anatomischen  Schrift  zurück, 
die  sich  „Observationes  anatomicae,  quibus  varia  oris,  oculorum  et  narium 
vasa  describuntur  novique  salivae,  lacrymarum  et  muci  fontes  deteguntur", 
Leiden  1662,  betitelt.  Hier  spricht  er  sich  dahin  aus,  daß  die  Existenz 
der  Ceruminaldrüsen  nicht  so  leicht  demonstriert  werden  könne  und  teilt 
bloß  mit,  daß  sie  sich  zwischen  Haut  und  Knorpel  des  äußeren  Gehör- 
ganges befinden,  ohne  auf  ihre  Beschreibung  näher  einzugehen  ]). 

Steno  hat  auch  eingehende  Untersuchungen  über  das  Gehörorgan 
von  Fischen  angestellt  und  kann  in  dieser  Hinsicht  als  ein  Vorläufer 
Breschets  angesehen  werden. 

!)  De  glandulosa  carne,  quae  in  raeatu  aurium  externo  cartilaginem  inter  et 
cutim  se  offert,  res  non  ita  manifesta,  cum  ceruminum  color  aliam  videatur  originem 
agnoscere  etc.    1.  c.  p.  87. 

Kaspar  Bartholinus  (1655 — 1738),  Sohn  des  Thomas  Bartho- 
linus, der  sich  um  die  Kenntnis  des  weiblichen  Genitale  verdient  machte, 
beschrieb  in  seinem  „Specinien  historiae  anatomicae"  l)  zwei  Hammer- 
fortsätze, von  denen  einer  dem  Hammermuskel  zum  Ansätze  diene,  ferner 
das  Linsenknöchelchen,  das  er  zwischen  langem  Amboßschenkel  und  Steig- 
bügel richtig  annimmt 2),  den  Steigbügelmuskel 3),  und  leugnet  das  Vor- 
handensein einer  Klappe  der  Tube1). 

Der  Zergliederung  von  Tieren,  mit  Rücksicht  auf  das  Gehörorgan 
Avidmeten  sich  Olaus  Worin  (1588—1654),  der  das  Skelett,  darunter 
auch  die  Gehörknöchelchen  von  Mus  maculatus  in  einer  Abhandlung 
beschrieb5),  und  Öliger  Jacobäus,  ein  Freund  Stenos,  der  das 
Trommelfell  und  zwei  Ossicula  bei  Fröschen  auffand'1). 

')  Caspari  Barth  olini  Thom.  fil.  specimen  historiae  anatomicae  partium  corporis 
humani  ad  recentiorum  mentem  accommodatae  novisque  observationibus  illustratae. 
Amstelodami  1701. 

2)  ...  atque  duae  apophyses  vel  crura,  quorum  quod  longius  est,  cum  stapede 
jungitur  per  intermedium  quartum  ossiculum.     1.  c.  p.  153. 

3)  Tertius  musculus  stapedis  capiti  inseritur.     1.  c.  p.  153. 

*)  Inferiorem  (sc.  meatum),  <iui  longior  est  et  ad  palatum  tendit,  aquae  ductum 


Tafel  IX 


THOMAS  WILLIS 


Tb.  Willis.  183 

cornmuniter  dicunt,  quod  per  hunc  canalem  humores,  in  cavitate  tympani  collecti, 
excerni  possint  nulla  illum  transitum  impediente  valvula,  uti  opinantur  non- 
nulli,  sed  ita  dispositus  est  hie  canalis,  ut  aer,  qui  per  nares  in  os  intrat,  hie  detentus 
ad  interiora  canalis  aliqua  ex  parte  transrnitti  possit.     1.  c.  Cap.  6,  p.  151'. 

5)  Historia  animalis  quod  in  Norwegia  quandoque  e  nubibus  deeidit  et  sata  et 
gramina  celerrime  depascetur.     Haf.  1653. 

6)  De  ranis  observationes.    Paris  1676. 

England. 

Im  17.  Jahrhundert  wendete  sich  die  Aufmerksamkeit  der  Anatomen 
und  Physiologen  vornehmlich  der  von  Harvey  inaugurierten  Lehre  vom 
Blutkreislauf  und  den  damit  im  Zusammenhange  stehenden  Organen  zu, 
während  die  Anatomie  der  Sinnesorgane  geringe  Beachtung  fand.  Die 
englische  otologische  Literatur  ist  in  dieser  Periode  im  Vergleiche  zu 
der  anderer  Nationen  sehr  dürftig. 

Thomas  Willis  (geb.  1622),  eine  der  hervorragendsten  Gestalten 
in  der  Geschichte  der  Wissenschaft  des  17.  Jahrhunderts,  entstammte 
einer  wohlhabenden  Familie  zu  Great-Bedwin  in  Wiltshire.  Anfänglich 
für  die  Theologie  bestimmt,  wandte  er  sich  später  dem  Studium  der 
Medizin  zu  und  wurde  Professor  in  Oxford.  Nach  seinem  Rücktritt 
von  diesem  Posten  war  er  in  London  als  praktischer  Arzt  mit  dem 
glänzendsten  Erfolge  tätig.  Er  starb  1675.  Willis  verfaßte  bahn- 
brechende Schriften  über  Anatomie  und  Physiologie  des  Nervensystems. 
Ein  besonderes  Verdienst  erwarb  er  sich  durch  die  anatomische  Fest- 
stellung des  Ursprungs  des  Nerv,  facialis,  acusticus  und  accessorius. 
Er  fand  unabhängig  von  Mery  die  Kommunikationsöffnung  beider 
Schneckentreppen. 

Von  den  Werken  des  Th.  Willis  kommen  für  die  Otologie  zwei 
in  Betracht: 

„Cerebri  anatome"  (Lond.  1664— 65)1)  und  „De  anima  bru- 
torum"  (Londini  1672,  Amstelod.  1672  2)  bis  1674,  Genev.  1674).  In  dem 
letzteren  s)  behauptet  er,  das  äußere  Ohr  sei  bestimmt,  die  Schallteilchen  zu 
sammeln  und  dem  Sensorium  zuzuführen.  Die  Erhabenheiten,  Windungen 
und  Nischen  der  Ohrmuschel  wirken  nach  denselben  akustischen  Gesetzen 
wie  die  Flüstergalerien.  Der  Schall  gelangt  zum  Trommelfell,  welches 
den  Zweck  hat,  ihn  für  die  Aufnahme  durch  das  eigentliche  Gehörorgan 
zu  modifizieren,  vorzubereiten.  Doch  ist  es  zum  Hören  nicht  absolut 
nötig,  sondern  nur  vorteilhaft,  indem  der  Schall  infolge  der  abwech- 
selnden Spannungen  und  Erschlaffungen  des  Trommelfells  durch  die 
Funktion  der  inneren  Ohrmuskeln  und  Gehörknöchelchen  geordnet  und 
gesammelt  werde.  Willis  suchte  dies  auch  durch  das  Tierexperi- 
ment zu  beweisen1).  Mittels  der  Gehörknöchelchen  werde  der  Schall 
sodann  ausschließlich  durch  das  Vorhoffenster  in  das  Labyrinth  geleitet. 


184  Th.  Willis. 

wo  er  nach  Reflexion  und  Verstärkung  in  den  Bogengängen  zur  Schnecke 
gelange,  um  daselbst  vom  Acusticus  aufgenommen  zu  werden.  Willis 
ist  der  erste,  der  erkennt,  daß  der  eigentliche  Sitz  des  Gehörs, 
das  unmittelbare  Sinnesorgan  für  das  Gehör  die  Schnecke  ist5). 
Wird  der  Schall  in  beiden  Ohren  nicht  ganz  gleichzeitig  zur  Schnecke 
fortgepflanzt,  so  entsteht  Doppelhören. 

Aus  den  Schriften  Willis'  ersehen  wir,  daß  in  den  Hörtheorien 
seiner  Zeit  sich  bereits  die  Entbehrlichkeit  der  Annahme  eines  Aer  in- 
genitus  bemerklich  macht.  Während  in  den  älteren  Hypothesen  die  ein- 
geborene Luft  das  eigentliche  Perzeptionsorgan  bildet,  nimmt  in  den 
jüngeren  die  Lebensluft,  der  Nervengeist,  eine  gleichwertige  Stellung 
ein,  bis  endlich  dem  Endorgane  des  Höruerven  die  eigentliche  Rolle  der 
Hörperzeption  zugewiesen  wird. 

Erwähnung  verdient  noch  das  von  Willis  zuerst  beobachtete  Phä- 
nomen, das  nach  ihm  den  Namen  „Paracusis  Willisii"  erhielt.  Es  ist 
dies  das  Besserhören  mancher  Schwerhöriger  im  Geräusche,  so  zum  Bei- 
spiel im  Fahren  oder  bei  starker  Musik.  Die  betreffende  Stelle  findet 
sich  in  seinem  Werke:  „De  Anima  Brutorum,  Libr.  I,  cap.  14°).  Er 
berichtet  dort  von  einer  tauben  Frau,  die  beim  Trommelwirbel  deutlich 
hörte,  weshalb  ihr  Gatte  ihr  durch  einen  Diener  stets  eine  Trommel 
nachführen  ließ,  um  sich  mit  seiner  Frau  verständigen  zu  können.  In 
einem  anderen  Falle  erzählt  Willis  von  einem  schwerhörigen  Menschen, 
der  beim  Glockengeläute  besser  hörte*).  Willis  erklärte  diese  auf  den 
ersten  Blick  paradoxe  Erscheinung  durch  die  Annahme  eines  erschlafften 
Trommelfells,  das  durch  den  Anprall  des  heftigen  Geräusches  zu  seiner 
normalen  Spannung  gebracht  und  dadurch  in  gewisser  Beziehung  wieder 
leistungsfähig  werde.  Unsere  heutige  Anschauung  von  der  Paracusis 
Willisii  geht  dahin,  daß  dieses  Besserhören  bedingt  sei  durch  die  Er- 
schütterung der  infolge  otosklerotischer  Prozesse  in  ihren  Gelenken  starr 
gewordenen  Gehörknöchelchen,    indem    die   durch  die  Erschütterung  aus- 


::)  Zwei  ähnliche  Fälle  finden  sich  in  den  Transact.  Philosoph.  Angloruin  Ann. 
1668,  Nr.  35,  p.  554.  Ein  angeblich  von  Geburt  tauber  lOjähriger  Knabe  hörte  bei 
Trommelwirbel  sogar  leise  Stimmen.  Ein  anderer  schwerhöriger  Mensch  hörte  nur, 
wenn  ein  rasselnder  Wagen  über  die  Straße  fuhr.  Später  wurden  ähnliche  Fälle  von 
Holder,  Bach  mann,  Fielitz  beobachtet.  Siehe  Muncke  in  Gehlers  pbysik. 
Wörterbuch  4,  2,  p.  1220.  Vergl.  ferner  Borichius  in  Act,  Hafniens.  V,  5,  Obs.  77. 
Sauvage 8'  Nosologia  methodica.  Amstelodami  1768,  I.  T..  p.  757  (im  ersten  Falle 
wurde  das  Gehör  durch  den  heftig  wehenden  Wind,  im  zweiten  durch  das  Gerassel 
eines  Wagens  gebessert).  Ferner  in  der  Anat.  Wratisl.  a.  1718,  p.  541  ein  Fall,  bei 
dem  durch  einen  sehr  heftigen  Donnerschlag  das  Gehör  wieder  hergestellt  worden 
sein  soll.  Endlich  wollte  J.  Riolan  (Op.  cum  physicatum  medica,  Francof.  1611, 
p.  298)  Taubheit  durch  laute  Geräusche  (wie  Trompetenschmettern  etc.)  heilen  (neque 
dubium  tubarum  sono  curari  surditatem). 


Baco  von  Verulam.  185 


der  Gleichgewichtslage  gebrachten  Knöchelchen  geeigneter  für  die  Fort- 
leitimg des  Schalles  werden. 

J)  Die  Beschreibung  des  Hörnerven,  den  er  als  VII.,   und  des  Facialis,  den  er 
als  VIII.  bezeichnet,  findet  sich  auf  p.  295—298. 
8)  Diese  Ausgabe  wurde  als  Quelle  benutzt. 

3)  Cap.  14,  p.  127—137.     De  Sensu  Auditus. 

4)  Si  haec  pars  destruatur,  sensio  adhuc  aliquamdiu ,  rudi  licet  modo,  peragi 
possit:  quippe  experimento  olim  in  cane  facto  constabat,  quod  pex'forato 
utriusque  auris  tympano,  auditio  adhuc  ad  tempus  perstaret,  quae  tarnen  post  tres 
circiter  menses  penitus  cessabat,  scilicet  postquam  sensorii  ad  externas  injurias  pates- 
centis  crasis  everteretur.     1.  c.  Cap.  14,  p.  133. 

5)  Porro  subest  alius  isque  non  minus  insignis  Cochleae  usus,  nempe  ut  species- 
audibiles  non  äö-pocu?  sed  paulatim  ac  velut  in  justa  proportione  et  dimenso  ner- 
vorum  sensibilium,  hie  loci  insertorum.  fibris  ac  finibus  inprimantur.  1.  c.  p.  135. 
und  . .  .  unde  sequitur,  quod  circa  utriusque  Cochleae  proprium  auditus  sensorium 
collocari  debeat.     1.  c.  p.  136. 

6)  Enimvero  surditatis  species  quaedam  oecurrit,  in  qua,  licet  affecti  auditus 
sensu  penitus  carere  videantur,  quamdiu  tarnen  ingens  fragor,  uti  bombardarum. 
campanarum ,  aut  tympani  bellici ,  prope  aures  circumstrepit ,  adstantium  colloquia 
distineta  capiunt,  et  interrogatis  apte  respondent,  cessante  vero  immani  isto  strepitu, 
denuo  statim  obsurdeseunt.     1.  c.  p.  134. 

Einer  der  vielseitigsten,  geistvollsten  und  schöpferischsten  Männerr 
deren  Namen  die  Geschichte  der  Wissenschaften  verzeichnet,  ist  der  Be- 
gründer der  induktiven  Naturforschung  Franc.  Bacon  von  Verulam 
(1560 — 1626).  In  dem  „Sylva  Sylvaruni"  betitelten  Teile  seiner  „Opera 
omnia"  x)  widmet  er  der  Musik  und  dem  Schalle  eine  ausführliche, 
auf  experimenteller  Grundlage  fußende  Besprechung.  Allein  so  wertvoll 
seine  Versuche  und  die  aus  ihnen  resultierenden  Schlüsse  für  die  Lehre 
der  Akustik  immerhin  waren,  berührten  sie  das  Gebiet  der  Physiologie 
des  Ohres  doch  nur  an  der  einen  oder  anderen  Stelle  in  kursorischer 
Weise.  Wahrscheinlich  hat  Bacon  die  genauere  Bearbeitung  dieses 
Gegenstandes  einer  späteren  Zeit  vorbehalten,  wie  ein  von  ihm  be- 
gonnenes Essay  über  Ton  und  Gehör  mit  Recht  vermuten  läßt.  Leider 
ist  der  erwähnte  Aufsatz,  der  sich  in  seinen  posthumen,  von  Wilhelm 
Rawley  herausgegebenen  Schriften2)  findet,  ein  Torso  geblieben,  indem 
die  letzten  drei  Kapitel,  darunter  das  für  uns  wahrscheinlich  inter- 
essanteste „De  organo  auditus,  ejuseme  dispositione  et  indispositione, 
auxiliis  et  impedimentis",  vollkommen  fehlen3). 

Nichtsdestoweniger  können  wir  es  uns  hier  nicht  versagen,  ein 
kritisches  Streiflicht  auf  die  Stellung  des  berühmten  Philosophen  zu 
gehörsphysiologischen  Fragen  zu  werfen,  zumal  Bacon  in  den  physio- 
logischen Werken  recht  stiefmütterlich  behandelt  und  seinen  gehörsphysio- 
logischen Anschauungen  überhaupt  nicht  die  gebührende  Beachtung  ge- 
schenkt wird. 


186  Baco  von  Verulam. 


Bekannt  ist  ihm  die  Trommelfellruptur  durch  heftige  Geräusche, 
wobei  die  Leute  im  selben  Momente  im  Ohre  das  Zerreißen  einer  Membran 
verspüren  4).  Er  selbst  will  einmal  durch  einen  hohen  heftigen  Lauten- 
ton eine  „Ruptura"  oder  „Dislocatio"  in  den  Ohren  gemerkt  haben,  die 
ihm  ein  viertelstündiges  Ohrenklingen  verursachte.  Seine  Erklärung  dieser 
Erscheinung  fußt  auf  der  Ansicht,  daß  allzu  heftige  Sinneseindrücke  dem 
Sinne  schaden,   wenn  sie  auch  sonst  keine  Läsion  verursachen. 

Zu  welch  verkehrten  Hypothesen  selbst  ein  so  hervorragender  Forscher 
durch  die  Unkenntnis  der  Anatomie  verleitet  wurde,  beweisen  seine  Vor- 
stellungen von  der  Gehörsherabsetzung  durch  das  Gähnen.  Ein  durch 
die  Mundaufsperrung  stärker  gespanntes  Trommelfell  soll  den  Ton  mehr 
reflektieren,  als  ins  Ohr  einlassen5).  Ferner  soll  die  Ausatmung  (beim 
Gähnen)  als  Bewegung  nach  außen  die  Stimme  zurückdrängen  6).  Stechen 
beim  Gähnen  führt  er  auf  Spannung  des  Trommelfells  durch  kräftige 
Inspiration  zurück  7).  Ein  von  ihm  zur  Hörverbesserung  empfohlener 
Hörtrichter  weist  keinen  originellen  Typus  auf8). 

')  Francisco  Baconi  Baronis  de  Venilamio  opera  quae  extant  omnia,  in  unum 
corpus  collecta,  et  sex  voluminibus  comprehensa.  Amstelod.  1685,  Vol.  IV.  Sylva 
Sylvarum  sive  hist.  naturalis  et  nova  Atlantis.     Cent.  II  und  III,  p.  74 — 166. 

2)  1.  c.  Vol.  VI.  Opuscula  varia  posthuina,  philosophica,  civilia  et  theologica 
Franc.  Baconi,  nunc  primum  edita.     Cura  et  Fide  Guilielmi  Rawley. 

3)  1.  c.  p.  131—168. 

4)  Ingens  sonus,  e  proximo  delatus  multos  reddidit  surdos,  qui  eo  ipso  momento 
disruptam  quasi  in  auribus  membranam  sentiebant.  Mihi  quoque,  dum  adstarem  cui- 
dam  alte  et  acute  lyra  canenti,  subito  noxa  illata  est  tanquam  in  auribus  ruptura 
quadam  aut  dislocatione  facta;  et  paulo  post,  tinnitus  exstitit  sonorus  ita  ut  surdi- 
tatem  metuerem ,  sed  post  quadrantem  horae  evanuit.  Hoc  effectum  verissime  ad 
sonum  referri  potest.     1.  c.  Vol.  IV,  Cent.  II,  p.  92. 

5)  Oscitatio  aurium  sensum  impedit,  propter  membranae  in  aure  extensionem, 
quae  repellit  potius  quam'admittit  sonum.     1.  c.  Cent.  III,  p.  155. 

6)  Ratio  est  quod  omnis  exspiratio  sit  motus  ad  extra  repellens  potius  quam 
attrabens  vocem.     1.  c.  p.  156. 

7)  Non  praeteriit  antiquorum  diligentiam,  cum  periculo  scilicet  pungi  oscitanti 
aures.  Causa  est,  quia  oscitatio  interiorem  auris  membranulam  tendit,  attracto  spiritu 
■et  anima.  Tsta  enim,  ut  et  suspiratio,  s]>iritum  primo  valide  attrahit,  deinde  expellit. 
1.  c.  Cent.  VII,  p.  356. 

8)  1.  c.  Cent,  III,  p.  156. 

Erwähnt  seien  noch  zum  Schlüsse  zwei  das  Gehörorgan  von  Tieren  berück- 
sichtigende Werke,  das  „Onomasticum  zoicum",  Lond.  1668,  des  Walther  Charleton 
(Gualterius  Charletonius) ,  in  dem  das  Gehörorgan  von  Fischen  zuerst  genauer  be- 
schrieben wird,  und  eine  Abhandlung  des  irischen  Arztes  Allen  Müllen  (Moulin) 
„De  organ.  audit.  avium"  (The  philosophical  transactions  and  collections  abridged. 
Vol.  II.     Lond.  1749). 

Frankreich. 

In  Frankreich  haben  die  Anatomen  in  der  Uebergangsperiode  vom 
16.  zum    17.  Jahrhundert   im   allgemeinen    nur    geringe  Leistungen    auf- 


Tafel  X 


Cum  me  Pt>oet?us  amet,  P/tce&oJ^aJemjper  apiul  me 
Miateraßnt  Offa,  etjiauc  rulens  fyacinthus. 


JOANNES  RIOLANUS 


Jean  Riolan.  187 


zuweisen,  da  die  Aerzte  jener  Zeit  es  mit  ihrer  Würde  unvereinbar 
hielten,  Kenntnisse  zu  erwerben,  die  für  das  verachtete  chirurgische 
Handwerk  der  Barbiere  unumgänglich  nötig  waren.  Erst  in  der  zweiten 
Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  kommt  die  Anatomie  des  Gehörorgans  durch 
Duverney  zu  Ehren.  Seine  Vorläufer  sind  Jean  Riolan  der  Jüngere, 
Claude  Perrault  und  Jean  Mery. 

Jean  Riolan  der  Jüngere  (1580 — 1657),  der  erbittertste  Gegner 
der  Kreislauflehre  Harveys,  galt  zu  seiner  Zeit  als  Autorität  auf  ana- 
tomischem Gebiete.  Unter  seinen  zahlreichen  Schriften  enthalten  nament- 
lich die  Hauptwerke,  das  „Encheiridium  anatomicum  et  pathologicum"  *), 
die  „Anthropographia"**),  ferner  die  „Animadversiones1',  die  „Commen- 
tarii  in  Galeni  librum  de  ossibus"  etc.,  eine  Anzahl  die  Otologie  betreffende 
Bemerkungen.  Abgesehen  davon,  daß  seine  meist  polemischen  Erörte- 
rungen jeder  Originalität  entbehren,  zeigen  sie  auch  zahlreiche  grobe 
Fehler,  die  Morgagni  in  seinen  „Epistolae  anatomicae",  bei  aller  Aner- 
kennung der  Bedeutung  Riolans,  einer  scharfen  Kritik  unterzieht.  Die 
Prüfung  der  beiden  erstzitierten  Werke  auf  ihren  gehöranatomischen 
Inhalt  ergibt  folgendes. 

Den  äußeren  Gehörgang  findet  Riolan  bis  zum  siebenten 
Lebensmonate  knorpelig  und  bis  zum  dritten  Lebensjahre  und  noch 
länger  basal  mit  einem  Fenster  versehen  r).  Hier  handelt  es  sich  offen- 
bar um  die  beim  Kinde  konstant  in  der  vorderen  Gehörgangswand  vor- 
kommende Ossifikationslücke.  Die  Ansicht  Riolans,  „daß  der  äußere 
Gehörgang  nach  vollendeter  Ossifikation  untrennbar  mit  dem  Trommel- 
fellring verschmilzt"  2),  ist  insofern  irrig,  als  der  Gehörgang  eigentlich 
aus  dem  Ringe  hervorgeht.  Das  Linsenknöchelchen ,  das  er  außer- 
halb des  Amboß-Steigbügelgelenkes  liegend  abbildet,  hält  er  für  unnütz 
und  vergleicht  es  mit  einem  Knochenschüppchen,  wie  es  in  der  Hals- 
schlagader neben  dem  Keilbeine  vorkomme ;i).  Die  Muskeln  des 
inneren  Ohres,  von  denen  er  bloß  einen  äußeren  und  inneren  Hammer- 
muskel erwähnt,  kennt  er  bloß  aus  der  Lektüre  der  „Recentiores  Ana- 
tomici"  und  beschreibt  sie  fehlerhaft4).  Zur  Freilegung  der  Gehör- 
knöchelchen empfiehlt  er  die  Abtragung  der  oberen  Trommelhöhlen  wand  5). 
Unklar  ist  seine  Beschreibung  zweier  Ligamente,  von  denen  das  eine  die 
„Cauda"  des  Hammers  fixieren,  das  andere  dem  oberen  Winkel  des 
Stapes  angeheftet  sein  soll 6). 

Erstaunlich  selbst  für  die  damalige  Zeit  ist  seine  Behauptung,  daß 
die  „Cavitates  internae"  des  Ohres  periostlos  und  deshalb  unempfindlich 
seien7).     Den  gröbsten  Irrtum  aber,  der  seine  Kenntnis  in  der  Anatomie 


*)  Paris  1648.     Ich  benützte  die  Ausgabe  vom  Jahre  1649  (Lugcl.  Bat.). 
**)  ibid.  1618. 


jss  Claude  Perrault. 


des  Ohres  in  eigentümlichem  Lichte  erscheinen  läßt,  finden  wir  in  der 
Angabe,  daß  der  Hörnerv  nach  dem  Durchtritt  durch  die  Schnecke  von 
der  Trommelhöhle  aus  durch  den  Tubenkanal  zum  Gaumen  herabsteige 
und  den  Kehlkopf  innerviere  8).  Den  M.  levator  palati  mollis  (von  ihm 
Peristaphylinus  internus  genannt)  läßt  er  an  einem  beweglichen  Knorpel 
entspringen,  weiß  jedoch  nicht,  daß  dieser  der  Ohrtrompete  angehört9). 
Zum  Schlüsse  sei  noch  bemerkt,  daß  seine  Ausführungen  wegen  des 
Gebrauches  der  Ausdrücke  „rechts"  und  „links"  vielfach  unverständlich 
werden  und  auch  die  beigegebenen  aus  anderen  Werken  entlehnten  Ab- 
bildungen an  Deutlichkeit  manches  zu  wünschen  übrig  lassen. 

Noch  fragmentarischer  und  dürftiger  sind  seine  Angaben  über  das 
Ohr  in  der  früher  erschienenen  „Anthropographia"  10) ,  wo  zum  Teile 
Stellen  aus  dem   „Encheiridium"   sich  Avortwörtlich  wiederfinden. 

Die  Beobachtungen  Riolans  über  Pathologie  und  Therapie  der 
Ohrerkrankungen  werden  wir  im  folgenden  Abschnitte  besprechen. 

')  In  hac  Epipliysi  Auriculari  multa  veniunt  observanda.  Meatus  auditorius 
totus  est  cartilaginosus,  circa  quintum  aut  sextum  rnensem,  Osseam  naturam  acquirit 
quarnvis  ad  septimum  usque  mensem  separari  queat,  sed  in  basi  biulcum,  ac  veluti 
fenestratum  usque  ad  tertium  annum  et  arnplius  perstat.     p.  45. 

2)  Sed  ubi  rneatus  Auditorius  obduruit,  -tarn  arcte  Osseus  circulus  agglutinatur, 
ut  postea  sit  inseparabilis.     p.  45. 

3)  Quartum  alii  adiiciunt,  quod  est  squamula  Ossis,  qualis  in  carotide  arteria 
deprehenditur  juxta  Os  spbenoides.     Sed  illud  inane  est  ac  inutile.     p.  287. 

4)  Recentiores  Anatomici  Auris  internae  duos  rnusculos  constituunt,  unum  ex- 
ternum  in  poro  auditorio,  qui  membranarn  retrahit :  Alterum  intra  Concham  malleolo 
affixum.     p.  337. 

5)  1.  c.  Lib.  VI,  Cap.  12,  p.  441. 

6)  Sed  Tendones  vel  potius  ligamenta  reperiuntur  duo,  unum,  quod  malleoli 
caudam  sistit.  alterum  quod  stapedis  angulo  superiori  alligatur.     p.  442. 

'•)  1.  c.  Lib.  IV,  Cap.  4,  p.  289. 

8)  Nervus  auditorius  consideratione  dignus,  qui  in  Auris  cavitatem  inseritur 
et  per  Canaliculum  in  Palatum  delabitur,  atque  Laryngi  interno  distribuitur:  Hinc 
ille  consensus  Aurium  cum  Dentibus,  Larynge,  et  Pulmonibus.  249.  Nervus  auditorius 
traductus  per  cochleam,  ubi  pervenit  ad  concbam  per  foramen  sive  Canaliculum 
ad  dextrum  latus  Conchae  adapertum,  delabitur  in  palatum  juxta  apopbysim  ptery- 
goideam.     p.  288. 

9)  1.  c.  Lib.  V,  Cap.  19,  p.  342. 

,0)  1.  c.  Lib.  III,  Cap.  5,  p.  449;  Lib.  V,  Cap.  13,  p.  509  und  Lib.  VI,  Cap.  48, 
p.  626  sq. 

Wertvolle  Beiträge  zur  Anatomie  des  Gehörorgans  lieferte  Per- 
rault. An  ihn  reiht  sich  J.  Mery,  ein  Zeitgenosse  Duverneys, 
dessen  Arbeiten  trotz  zahlreicher  Irrtümer  einen  Fortschritt  gegenüber 
Perrault  bedeuten. 

Claude  Perrault  (1613—1688),  einer  der  vielseitigsten  Männer 
seiner  Zeit,  wurde  1613  zu  Paris  geboren  und  erlangte  ebenso  wie  seine 


Tafel  XI 


CLAUDE  PERRAULT 


Claude  Perrault.  189 


drei  Brüder  einen  ruhmvollen  Namen  in  der  Zeitgeschichte  Frankreichs. 
Anfangs  studierte  er  Medizin,  wurde  aber  durch  die  ihm  von  dem  Minister 
Colbert  übertragene  französische  Uebersetzung  des  Vitruvius  der  Bau- 
kunst zugeführt.  Zu  welcher  Meisterschaft  er  es  in  dieser  brachte,  dafür 
liefert  der  Bau  des  Louvre  sprechendes  Zeugnis. 

Perrault  war  auch  einer  der  vorzüglichsten  Physiker  seiner 
Zeit.  Er  beschäftigte  sich  eingehend  mit  zoologischen,  anatomischen 
und  physiologischen  Studien.  Als  Anatom  und  Arzt  gehörte  er  der 
1665  von  Colbert  gestifteten  „Academie  Royale  des  Sciences"  an, 
welche  ihren  Mitgliedern  die  Pflege  der  Naturwissenschaften  zur  Haupt- 
aufgabe machte.  Perrault  benützte  die  durch  königliche  Freigebigkeit 
aus  der  Menagerie  des  königlichen  Gartens  zur  Verfügung  gestellten 
seltensten  Tiere  zum  Studium  der  vergleichenden  Anatomie.  Zahlreiche 
Abhandlungen  Perrault s  finden  sich  in  den  „Memoires  de  l'Academie". 
Er  starb  75  Jahre  alt  an  den  Folgen  einer  Verletzung  bei  der  Sektion 
eines  Kamels. 

In  der  Geschichte  der  Ohranatomie  nimmt  er  deshalb  eine  ehren- 
volle Stelle  ein,  weil  er  noch  sorgfältiger  als  Casserius  die  vergleichende 
Anatomie  heranzog,  um  über  Norm  und  Abweichung,  Zweck  und  Nutzen 
der  Teile  des  menschlichen  Gehörorgans  ins  klare  zu  kommen. 

Die  das  Gehörorgan  betreffenden  Untersuchungen  beziehen  sich 
auf  die  Anatomie,  Physiologie  und  Akustik  und  zum  Teile  auch  auf 
Pathologie  und  sind  in  seinen  „Oeuvres  diverses"  (Leiden  1721)  ent- 
halten. Ihre  erste  Publikation  findet  sich  in  seinen  „Observations  sur 
Forgane  de  FOuie.  Me'moires  de  l'Ac.  de  Paris.  Vol.  I,  p.  243.  Essais 
de  Physique  ou  Recueil  de  plusieurs  traitez  touchant  les  choses  naturelles". 
T.  I,  II,  III.    1680.     T.  IV.  1688.     Edit.  J.  B.  Caignard.     Paris. 

Seine  Schilderung  des  Gehörorgans  zählt  zu  den  besten  dieser  Zeit. 
Stets  wird  zur  Illustration  die  vergleichende  Anatomie  herangezogen, 
wobei  er  vorzüglich  das  Gehörorgan  von  Vögeln  benützt.  Doch  haften 
trotz  vieler  Vorzüge  seiner  Ohranatomie  manche  Mängel  und  Irr- 
tümer an. 

Im  IL  Bande  seiner  „Essais  de  Physique",  betitelt  „Du  Bruit", 
behandelt  Perrault  ausführlich  die  damals  geltenden  Theorien  über 
den  Schall,  die  Anatomie  und  Physiologie  des  Gehörorganes,  wobei  er 
stets  zur  Erklärung  der  Funktion  eine  Parallele  mit  der  Physiologie  des 
Gesichtssinnes  zieht.  Die  336  Seiten  umfassende  Abhandlung  gibt  Zeugnis 
von  der  hohen  Begabung,  dem  umfangreichen  Wissen  und  der  Viel- 
seitigkeit des  Verfassers.  Dem  Texte  sind  mehrere  Tafeln  mit  einer 
größeren  Anzahl  von  Abbildungen  beigegeben,  von  denen  die  Mehrzahl 
jedoch  bei  roher  Ausführung  primitiv  und  selbst  schematisch  unrichtig 
erscheint.     Als    Beispiel    hierfür    diene    die    beistehende   Abbildung    des 


190 


Claude  Perrault. 


Schneckendurchschnittes  (Fig.  8)    mit  der  Spirallamelle  und  dem  in  den 
Modiolus  (Noyau  du  limacon)  eintretenden  Hörneryen. 

Die  bisweilen  vorkommende  Beweglichkeit  der  Ohrmuschel 
spricht  Perrault  fälschlich  der  Funktion  des  Hautmuskels  und  nicht 
den  Ohrmuskeln  zu.  Er  beschreibt  und  bildet  den  Annulus  tympanicus 
beim  Neugeborenen  ab,  glaubt  aber  irrtümlich,  daß  dieser  beim  Erwach- 
senen ohne  Spuren  seines  früheren  Zustandes  mit  dem  Schläfebein  ver- 
wachse1).  Auch  leugnet  er,  daß  bei  Kindern  das  Trommelfell  dem 
Annulus  tymp.  anhafte;  denn  die  Membran  sei  Aveiter  vorn  und  nicht 
vertikal  inseriert.  Zutreffend  hingegen  ist  seine  Bemerkung,  daß  das 
Trommelfell  in  allen  Lebensaltern  durch  den  Zug  des  Hammergriffs 
gegen  die  Trommelhöhle  geneigt  erscheine.  Bei  Schildkröten  fand  er 
das    Trommelfell    knorpelig.     Das    Cavum  tympani    sei   sowohl  beim 

Menschen  als  auch  bei  den  Säugetieren  von 
einer  zarten  Membran  ausgekleidet,  welche 
sich  stellenweise  leicht  vom  Knochen  ab- 
heben lasse;  nur  am  Trommelfellring  hafte 
sie  fester  und  besitze  auch  Blutgefäße.  Die 
Fortsätze  des  Hammers  werden  nicht  er- 
wähnt. Das  von  Sylvius  beschriebene  Os 
lenticulare  findet  man  nach  Perrault 
selten.  Er  hält  es  für  das  abgebrochene 
Ende  des  langen  Amboßschenkels2).  Die 
Sehne  des  Stapedius  beschreibt  er  als 
Ligament3).  Von  den  inneren  Ohr- 
muskeln erwähnt  er  nur  den  Trommel- 
fellspanner. Dieser  ist  nach  ihm  ein 
Antagonist  des  Bandapparates  der  Gehörknöchelchen,  die  nach  dem  Auf- 
hören der  Aktion  des  Muskels  die  Membran  entspannen4).  Er  beschreibt 
zum  ersten  Male  den  aufgeworfenen  Rand  der  Fenestra  rotunda  (Cochleae), 
Avelche  bei  allen  Säugetieren  durch  eine  sehr  zarte,  nach  innen  gewölbte 
Membran  verschlossen  sei  (Schneckenfenstermembran).  Die  Schilderung 
des  Labyrinthes  erklärt  er  für  sehr  schwierig.  Das  Vestibulum 
und  die  Bogengänge,  von  denen  mehrere  mangelhaft  abgebildet  sind, 
werden  ohne  nähere  Beschreibung  erwähnt.  Die  Lamina  spiralis 
ossea,  die  vom  Modiolus  in  den  Schneckenkanal  hineinragt,  sei  sehr 
zart  und  flexibel,  weshalb  er  sie  als  „Membrane  spirale"  bezeichnet.  Diese 
Spirallamelle  sei  nur  am  Modiolus,  nicht  aber  an  der  entgegen- 
gesetzten Wand  des  Schneckenkanals  befestigt.  Sie  teile  zwar 
den  Schneckenkanal,  jedoch  unvollständig,  in  zwei  Teile,  so  daß  die 
beiden  Abteilungen  überall  miteinander  kommunizieren.  Perrault  hat 
somit  die  eigentliche  Spiralmembran  nicht  gekannt5). 


Fig.  8.  Reprod.  des  Schnecken- 
durchschnittes aus  den  „Essais 
de  Physique  etc."  Tora.  III  des 
Claude   Perrault.     1680,    p.  57. 


Claude  Perrault.  191 


Im  physiologischen  Teile  seiner  Arbeit  bespricht  Perrault  zunächst 
die  "Wirkung  der  äußeren  Ohrmuskeln  und  hierauf  die  des  Tensor 
tympani,  welcher  dem  Trommelfell  eine  mittlere  Spannung  verleiht,  die 
es  befähigen,  starke  und  schwache  Geräusche,  hohe  und  tiefe  Töne  in  ge- 
ringerer oder  größerer  Distanz  aufzunehmen  und  fortzuleiten ü).  Das 
Sekret  der  Ceruminaldrüsen  soll  zur  Abschwächung  des  Schalles  dienen. 
Was  die  Funktion  der  Schnecke  anlangt,  so  spricht  sich  Perrault  dahin 
aus,  daß  die  in  die  Spirallamelle  eintretenden  Fasern  sich  mit  der  Knochen- 
substanz der  Spirallamelle  mengen  und  eine  Art  Membran  bilden,  die 
er  für  das  eigentliche  Organ  des  Hörens  hält 7).  Trotz  dieser  Annahme 
zweifelt  Perrault  nicht  im  mindesten  an  der  Existenz  des  Aer  implan- 
tatus,  dessen  Sitz  im  Labyrinthe  und  nicht  in  der  Paukenhöhle  sei. 
Nach  seiner  Erklärung  werden  die  Erschütterungen  des  Trommelfells 
auf  die  Luft  der  Trommelhöhle  und  von  dieser  auf  die  Membran  des 
runden  Fensters  übertragen.  Von  dort  geht  die  Erschütterung  auf 
die  im  Labyrinthe  eingeschlossene  Luft  über,  deren  Vibrationen,  durch 
die  membranösen  Gebilde  im  Labyrinthe  gemildert,  auf  die  Spiral- 
membran fortgepflanzt,  das  eigentliche  Organ  des  Hörens  in  Bewegung 
setzen  s). 

Eigentümliche  Ansichten  entwickelt  Perrault  über  die  Aetiologie 
einzelner  Formen  von  Schwerhörigkeit.  So  glaubt  er,  daß  Schwerhörig- 
keit durch  starke  Schalleinwirkung  deshalb  entstehe,  weil  durch  die 
Erschütterung  die  Spirallamelle  gebrochen  werde,  wie  etwa  ein  Glas 
durch  heftige  Erschütterung.  Ferner  meint  er,  daß  die  Südwinde  die 
Schwerhörigkeit  steigern,  indem  sie  durch  ihre  Feuchtigkeit  die  un- 
umgänglich nötige  Trockenheit  der  Spiralmembran  vermindern.  Da 
diese  Trockenheit  eine  mittlere  sein  müsse,  so  sei  es  ferner  erklärlich, 
daß  im  Alter,  wo  die  Knochen  trockener  werden,  durch  allzu  große 
Trockenheit  der  Spiralmembran  sich  häufig  Schwerhörigkeit  entwickle 9). 

*)  S.  192  f.:  „Dans  les  enfans  nouveaux  nez,  ce  rebord  est  un  os  separe  du 
crane,  faisant  comme  un  anneau  qui  n'est  pas  entier,  parce  que  son  cercle  est  inter- 
rompu  ä  l'endroit  oü  ce  rebord  manque  dans  les  adultes,  ausquels  cet  anneau  se 
trouve  reellement  colle  et  reuni  ä  Tos  des  temples  qu'il  n'y  reste  aucune  marque  qui 
puisse  faire  croire  qu'il  ait  autrefois  este  separe." 

2)  S.  203:  „Mais  on  le  trouve  rarement,  et  il  y  a  Heu  de  croire  quand  on  le 
rencontre  que  c'est  le  petit  noeud  du  bout  de  Ja  jambe  par  laquelle  l'enclume  est 
attachee  ä  lYtrier  qui  a  este  rompu." 

3)  S.  203:    „La  teste  est  attachäe    pur   un   ligament  large  ä  l'os  des  temples." 
'')  S.  236  f. :   „II  taut  supposer  que  la  membrane  du  Tambour  est  ordinairement 

entretenue  par  le  rnuscle,  dans  une  tension  mediocre,  <|ui  Ja  rend  capable  d'estre 
einüe  mediocrement;  c'est  ä  dire  ny  trop  fortement  par  les  violentes  agitations  des 
bruits  procbes  et  des  tons  aigus,  ny  trop  foiblement  par  les  bruits  des  corps  eloignez 
et  des  tous  graves;  et  que  les  tensions  ou  les  relächemens  extremes  sont  reservez 
pour  les  bruits  extremes,  savoir  pour  les  bruits  forts  et  aigus,  et  les  grandes  tensions 


192  Jean  Mery. 

pour   les   bruita   foibles   et   pour   les   tons  graves,    quand  on  veut  avoir  une  grande 
attention  ä  Tun  ou  ä  l'autre  de  ces  bruits." 

5)  S.  211:  „De  ce  noyau  il  sort  une  lame  osseuse  et  fort  mince  qui  tournant 
en  ligne  spirale  comrae  le  conduit,  le  partage  tout  du  long  en  deux,  en  Sorte  que 
n'estant  attachee  qu'au  noyau  et  non  ä  la  partie  opposite  du  conduit ,  eile  ne  fait 
point  que  le  conduit  soit  double,  et  que  la  partie  qui  est  au  dessus  n'ait  communi- 
cation  avec  celle  qui  est  dessous." 

6)  S.  238:  „Et  cela  se  fait  fort  commodenient  par  un  seul  muscle  auquel  les 
ligamens  des  osselets,   et  la  membrane  merae  du  Tambour,   servent  d'Antagonistes." 

7)  S.  246  f. :  „11  y  a  sujet  de  croire  que  ces  fibres  recoivent  quelque  chose  de 
la  substance  osseuse  qu'elles  penetrent,  en  sorte  que  cette  substance  osseuse  se  mes- 
lant  avec  la  substance  nerveuse  des  fibres  du  nerf,  il  s'en  compose  une  espece  de 
membrane  que  j'appelle  la  membrane  Spirale,  et  que  j'estime  estre  l'organe  immediat 
de  l'ouie".  und  S.  249:  „Pour  ce  qui  est  de  la  Situation  de  cette  membrane  osseuse, 
j'ai  deja  remarque  qu'elle  n'est  point  attachee  ny  couchee  sur  le  conduit,  mais  qu'elle 
tient  seulement  au  noyeau  duquel  eile  naist,  et  au  tour  duquel  eile  se  soütient  comme 
une  fraise  ou  comme  une  rotonde ,  qui  n'appuye  point  sur  les  epaules ,  et  qui  est 
seulement  attachee  au  col.  Et  en  effet,  cette  Situation  semble  fort  favorable  ä  la 
disposition  que  cet  organe  doit  avoir,  qui  est  d'estre  facilement  ebranle  par  les 
emotions  de  Fair  qui  causent  le  bruit." 

s)  S.  259:  „Enfin  cette  derniere  emotion,  adoucie  comme  eile  est  par  l'inter- 
position  des  membranes ,  et  rendue  vive  et  piquante  autant  qu'il  est  necessaire  par 
leur  tension,  erneut  la  membrane  spirale  qui  est  l'organe  immediat  de  l'ou'ie,  dont 
la  delicatesse  est  suffisament  conservee  et  deffendue  des  injures  de  l'air,  quoy  qu'elle 
soit  touchee  immediatement  par  l'air:  mais  l'air  qui  la  touche  immediatement  est 
exeinpt  des  qualites  nuisibles  qui  se  pourroient  rencontrer  dans  l'air  de  dehors,  estant 
enferme  fort  exactement,  et  fomente  par  la  chaleur  de  l'aleine  des  poumons." 

9)  S.  250  f.:  „On  peut  encore  par  cette  disposition  de  la  membrane  spirale 
donner  la  raison  de  plusieurs  Phenomenes,  touchant  la  perte  ou  la  diminution  de 
l'ouie;  car  il  y  a  quelque  apparence  que  la  perte  de  l'ou'ie  qui  arrive  par  un  grand 
bruit,  procede  de  ce  que  cette  membrane  estant  mince  comme  eile  est,  et  d'une 
substance  tres-cassante  dans  quelques  animaux,  eile  peut  estre  ebranlee  avec  assez 
de  violence  par  un  grand  bruit,  pour  en  pouvoir  estre  cassee;  de  mesme  que  l'on 
scait  qu'un  grand  bruit  peut  casser  un  verre.  Ainsi  les  vents  du  Midy  diminuent 
l'ouie ,  parce  que  leur  humidite  diminue  la  secheresse  qui  doit  estre  dans  cette 
membrane.  Kt  comme  cette  secheresse  doit  estre  mediocre,  il  arrive  souvent  que 
1'oui'e  devient  dure  lorsque  dans  la  vieillesse  les  os  sont  beaucoup  dessechez." 

Jean  Mery  (1645—1722),  Anatom  und  gleichzeitig  Chirurg  am 
Hötel-Dieu,  weicht  in  vielen  Beziehungen  von  Perrault  ab.  Ein  eifer- 
süchtiger Rivale  Duverneys,  veröffentlichte  Mery  zugleich  mit  Lamys 
„Explication  mechanique  de  fonctions  de  lVune  sensitive"  sein  Buch 
„Description  exacte  de  l'oreille  de  l'homme  avec  explication  mechanique 
et  physique  des  fonctions  de  Tarne  sensitive"  (Paris  1677,  1681,  1687)*) 
im  Jahre  1677,  um  Duverney,  von  dem  er  wußte,  daß  er  an  einem 
ähnlichen  Werke  arbeite,  zuvorzukommen.    Wenn  dieses  Werk  auch  nicht 


*)    Als    Quelle    wurde    benützt:     Oeuvres    completes    de    Jean    Mery,    par    le 
Dr.  L.  H.  Petit.     Paris  1888. 


Jean  Mery.  193 

im  entferntesten  an  die  epochemachende  Schrift  Duverneys  hinan- 
reicht, so  ist  es  doch  nicht  ohne  Bedeutung,  ja  es  enthält  sogar  neben 
vielen  Irrtümern  manche  ausgezeichnete  Beobachtung;  doch  darf  bei  der 
Beurteilung  des  Autors  der  Umstand  nicht  außer  acht  gelassen  werden, 
daß  Mery  oft  Gelegenheit  hatte,  Duverneys  Vorträge  zu  hören,  von 
denen  er  manches  anatomische  Detail  entlehnen  konnte. 

Ein  Hauptverdienst  Merys  besteht  darin,  daß  er  die  schon  von 
Casserio  angedeuteten  In  zisuren  des  äußeren  Gehörgangs  genauer 
beschreibt.  Er  vergleicht  den  äußeren  Ohrkanal  wegen  dieser  Einschnitte 
und  seiner  Struktur  mit  der  Trachea  x).  Der  knorpelige  Teil  des  Kanals 
ist  nach  ihm  nicht  unmittelbar  mit  dem  Knochen,  sondern  durch  eine 
Membran  verbunden. 

Eine  anatomische  Entdeckung  Merys  ist  der  Dorn  der  Ohrleiste 
(Spina  s.  processus  acutus  helicis)  sowie  das  zuweilen  gabelförmig 
gespaltene  Ende  der  Ohrleiste,  der  „Processus  helicis",  welcher  von  dem 
übrigen  Ohrknorpel  etwas  absteht. 

Was  die  Ohrmuschel  anbelangt,  so  leugnet  Mery,  der  selbst  die 
Ohrmuscheln  bewegen  konnte,  daß  diese  Beweglichkeit  durch  eigene  Ohr- 
muskeln bedingt  sei.  Was  man  als  solche  beschrieben  hatte,  seien 
Aponeurosen  und  Teile  des  Hautmuskels,    des  Frontalis   und  Occipitalis. 

Die  Trommelhöhle  teilt  er  in  zwei  Teile,  in  „die  untere,  vordere, 
runde"   und  „obere,  hintere,  längliche". 

Mery  fand  die  Furche  des  Annulus  tymp.  bei  Kindern,  glaubte 
aber  irrtümlich,  daß  sie  bei  Erwachsenen  verschwinde.  Die  Gehör- 
knöchelchen seien  gelenkig  verbunden,  teils  durch  Ginglymus,  teils  durch 
Arthrodie;  auch  erwähnt  er  zum  ersten  Male  die  Synovialkapseln  der 
Gehörknöchelchen.  Er  kennt  zwei  Hammerfortsätze,  meint,  daß  das  Os 
lenticulare  selbständig  sei  und  daß  der  Stapes  das  Foramen  ovale  nicht 
exakt  verschließen  könne,  weil  sonst  die  Luft  in  den  Vorhof  nicht 
einzudringen  vermöge2).  Hinsichtlich  der  inneren  Ohrmuskeln,  deren 
er  vier  annimmt,  teilt  er  dem  inneren  Hammermuskel,  wie  manche 
seiner  Vorgänger,  zwei  Sehnen  zu.  Die  Natur  der  Chorda  tympani,  die 
er  für  eine  muskulöse  Sehne  hält,  verkennt  Mery  gänzlich. 

Das  innere  Ohr  beschreibt  er  verhältnismäßig  gut.  Nach  Folius 
ist  er  der  erste,  der  die  Bogengänge  aus  dem  Knochen  herausprä- 
pariert darstellt.  Auch  weiß  er,  daß  zwei  Bogengänge  mit  einer  gemein- 
schaftlichen Oeffnung  in  den  Vorhof  einmünden    I. 

Die  Zahl  der  Schneckenwindungen  wird  ganz  richtig  mit  zwei 
und  einer  halben  angegeben.  Im  Gegensatze  zu  Perrault,  der  nur  die 
knöcherne  Spirallamelle  kennt,  beschreibt  Mery  exakt  die  schon  von 
Eustachio  entdeckte  membranöse  Spiralplatte,  durch  die  der 
Schneckenkanal  in   zwei  Treppen   geteilt    wird').      Beide  Treppen  kom- 

Politzer,  Geschichte  der  Ohrenheilkunde.     I.  13 


194  Jean  Mery. 

munizieren  durch  ein  kleines  Loch  an  der  Spitze  der  Schnecke 5).  Er 
ist  in  dem  Irrtum  befangen,  daß  der  Acusticus  der  Schneckenbasis  bloß 
anliege,  ohne  mit  seinen  Fasern  in  den  Kern  der  Schnecke  (Modiolus) 
einzudringen6).  Dies  ist  umso  befremdlicher,  als  Perrault  vor  ihm 
den  Nerveneintritt  in  die  Spindel  beschreibt  und  abbildet  (S.  190). 
Die  Schilderung  des  Nervenverlaufes  im  Vorhof  und  in  den  Bogengängen 
ist  durchaus  falsch.  Nach  ihm  dringt  ein  kleiner  Ast  des  Nerven  durch 
eine  größere  Oeffnung  in  den  Vorhof,  wo  er  sich  in  fünf  kleine  Aeste  teilt, 
die  in  die  fünf  Oeffnungen  der  Bogengänge  eintreten  und  diese  in  ihrer 
ganzen  Länge  durchlaufen  7). 

Hinsichtlich  der  Funktion  der  Schnecke  glaubt  Mery,  daß 
die  Spiralmembran  der  Schnecke  nur  die  Eigentümlichkeit  ihrer  spiralen 
Anordnung  besitze,  daß  sie  aber  keineswegs  als  wichtiges  Organ  für  das 
Hören  angesehen  Averden  kann 8).  Wie  seine  Vorgänger  hält  er  am 
„Aer  ingenitus"  fest,  der  durch  die  mit  dem  Vorhof  und  der  Schnecke 
kommunizierenden  Bogengänge  ungehindert  im  ganzen  Labyrinthe  leicht 
zirkulieren  könne  9). 

1)  Car  il  n'est  que  cartilagineux  en  dessous  et  membraneux  en  dessus  et  devise 
par  plusieurs  intersections,  dont  la  premiere  est  tournee  en  forme  de  vis  de  devant 
en  arriere.  .  .  .  Les  autres  intersections  sont  ä-peu-pres  de  la  meme  figure  que  celles 
de  la  trachee  artere.    1.  c.  p.  2. 

2)  C'est  par  cette  Ouvertüre  que  l'air  du  tambour  a  communication  avec  celui 
qui  est  contenu  dans  tout  le  labyrinthe;  ce  qui  ne  pourrait  arriver  si  le  trou  ovalaire 
etait  bouche  par  une  membrane  conune  l'on  pretend;  de  plus,  si  ce  trou  etait  toujours 
ferme,  l'air  du  labyrinthe  ne  pourrait  que  tres  faiblement  etre  agite,  et  ainsi  il  ne 
rendrait  qu'un  son  fort  sourd,  de  ruenie  que  ferait  un  tambour,  s'il  n'avait  point  de 
trou.     1.  c.  p.  7. 

3)  „Places  Tun  au-dessus  de  l'autre  s'unissent  ensemble  par  deux  de  leurs  ex- 
tremites,  ä  la  partie  posterieure  moyenne  de  la  röche,  et  ne  fönt,  etant  unis,  qu'un 
trou  ouvert  dans  la  partie  posterieure  de  la  conque  etc.     1.  c.  p.  11. 

4)  „II  semble  ä  la  considerer  par  le  dehors,  qu'elle  ne  soit  coorposee  que  d'un 
seul  canal  de  deux  tours  et  demi,  separes  les  uns  des  autres  par  une  lame  d'os  qui 
d'un  cöte  est  unie  au  moyau  de  la  coquille  et  de  l'autre  aux  parois  de  cette  meme 
cavite;  mais  par  dedans,  la  coquille  est  formee  de  deux  canaux,  Tun  est  anterieur 
et  l'autre  posterieur  qui  sont  separes  les  uns  de  l'autre,  en  partie  par  une  autre  petite 
lame  d'os  extremement  mince,  qui  sort  de  noyau  pyramidal  qui  est  au  milieu  de  la 
coquille  et  en  partie,  par  une  membrane  qui  etant  d'un  cöte  attache  a  cette  petite 
lame  osseuse  s'attache  de  l'autre  aux  parois  de  la  coquille. "     1.  c.  p.  9. 

5)  II  a  trouve  aussi  que  les  deux  rampes  du  limacon  qui  fait  partie  de  l'oreille 
interne,  avaient  communication  entre  elles  ä  leur  extremite  la  plus  etroite  par  un 
petit  trou  rond,  au  travers  duquel  l'air  agite,  passant  et  repassant,  frotte  le  bout  de 
la  membrane  qui  separe  ces  deux  rampes.     1.  c.  \>.  13. 

6)  Le  noyau  de  la  coquille  n'est  point  peree,  quoique  la  partie  rnolle  du  nerf 
s'applique  ä  sa  base,  et  qu'elle  ne  penetre  point  la  coquille.     1.  c.  p.  10. 

7)  Ce  rameau  se  divise  dans  cette  cavite  en  cinq  petites  brancbes,  qui  entrent 
par  les  cinq  ouvertures  dans  les  trois  canaux  circulaires  qu'elles  parcourent  entiere- 
ment.     1.  c.  p.  12. 


G.  Lamy.  105 

8)  La  raembrane  qui  est  dans  la  coquille  n'est  point  Ja  partie  principale  de 
Torgane  de  Fouie,  puisqu'elle  n'a  rien  de  particulier  que  sa  figure  spirale.   1.  c.  p.  10. 

9)  Ces  trois  canaux  etant  ouverts  dans  la  conque.  avec  le  canal  anterieur  de 
la  coquille,   l'air  roule  facilement  dans  toutes  les  cavites  du  labyrinthe.     I.e.  p.  12. 

Gr.  Lamy.  Gleichzeitig  mit  dem  anatomischen  Werke  Merys 
erschien  die  physiologische  Arbeit  seines  Zeitgenossen  und  Freundes 
G.  Lamy,  betitelt  „Explication  mechanique  des  funetions  de  1'äme  sensi- 
sive  ou  Ton  traite  de  l'organe  de  Sens,  des  passions  et  du  mouvemens 
volontaire",  Paris  1677.  In  dieser,  die  Sinnesphysiologie  behandelnden 
Schrift,  die  sich  gegen  Perrault  wendet,  stützt  sich  Lamy  vorzugsweise 
auf  die  nicht  immer  richtigen  Angaben  Merys.  Nach  Lamy  besteht 
im  Ohre  eine  Art  Strömung  (Zirkulation»  der  Luft,  die  durch  den  Gehör- 
gang eintretend,  auf  dem  Wege  der  Fenestra  ovalis  in  den  Vorhof, 
von  da  in  die  Bogengänge  und  Schnecke  gelange,  von  wo  sie  durch  das 
runde  Fenster  (Fen.  Cochleae)  in  die  Trommelhöhle  zurückkehre  und 
durch  die  Tuba  Eustachii  entweiche. 

Außer  den  Genannten  wären  noch  einige  französische  Autoren  von  geringerer 
Bedeutung  anzuführen:  Nicolaus  Habicöt  (f  1624),  Anatom  und  Chirurg  am 
Hötel-Dieu,  ein  heftiger  Gegner  Rio] ans,  hält  sich  im  ganzen  an  Falloppio  und 
bringt  nichts  wesentlich  Neues.  In  seiner  „Semaine  ou  pratique  anatomique"  ')  liefert 
er  eine  eingehende,  aber  unklare  Abhandlung  über  das  Gehörorgan.  In  dieser  werden 
außer  Blutgefäßen  am  Trommelfelle  vier  Gehörknöchelchen  und  vier  Bänder  derselben 
erwähnt,  von  denen  zwei  dem  Hammer  und  Steigbügel,  zwei  dem  Amboß  zugehören 
sollen,  die  aber  unseren  heutigen  anatomischen  Kenntnissen  nicht  entsprechen. 

Mehr  leistete  Theophile  Gelee  aus  Dieppe,  der  die  Synovialkapsel  der 
Gehörknöchelchen  genauer  beschrieb'-').  In  seiner  Anatomie :i)  gibt  er  eine  gute  Be- 
schreibung der  Gehörknöchelchen  und  ihrer  gelenkigen  Verbindungen.  Nach  ihm 
sind  die  Gehörknöchelchen  beim  Neugeborenen  ebenso  groß  wie  beim  Erwachsenen, 
in  ihrer  Mitte  jedoch  mehr  weich  und  fast  knorpelig4). 

Von  den  teils  anatomischen5),  teils  physiologischen 6)  Abhandlungen  des  Jean 
Baptiste  Hamel  ist  nur  die  eine  Tatsache  erwähnenswert,  daß  er  die  Schnecke 
für  das  eigentliche  Apperzeptionsorgan  hält 

Noch  wären  aus  dieser  Periode  anzuführen  Gebert  Puylon,  der  das  Trommel- 
fell für  die  trockenste  Membran  erklärte  (Paris  1641),  und  Nicolas  Papin,  Onkel 
des  berühmten  Isaac  Papin,  der  über  das  Ohrenschmalz  schrieb,  die  Ohrenschmalz- 
drüsen jedoch  nur  oberflächlich  kannte7). 

1)  Semaine  ou  pratique  anatomique  par  laquelle  est  enseigne  par  lecons  le 
moyen  de  les  assembler  les  parties  du  corps  humain.     Paris  1610,  1630,  1660. 

2)  S.  Lieutand,  Zergliederungskunst  Bd.  I,  p.  73. 

3)  L'Anatomie  Francaise  en  forme  d'Abrege,  recueillie  des  meilleurs  Auteurs 
qui  ont  ecrit  sur  cette  science.     Lyon  1635,  Paris  1656. 

4)  Ils  sont  quelque  peu  plus  mols  et  comme  cartilagineux  en  leur  miteau,  qui 
est  cause,  que  les  enfants  n'oient  pas  si  bien.     p.  36. 

5)  De  cor]3orum  affectionibus  .  .  .  libri  duo.     Paris  1670. 

6)  De  corpore  animato  1.  IV.     Paris  1673. 

7)  Prolusio  de  aurium  ceruminis  usu  invento  (Saumur  1648). 


196  Gassendus.     Mersenne. 


Die  Physiologie  des  Gehörsinnes  fand  in  diesem  Zeiträume  im  Gegen- 
satze zu  der  weiter  vorgeschrittenen  physiologischen  Optik  nur  geringe  Förderung, 
weil  die  damals  neu  gefundenen  akustischen  Gesetze  nur  in  geringem  Maße  auf  das 
Gehörorgan  angewendet  wurden. 

Von  den  in  dieser  Zeitperiode  die  Akustik  fördernden  Physikern  seien  erwähnt: 
Petrus  Gassendus  (1592 — 1655),  der  die  Schnelligkeit  der  Fortpflanzung  des 
Schalles  zu  bestimmen  suchte  und  sie  auf  1473  Fuß  in  der  Sekunde  festsetzte. 

Mersenne  (1588 — 1648),  der  in  seiner  „Harmonie"  (Paris  1644)  Theorien  über 
den  Schall,  Schnelligkeit  der  Fortpflanzung,  Zahl  der  Schwingungen,  Ursachen  der 
Verschiedenheit  der  Töne  u.a.  mitteilte.  Mersenne,  ein  Schüler  Galileis,  wußte, 
daß  die  Tonhöhe  durch  die  Schwingungszahl  bedingt  sei  und  kannte  bereits  die 
Obertöne  (1618).  Er  war  einer  der  ersten,  der  die  therapeutische  Anwendung  von 
Tönen  empfahl. 

Damit  schließt  die  sterile  Zeitperiode  der  Ohranatomie.  Bald 
genug  jedoch  tritt  ein  hervorragender  französischer  Forscher  auf  den 
Plan,  mit  dem  eine  neue  glänzende  Aera  der  otologischen  Wissenschaft 
beginnt: 

Duverney. 

Guichard  Joseph  Duverney  (1648 — 1730)1),  dessen  Name  einen 
Markstein  in  der  Geschichte  unseres  Fachs  bedeutet,  wurde  als  Sohn  eines 
Arztes  am  5.  August  1648  zu  Feurs  en  Forez,  einer  alten  kleinen  Stadt 
am  rechten  Ufer  der  Loire,  geboren.  Er  entstammte  einer  uralten  adeligen 
Familie,  die  am  Ende  des  13.  Jahrhunderts  das  Schloß  du  Verney  zu 
Saint-Galmier  besaß.  Schon  mit  19  Jahren  erwarb  Duverney  nach 
fünfjährigem  Studium  zu  Avignon  den  Doktortitel,  worauf  er  sich 
nach  Paris  begab.  Dort  fiel  er  bald  durch  seine  glänzenden  Talente  auf 
und  erhielt  die  Stelle  eines  Demonstrators  am  Jardin  du  roi,  avo  er  zugleich 
mit  seinem  Schüler  Pierre  Dionis,  dem  Arzte  Ludwigs  XIV.,  wirkte 
und  vor  einem  vornehmen  Publikum  außer  den  Entdeckungen  fremd- 
ländischer Anatomen  auch  die  Resultate  seiner  eigenen  anatomischen 
Arbeiten  demonstrierte.  Durch  seine  außerordentliche  Gelehrsamkeit,  die 
geistreiche  Behandlungsweise  des  sonst  trockenen  Stoffes,  durch  sein 
hervorragendes  Rednertalent,  das  noch  eine  Stütze  im  Zauber  seiner 
Persönlichkeit  fand,  erwarb  er  nicht  nur  eine  weitreichende  Berühmt- 
heit, sondern  erregte  in  hohem  Grade  das  Interesse  für  die  anatomi- 
sche Wissenschaft  in  Kreisen,  die  diesem  Fache  bisher  geringschätzend 
gegenüberstanden2).  In  den  höchsten  Ständen  wurde  es  Mode,  seine 
Vorlesungen  zu  besuchen,  ja  Bossuet  bestimmte,  daß  Duverney  auch 
den  Dauphin  in  der  Anatomie  unterrichte 3)  und  kreierte  somit  die 
Stellung  eines  Hofanatomen ,  die  bis  zur  Revolutionszeit  bestand  und 
zuletzt  mit  dem  trefflichen  Historiographen  Portal  besetzt  war. 

Das  Interesse,  welches  Duverney  in  den  höchsten  Kreisen  erwarb, 
kam  der  anatomischen  Forschung   an    der  Pariser  Schule  zu  gute.     Ge- 


Duverney.  197 

fördert  durch  königliche  Freigebigkeit,  hatte  Duverney  wie  schon  vor 
ihm  Perrault  Gelegenheit,  die  seltensten  Tiere,  die  für  den  könig- 
lichen Garten  angeschafft  wurden,  zu  zergliedern  und  die  vergleichende 
Anatomie  durch  neue  Entdeckungen  zu  bereichern. 

Im  Jahre  1674  wurde  er  zum  Mitglied  der  1665  von  Colbert 
gegründeten  Academie  royale  des  sciences  ernannt,  die  vorwiegend  die 
Naturwissenschaften  pflegte.  Von  1679  an  hielt  er  im  Jardin  royal  als 
Professor  der  Anatomie  Vorlesungen.  Wie  trefflich  er  dieses  Amt  versah, 
beweist  die  stattliche  Schar  berühmter  Schüler  in  beredter  Weise. 

Duverney  kann  mit  Recht  als  der  Begründer  der  französischen 
anatomischen  Schule  des  18.  Jahrhunderts  angesehen  werden,  aus  der 
Männer  wie  Dionis,  Winslow,  Senac,  Petit  u.  a.  hervorgingen. 
Außer  der  Lehrtätigkeit  galt  sein  erstaunlicher  Fleiß  denJArbeiten  für  die 
Akademie,  die  sich  auf  die  mannigfaltigsten  anatomischen  und  physio- 
logischen Themen  bezogen  und  insbesondere  die  vergleichende  Anatomie 
förderten.  Dem  letztgenannten  Zwecke  diente  auch  seine  von  der 
Akademie  verfügte  Entsendung  nach  der  Bretagne  und  nach  Bayonne, 
wo  er  viele  ergebnisreiche  Zergliederungen  von  Fischen  vornahm.  Erst 
im  beginnenden  Alter  zog  er  sich,  erschöpft  durch  die  rastlose  Arbeit, 
für  mehrere  Jahre  von  der  Akademie  zurück,  erschien  aber  1728, 
80  Jahre  alt,  neuerdings,  um  wieder  an  vergleichenden  anatomischen 
Arbeiten  teilzunehmen.  Zwei  Jahre  später  (10.  September  1730)  starb 
er,  betrauert  von  den  Fachgenossen  aller  Länder,  mit  deren  bedeutendsten 
Vertretern,  wie  Malpighi,  Ruysch,  Bidloo,  Boerhaave,  er  in 
wissenschaftlichem  Verkehre  stand. 

Die  Arbeiten  Duverneys  zeichnen  sich  durch  Kürze,  Reichtum 
des  Inhalts,  musterhafte  Genauigkeit  und  Schärfe  des  Urteils  aus.  Mit 
besonderer  Vorliebe  widmete  er  sich  der  Erforschung  des  Gehör- 
organs. Selbst  auf  seinen  wissenschaftlichen  Reisen  stellte  er  genaue 
Untersuchungen  über  das  Gehör  der  Fische  an  und  noch  kurz  vor  seinem 
Tode  bereitete  er  mit  Winslow  eine  neue  Ausgabe  seines  Hauptwerkes 
über  das  Gehörorgan  vor.  „Traite  de  Torgane  de  Tome"  betitelt,  er- 
schien es  im  Jahre  1683  und  übertraf  alle  Erwartungen.  Es  erlangte 
eine  große  Verbreitung  und  wurde  auch  ins  Deutsche  (Berlin  1732), 
Englische  und  Lateinische  (Norimberg  1684,  Lugd.  Batav.  1732)  übersetzt. 
Wie  der  Titel4)  besagt,  behandelt  das  im  Vergleich  zu  anderen  und  im 
Verhältnisse  zu  seinem  Inhalt  erstaunlich  kurz  gefaßte  Werk  die  Ana- 
tomie, Physiologie,  Pathologie  und  Therapie  des  Gehörorgans. 

Seiner  Bedeutung  entsprechend  wollen  wir  in  folgendem  eine  kurze 
Analyse  desselben  geben. 


[98  Duverney. 

a)  Die  Anatomie  Duverneys. 

Der  erste  Teil  des  in  drei  Abschnitte  zerfallenden  Werkes  be- 
handelt die  Anatomie  des  Ohres  und  enthält  16  Tafeln  teils  guter, 
teils  mißlungener  Abbildungen.  Hier  ist  die  Ohranatomie  in  einer  so 
klaren,  übersichtlichen,  geordneten  Weise  beschrieben,  daß  das  Werk 
noch  heute  für  das  anatomische  Studiuni  mit  Nutzen  verwendet  werden 
kann.  In  Bezug  auf  die  Darstellung  ist  es  nur  mit  dem  seinerzeit 
epochalen  Meisterwerke  F  a  1 1  o  p  p  i  o  s  zu  vergleichen,  das  allerdings  eine 
größere  Fülle  neuer  Tatsachen  umfaßte. 

D  uverneys  Anatomie,  obwohl  nicht  reich  an  eigenen,  neuen  Ent- 
deckungen, ist  ein  Werk  in  modernem  Geiste;  es  faßt  zum  ersten  Male 
die  Forschungsergebnisse  abgerundet  und  wohlgesichtet  zusammen,  es 
verbreitet  ein  ganz  neues  Licht  über  das  schon  früher  Bekannte  und 
verrät  in  jeder  Zeile  die  Exaktheit  der  Forschung,  indem  es  nur  sichere 
Tatsachen  mitteilt,  alles  Unklare  aber  der  Zukunft  überläßt. 

Duverney   teilt    das    Gehörorgan   in   ein    äußeres,    welches    die 

Ohrmuschel,  den  Gehörgang  und  das  Trommelfell  in  sich  begreift,  und  ein 

inneres,  zu  dem  er  die  Trommelhöhle,  den  Warzenteil,  die  Eustachische 

^^^  Röhre  und  das  Labyrinth  rechnet.      Die  Ohr- 

fV^s^S.  muschel   wird  ausführlich  beschrieben,    ohne 

)j  daß  der  Leser  mit  den  zahlreichen  Benennungen 

,1  j    V^V\       ermüdet    würde ,    welche    die    meisten    Autoren 
V"-^^1      vor  ihm  aufzählen.    Die  Muskeln   des  Tragus 
^^Vv  und    Antitragus    werden    nicht    erwähnt.     Hin- 

^^  gegen  ist  hier  zum  ersten  Male  das  Ligament. 

Fig.  9.    Pars  tympanica  des      auric.    posterior    beschrieben    und    die    Gefäße, 

knöchernen      Gehorganges      Arterien  und  Venen,  sowie  Nervenverzweigungen 
beim  Erwachsenen.  1  hotogr.  ,  °         , 

Reproduktion   ausDuver-      der  Ohrmuschel  abgebildet5).    Ebenso  klar  schil- 

™V  .?TBrai#  /?/°i.gan„e      dert  er  den  Gehörgang,  „le  trou  de  l'oreille", 
de  louie  .    Taf.  IV,  Fig.  2.         ...  .  . 

hinsichtlich  seiner  Länge,  Richtung  und  Struk- 
tur''), wobei  namentlich  hervorzuheben  ist,  daß  Duverney  die  Ceru- 
mi  naldrüsen 7)  als  kleine  in  die  Cutis  eingesenkte,  gelbe  Drüschen 
beschreibt,  ohne  jedoch  in  Ermanglung  mikroskopischer  Untersuchung 
auf  ihre  feinere  Struktur  näher  einzugehen.  Ob  er  die  in  seinem  Werke 
abgebildeten  Inzisuren  des  äußeren  Gehörgangs8)  vor  Mery  (s.  S.  193) 
gekannt  hat,  läßt  sich  nicht  entscheiden.  Bei  der  Beschreibung  des 
Trommelfells  weist  er  darauf  hin,  daß  die  Furche  des  Annulus  tym- 
panicus  am  vorderen,  oberen  Pole  der  Zirkumferenz  des  Knochenrahmens 
fehlt9).  Duverney  ist  der  erste,  der  den  vom  Annulus  tympanicus 
hervorgegangenen  Teil  des  knöchernen  Gehörganges  (pars  tym- 
panica) beschreibt  und  gesondert  abbildet  (Fig.  9).     Die  Kommunikation 


Duverney.  199 

der  Trommelhöhle  mit  den  Zellen  des  Warzenfortsatzes  wird  durch 
Beschreibung  und  Abbildung  zum  ersten  Male  sichergestellt.  Auch  der 
Recessus  epitympanicus  ist  .ihm  nicht  entgangen;  er  schildert 
ihn  als  eine  Einsenkung  (enfoncement)  im  oberen  Trommelhöhlenraum, 
in  welchem  die  Köpfe  der  Gehörknöchelchen  liegen  (logez).  Die  Be- 
schreibung der  Ohrtrompete,  die  auch  er  noch  als  Aquädukt  be- 
zeichnet10), entspricht  der  des  Eustachio,  doch  ist  sie  hier  zum  ersten 
Male  im  Zusammenhange  mit  der  Ansicht  der  inneren  Trommelhöhlen- 
wand gut  abgebildet.  (Taf.  8  Fig.  2.)  Er  weiß,  daß  die  Schleimhaut  des 
knorpeligen  Teiles,  welche  die  Fortsetzung  der  Nasenschleimhaut  darstellt, 
zahlreiche  Drüsen  enthält *  x),  daß  der  Tubenwulst  an  der  Rachenmündung 
der  Ohrtrompete  von  einer  halbmondförmigen  Verdickung  der  Knorpel- 
platte gebildet  wird  und  daß  die  Außenfläche  der  Tube  von  einem 
Muskel  bedeckt  wird,  der  den  Rachen  erweitert. 

Am  Ende  des  Ganges  (der  Nische)  des  ovalen  Fensters  be- 
schreibt er  einen  blättrigen  Rand  (feuillure),  an  dem  sich  die  Basis  des 
Steigbügels  ansetzt.  Die  Membran  des  runden  Fensters  sei  in  eine 
ähnliche  Furche  eingefalzt12)  wie  das  Trommelfell.  An  der  lateralen 
Gelenkfläche  des  Hammers,  die  erst  später  durch  Helmholt z  physio- 
logisch gewürdigt  wurde,  beobachtete  er  zwei  Erhabenheiten  und  eine 
Höhlung  zur  Artikulation  für  den  Amboß.  Viel  genauer  als  bei  den 
früheren  Autoren  ist  die  Lagerung  des  kurzen  Amboßfortsatzes13) 
am  Eingange  des  Antrum  mastoideum  und  seine  Befestigung  mittels  eines 
Bandes  dargestellt.  Nach  Duverney  besitzen  die  Gehörknöchelchen  kein 
Periost,  noch  deren  Gelenksflächen  einen  Knorpelüberzug14).  Hammer 
und  Amboß  werden  durch  mehrere  von  außen  in  ihr  Inneres  eintretende 
Gefäße  versorgt.  Von  den  inneren  Ohrmuskeln  sind  Form  und  Lage 
des  Hammer-  und  Steigbügelmuskels  richtig  wiedergegeben.  Hingegen 
beschreibt  er  gleich  mehreren  seiner  Vorgänger  als  Antagonisten  des 
Trommelfellspanners  einen  „äußeren  Hammermuskel ",  der  nach  unseren 
heutigen  Kenntnissen  mit  dem  vorderen  Hammerbande  identisch  ist.  Die 
Chorda  wird  als  Ast  der  Portio  dura  (facialis)  des  fünften  Nervenpaares 
bezeichnet.  Die  Lageverhältnisse  der  einzelnen  Teile  in  der  Trommel- 
höhle sind  richtig  wiedergegeben. 

Ein  großes  Verdienst  erwarb  sich  Duverney  durch  die  sorgfältige 
Beschreibung  des  knöchernen  Labyrinths  und  man  darf  ihm  mit 
vollem  Rechte  nachsagen,  daß  er  hier  alles  leistete,  was  mit  den  da- 
maligen Präpariermethoden  überhaupt  zu  erzielen  war.  Auch  die  dem 
Werke  beigefügten  Abbildungen  des  Labyrinths  sind  bis  auf  einige  Details 
ziemlich  gelungen.  Der  Vorhof ir')  und  seine  Verbindungen  mit  den  drei 
halbzirkelförmigen  Kanülen  li;),  die  in  einen  oberen  (Je  supeneur"), 
mittleren    („le    mitoyen")    und    unteren    ( ..l'inferieur)    geschieden    werden, 


200  Duverney. 

die  Schnecke17)  mit  ihren  zweieinhalb  Windungen,  der  Spindel18)  und 
der  knöchernen  und  membranösen  Spirallamelle10)  sind  in  einer  so  aus- 
gezeichneten Weise  dargestellt,  daß  -die  spätere  Zeit  kaum  etwas  hinzu- 
fügen konnte.  Von  Einzelheiten  verdient  folgendes  mitgeteilt  zu  werden. 
Die  fünf  Mündungen  der  Bogengänge  im  Vestibulum  werden  zum  ersten 
Male  in  einwandfreier  Weise  bildlich  dargestellt.  Duverney  weiß,  daß 
die  knöcherne  Spirallamelle  schon  im  Vestibulum  beginnt  und  die  mem- 
branöse  dünner  ist  und  in  einer  tieferen  Ebene  verläuft,  daß  die  untere 
Treppe  in  die  Trommelhöhle,  die  obere  ins  Vestibulum  führt.  Irrtüm- 
lich hingegen  ist  seine  Behauptung,  daß  die  von  Mery  nachgewiesene 
Kommunikation  der  beiden  Schneckentreppen  an  der  Spitze  der  Schnecke 
nicht  besteht.  Spindel  und  Schneckenspirale  werden  gesondert 
abgebildet,  an  der  ersteren  sind  die  Durchtrittstellen  der  Nervenbündel 
von  der  Spindel  in  die  Spirallamelle  durch  kleine  zahlreiche  Löchel- 
chen markiert  (Taf.  10  Fig.  5).  Besonders  hervorzuheben  ist,  daß  auch 
die  makroskopisch  nachweisbaren  Gefäß-  und  Nerven  Verzwei- 
gungen20) im  Labyrinthe,  ebenso  der  Verlauf  der  Schneckenarterie  und 
der  Vorhofsgefäße,  meist  richtig  wiedergegeben  sind.  Doch  scheint  es 
kaum  glaublich,  daß  Duverney  die  Gefäße  an  der  Auskleidung  der 
Bogengänge  in  so  subtiler  Weise  präpariert  hat,  wie  es  die  Abbildungen 
zeigen  (Taf.  10  Fig.  8).  Es  ist  vielmehr  wahrscheinlich,  daß  er  die  aus 
dem  knöchernen  Labyrinthe  mit  ihren  Gefäßen  im  Zusammenhange  heraus- 
gezogenen membranösen  Bogengänge  für  die  gefäßhaltige  Auskleidung 
des  Labyrinthes  ansah.  Vom  Hörnerv21)  kannte  er  nicht  bloß  den 
Ursprung  im  Gehirne,  den  Verlauf  im  inneren  Gehörgange,  die  Teilung 
in  Vorhof-  und  Schneckennerv,  sondern  er  verfolgte  auch  diesen  bis 
zur  Lamina  spiralis  und  jenen  zu  seinen  Zweigen  für  die  Ampullen  der 
Bogengänge22).  Die  Schnecke,  sowie  Vorhof  und  Bogengänge  glaubte  er 
von  einer  Membran  ausgekleidet,  die  mit  den  Nervenendigungen  in  Kon- 
takt steht.  Von  den  membranösen  Gebilden  des  Vorhofs  (Utriculus, 
Sacculus)  und  der  Bogengänge,  die  erst  von  Scarpa  und  Breschet 
beschrieben  wurden,  hatte  Duverney  nicht  die  geringste  Kenntnis. 

Der  innere  Gehörgang,  in  den  der  Hörnerv  eintritt,  verläuft  im 
Felsenbeine  von  vorn  nach  hinten  und  bildet  einen  Blindsack,  dessen 
Ende  zum  Teile  an  die  Schneckenbasis,  zum  Teile  an  die  innere  Vesti- 
bularwand  grenzt.  Eine  Querleiste  am  Grunde  des  Ganges  trennt  die 
Schneckenbasis  von  der  Oeffnung,  in  welche  die  „portion  dure"  (facialis) 
eintritt.  Wir  haben  hier  eine  Schilderung,  der  wir  heute  nichts  hinzu- 
zufügen vermögen. 

Ein  Anhang  zum  anatomischen  Traktat  enthält  die  Aufzählung 
der  wichtigsten  Unterscheidungsmerkmale  des  fötalen  Ohres  von  dem 
des  Erwachsenen.     Irrtümlich   läßt   er   den   späteren   knöchernen  Gehör- 


Duverney.  201 

gang  aus  einem  membranösen  Kanal  hervorgehen.  Von  diesem  getrennt 
sei  der  Trommelfellring.  Die  Tuba  Eustachis  sei  beinahe  ganz  mem- 
branös;  ihren  knorpeligen  Anteil  hat  Duverney  beim  fötalen  Ohre 
übersehen.  Der  obere  Bogengang  und  ein  Teil  des  unteren  ragen  so 
weit  an  der  Oberfläche  der  Pyramide  hervor,  daß  sie  ohne  jede  Prä- 
paration wahrgenommen  werden  könnten.  Das  Trommelfell  sei  von  einer 
schleimigen  Masse  bedeckt,  welche  sich  in  eine  Membran  eindichte,  die 
mit  der  Zeit  verschwinde24).  Auf  der  oberen  Fläche  der  Pyramide  sei 
ferner  im  Verlaufe  des  Canalis  facialis  ein  Loch  (Hiatus  canalis  facialis ?), 
das  am  fötalen  Knochen  sehr  weit,  aber  auch  beim  Erwachsenen  sicht- 
bar sei.  Die  Schuppe  könne  von  der  Pyramide  leicht  getrennt  werden; 
der  Warzenfortsatz  endlich  erscheine  ganz  klein. 

Rattel  hebt  in  seiner  Biographie  hervor,  daß  Duverney25) 
nahe  der  Entdeckung  des  Labyrinthwassers  gewesen,  da  er  oft  das  Vesti- 
bulum,  Bogengänge  und  Schnecke  mit  zäher  Flüssigkeit  erfüllt  gefunden 
habe  und  verschiedener  Flüssigkeiten  und  Feuchtigkeiten  gedenkt,  die 
in  den  inneren  Höhlen  vorhanden  waren  und  Ursache  der  Taubheit  ge- 
wesen  wären.  Wir  können  uns  der  Meinung  Ratteis  nicht  anschließen, 
da  Duverney  diese  Labyrinthflüssigkeit  für  pathologisch  ansah  und 
müssen,  da  auch  seine  Beschreibung  nicht  unzweideutig  ist,  Cotugno 
allein  den  Ruhm  zuerkennen,  umsomehr,  als  Duvernev  noch  an  dem 
„aer  ingenitus"   (l'air  implante)  festhält. 

Diese  kurze  Skizze  des  ersten  Abschnittes  von  Duverney s  Werk' 
dürfte  genügen,  den  hohen  Wert  seines  anatomischen  Teiles  zu  charakteri- 
sieren. Die  otologischen  Arbeiten  des  folgenden  Jahrhunderts  liefern  den 
Beweis,  welch  wichtige  und  einflußreiche  Stelle  diesem  Buche  in  dem 
Entwicklungsgänge  der  Otologie  zukommt. 


b)  Die  Hörphysiologie  Duverneys. 

Auch  die  gehörphysiologischen  Anschauungen  Duverneys  sind, 
ebenso  wie  seine  anatomischen  Leistungen,  von  einer  überraschenden  Klar- 
heit der  Auffassung  und  der  Darstellung.  Wir  werden  sehen,  daß  die 
von  Helmholtz  entwickelte  Hörtheorie  sich  in  großen  Zügen  bereits 
bei  Duverney  angedeutet  findet.  Hierzu  wurde  er  durch  seine  Ver- 
bindung mit  dem  berühmten  Physiker  Mariotte  befähigt,  da  er  zur 
Einsicht  kam,  daß  die  Beherrschung  der  Anatomie  allein  zur  Entwicklung 
einer  Hörtheorie  nicht  ausreiche20). 

In  den  ersten  Kapiteln  des  zweiten  Teiles  seines  Traktats  handelt 
er  über  den  Nutzen  der  Ohrmuschel,  des  Gehör  ganges  und  der 
äußeren  Ohrmuskel.  Der  Gehörgang  sei  schief,  nicht  bloß  um  das 
Trommelfell  vor  den  schädlichen  Einflüssen  der  atmosphärischen  Luft  zu 


Duverney. 

schützen,  sondern  weil  hierdurch  auch  eine  größere  Oberfläche  erzielt 
würde  und  mehr  Reflexionen  der  Schallstrahlen  erfolgen  könnten.  Er 
glaubt,  daß  die  äußeren  Ohrmuskeln  im  stände  seien,  je  nach  der  Heftig- 
keit des  einwirkenden  Schalles  die  Concha  auriculae  zu  verengern  oder 
zu  erweitern. 

Von  größerem  Interesse  ist,  was  er  über  die  Funktion  des  Trommel- 
fells, der  Gehörknöchelchen  und  des  Labyrinths  sagt.  Vorerst  be- 
merkt er,  daß  das  Trommelfell  zum  Hören  nicht  absolut  notwendig 
sei,  doch  werde,  wie  Tierversuche  beweisen,  das  Hören  bei  seiner  Zer- 
störung oder  Durchbohrung  allmählich  schwächer,  und  verliere  sich  endlich 
ganz.  Der  Grund  liege  darin,  daß  das  Trommelfell  die  anderen  Teile 
des  Organes  vor  äußeren  Schädlichkeiten  schütze. 

Duverneys  Ansichten  über  die  Art  der  Gehörswahrnehmung  be- 
ruhen auf  dem  physikalischen  Gesetze  des  Mittön ens. 

Von  diesem  Grundprinzip  leitet  er  alles  ab  und  verweist  auf  folgendes  treffendes 
Beispiel :  On  sait  que  quand  on  met  deux  luths  sur  une  table  et  que  l'on  pince  une 
corde  de  Tun  de  ces  luths,  si  Ton  veut  qu'une  corde  de  l'autre  luth  se  mette  en 
mouvement,  il  faut,  de  necessite,  qu'elle  seit  montee  ä  l'unisson  avec  celle  que  Ton 
pince ,  ou  ä  l'octave ,  ou  ä  quelques  autres  accords ,  cornme  la  double  octave,  ou  la 
quinte ,  ou  Ja  quarte,  autrement  eile  fait  bien  ä  la  verite  quelques  trernblements, 
mais  il  sont  tres  faibles  et  jamais  ils  ne  sont  sensibles  (1.  c.  II  Part,  p.  65). 

Das  Trommelfell  kann  durch  Wirkung  der  Hammermuskeln  in  ver- 
schiedene Spannungszustände  gebracht  werden,  welche  den  eben  ein- 
wirkenden Tönen  entsprechen.  Wäre  dies  nicht  der  Fall,  so  wäre  es 
nicht  geeignet  (nach  Analogie  des  obigen  Beispiels)  die  verschiedenen 
Schwingungsarten  der  Luft  auch  entsprechend  zu  übertragen,  d.  h.  die 
Spannung  der  Membran  des  Trommelfells  muß  sich  sozusagen  den  Schallen 
resp.  Tönen  akkommodieren,  ebenso  wie  eine  Saite  des  einen  Instruments 
in  dem  Ton  der  Saite  eines  anderen  am  besten  mitklingt,  wenn  sie  die- 
selbe Spannung  hat.  Man  dürfe  also  schließen,  daß  die  Membrana  tym- 
pani  sich  in  ihren  verschiedenen  Spann ungszuständen  gewissermaßen  nach 
den  verschiedenen  Zuständen  der  schallenden  Körper  richte,  daß  sie  z.  B. 
für  hohe  Töne  mehr  gespannt,  für  tiefe  dagegen  mehr  erschlafft  werde, 
weil  sie  in  diesem  Zustand  für  die  entsprechenden  Schwingungen  geeig- 
neter sei.  Duverney  spricht  also  von  einer  Akkommodation  des  Trommel- 
fells, womit  schon  gesagt  ist,  daß  er  nicht  an  eine  willkürlich  regelbare 
Aktion  des  Hammermuskels  glaubt.  Diese  leugnet  er  entschieden  und 
meint  vielmehr,  daß  der  Muskelapparat,  wie  wir  jetzt  sagen  würden,  reflek- 
torisch wie  die  Irismuskulatur  in  Aktion  gesetzt  werde.  Diese  Theorie, 
so  scharfsinnig  sie  auch  erscheinen  mag,  gilt  heute  als  überwunden, 
da  wir  wissen,  daß  das  Trommelfell  Schwingungen  der  verschiedensten 
Tonhöhe    nicht    nur    nacheinander,    sondern    gleichzeitig    aufnimmt    und 


Duverney.  203 

ohne  Aktion  der  Binnenmuskel  des  Ohres  auf  die  Gehörknöchelchen 
überträgt. 

Die  Fortpflanzung  der  Trommelfellschwiugungen  zum  Labyrinthe 
geschehe  vorzugsweise  durch  Hammer,  Amboß  und  Steigbügel,  in  ge- 
ringerem Maße  durch  die  Luft  der  Trommelhöhle  zum  runden  Fenster  und 
zur  Spiralmembran  der  Schnecke.  Diese  Theorie  gilt  auch  jetzt  als  die 
allein  richtige  gegenüber  der  von  Pascal  und  einigen  modernen  Oto- 
logen,  die  nur  die  Schallfortpflanzung  durch  die  Luft  der  Trommelhöhle 
gelten  lassen  wollen.  Dem  Steigbügelmuskel  Avird  von  Duverney 
irrtümlich  eine  ähnliche  Wirkung  wie  dem  Tensor  tympani  zugeschrieben, 
da  nach  ihm  die  Membran  der  Fenestra  ovalis  (vestibuli)  in  ebensolche 
Spannungszustände  wie  das  Trommelfell  gebracht  werde.  Heute  wissen 
wir,  daß  der  M.  stapedius  ein  Antagonist  des  Tensor  tympani  ist.  Der 
Verbindungskanal  zwischen  Trommelhöhle  und  Warzenfortsatz  diene  dazu, 
der  Luft  einen  Weg  zum  Ausweichen  zu  bieten,  wenn  sie  durch  Span- 
nung des  Trommelfells  komprimiert  würde,,  während  die  Tuba  Eustachii 
neue  Luft  der  Trommelhöhle  zuführe,  damit  sie  ihre  Elastizität  nicht  ein- 
büße. Von  den  Gehörknöchelchen  aus  wird  der  Schall  vermittels  des 
ovalen  Fensters  zum  Vorhof  und  der  darin  eingeschlossenen  („ein- 
geborenen") Luft  und  endlich  zur  Schnecke,  sowie  zu  den  halbzirkel- 
förmigen  Kanälen  geleitet. 

Die  Annahme,  daß  manche  Taube,  deren  Trommelfell  nicht  funktio- 
niert, ein  Saiteninstrument  durch  die  Ohrtrompete  zu  hören  vermögen, 
erklärt  er  für  unrichtig,  und  führt  vielmehr  diese  Tatsache  auf  die  Kopf- 
knochenleitung zurück.  Jene  Menschen  hören  nach  Duverney  den 
Ton  nicht,  oder  nur  sehr  schwach,  wenn  sie  das  Instrument  vor  dem  ge- 
öffneten Munde  halten,  hingegen  sehr  stark,  wenn  sie  es  mit  den  Zähnen 
fassen.  Die  Schwingungen  würden  eben  durch  die  Zähne  auf  die  Mandi- 
bula,  von  dieser  auf  das  Schläfebein,  die  Gehörknöchelchen  und  auf  das 
Labyrinth  übertragen.  Ein  Normalhörender  vernehme  in  diesem  Falle 
den  Ton  besser,  wenn  er  sich  das  Ohr  zuhalte.  Auch  gebe  es  gewisse 
Schwerhörige,  die  besser  hören,  wenn  man  über  ihrem  Kopfe  spreche, 
woraus  deutlich  hervorgehe,  daß  der  ganze  Schädel,  das  Schläfebein  und 
alles  andere  nach  und  nach  in  Schwingungen  versetzt  werde. 

Der  wertvollste  Teil  der  Duverney-Mariotteschen  Hörtheorie 
liegt  in  der  Bedeutung,  die  dem  Labyrinth  für  die  distinkte  Schallwahr- 
nehmuno- resj).  Tonperzeption  zugewiesen  wird.  Auch  heute  noch  dürfte 
dieser  Abschnitt  von  jedem  mit  Genuß  und  Interesse  gelesen  werden; 
denn  selten  wohl  wurde  eine  schwerwiegende  Hypothese  mit  solcher 
Klarheit  und  Einfachheit  vorgetragen.  Zudem  beruhen  alle  Folgerungen 
fast  auf  denselben  Grundsätzen  wie  die  Helmholtzsche  Theorie. 

Als  unmittelbares  Perzeptionsorgan  gelten  ihm  die  Schnecke  und  die 


■_>n  |  Duverney. 

Bogengänge,  resp.  in  der  Schnecke  die  Lamina  spiralis.  Diese  faßt  er 
gleichsam  als  ein  musikalisches  Instrument  auf,  das  dazu  diene,  die 
Töne  abzumessen  und  ihre  Unterschiede  bemerkbar  zu  machen.  Sie  sei 
nicht  bloß  geeignet,  die  Schwingungen  der  Luft  aufzunehmen,  sondern 
ihre  Struktur  lasse  schließen,  daß  sie  auch  mit  den  verschiedenen 
Schwingungsarten  korrespondieren  könne.  Denn  im  Beginne  der  ersten 
Windung  verhältnismäßig  breit,  verschmälern  sie  sich  gegen  das  Ende 
zu  immer  mehr  und  mehr,  und  man  könne  annehmen,  daß  die  breitesten 
Teile,  welche,  gesondert  von  den  anderen,  allein  erschüttert  werden,  lang- 
samer schwingen  und  somit  den  tiefen  Tönen  entsprechen,  während  die 
schmäleren  Partien,  wenn  sie  erschüttert  werden,  schneller  schwingen 
und  somit  den  hohen  Tönen  entsprechen,  d.  h.  diese  leiten  und  perzi- 
pieren28).  Man  sieht  also  auch  hier  wieder  das  Grundgesetz  vom  Mit- 
tönen angewendet.  Bekanntlich  hat  auch  Helmholtz  die  Struktur  der 
Basalmembran  in  ganz  ähnlicher  Weise  für  seine  Hörtheorie  benützt. 
Der  große  Unterschied  besteht  nur,  abgesehen  von  der  histologischen 
Begründung,  darin,  daß  gegenwärtig  die  Perzeption  der  hohen  Töne  in 
die  Basalwindung,  die  der  tiefen  Töne  in  die  oberen  Windungen  verlegt 
wird  und  daß  Duverney  nicht  die  Lamina  spiralis  resp.  die  Schnecke 
allein  zum  unmittelbaren  Gehörorgan  macht,  sondern  die  Bogengänge  als 
gleichberechtigt  partizipieren  läßt. 

Die  Gründe  für  die  letztere  Annahme  sind  folgende.  Erstens  hätten 
Vögel  und  Fische  keine  Schnecke,  sondern  bloß  drei  Bogengänge  und 
einen  geraden  Gang,  der  an  einem  Ende  geschlossen  sei,  am  anderen  mit 
dem  Vestibulum  kommuniziere  (wobei  Duverney  nicht  beachtete,  daß 
eben  dieser  Gang  [lagena]  der  Schnecke  entspricht) ;  zweitens  gingen  zwei 
Zweige  des  Acusticus  zu  den  halbzirkelförmigen  Kanälen  und  drittens 
sei  auch  ihr  Bau  ein  solcher,  daß  man  annehmen  könne,  es  werde  der 
Schall  durch  sie  entsprechend  aufgenommen  und  differenziert. 

Auch  von  den  Bogengängen  gelte  dasselbe  wie  von  der  Lamina 
spiralis  bezüglich  der  Perzeptionsfähigkeit 29).  Die  von  Stelle  zu  Stelle 
verschieden  weiten  Bogengänge,  da  ja  die  Mündungen  weit  seien  (Am- 
pullen), die  Mitte  aber  eng,  bedinge,  daß  die  breiten  Partien  der  Bogen- 
gänge durch  die  tiefen,  die  schmäleren  durch  die  hohen  Töne  in  Schwingung 
gebracht  würden30).  Durch  die  Nervenendigungen  werde  die  Perzeption 
in  der  Schnecke  und  in  den  Kanälen  dem  Gehirn  zugeleitet. 

Wenn  wir  erwägen,  daß  Duverney  noch  ganz  der  mikroskopischen 
Erforschung  des  Gehörorgans  ermangelte,  ja  noch  in  vielen  Vorurteilen 
seiner  Zeit,  wie  es  das  Festhalten  am  aer  ingenitus  beweist,  befangen 
war,  so  müssen  wir  zu  dem  Schlüsse  kommen,  daß  seine  Hörtheorie,  ab- 
gesehen von  seiner  irrtümlichen  Auffassung  über  die  Funktion  des  Bogen- 
gangsapparates, sicherlich  die  genialste  war,  die  zu  seiner  Zeit  aufgestellt 


Duverney.  205 

werden  konnte.  Vom  historischen  Standpunkte  bleibt  es  immerhin  be- 
achtenswert, daß  Duverney  gleich  Helmholtz  der  Spiralmembran 
der  Schnecke  die  Hauptrolle  in  der  Differenzierung  tiefer  und  hoher 
Töne  zuschrieb. 

Die  Leistungen  Duverneys,  dem  unter  den  Anatomen  des  17.  Jahr- 
hunderts unstreitig  der  erste  Rang  zukommt,  bewirkten  einen  neuen  Auf- 
schwung der  Otologie  in  allen  Ländern,  der  sich  nicht  nur  in  der  ana- 
tomisch-physiologischen Richtung,  sondern  auch  in  der  Pathologie  des 
Gehörorgans  bemerkbar  machte. 

c)  Die  Pathologie  des  Gehörorgans. 

Im  dritten  Abschnitte  seiner  Abhandlung  versucht  Duverney  die 
Pathologie  des  Gehörorgans  auf  anatomischer  Grundlage  zu  entwickeln. 
Dieser  Versuch  ist  insofern  mißlungen,  als  Duverney  nur  über  geringe 
Kenntnisse  der  pathologischen  Anatomie  des  Ohres  verfügte  und  in  der 
Therapie  noch  zu  sehr  von  den  zu  seiner  Zeit  herrschenden  medizinischen 
Doktrinen  beeinflußt  war.  Immerhin  finden  wir  in  diesem  Abschnitte 
manche  wertvolle  Anregungen  für  eine  anatomische  Systematik  der  Ohr- 
erkrankungen. 

In  der  Einleitung  teilt  er  die  Krankheiten  des  Ohres  in  die  der 
Ohrmuschel,  des  äußeren  Gehörganges,  des  Trommelfells,  der  Trommel- 
höhle, des  Labyrinths  und  des  Hörnerven  ein;  daran  schließt  sich  die 
Besprechung  der  subjektiven  Geräusche,  die  ein  gemeinschaftliches 
Symptom  aller  Ohraffektionen  bilden. 

Als  erstes  Symptom  wird  der  Ohrenschmerz  ausführlich  bespro- 
chen. Er  begleitet  alle  Formen  der  Entzündung  der  Ohrmuschel  und 
des  äußeren  Gehörgangs,  sowie  die  Verletzungen  des  Ohres.  Als  weitere 
Ursachen  des  Schmerzes  erscheinen:  abnorme  Ceruminalabsonderung,  die 
Ausscheidung  seröser,  scharfer  und  salziger  Sekrete  aus  den  Drüsen 
des  Gehörgangs,  welche  zur  Geschwürsbildung  führen.  Der  heftige 
Schmerz  wird  durch  den  Nervenreichtum  der  Cutis  und  deren  innigen 
Zusammenhang  mit  dem  Periost  des  Gehörgangs  erklärt.  Fieber,  Schlaf- 
losigkeit und  Delirien  komplizieren  öfter  diese  Entzündungsform. 

Die  Behandlung  des  Ohrenschmerz. ss  richtet  sich  nach  der  ihn  be- 
dingenden Ursache.  Wind  und  Kälte  sind  zu  meiden.  Als  lokale  Mittel 
werden  empfohlen :  das  Auflegen  von  gewärmten,  in  Alkohol  getauchten 
Brots  auf  das  Ohr,  Injektionen  von  Dekokten  von  Melisse,  Hyssop, 
Kalomel,  Origanum  etc.,  gemischt  mit  Oel  von  bitteren  Mandeln,  Kamo- 
mille,  Anis  etc.  Auch  Injektionen  von  Milch  (am  besten  Frauenmilch), 
gemischt  mit  Hühnereiweiß,  und  der  Zusatz  narkotischer  Substanzen  zu 
Umschlägen  erweisen  sich  als  sehr  nützlich.     Ist  der  Schmerz  durch  eine 


Duverney. 

hitzige  Ursache  („d'une  cause  chaude")  entstanden,  so  ist  Aderlaß  ab- 
solut nötig. 

Seine  Besprechung  der  Geschwüre  („ulceres")  im  Gehörgange  zeugt 
von  geringer  Erfahrung,  hingegen  spricht  er  sich  bei  den  Würmern  im 
Ohre  gegen  die  von  Forest,  Schenck  und  anderen  vertretene  Ansicht, 
diese  entstünden  durch  Zersetzung  der  Säfte  im  Ohre,  dahin  aus,  daß 
die  Würmer  aus  den  Eiern  von  Insekten  sich  entwickeln"'1). 

Die  Geschwüre  im  Ohre  entstehen  nach  Duverney  durch  den  Aus- 
fluß von  scharf  und  salzig  gewordener  Lymphe  aus  den  Drüsen ,  wo- 
durch die  Wiedervereinigung  der  Teile  gehindert  wird.  Den  Ohrenfluß 
führt  Duverney  nicht  wie  viele  seiner  Vorgänger  auf  einen  eitrigen 
Ausfluß  aus  dem  Gehirn  zurück ,  sondern  auf  lokale  Affektionen ,  z.  B. 
Erschlaffung  der  Schmalzdrüsen,  dünnes  Blut  etc.  Der  Ansicht,  daß  die 
Ohrenflüsse  Gehirnprozessen  entstammen,  widerspreche  die  Tatsache,  daß 
das  Foramen  audit.  intern,  durch  den  Gehörnerven  verstopft  ist,  daß  die 
ausfließende  Masse  erst  durch  das  Labyrinth,  die  Schnecke,  die  Fenestrae 
und  das  Trommelfell  ihren  Weg  nehmen  müßte  und  eher  durch  die  Tuba 
Eustachii  als  durch  die  Membrana  tympani  abfließen  würde. 

Zum  Beweise  teilt  er  eine  Krankengeschichte  mit  Sektionsbericht 
mit,  wo  sich  trotz  beträchtlichem  eitrigen  Ohrenflusse  nichts  Abnormales 
im  Gehirne  und  an  der  Schädelbasis  vorfand.  Ferner  sagt  Duverney 
von  einigen  bei  Kindern  beobachteten  Fällen:  „J'ay  ouvert  l'oreille  de 
plusieurs  enfants  dont  la  quaisse  estoit  pleine  de  boue,  cependant  je  n'y 
ay  jamais  trouve  n'y  dans  le  cerveau,  n'y  dans  l'os  pierreux  aucune  mau- 
vaise  disposition." 

Die  Therapie  der  Geschwüre  im  Gehörgang  ist  die  gleiche 
wie  bei  allen  Entzündungen  der  inneren  Teile  des  Ohres.  Auch  hier 
empfiehlt  Duverney  Einträufelungen  von  Säften  und  Dekokten  ver- 
schiedener Pflanzen  und  Oele,  Einspritzungen  von  Dekokten  der  Aristo- 
lochia,  von  Galläpfeln,  Wein  von  Granada  (De  Vigo)  u.  a.  Gegen  Wür- 
mer  bewähren    sich  Einträufelungen   von  Oel  oder  Weingeist  am  besten. 

Zu  den  Verstopfungen  des  Ohres  rechnet  Duverney  1.  Fremd- 
körper, 2.  Ceruminalpfröpfe,  3.  neugebildete  Membranen  im  Gehörgange 
(Schilderung  eines  Sektionsbefundes),  4.  fungöse  Exkreszenzen  im  äußeren 
Gehörgange,  5.  Anschwellung  der  Drüsen  des  Gehörganges.  Die  Be- 
handlung der  Gehörgangsobstruktion  lehnt  sich  an  die  der  Vorgänger 
(Fabricius  Hildanus)  an. 

Die  Krankheiten  des  Trommelfells  werden  eingeteilt  in  Er- 
schlaffung, vermehrte  Spannung  und  Verdickung,  über  deren  Ursachen 
er  nur  unhaltbare  Hypothesen  aufstellt.  Interessant  hingegen  ist,  was 
Duverney  über  die  Ruptur  des  Trommelfells  sagt.  Er  erwähnt  nämlich 
einen   Fall,    bei    dem   durch   heftiges    Schneuzen    eine   Ruptur    des 


Duverney.  207 

Trommelfells  entstand  und  beruft  sich  auf  eine  analoge,  von  Tulpius 
mitgeteilte  Beobachtung  (Obs.  15).  Duverney  glaubt  aber  irrtümlich, 
daß  die  Ruptur  durch  Ablösung  des  Trommelfellrandes  am  oberen  Pole 
der  Membran  hervorgebracht  wurde. 

Die  Erkrankungen  der  Trommelhöhle  und  des  Labyrinths 
können  nach  Duverney  nur  als  Karies  des  Knochens  und  als  Entzün- 
dungen der  Membranen  aufgefaßt  werden32).  Die  durch  Abszeß  bedingte 
Entzündung  des  Gehörgangs  (irrtümlich  anstatt  der  Trommelhöhle)  führt 
zur  Fistelbildung  hinter  dem  Ohre  und  ist  von  überreichem  Ausfluß 
begleitet.  Duverney  fand  bei  Eiterungen  im  Ohre  die  Trommelhöhle, 
das  Vestibulum  und  die  Bogengänge  von  Eiter  erfüllt.  Er  zweifelt 
nicht,  daß  der  Eiter  sowie  andere  Sekrete  in  der  Trommelhöhle  Schwer- 
hörigkeit bewirken,  umsomehr,  als  die  Ausscheidungen  nicht  leicht  aus 
der  Trommelhöhle  abfließen  können,  weil  die  Tubenmündung  höher  liegt 
als  der  Boden  der  Trommelhöhle.  Aus  der  Darstellung  Duverneys 
ergibt  sich ,  daß  ihm  die  klinische  Differenzierung  der  eitrigen  Entzün- 
dungen des  äußeren  Gehörgangs ,  des  Mittelohrs  und  des  Labyrinthes 
nicht  möglich  war. 

Die  Behandlung  der  Schläfebeinkaries  ist  eine  medikamentöse  (Ein- 
lagen von  Scharpiewieken  mit  Kampfer,  Euphorbiumpulver,  Myrrha,  Wein- 
geist etc.).  Gegen  Entzündungen  der  Trommelhöhle  und  des  Labyrinths 
sind  nach  Duverney  topische  Mittel  nutzlos  und  bloß  die  interne  Medi- 
kation anzuwenden. 

Die  Krankheiten  des  Hörnerven  sind  Verstopfung  (Obstruktion)  und 
Kompression.  Ursachen  dieser  Erkrankungen  sind  Apoplexie,  seröse  An- 
sammlungen im  Gehirne  und   Hirntumoren. 

Sehr  weitläufig  behandelt  Duverney  am  Schlüsse  die  subjek- 
tiven Geräusche  im  Ohre.  Er  nennt  sie  ein  Verderbnis  (Depravation). 
Duverney  schildert  das  Ohrentönen  nicht  wie  seine  Vorgänger  als 
Krankheit,  sondern  als  Symptom  und  führt  es  auf  eine  ähnliche  Ueiz- 
wirkung  zurück,  Avie  die  Entstehung  des  subjektiven  Funkensehens.  Das 
Ohrentönen  begleitet  die  Erkrankungen  des  Gehörgangs,  der  Trommelhöhle 
und  des  Labyrinths.  Die  Entzündungen  verursachen  eine  Erschütterung 
(„ebranlement")  der  Spiralmembran  und  der  Bogengänge,  teils  durch 
Spannung  („tension"),  teils  durch  Dämpfe,  die  sie  ausscheiden  und  die 
sich  mit  der  Luft  der  Trommelhöhle  mengen.  Auch  Erschütterungen  des 
Schädels  können  Ohrgeräusche  bedingen.  Als  Beispiel  objektiver  Ohr- 
geräusche erzählt  er  von  einer  Dame,  die  bei  der  geringsten  An- 
strengung ein  so  heftiges,  pulsierendes  Geräusch  im  Ohre  empfand,  daß 
sie  die  Empfindung  hatte,  als  sei  ihr  eine  Uhr  am  Kopfe  angeheftet.  Das 
Geräusch  konnte  von  jeder  in  ihrer  Nähe  befindlichen  Person  gehört  werden. 
Duverney  führt  es  auf  die  Erweiterung  einer  Arterie  im  Kopfe  zurück. 


Duverney. 

Daß  subjektive  Geräusche  nicht  ausschließlich  durch  Erkrankungen 
des  Gehörorgans  hervorgerufen  werden ,  beweisen  die  Hirnaffektionen, 
Delirien,  Schwindel,  Epilepsie,  Ohnmacht,  bei  denen  gleichzeitig  oder  als 
Vorläufer  Ohrgeräusche  auftreten.  Es  ist  nach  Duverney  gleichgültig 
für  das  Zustandekommen  subjektiver  Geräusche,  ob  der  Hörnerv  im  Ohre 
oder  im  Gehirne  gereizt  („ebranlee")  werde.  Seine  Erklärung  der  ana- 
tomischen Ursachen  tiefer  und  hoher  subjektiver  Geräusche  ist  durchwegs 
hypothetisch. 

Die  Behandlung  der  subjektiven  Geräusche  fällt  mit  der  sie  be- 
dingenden Erkrankung  zusammen. 

*)  Vergl.  Postal,  Histoire  de  l'anatomie  et  de  la  Chirurgie.  1770.  T.  III. 
p.  464. 

2)  Fontenelle  sagt  in  dem  Nachrufe  auf  Duverney :  Eloges  des  academiciens 
de  l'Academie  royale  des  sciences,  morts  depuis  1722,  Paris  1793,  tome  II:  Cette 
eloquence  n'etait  pas  seulement  de  la  clarte,  de  la  justesse,  de  l'ordre,  toutes  les 
perfections  froides  que  demandent  les  sujets  dogmatiques,  c'etait  un  feu  dans  les 
expressions,  dans  les  tours  et  presque  dans  la  prononciation,  qui  aurait  presque  suffit 
ä  un  orateur.  II  n'eüt  pas  pu  annoncer  indifferemment  la  decouverte  d'un  vaisseau, 
ou  un  nouvel  usage  d'une  partie,  ses  yeux  en  brillaient  de  joie,  et  toute  sa  personne 
s'anhnait.  Cette  chaleur  ou  se  coinmunique  aux  auditeurs  ou  du  moins  les  preserve 
d'une  langueur  involontaire ,  qui  aurait  pu  les  gagner.  On  peut  ajouter  qu'il  etait 
jeune  et  d'une  figure  assez  agreable.  Ces  circonstances  n'auront  Heu,  si  Ton  veut, 
qu'a  l'egard  d'un  certain  nomhre  de  dames,  qui  furent  elles  meines  curieuses  de 
l'entendre. 

3)  Rattel,  1.  c.  T.  9.  Les  demonstrations  d'anatomie  reussirent  si  bien  aupres 
du  jeune  prince,  qu'il  offrit  quelquefois  de  ne  point  aller  ä  la  chasse,  si  on  les 
lui  pouvait  continuer  apres  son  diner. 

4)  Traite  de  l'organe  de  l'ouie,  contenant  la  structure,  les  usages  et  les  ma- 
ladies  de  toutes  les  parties  de  l'oreille.  Wir  zitieren  im  folgenden  nach  der  Aus- 
gabe Leyden,  Joh.  Langerak,  1731. 

5)  1.  c.  p.  1—5 ;  Fig.  1  u.  2.  Tab.  I. 

6)  1.  c.  p.  7. 

7)  1.  c.  p.  6.  Cette  peau  qui  est  une  continuation  de  celle  qui  est  endevant 
de  la  conque.  est  parsemee  d'une  infinite  de  petites  glandes  d'une  couleur  jaunätre  . .  . 
T;,l,.  III.  Fig.  2  u.  3. 

s)  Le  cartilage,  qui  la  forme  est  continu  en  luy  meme,  mais  il  est  interrompu 
et  separe  en  plusieurs  endroits  comme  par  des  coupures . .  .  1.  c.  p.  5,  Tab.  III,  Fig.  1. 

9)  1.  c.  p.  9. 

10)  1.  c.  p.  11. 
")  1.  c.  p.  13. 
12)  1.  c.  p.  16. 

1 ;)  La  plus  courte  des  deux  branches  est  posee  ä  l'entree  du  conduit,  qui  va 
dans  Tapophyse  mastoide  et  son  extremite  est  cachee  et  attachee  par  un  ligament 
dans  une  petite  cavite  qui  est  ä  l'entree  de  ce  conduit. 

14 1  1.  c.  p.  21.  Ces  osselets  sont  degarnis  de  ces  membranes  qu'on  nomme 
le  perioste. 

15)  1.  c.  p.  26. 

,6)  1.  c.  p.  27—30,  Tab.  X,  Fig.  1  u.  9. 


Duverney.  209 

17)  1.  c.  p.  30-34.  Tab.  X,  Fig.  1—6. 

18)  1.  c.  p.  32. 

19j  La  lanie  spirale  separe  en  deux  ce  canal  (Schnecke),  estant  attachee  au 
noyau  par  sa  base  et  par  son  autre  extremite  ä  la  surface  du  canal  opposee  au 
noyau,  par  le  moyen  d'une  membrane  fort  deliee,  beaucoup  plus  raince  que  la  lame, 
laquelle  ne  continue  pas  le  meme  plan  que  la  lame,  mais  se  rabat  un  peu  en  dessous. 
1.  c.  p.  31. 

20)  1.  c.  p.  33  u.  34. 

21)  1.  c.  p.  35—40.  Tab.  XI,  Fig.  1—3. 

22)  La  portion  molle  se  partage  en  trois  branches ;  la  plus  considerable 
estant  arrivee  ä  la  base  du  noyau,  semble  se  terminer  et  se  perdre  en  cet  endroit, 
cependant  il  est  vray  qu'en  entrant  dans  le  noyau  par  tous  les  petits  trous  obliques 
dont  nous  avons  parles,  eile  se  partage  en  plusieurs  filets,  qui  se  distribuent  ä  tous 
les  pas  de  la  lame  spirale.  .  .  .  Les  deux  autres  branches  de  la  portion  molle  sont 
destinees  pour  le  vestibule;  la  plus  considerable  de  ces  deux  dernieres  s'engage  äl'entree 
du  tuyau  de  la  portion  dure  et  entre  enfin  obliquement  dans  un  trou  particulier 
qui  s'ouvre  dans  la  voüte  du  vestibule.  Cette  brauche  estant  entree,  forme  comme  une 
houpe  dont  une  partie  s'avance  dans  la  porte  (Ampulle!)  du  canal  demi  circulaire 
superieur,  et  dans  celle  de  i'anterieur.  qui  est  tout  joignant,  et  les  bouche  en  partie; 
ensuite  eile  fournit  un  petit  filet  nerveux  ä  chacun  de  ces  canaux  qui  se  Joint  ä 
l'artere  qui  y  est  distribuee  et  l'accompagne  par  tout :  l'autre  partie  de  la  houpe 
s'allonge  vers  le  fond  du  vestibule,  et  produit  im  petit  filet  qui  entre  dans  la  porte 
commune.  La  deuxieme  brauche  se  divise  en  deux  filets,  dont  Tun  entre  dans  la 
porte  du  canal  inferieur  et  l'autre  remonte  vers  la  porte  commune.     1.  c.  p.  37. 

23)  Sappey,  Traite  d'anatomie,  tome  III. 

24)  1.  c.  p.  45-50. 

25)  1.  c. 

26)  Comme  la  matiere  est  importante  et  qu'elle  m'a  paru  tres  delicate,  je  n'ay 
pas  voulu  me  fier  tout  ä  fait  ä  mes  propres  lumieres.  et  j'advoue  que  je  dois  ä 
M.  Mariotte  une  bonne  partie  de  ce  qu'on  trouvera  icy  de  plus  curieux;  cependant 
je  n'ose  esperer  que  ce  que  je  vais  proposer  soit  bien  recu  de  tout  le  monde:  mes 
conjectures  me  paroissent  assez  vraisemblables.  mais  d'autres  seront  peut-estre  d'un 
autre  goust.  Quoy  qu'il  en  soit,  je  croiray  avoir  bien  reüssi,  si  je  puis  les  obliger 
par  cet  essay  ä  nous  donner  quelque  chose  de  meilleur.    De  l'organe  de  l'ouie  II,  p.  56. 

27)  Cette  lame  n'est  pas  seulement  capable  de  recevoir  les  tremblements  de 
l'air,  mais  sa  structure  doit  faire  penser  qu'elle  peut  repondre  ä  tous  leurs  caracterea 
differens.    1.  c.  p.  79. 

2S)  1.  c.  p.  79  u.  80. 

29)  J'ai  dit  que  la  lame  spirale  ne  recoit  pas  simplement  les  vibrations  de  l'air 
et  que  toutes  ses  parties  ne  sont  pas  capables  indifferemment  de  repondre  aux  uiemes 
tons.  J'en  dis  autant  de  ces  canaux  demi  circulaires.  ...  De  tout  ce  que  je  viens  de 
dire,  on  peut  conclure  que  le  limacon  et  les  canaux  demi-circulaires  sont  les  organes 
communs  et  immediata  qui  recoivent  non  seulement  les  tremblements  de  l'air  en 
general,  mais  encore  qui  recoivent  la  vraie  idee.  et  les  differens  caracterea  des  tons, 
selon  les  divers  endroits  de  ces  parties  qui  sont  ebranlez.     1.  c.  p.  83  u.  85. 

30)  Chacun  de  ces  canaux  a  la  figure  de  deux  trompettes  qui  seroient  em- 
bouchees  l'une  dans  l'autre  par  leurs  extremitäz  les  plua  etroitea  .  .  .  or  il  est  demonstre 
par  experience  que  les  plus  grands  cercles  des  pavillons  des  trompettes  peuvent  estre 
ebranl6z,  saus  que  les  plus  petits  le  soient  sensiblement  .  .  .  on  peut  avancer  la  meme 
chose    ä    l'egard    des    canaux    demi-circulaires.    leurs  parties  les  plus  larges  peuvent 

Politzer,  Geschichte  der  Ohrenheilkunde     I  14 


210  Schelhammer. 


etre  ebranlees  sans  que  les  autres  le  soient:  alors  les  vibrations  de  ces  meines  parties 
seront  lentes  d'oü  il  s'ensuivra  necessairement  l'apparence  d'un  ton  grave ;  au  contraire 
«piand  les  parties  les  plus  etroites  de  ces  canaux  seront  ebianlees  sans  que  les  autres 
le  soient,  il  s'ensuivra  l'apparence  d'un  ton  aigu.     1.  c.  p.  83  ff. 

31)  Ou  si  la  chaleur  de  ces  ulceres  fait  seulement  eclorre  les  petits  oeufs  que 
mille  insectes  qui  voltigent  dans  l'air  y  peuvent  laisser.     1.  c.  p.  117. 

3-')  Pour  ce  qui  est  de  la  quaisse  et  du  labyrinthe,  comme  ce  sont  des  parties 
osseuses  revetues  simplement  d'une  membrane,  je  ne  comprens  pas  qu'elles  puissent 
avoir  d'autres  maladies  que  la  Carie  d'os  et  l'inflammation  des  membranes.   1.  c.  p.  150. 

Günther  Christoph  Schelhammer 

(1649—1712). 

ein  Zeitgenosse  Duverneys,  wurde  am  13.  März  1649  zu  Jena  geboren, 
lehrte  als  Professor  nacheinander  zu  Jena,  Helmstädt,  Kiel  und  gehörte 
zu  den  eifrigsten  Vertretern  der  Chemiatrie  in  Deutschland.  Als  sein 
Todesjahr  wird  1712  angegeben. 

Sein  Werk,  betitelt:  „De  auditu  über  unus.  Quo  plerorumque  om- 
nium  doctorum  sententiae  examinantur,  et  auditus  ratio  nova  methodo, 
ex  ipsius  naturae  legibus,  explicatur"  (Lugd.  Bat.  1684),  erschien  ein  Jahr 
nach  dem  Duvemey sehen  Traktat 1). 

Dem  Werke  sind  fünf  schematische  Tafeln  beigegeben  mit  ungenauen 
anatomischen  Abbildungen  und  Zeichnungen ,  welche  auf  seine  Schall- 
theorie Bezug  nehmen.  Es  steht,  sowohl  was  Anatomie  und  Physiologie 
betrifft,  weit  hinter  dem  Traktate  Du verneys  zurück,  weist  aber  neben 
zahlreichen  Irrtümern  viel  Wertvolles  auf. 

Wie  der  Titel  sagt,  enthält  es  auch  einen  historischen  Ueberblick 
und  Rezensionen  der  Meinungen  älterer  Autoren.  Schelhammer  teilt 
sein  Werk  in  drei  Abschnitte,  einen  anatomischen,  einen  physikalischen 
(über  den  Schall)  und  einen  physiologischen2). 

Der  schwächste  Teil  des  Werkes  ist  der  anatomische.  Er  ent- 
hält wenig  Neues,  dagegen  zahlreiche  Fehler,  sogar  in  Dingen,  die  von 
anderen  längst  richtiger  beschrieben  wurden. 

Schelhammer  stellt  die  Existenz  äußerer  Ohrmuskeln  und  damit 
die  Bewegungsfähigkeit  der  Ohrmuschel  gänzlich  in  Abrede3).  Die  Pars 
tympanica  wird  eingehend  beschrieben  und  ihre  Beteiligung  an  der 
Bildung  des  knöcheren  Gehörganges  hervorgehoben,  ohne  daß  darauf  hin- 
gewiesen wird,  daß  sie  aus  dem  Annulus  tympanicus  hervorgeht4).  Ful- 
das Trommelfell  schlägt  er  statt  der  Bezeichnung  „Tympanum"  das  passen- 
dere „Hymen"  oder  „Meninx"  vor,  da  die  Membran  im  Ruhezustande 
schlaff  und  eingezogen,  mit  der  gespannten  Haut  einer  Kriegstrommel 
wenig  Aehnlichkeit  hat5).  Die  Chorda  fcympani  konnte  er  —  an- 
geblich wegen  schlechten  Leichenmaterials  —  nicht  auffinden  °).  Der  Ham- 
mer erscheine  stets  in  einer  anderen  Gestalt   und    bleibe  sich  nur  darin 


Schelhammer.  211 


gleich,  daß  er  einen  Kopf  und  einige  Fortsätze  besitze7).  Ganz  ver- 
worren sind  seine  Angaben  über  die  Binnenmuskeln  des  Ohres.  Den 
„äußeren"  Muskel  erklärt  er  für  ein  kräftiges,  wenn  auch  schlaffes 
Ligament8)  (L  ig.  mall  ei  anterius) ;  ein  Muskel  verbinde  sich  „cum  mallei 
spinoso  processu  et  longissimo"  9).  In  der  Sehne  des  inneren  Hammer- 
muskels fand  er  beim  Schwein  bisweilen  ein  Sesamknöchelchen 10).  Im 
Gegensatze  zum  Hammer  variiert  die  Form  des  Amboßes  nicht11).  Das 
Linsenknöchelchen  nennt  er  schuppenförmig  (squamosum),  zuweilen 
kugelig  (globosum) 12).  Den  Stapesmuskel  hält  er  für  ein  Ligament 
und  sagt,  daß  für  ihn  das  gelte,  was  er  von  der  Chorda  mit- 
geteilt habe. 

Was  die  Schnecke  anbelangt,  so  kannte  er  ihre  Scheidung  in 
zwei  Treppen ,  leugnete  jedoch  ihre  Kommunikation  an  der  Schnecken- 
kuppel13). Die  Bogengänge  sah  er  mit  vier  bis  sechs  Ostien  im  Vesti- 
bulum  münden14).  Der  Gesichtsnerv  liege  in  einer  Rinne  des 
Hörnervs,  doch  bestehe  zwischen  beiden  keinerlei  Verbindung  1V).  Ferner 
kennt  er  die  Teilung  in  Schnecken-  und  Vorhofsnerv  und  glaubt,  daß 
die  membranöse  Auskleidung  der  Labvrinthräume  aus  Fasern  des  Hör- 
nervs bestehe  16). 

Der  zweite  Teil  handelt  über  den  Schall  und  bringt  in  über- 
sichtlicher Weise  eine  Reihe  von  akustischen  Gesetzen.  Aehnlich  wie 
Duverney  verließ  sich  auch  Schelhammer  nicht  auf  eigene  Speku- 
lationen wie  die  meisten  Vorgänger,  sondern  stützte  sich  auf  Kirchers 
„Phonurgia",  korrespondierte,  wie  er  berichtet,  mit  Leibniz17)  und 
stellte  mit  seinem  Kollegen,  dem  Mathematiker  Paul  Heigel,  inter- 
essante Versuche  über  die  Schnelligkeit  der  Fortpflanzimg  des  Schalles 
an18),  die  er  ausführlich  und  anschaulich  schildert. 

Bevor  Schelhammer  die  zu  seiner  Zeit  bekannten  akustischen 
Gesetze  bespricht,  wendet  er  sich  gegen  die  Theorie  von  der  „ein- 
gepflanzten Luft",  deren  Bedeutung  für  den  Hörakt  er  mit  triftigen 
Gründen  bekämpft. 

Wohl  selten  hat  sich  eine  Theorie  wie  die  vom  „aer  ingenitus",  die  nur  auf 
rein  hypothetischer  Voraussetzung  konstruiert  wurde .  durch  viele  Jahrhunderte  er- 
halten. Ihre  wechselnden  Phasen  in  Bezug  auf  Lokalität  und  Funktion  dieses  »aer* 
konnten  wir  von  den  Anfängen  dieser  Theorie  bei  den  Griechen  bis  jetzt  verfolgen. 
Während  ursprünglich  die  Luft  im  Hinterkopfe  eingepflanzt  gedacht  wurde  (Aristo- 
teles), ist  sie  im  Mittelalter  in  eine  der  Höhlen  des  inneren  Ohres  (concavitates  ossis 
petrosi),  von  Carpi  und  auch  noch  von  späteren  Anatomen  in  die  Trommelhöhle 
und  erst  nach  der  Begründung  der  Ohranatomie  in  Italien  von  den  meisten  Ana- 
tomen in  das  Labyrinth  verlegt  worden. 

Ebenso  verschieden  gestalteten  sich  die  Ansichten  über  die  physiologische 
Funktion  der  „eingeborenen  Luft".  Während  sie  von  den  Griechen  als  das  eigent- 
liche Sinnesorgan  angesehen  wurde,  hat  sich  in  der  Folgezeit  ein  immer  stärker 
hervortretender  Gegensatz  gegen  diese  Anschauung  entwickelt,  indem  man  wohl  das 


212  Schelhammer. 


Vorhandensein  der  eingeborenen  Luft  im  Labyrinthe  unbestritten  fortbestehen  ließ, 
die  Hauptrolle  der  Hörperzeption  jedoch  dem  Hörnerv  zuteilte. 

Mit  der  Entwicklung  der  Ohranatomie  wurde  die  Theorie  von  der  „einge- 
pflanzten Luft"  immer  komplizierter.  Vesal,  Falloppio,  Colombo  und  die 
meisten  Schüler  Vesals  verhielten  sich  in  diesem  Punkte  so  zurückhaltend,  daß  man 
über  ihre  Ansichten  im  Unklaren  bleibt.  Piccoluomini  vertrat  die  Hypothese, 
daß  wie  im  Auge  die  Kristallinse,  die  man  als  Sehorgan  damals  betrachtete,  so  im 
Ohre,  dem  Organe  der  Luft,  eine  Art  mit  Luft  gefüllter  Blase  vorhanden  und  am 
Steigbügel  befestigt  sei.  in  deren  Hülle  die  Verzweigungen  des  Acusticus  endigen. 
Durch  Erschütterung  dieser  Blase  vermittels  der  Gehörknöchelchen  würde  der  Schall 
dem  Hörnerv  zugeleitet. 

Die  Ansicht  Galens,  der  den  Hörnerv  als  eigentliches  Sinnesorgan  ansah, 
fiel  der  Vergessenheit  anheim  und  kam  erst  wieder  zur  Geltung,  als  man  seinen 
Verlauf  im  Labyrinthe  näher  kennen  lernte.  Casserius  war  der  erste,  der  ihn 
als  „instrumentum  auditus"  erklärte,  den  „aer  ingenitus"  aber  wie  alle  späteren 
Forscher  bis  Cotugno  bestehen  ließ.  Sehen  wir  doch  mit  einiger  Verwunderung, 
daß  auch  der  gründliche  und  vorgeschrittene  Duverney  die  nur  durch  Autoritäts 
glauben  geschützte  Hypothese  ohne  Widerspruch  akzeptierte,  obwohl  schon  Senner t, 
Du  Laurent  und  Bau  hin  die  Existenz    des  „aer  ingenitus"   bezweifelt  hatten. 

Entschieden  und  unzweideutig  jedoch  tritt  erst  Schelhammer  gegen  die 
physiologische  Bedeutung  des  „aer  ingenitus"  auf.  Nach  ihm  könne  dieser  nicht 
das  eigentliche  „instrumentum  auditus"  sein,  weil  der  Schall  die  Luft  durchlaufe 
und  das  Medium  niemals  das  Sinnesorgan  selbst  bilde,  wie  ja  auch  im 
Auge  nicht  die  Linse  oder  der  Glaskörper  das  Aufnahmsorgan  sei.  ferner  weil  diese 
Luft  keinen  Teil  des  organischen  Körpers  darstelle,  was  schon  Du  Laurent  bewiesen 
hatte  (s.  S.  132).  Die  innere  Luft  ist  nur  das  Medium,  nicht  Aufnahmsorgan.  Das 
Aristotelische  Dogma  müsse  daher  fallen  gelassen  werden.  Während  aber  Schel- 
hammer den  „aer  ingenitus"  verwirft,  erklärt  er  wohl  den  Hörnerv  als  wesentlich 
notwendig  zum  Hören,  verquickt  aber  mit  dieser  Ansicht  die  zu  jener  Zeit  herr- 
schende Theorie  von  den  „Spiritus  animales",  ohne  die  eine  Schallperzeption  ausge- 
schlossen sei 19). 

Der  dritte  Abschnitt  des  Scheib  amme  r  sehen  Werkes  behandelt 
seine  Hörphysiologie.  Das  Trommelfell  hat  nach  ihm  bloß  den  Zweck, 
die  Schädlichkeiten  von  außen  abzuhalten,  übt  dagegen  auf  die  Schall- 
fortpflanzung keinen  Einfluß.  Um  durch  die  Luft  in  Schwingungen  versetzt 
zu  werden,  sei  es  zu  wenig  gespannt.  Bloß  heftige  Schalleinwirkungen 
könnten  vielleicht  geringe  Schwingungen  der  Membran  hervorrufen. 
Uebrigens  seien  diese  für  das  Hören  gar  nicht  nötig,  wie  Fälle  von 
Trommelfellruptur  ohne  jede  Schädigung  des  Gehörs  beweisen.  Die 
Versuche  Willis  an  Hunden,  wobei  er  nach  Perforation  des  Trommelfells 
erst  nach  drei  Monaten  einen  Gehörsverlust  erzielen  konnte,  seien  nicht 
beweisend,  weil  bei  diesen  Experimenten  leicht  ein  anderer  Teil  des 
Gehörorganes  mitverletzt  worden  sein  dürfte.  Wäre  die  Trommelfell- 
verletzung allein  die  Ursache  der  Taubheit  gewesen,  so  hätte  das  Tier 
sofort  taub  werden  müssen.  Ebensowenig  wie  das  Trommelfell  kämen 
auch  die  Gehörknöchelchen  für  die  Schalleitung  in  Betracht;  die 
Luftschwingungen  seien   nicht   so   stark,    daß   sie    den  Hammer   und   mit 


Schelhammer.  213 


diesem  die  anderen  Knöchelchen  in  Schwingung  versetzen  könnten ;  auch 
bilden  diese  keine  ununterbrochene  (quod  non  sint  continua  haec  ossa), 
sondern  eine  bloß  lose  aneinandergereihte  (contigua)  Kette.  Aber  auch 
die  Annahme  des  Casserio,  daß  die  Gehörknöchelchen  zur  Fixation 
und  Stütze  des  Trommelfells  dienten,  sei  unrichtig;  die  Trommelhöhlen- 
luft erziele  diesen  Zweck  viel  besser.  Ferner  hätten  die  Gehörknöchel- 
chen Bänder  und  Muskeln  zur  Veränderung  ihrer  Lage,  seien  also  un- 
geeignet, eine  Stütze  abzugeben.  Endlich  hätte  der  Hammer  allein,  der 
ja  durch  ein  festes  Ligament  an  die  Pyramide  fixiert  sei,  zur  Er- 
füllung dieser  Aufgabe  genügen  können.  Schelhammer  ist  der 
Ansicht,  daß  der  Hammer  mit  den  inneren  Ohrmuskeln  dazu  dient,  das 
infolge  Einströmens  von  Luft  in  die  Tube  nach  außen  gedrängte  Trommel- 
fell in  seine  ursprüngliche  Lage  zurückzubringen*).  Das  beim  Schlucken, 
Gähnen  etc.  im  Ohr  wahrnehmbare  Geräusch,  das  Fabrizio  zum  ersten 
Male  beobachtet  hat,  erklärt  er  aus  der  Bewegung  des  Trommelfells  nach 
außen  infolge  der  durch  die  Tube  einströmenden  Luft.  Nur  im  Gehör- 
organe selbst  vermöge  auch  die  kleinste  Bewegung  ..ob  vim  sentiendi 
maximam"   einen  Ton  hervorzurufen  20). 

Die  Aktion  der  beiden  Hammermuskel  hielt  er  für  teils  willkürlich, 
teils  unwillkürlich,  ähnlich  wie  die  der  Atemmuskeln.  Der  Steigbügel 
dient  nach  seiner  Ansicht  bloß  zum  Verschluß  des  ovalen  Fensters,  der 
Amboß  lediglich  zur  Verbindung  des  Steigbügels  mit  dem  Hammer.  Zu 
erklären,  weshalb  der  Hammer  vermittels  des  Amboßes  mit  dem  Steig- 
bügel in  Verbindung  stehen  müsse,  hält  er  für  sehr  schwer.  Es  sei 
ferner  nicht  ausgeschlossen,  daß  die  in  die  Trommelhöhle  durch  die  Tube 
einströmende  Luft,  die  den  Hammer  nach  außen  drängt,  bei  heftigem 
Impulse  die  Stapesplatte  aus  dem  ovalen  Fenster  herausziehe,  so  daß 
Luft  ins  Labyrinth  eintreten  könne. 

Ueber  die  physiologische  Bedeutung  der  Chorda  tympanica 
weiß  der  Autor  nichts  anzugeben.  Bezüglich  der  Tube  hält  er  das 
Eindringen  von  Luft,  das  beim  Gähnen,  Schneuzen,  Schlucken  erfolge, 
für  die  wichtigste  Funktion.  Beim  Schlucken  steige  der  Kehlkopf  mit 
der  Epiglottis,  die  sich  schließe,  aufwärts;  dadurch  werde  der  Rachen- 
raum verkleinert  und  die  Luft  in  die  Tube  gestoßen.  Schelhammer 
widerspricht  der  Ansicht,  daß  die  Tube  zum  Schutze  des  Trommelfells 
gegen  eine  Ruptur  diene;  er  leugnet  sogar,  daß  das  Trommelfell  durch 
eine  heftige  Schalleinwirkung  rupturiert  werden  könnte. 

Am  Schlüsse  seiner  physiologischen  Betrachtungen  verweist  Schel- 
hammer auf  das  bekannte  Experiment,  bei  welchem  ein  tönendes  In- 
strument, mit  den  Zähnen  gefaßt,  von  manchen  Schwerhörigen  deutlicher 


*)  1.  c.  P.  III,  Cap.  6  u.  13,  p.  269. 


214  Schelhammer. 


gehört  wird  und  führt  dies  auf  die  Kopfknochenleitung  und  nicht  auf 
das  Eindringen  von  Schallwellen  in  die  Tube  zurück.  Eine  schwingende 
Gabel  werde,  wenn  man  sie  bloß  in  den  Mund  steckt,  nicht  vernommen, 
hingegen  sehr  deutlich,  wenn  man  die  Zähne  mit  ihr  berührt. 

Hört  ein  Tauber  gut  sobald  er  ein  tönendes  Instrument  mit  einem 
zwischen  den  Zähnen  gehaltenen  Stocke  berührt,  so  lasse  sich  daraus 
schließen,  daß  der  Fehler  nicht  im  Nerv,  sondern  einzig  und  allein  im 
Trommelfell  (?)  liege,  ein  Versuch,  der  dem  von  Capivacci  (S.  143) 
ausgeführten  analog  ist21). 

')  Schelhammer  spricht  von  dem  Werke  Duverneys.  ohne  daraus  irgend- 
welche Daten  zu  entnehmen. 

2)  Praefatio,  p.  6. 

3)  Musculos  nonnulli  his  partibus  esse  commemorant.  Sed  miror  equidem, 
gravissimos  auctores  auri  humanae  eos  adscripsisse,  cum  nihil  sit  manifestius,  quam 
eam  neque  mobilem  esse,  ex  instituto  naturae.  neque  ad  audiendum  motu  ullo  in- 
digere.     1.  c.  P.  I,  Cap.  1,  p.  14. 

4)  Nobis  etiam  non  in  ossibus  capitis  insculptus  est  (nämlich  der  äußere  Gehör- 
gang), sed  tota  inferior  ejus  pars  ex  osse  singulari,  superiori  parti  adnato  et  veluti 
adsuto  constituitur,  quod  in  quovis  sceleto  recte  composito  patet.  Hoc  ad  os  Mastoi- 
deum  in  postica  parte  adhaeret,  ä  quo  sutura  manifesta  sejungitur,  inde  subtus 
recurrens  ulterius  extenditur  et  styloidem  jn'ocessum  etiam  comprehendit.  1.  c.  P.  I, 
Cap.  2,  p.  23. 

5)  1.  c.  P.  1,  Cap.  •_'.  p.  25. 

6)  Nos  quoque  ingenue  fatemur,  vix  unquam  licuisse  nobis  esse  tarn  felicibus. 
ut  qualis  describitur,  talem  cerneremus,  atque  de  eo  saltem  sumus  securi,  in  plerisque 
animalium  hanc  chordam  non  reperiri.  In  nomine  an  ideo  id  nobis  obtigerit,  quod 
non  statim  post  mortem  dissecuerimus  aurem,  nescio :  vix  enim  priusquam  post  octi- 
duum,  aut  ultra  licuit,  quoties  fecimus,  haec  ossa  ett'ringere.    1.  c.  P.  I.  Cap.  2,  p.  30- 

7)  1.  c    P.  I,  Cap  2  n.  4.  p.  39. 

8)  1.  c.  P.  I.  Cap.  2  n.  4,  p.  41. 

9)  1.  c.  P.  I.  Cap.  2  n.  4,  p.  43. 
"')  1.  c.  P.  I.  Cap.  2  n.  4,  p.  45. 
")  1.  c.  P.  I,  Cap.  2  n.  5,  p.  45. 
12)  1.  c,  P.  I.  Ca]..  2  n.  7,  p.  47. 
ri)  1.  c.  P.  1,  Cap.  4  n.  4.  p.  62. 
'")  1.  c.  P.  I.  Ca]).  4  n.  5,  p.  67. 
I5j  1.  c.  P.  I,  Ca]>.  4  n.  9,  p.  72. 

,G)  Membranulam,    qua    istae  cavernulae  conteguntur,    constare  ex  fibris  nervi 
auditorii.     1.  c.  P.  III,  Cap.  5  n.  1»:.  p.  245. 
,7)  1.  c.  P.  II,  Cap.  2.     De  sono,  p.  125. 
,8)  1.  c.  ibid.,  p.  127. 

19)  Neque  enim  nervus  ex  se  quicquam  ad  sonum  percipiendum  confert,  et 
prorsus  posset  abesse,  nisi  Spiritus  ille  animalis  ita  vocatus,  ad  cognoscendas  species 
auditus  expeteretur.     1.  c.  P.  II,  Cap.  1  n.  7,  p.  90. 

20)  Est  enim  strepitus  hie  nihil  aliud,  quam  auditio  menyngis  hujus,  qui  nun- 
quam  -pereiperetur .  nisi  in  ipsa  aure  esset  collocata,  in  qua  minimus  etiam  motus 
ob  vim  stmtiendi  maximam  edit  sonum.     1.  c.  p.  269. 

-1)  Ut  autem  hoc  obiter  moneam,  egregium  in  hoc  latet  arcanum.  cognoscendae 


Riolan.  215 

surditatis  causae.  Si  quis  enim  surdus  baculum  dentibus  admovens  sonuni  percipiat. 
inde  colligere  licet,  vitium  in  nervis  non  esse,  sed  fortassis  unice  in  menynge  tneatus 
auditorii.     1.  c.  P.  III.  Cap.  6,  n.  7,  p.  261. 


b)  Pathologie  und  Therapie  der  Ohrerkrankungen  im 
17.  Jahrhundert  bis  Duverney. 

Trotz  der  großen  Errungenschaften  auf  allen  Gebieten  der  Natur- 
wissenschaften kann  in  der  Pathologie  und  Therapie  des  Ohres  im  17.  Jahr- 
hundert kein  auffälliger  Fortschritt  verzeichnet  werden.  Das  im  vorher- 
gehenden Jahrhundert  sich  so  lebhaft  äußernde  Interesse  für  die  ana- 
tomische und  die  pathologisch-anatomische  Forschung  tritt  in  den  Hinter- 
grund und  statt  dessen  entwickeln  sich  auf  Grundlage  physikalischer 
und  chemischer  Errungenschaften  dieser  Periode  eine  Reihe  rein  spekula- 
tiver Systeme  in  der  Medizin,  die  sich  trotz  vielfachen  Widerspruchs 
bis  in  das  18.  Jahrhundert  hinein  behaupten.  Wir  brauchen  nur  auf 
die  von  De  le  Boe  Sylvius  inaugurierte  Chemiatrie  und  auf  jene 
Systeme  hinzuweisen ,  welche  sich  auf  Prinzipien  der  Mathematik  und 
Mechanik  aufbauten  (Iatrophysik)  und  auch  die  Therapie  der  Ohr- 
erkrankungen beeinflußten. 

Es  würde  uns  zu  weit  führen,  auf  die  in  diesem  Jahrhundert  in 
großer  Anzahl  erschienenen  medizinischen  Schriften,  in  denen  auch  die 
Krankheiten  des  Gehörorgans  kursorisch  behandelt  werden,  näher  ein- 
zugehen, umsomehr,  als  es  sich  meist  um  Wiederholungen  älterer  oder 
zeitgenössischer  Schriftsteller  handelt.  Wir  beschränken  uns  daher  im 
folgenden  nur  auf  eine  kurze  Besprechung  der  wenig  Neues  bietenden 
otiatrischen  Mitteilungen  jener  Werke,  deren  Verfasser  im  17.  Jährhundert 
als  medizinische  Autoritäten  galten. 

Riolan  der  Jüngere,  dessen  wir  bereits  früher  gedacht  haben 
(siehe  S.  187),  bespricht  in  seinem  „Encheiridium  anatomicum  et  patho- 
logicum"  x)  in  knapper  Form  die  Ohrerkrankungen.  Dieser  Teil  seiner 
Arbeit  beansprucht  jedoch  kaum  mehr  Interesse  als  seine  dürftige  Ohr- 
anatomie. Von  „morbi  auriculae"  nennt  er  ohne  nähere  Beschreibung- 
Pusteln,  Quetschung,  Schwellung,  Geschwürsbildung  und  Brand  infolge 
Erfrieren,  von  Erkrankungen  des  äußeren  Gehör  ganges  Verstopfung 
durch  einen  Tumor,  Polypen,  ausfließenden  Eiter,  Sordes  oder  Fremd- 
körper, Entzündung,  Abszeßbildung  und  Exulzeration.  Die  Krankheiten 
der  „Cavitates  internae",  welche  er  für  periostlos  hält,  sind  nach  ihm 
schmerzlos,  außer  wenn  der  Hörnerv  oder  dessen  Abkömmling,  das 
Trommelfell,  affiziert  ist.  Die  Folgen  der  Entzündung  sind  Abszeßbildung 
und  Geschwür  des  Trommelfells,  welche  zu  seiner  Perforation  führen. 
Diese  kann  auch  durch  Fall  oder  heftigen  Schall  verursacht  sein.     Endlich 


216  Riolan. 

führt  er  noch  als  Erkrankung  der  Membrana  tymp.  Schlaffheit  und  ver- 
mehrte Feuchtigkeit  an.  Alle  von  ihm  aufgezählten  Affektionen  können 
die  Ursache  von   Schwerhörigkeit  und  Taubheit  abgeben. 

Subjektive  Geräusche  erklärt  er  unter  anderem  aus  dem  un- 
unterbrochenen Zuflüsse  von  „spiritus"  zu  den  Ohren,  ferner  aus  dem 
heftigen  Schlagen  von  inneren  oder  äußeren  Arterien  des  Ohres ,  was 
starkes  Tönen  bedinge,  besonders  wenn  man  auf  dem  Ohr  liege. 

Weshalb  Riolan  hier  besonders  genannt  zu  werden  verdient,  ist 
nicht  seine  zum  großen  Teile  dem  Fernelius  entlehnte  Beschreibung  der 
Pathologie  des  Ohres ,  sondern  die  historisch  interessante  Tatsache,  daß 
sich  in  seinem  Werke  die  erste  Andeutung  zu  zwei  wichtigen  otochirurgi- 
schen  Eingriffen  findet.  Es  sind  dies  die  Trommelfellperforation 
und  die  Aufmeißelung  des  Warzenfortsatzes.  Wenn  Riolan  sich 
fragt,  ob  man  nicht  das  Trommelfell  bei  angeborener  Taubheit  infolge 
eines  Bildungsfehlers  durchreißen  soll,  indem  er  auf  einen  Fall  hinweist, 
wo  sich  einer  mit  einem  Ohrlöffel  unversehens  sehr  tief  ins  Ohr  stieß, 
das  Trommelfell  zerriß,  die  Gehörknöchelchen  zerbrach  und  hierdurch 
sein  Gehör  verbesserte2),  so  war  damit  gewiß  die  erste  Idee  zur 
künstlichen  Perforation  des  Trommelfells  gegeben.  Bei  den 
geringen  Kenntnissen  der  pathologisch-anatomischen  Veränderungen  im 
Gehörorgane  darf  es  nicht  befremden,  daß  Riolan  nicht  in  der 
Lage  war,  eine  Erklärung  für  die  Hörverbesserung  in  dem  zitierten 
Falle  zu  finden.  Jetzt  wissen  wir,  daß  ein  solcher  Eingriff  bei  Taub- 
heit infolge  von  Ankylosierung  des  Hammer-Ambosses  das  Gehör  ver- 
bessern kann. 

In  einem  anderen  Falle  stellt  sich  Riolan  die  Frage,  ob  man  nicht 
bei  subjektiven  Geräuschen  den  Warzenfortsatz  aufmeißeln  solle, 
um  „den  lärmenden  Gasen  einen  Ausweg  zu  verschaffen"  3).  Dieser 
Indikation,  die  er  in  der  naiven  Anschauung  seiner  Zeit  von  dem  Wesen 
der  Ohrgerüu-che  gestellt  hat,  verdankt  er,  daß  ihm  ■ —  wohl  nicht 
mit  vollem  Recht  —  geschichtlich  die  Priorität  der  operativen  Eröffnung 
des  Warzenfortsatzes  zugeschrieben  wird.  Es  sollte  aber  noch  geraume 
Zeit  vergehen,  bis  die  Indikationen  dieser  wichtigen  Operation  auf  patho- 
logisch-anatomischer Grundlage  sichergestellt  wurden.  Der  Vorschlag 
Riolans,  den  Hinterkopf  bei  Eiteransammlung  anzubohren,  ein  Eingriff, 
aus  dem  keine  größere  Gefahr  erwachse,  dürfte  mit  der  Operation  am 
W'aizenfortsatze  in  keinem  Zusammenhange  stehen,  da  er  anstatt  des 
von  ihm  öfters  gebrauchten  „mastoidis  apophysis"  hier  ausdrücklich  die 
Operationsstelle  als   „posticam  capitis  partem"   bezeichnet'1). 

')  1.  c.  Lib.  IV,  Cap.  4.     Consideratio  medica.    p.  288^291. 
2)  In  naturali  surditate  a  conformationis  vitio  non  ab  his  causis  commeraoratis 
contracta:    An    tentandura   istud    experimentum  quod  inopinato   et  feliciter  successit 


Riviere.  217 

cuidam.  qui  intruso  auriscalpio  in  Aurem  profundissime.  disrupit  tympanum  fregitque 
Ossicula,  et  postea  audivit.     1.  c.  p.  290. 

3)  An  in  tinnitu  perforanda  mastoidis  Apopbysis,  ut  detur  exitus  spiritibus 
tumultuantibus  ?     ibidem. 

*)  Si  dolor  intolerabilis  inflammatorius  et  pulsatorius  partes  posticaa  occupet, 
fluxerit  materia,  et  postea  substiterit  remanente  dolore,  tutum  erit  aperire  terebra 
posticam  capitis  partem  in  occipitio,  ut  detur  exitus  puri,  cum  nulluni  ex  ea  opera- 
tione  periculum  majus  impendeat.     1.  c.  p.  290  u.  291. 

Lazare  Riviere  (Riverius),  1589 — 1655.  Professor  der  praktischen 
Medizin  in  Montpellier,  steht  mit  seinem  Werke  „Praxeos  medicae 
libri  XVII"  *)  noch  mitten  im  arabischen  mittelalterlichen  Mystizismus, 
wofür  insbesondere  das  3.  Buch**)  einen  schlagenden  Beweis    liefert. 

Zu  Beginn  des  1.  Kapitels,  in  dem  er  über  Taubheit  und  Schwer- 
hörigkeit (De  surditate  et  gravi  auditu)  spricht,  streift  Riverius  mit 
einigen  Worten  auch  die  Frage  der  Taubstummheit.  Er  behauptet 
vor  allem,  daß  die  Taubgebornen  auch  stumm  sein  müßten;  doch  bestehe 
außerdem  immer  noch  irgend  ein  Fehler  im  Sprechorgan,  da  sie  sonst 
irgend  einen  artikulierten  Laut  von  sich  gäben  (aliquam  vocem  articu- 
latam  ex  naturali  instinctu  ederent).  Wenn  man  nämlich  Tiere  von 
Geburt  an  von  anderen  Tieren  derselben  Spezies  fernhält,  so  bringen 
diese  trotz  ihrer  Isolierung  die  ihrer  Spezies  entsprechenden  Laute 
(vocem  sibi  connaturalem)  hervor,  was  bei  taubgeborenen  Menschen,  die 
die  menschliche  Stimme  nicht  hören  konnten,  nicht  der  Fall  sei.  Dieser 
Fehler  rühre  von  Feuchtigkeit  (ab  humiditate)  her,  die  jene  Nerven 
befalle,  die  gleichzeitig  zum  Ohre  und  zum  Kehlkopf  (ad  aures,  linguam 
et  laryngem)  zögen.  Taubheit  und  Schwerhörigkeit  entstehe  entweder 
durch  Hirnerkrankungen  oder  durch  lokale  Ohraffektionen.  Bei  Hirn- 
affektion  wird  als  Ursache  der  Taubheit  angeführt:  temperies  frigida 
aut  repletio,  aut  imbecillitas,  und  außerdem  Läsionen  im  Bereiche  des 
Ursprungs  des  Hörnerven  oder  seines  Verlaufes.  Daß  die  Taubheit  vom 
Gehirn  ausgehe,  könne  man  daran  erkennen,  daß  gleichzeitig  auch  andere 
Sinnesorgane  affiziert  erscheinen.  Taubheit  infolge  einer  Ohraffektion 
kann  verursacht  werden  durch  Erkrankung  des  äußeren  oder  des  inneren 
Ohres.  Bei  Besprechimg  der  Krankheiten  des  äußeren  Ohres  hellt 
Riverius  hervor,  daß  unvollkommene  oder  auch  vollkommene  Atresie 
des  äußeren  Gehörganges  nicht  Taubheit,  sondern  nur  Schwerhörigkeit 
hervorrufe,  da  die  Töne  auch  durch  den  Mund  auf  dem  Wege  der  Tuba 
Eustachii  zu  den  Ohren  gelangen  könnten1). 

Anderseits  wieder  behauptet  Riverius,  ein  Riß  im  Trommelfell 
oder   eine   in    diesem   zurückgebliebene   Narbe  habe  unheilbare  Taubheit 


*)  Hagae-Cotnitis  1664. 
**)  1.  c.  p.  185—209.    Cap.  1—4. 


218  De  le  Boe  Sylvius. 


zur  Folge  (Membrana  tympani  rupta,  vel  cicatrix  in  illa  relicta  incura- 
bilem  surditatem  efficit).  Im  übrigen  bekennt  Riverius  offen,  daß  die 
Ohrerkrankungen  oft  schwer  zu  diagnostizieren  sind ,  und  daß  man  die 
Ursache  oft  erraten  müsse  2). 

Die  therapeutischen  Angaben  des  Riverius  enthalten  nichts 
Neues.  Er  empfiehlt  mit  klebenden  Stoffen  umwickelte  Sonden  zum 
Ausziehen  von  Fremdkörpern,  Niesmittel  etc.  Er  will  ferner  Flöhe 
durch  Hundehaare  entfernen  (ob  sympathiam,  quam  habent  pulices  cum 
canibus) ,  ins  Ohr  geratene  Blutegel  durch  Eingießen  von  Blut  hervor- 
locken. Er  wendet  eine  Gruppe  von  Mitteln  an,  um  Insekten  und 
Würmer  hervorzulocken,  wie  mit  Zucker  versetzte  Milch,  das  Mark  eines 
süßen  Apfels,  ein  Stückchen  Speck  etc. 

Gegen  Schwerhörigkeit  und  Taubheit  infolge  „intemperies  frigida" 
rühmt  er  unter  anderem  Schwefelbäder  und  Dünste  schwefelhaltiger  Wässer, 
da  diese  angeblich  die  Kraft  besäßen ,  einerseits  das  Gehirn  zu  stärken 
und  auszutrocknen,  anderseits  den  im  Ohr  stockenden  Eiter  zu  zerteilen 
und  aufzulösen.  Diese  Methode  empfiehlt  ein  gewisser  Penotus,  der 
sie  auf  folgende  Weise  durchgeführt  hat.  Der  Körper  des  Patienten 
wird  zuerst  durch  Purgativa  gereinigt,  hierauf  wird  aus  großen  Bade- 
schwämmen eine  Mütze  geformt,  die  man  dem  Patienten  so  auf  den  Kopf 
setzt,  daß  sie  die  Ohren  bedeckt  und  bis  zu  den  Augenbrauen  reicht. 
Dann  läßt  man  vermittels  einer  Röhre  2  Stunden  hindurch  und  zwar 
täglich  zweimal  warmes  schwefelhaltiges  Wasser  auf  die  Mütze  strömen, 
bringt  nach  dieser  Prozedur  den  Kranken  sofort  in  ein  Bett,  damit  er 
tüchtig  in  Schweiß  komme  und  verordnet  eine  verdünnende  Diät*). 
Endlich  sei  noch  mitgeteilt,  daß  Riverius  von  schweren  Nachteilen 
berichtet,  die  das  Einführen  von  Opium  ins  Ohr  nach  sich  zieht. 

')  Advertendurn  tarnen  est,  meatus  exterioris  obturationem,  integram  et  abso- 
lutarn  surditatem  non  posse  efficere,  sed  tantum  gravem  auditum ;  quandoquidem 
per  os  etiam  soni  ad  aures  deferri  possunt. 

2)  Has  omnes  causas  per  propria  signa  diagnostica  sigillatim  distinguere  diffi- 
cillimum  est,  arte  tarnen  et  conjectura  in  hunc  modum  elucidari  possunt. 

De  le  Boe  Sylvius,  dessen  Leistungen  auf  experimentellem  Gebiete 
früher  (S.  179)  erwähnt  wurden,  der  das  Wesen  der  Krankheiten  aus 
chemischen  Prinzipien  zu  erklären  versuchte  und  das  vielfach  angefeindete 
System  der  Chemiatrie  schuf,  hat  in  seinem  umfangreichen  medizinischen 
Werke  „Opera  medicä"**)  der  Pathologie  und  Therapie  der  Ohr- 
erkrankungen  einen  kurzen  Abschnitt  gewidmet.  Wir  entnehmen  ihm 
Folgendes: 


l   Wird  auch   von  Lincke  zitiert.     Bd.  II,  S.  45. 
**)  Amstelodami  1680.    Praxeos  Medicae  Lib.   II.  Cap.  8,  p.  404,   De  praecipuis 
auditus  laesionibus. 


Tafel  XII 


FRANCISCUS  DELEBOE  SYLVIU3 


De  le  Boe  Sylvias.     Zacutus  Lusitanus.  219 

Sylvius  unterscheidet  eine  angeborene  und  erworbene  Taubheit. 
Die  Ursache  der  erworbenen  Taubheit  liege  entweder  im  äußeren 
Ohr,  das  durch  „sordes"  oder  andere  Dinge  verstopft  werden  könne, 
oder  im  inneren  Ohr,  wo  bisweilen  ein  „Apostema"  vorhanden  sei, 
oder  im  Trommelfell,  das  infolge  eines  heftigen  Geräusches  zerreiße, 
ferner  durch  ein  ins  Ohr  gestoßenes  spitzes  Instrument  oder  auch  durch 
ein  Apostem  arrodiert  werden  könne,  endlich  im  Hörnerven,  wenn  er 
austrockne  oder  durch  einen  Tumor  oder  Flüssigkeit  komprimiert  werde. 
Er  meint  ferner,  daß  bei  Apoplexie  und  ähnlichen  soporösen  Affektionen 
(in  Apoplexia,  Caro,  aliisque  similibus  affectibus  soporosis)  Taubheit 
durch  erstarrte  und  unbewegliche  Lebensgeister  (a  Spiritibus  animalibus 
torpidis  ac  immobilibus)  erzeugt  werde.  Endlich  bemerkt  er,  daß  auch 
bei  Gehirnverletzungen  und  -Erschütterungen  Taubheit  entstehe.  Was 
die  Schwerhörigkeit  anbelangt,  so  sei  sie  durch  dieselben,  jedoch  in 
leichterer  Form  auftretenden  Schädlichkeiten  bedingt,  wie  die  Taubheit, 
überdies  noch  durch  Katarrhe ,  die  sich  auf  das  Ohr  beschränken  oder 
auch  den  ganzen  Kopf  ergreifen.  Eine  besondere  Schärfe  des  Gehörs 
(auditus  auctus)  rechnet  er  ebenfalls  zu  den  Erkrankungen  des  Gehör- 
organes,  weil  die  Menschen  dann  einen  leichten,  sehr  oft  unterbrochenen 
Schlaf  haben.  Die  Verschlechterung  des  Gehörs  (auditus  depravatio) 
bestehe  in  Hörtäuschungen  und  subjektiven  Geräuschen.  Die  Lokal- 
behandlung  der  Ohrkrankheiten  ist  ebenso  kompliziert  wie  die  seiner 
Vorgänger.  Wenn  der  von  seinen  Zeitgenossen  gefeierte  Kliniker  zum 
Schlüsse  seiner  dürftigen  Ausführungen  das  ätiologische  Moment  bei 
Behandlung  von  Ohrkrankheiten  besonders  betont,  indem  er  darauf  hin- 
weist, daß  jede  von  philosophischen  Grundsätzen  ausgehende  rationelle 
Heilmethode  auf  genauer  Auffindung  aller  Ursachen  basieren  müsse,  so 
ist  es  Sylvius  doch  nicht  gelungen,  diesem  hohen  Ziele  nahe  zu  kommen, 
geschweige  denn  es  zu  erreichen;  fehlten  hierzu  ja  noch  alle  Voraus- 
setzungen, vor  allem  eine  gründliche  Kenntnis  der  Ohrerkrankungen  selbst. 

Abraham  Zacuto  (bekannt  unter  dem  Namen  Zacutus  Lusitanus, 
1575—1642),  ein  jüdischer  Arzt  aus  Portugal,  der  in  Amsterdam  praktizierte  und 
auch  als  mediko-historischer  Schriftsteller  Erwähnung  verdient,  teilt  in  seinen  Werken*) 
einige  Beobachtungen  über  Ohrerkrankungen  mit,  von  denen  wir  nur  folgende  er- 
wähnen: Bei  einem  jungen  Manne,  der  seit  längerer  Zeit  an  Taubheit  litt,  will  er 
bemerkt  haben,  daß  durch  ein  Geschwür,  welches  sich  am  Ohrläppchen  entwickelt 
hatte,  das  Gehör  gebessert  wurde.  Auf  diese  Beobachtung  hin  empfahl  Zacutus 
bei  veralteter  Taubheit  das  Anlegen  von  Fontanellen  am  Ohrläppchen.  Ferner 
erzählt  er,  daß  ein  Kurpfuscher  (pseudomedicus)  einem  an  Ohrenentzündung  leidenden 


*)  De  medicorum  prineipum  historia  :  librä  sex  Lugd.  Bat.  1657.  Lib.  1.  Hist. 
59—61,  Obs.  44,  p.  98— 101.  —  Lincke,  Bd.  II,  S.  45  zitiert  ferner:  Praxis  medica 
admiranda.     Lib.  1,  Obs.  66—70.  —  Prax.  histor.     Lib.   I,  Cap.  14,  Lib.  II f,  Cap.  7. 


Daniel  Senner t. 


Patienten  Opium   ins  Ohr   steckte .   wodurch   dieser  sich  wohl  einige  Zeit  erleichtert 
fühlte,  bald  aber  unter  Schwindelanfällen.  Bewußtlosigkeit  und  Konvulsionen  starb. 

Daniel  Sennert.  Dem  sonst  verdienstvollen  Wittenberger  Uni- 
versitätsprofessor Daniel  Sennert  (1572 — 1037),  dem  seine  Zeitgenossen 
den  Titel  eines  deutschen  Galen  verliehen,  hat  die  Otologie  nur  wenig 
Förderung  zu  danken.  Was  er  in  seinen  Arbeiten  über  das  Gehörorgan 
sagt,  findet  sieh  mit  geringen  Varianten  fast  in  allen  medizinischen 
Schriften  des  16.  und  17.  Jahrhunderts,  die  sich  mit  dem  Gehörorgan 
befassen.  Wir  beschränken  uns  daher  auf  die  Skizzierung  einiger  halb- 
wegs  origineller  Ansichten    über  Physiologie   und  Pathologie  des  Ohres. 

Eine  kurze  anatomische  Beschreibung  des  Gehörorgans,  die  viel 
zu  wünschen  übrig  läßt,  findet  sich  im  Lib.  VIII,  Cap.  2,  „De  corpore 
humano"*)  und  im  Lib.  I  der  .,Institutionum  medicinae"  Cap.  12,  „De 
sensibus  externis"  **).  Aus  eigenen  Sektionen  dürfte  Sennert  kaum 
die  Anatomie  des  Gehörorgans  gekannt  haben.  Was  er  hier  mitteilt,  ist 
ausführlicher  und  präziser  in  den  Schriften  der  früheren  und  zeitgenössi- 
schen Anatomen  enthalten ,  denen  er  seine  dürftigen  Angaben  zweifels- 
ohne entlehnt  hat. 

Im  Lib.  VII.  der  Epitome  naturalis  scientiae ,  Cap.  III.,  „De 
auditu"***)  bespricht  Sennert  die  Physiologie  des  Hörens.  Nach 
einer  kurzen,  uninteressanten  Auseinandersetzung  über  das  Objekt  des 
Hörens,  den  Ton  (sonus)  und  das  Medium  des  Tones  (aer  et  aqua),  kommt 
er  auf  den  „aer  ingenitus"  zu  sprechen,  und  bemerkt  hier,  daß  einige 
neuere  Forscher  diesen  in  Abrede  stellen ,  weil  ein  Sinnesorgan  ein  be- 
lebter Teil  sein  müsse  (cum  sensionis  Organum  pars  similaris  animata 
esse  debeat),  und  als  hauptsächlichstes  Hörinstrument  einen  im  inneren 
Ohr  ausgebreiteten  Nerven  ansehen  (et  principale  auditus  instrumentum 
Xervum  quendam  in  aure  expansum  esse  sentiunt).  Sicherlich,  fügt 
Sennert  hierzu,  sei  die  neuere  Ansicht  der  älteren  vorzuziehen  (et  certe 
prior  opinio  huic  postponenda  est). 

Im  Lib.  II.  der  ..Institutionum  medicinae",  Part.  III.,  Sect.  II„  Cap.  3) 
endlich  behandelt  er  die  Pathologie  des  Ohres.  In  dem  Abschnitte 
„De  causis  laesi  Auditus"  werden  als  Ursachen  der  Schwerhörigkeit  an- 
gegeben: Mangel  der  Ohrmuschel,  Verschluß  des  äußeren  Gehörganges, 
Erkrankungen  des  Trommelfells  verschiedenster  Art,  Fehler  in  der  Be- 
schaffenheit der  Zusammensetzung  des  „aer  implantatus",  Flüssigkeit,  die 
vom  Gehirn  herabfließt  und  die  Gänge  des  Gehörorgans  erfüllt. 

In    weitschweifiger    Weise    werden    die    Ohraffektionen    zusammen- 


*)  1.  c.  p.  121. 
**)  1.  c.  p.  288. 
**)  Danielis  Senner ti  Opera  omnia,  Parisiis  1641.  p.  101. 


Kohr.  Vikt.  Schneider.  221 

hängend  in  seiner  „Practicae  medicinae  lib.  primus  de  capitis  et  sensuum 
cum  internorum  tum  externorum  motusque  spontanei  affectionibus", 
Pars  III..  Sect.  III..  De  aurium  morbis  ac  symptomatibus ,  Cap.  1 — 9, 
p.  330 — 344.  dargestellt.  Der  Inhalt  läßt  kaum  einen  Fortschritt  gegen- 
über seinen  Vorgängern  erkennen;  die  Ohrkrankheiten  werden  noch  ganz 
im  Geiste  der  mittelalterlichen  Schriftsteller  abgehandelt  und  zeigen 
höchstens  Originalität  in  der  Anführung  und  Anpreisung  mehr  oder 
minder  obsoleter  Mittel.  Würmer  des  Ohres  möge  man  mit  Schwefel- 
dampf  töten  und  beim  Räuchern  des  Ohres  möge  der  Patient  Bohnen 
oder  Erbsen  kauen,  um  den  Gehörgang  zu  erweitern  und  so  das  Ein- 
strömen des  Dampfes  zu  erleichtern. 

Dauernde  subjektive  Geräusche  entstehen  nach  Sennert  aus  der 
Ueberfüllung  der  kleinen  ins  Ohr  gehenden  Arterien  mit  warmem  Spiritus 
und  einer  dadurch  hervorgerufenen  Pulsation,  welche  der  gleicht,  die 
man  bei  einem  Aneurysma  mit  dem  aufgelegten  Finger  empfindet.  Die 
Ursache  der  Taubheit  liege  entweder  in  den  Lebensgeistern  oder 
im  Hörnerv  oder  auch  im  Gehörorgan  selbst.  Werde  im  Gehirn  kein 
Lebensgeist  produziert  oder  könne  er  nicht  in  den  Hörnerv  einströmen, 
so  entstehe  Taubheit  und  auch  die  anderen  Sinne  litten  darunter. 
Dieselbe  Wirkung  werde  ferner  hervorgerufen,  wenn  die  Lebensgeister 
eine  qualitativ  und  quantitativ  fehlerhafte  Zusammensetzung  hätten. 
Bei  Greisen  habe  die  Taubheit  ihre  Ursache  in  dem  Ueberfließen  von 
Schleim  aus  dem  Gehirn  durch  den  porus  acusticus  internus  ins  Ohr. 
Entstelle  aber  die  Schwerhörigkeit  nach  einem  heftigen  Schall,  so  sei 
der  Gehörnerv  verletzt  oder  die  Lebensgeister  vertrieben  worden. 

In  einem  der  Kinderheilkunde  gewidmeten  Traktat  seines  Werkes 
(De  infantum  curatione  tractatus)  findet  sich  auch  ein  kurzer  Hinweis 
auf  die  bei  Kindern  häufig  vorkommenden  Ohrerkrankungen.  (Cap.  12, 
De  Aurium  dolore,  inflammatione ,  humiditate,  ulceribus  et  vermibus, 
p.  707.)  Daß  er  die  Ohrenflüsse  der  Kinder  auf  ein  bei  diesen  ..niaxime 
humidum  cerebrum"  zurückführt,  beweist  nur,  wie  wenig  er  sich  von 
den  alten  Galenschen  Anschauungen  emanzipieren  konnte.  Schließlich 
wäre  noch  hervorzuheben,  daß  Sennert  auf  das  Leichte  Entstehen  einer 
Labyrintherkrankung  bei  Ohrenflüssen  dunkel  hinweist,  indem  er  sagt, 
daß  durch  die  Ohrenflüsse  die  Knochen  des  Ohre-,  vor  allem  die  spon- 
giösen  und  kavernösen  Räume  ergriffen  und  kariös  werden,  und  daß, 
falls  nicht  bald    Heilung  eintritt,  unheilbare   Taubheit  die  Folge  ist*). 

Konrad  Viktor  Schneider.  Größere  Förderung  als  von  seinen 
Zeitgenossen    erfuhr    die    Otiatrie    durch    Konrad    Viktor    Schneider 

*)  Insuper  ex  continuo  humorum  adfluxu  et  sordibus  ulceris  latius  serpentis 
tandem    aurium   ossa,   et  praecipue    spongiosa   et   cavernosa    illa .    corrumpuntur  et 

cariosa  eradunt,  et  nisi  temporis  progressu  ulcus  sanetur  incurabilis  surditas  inde  oritur. 


222  Konr.  Vikt.  Schneider. 


(1614 — 1680),  dessen  rationelle  Therapie  sich  wesentlich  von  der  seiner 
Vorgänger  unterscheidet.  Seinem  berühmten  Werke:  „Liber  de  Catarrhis, 
Vittebergae  1661",  dessen  Klarheit,  Gründlichkeit  und  alles  umfassende 
Gelehrsamkeit  von  Sprengel  rühmend  hervorgehoben  wird,  gebührt  das 
unbestrittene  Verdienst,  mit  dem  tief  eingewurzelten  Irrtum,  daß  Nasen- 
schleim und  Cerumen*)  Exkremente  des  Gehirns  seien,  endgültig  auf- 
geräumt zu  haben.  Ausgerüstet  mit  allen  damals  bereits  vorhandenen 
anatomischen ,  physiologischen  und  pathologischen  Hilfsmitteln  erbringt 
Schneider  den  wichtigen  Nachweis,  daß  die  alte  Annahme  der  Gale- 
n  i sten,  die  Katarrhe  stiegen  aus  dem  Gehirn**)  herab,  vollkommen 
falsch  war.  Er  zeigt ,  daß  die  ( )hrenflüsse  unmittelbar  aus  den  Ohren 
kommen,  und  verurteilt  die  von  alters  her  gebräuchlichen  Einspritzungen. 

Aus  der  umfangreichen  Arbeit,  die  sich  infolge  ihrer  Weit- 
schweifigkeit und  geringen  Uebersichtlichkeit  nicht  leicht  liest,  wollen 
wir  die  Stellen,  an  denen  er  das  Gehörorgan  erwähnt,  in  Kürze  be- 
sprechen. 

Das  fünfte  Kapitel  des  dritten  Buches  beginnt  Schneider  mit 
einer  Polemik  gegen  Mercatus  und  Argenterius,  welche  die  „sordes 
aurium"  für  ein  Exkrement  des  Gehirns  halten.  Er  bestreitet  auch  die 
Möglichkeit  der  Annahme  des  Casserio,  daß  die  sordes  aurium  aus  dem 
Gehirn  den  überschüssigen  Salzgehalt  aufnehmen.  Einige  Autoren  wie 
Ingrassia  und  Paracelsus  hätten  wohl  behauptet,  daß  Ceruminalsekret 
und  Schleim  (aurium  sordes  propria  aurium  exerementa)  Ausscheidungen 
des  Gehörorgans  wären,  doch  seien  die  Angaben  dieser  Autoren  zu  wenig 
präzis  gegenüber  der  entschiedenen,  auf  anatomischer  und  klinischer  Be- 
obachtung basierenden  Angabe  Schneiders,  daß  die  normalen  uud 
pathologischen  Sekrete  im  Gehörorgan  aus  den  Blutgefäßen  geliefert 
werden  *). 

Schneider  bestreitet  ferner  die  Möglichkeit,  daß  Transsudationen, 
Eiter  und  andere  Absonderungen  (pus  et  sordes)  durch  das  intakte 
Trommelfell  durchdringen  könnten.  Hingegen  glaubt  er  irrtümlicherweise, 
die  post  mortem  so  häufig  vorgefundene  seröse  Flüssigkeit  in  der  Trommel- 
höhle sei  als  Produkt  eines  Mittelohrkatarrhs  anzusehen.  Wir  wissen 
jetzt,  daß  solche  Transsudate  zuweilen  in  den  letzten  Lebensstunden 
erfolgen. 

An  seiner  Ueberzeugung,  wonach  alles,  was  aus  den  Ohren  fließe, 
nicht  vom  Gehirn  stammen  könne,  hält  Schneider  so  fest,  daß  er  bei 
der  Besprechung  eines  von  Isaak  Cattierius  erwähnten  Falles  einer 
Schädelbasisfraktur  mit  Ausfluß  einer  großen  Menge  seröser  Flüssigkeit 


*)  Aurium  sordes  ex  sanguine  per  vasa  aurium.     Lib.  III,  Cup.  10,  p.  387. 
i   Materia  C'atarrhorum  non  est  exerementum  Cerebri.    Lib.  TIT.  Cap.  5.  p.  158. 


Michael  Ettmüller.  223 

aus  Nase  und  Ohren  (Cerebrospinalflüssigkeit)  die  Behauptung  aufstellt, 
der  reichliche  seröse  Ausfluß  entstehe  durch  Ausscheidung  der  Blut- 
gefäße 2). 

Mit  diesem  Fall  stellt  er  irrtümlich  einen  anderen  von  Senn  er  t 
zitierten  in  eine  Parallele,  bei  dem  es  sich  um  eine  starke  seröse  Ex- 
sudation in  der  Trommelhöhle  handelt. 

Im  zehnten  Kapitel  des  vierten  Buches  bekämpft  Schneider  die 
bis  dahin  gangbare  Ansicht,  daß  man  vom  Gehörorgan  aus  auf  das 
Gehirn  einwirken  könne  (ab  auribus  ad  Cerebrum  viam  ferre)  und  ver- 
wirft die  bei  Hirnerkrankungen ,  bei  Mittelohrkatarrhen  und  Otalgien 
empfohlenen  Einträufelungen  von  Oelen,  besonders  des  Ol.  terebinthinae. 

!)  Aurium  partes  sunt  ossa  temporum ,  tria  illa  ossicula ,  mernbranae  intus 
reconditae  et  membrana  Tympanum  cognoniinata ,  musculus  ille  minimus ,  nervus, 
chorda.  Hae  ex  nutritione  tarn  acre  et  tarn  rnultum  excrementum  tarn  indesinenter 
exigere  non  posse  videntur.     Sunt  etiam  perexiguae  partes  et  admodurn  siccae. 

2)  Hie  humor  de  sanguine  venit,  qui  sanguinis  missione  refractus  fuit.  Minime 
vero  ille  Icbor  per  corpus  Cerebri  defluxit. 

Michael  Ettmüller,  Professor  der  Medizin  in  Leipzig  (1G44 — 1683), 
ein  eifriger  Anhänger  der  Chemiatrie,  beschäftigt  sich  in  eingehender 
Weise  mit  den  Erkrankungen  des  Ohres.  In  seinen  von  seinen  Schülern 
veröffentlichten  Schriften  „Michaelis  Ettmülleri  opera  omnia,  Venetiis 
1734"  findet  sich  nahezu  alles  wiederholt,  was  seine  Vorgänger  bereits 
weitläufig  ausgeführt  haben.  Originelle  Ideen  vermissen  wir  in  dem 
Werke  gänzlich. 

Von  Erkrankungen  nennt  er  ..Entzündung  und  Geschwür  der 
Ohren"  l),  „ Gehörstörungen "  2)  und  „ Ohrschmerz u  :;).  Er  erwähnt  einen 
von  Bartholinus  überlieferten  interessanten  Fall,  bei  dem  sich  im 
eitrigen  Ohrenausflusse  ein  Zahn  vorfand ,  ohne  daß  ein  solcher,  wie  er 
hervorhebt,  im  Oberkiefer  fehlte4).  Er  stellt  in  Abrede,  daß  eine 
Sekretion  in  der  Trommelhöhle  ohne  gleichzeitige  Börstörung  bestehen 
könne  5).  Er  empfiehlt,  Ohrenflüsse  besonders  bei  Kindern  nicht  zu  früh 
zur  Heilung  zu  bringen  und  bloß  den  äußeren  Gehörgang  rein  zu  halten, 
was  er  merkwürdigerweise  am  besten  durch  menschlichen  Urin  erreichen 
will6).  Eine  Linderung  des  Ohrenschmerzes  erwartet  er  durch  Einblasen 
von  Tabakrauch  mit  einer  Röhre,  ebenso  durch  Anwendung  des  aus  nicht 
weniger  als  21  Ingredienzien  bestehenden  „Spiritus  Otalgicus"  des  Chi- 
rurgen Paul  Barbette.  Schwerhörigkeit  und  Taubheil  worden  seiner 
Ansicht  nach  durch  Erkrankungen  der  Ohrmuschel,  des  äußeren  Gehör- 
ganges, des  Trommelfells  und  des  Hörnerven  bedingt.  Er  erwähnt  als 
eigene  Beobachtung  spastische  Krämpfe  der  Muskeln  der  Gehörknöchel- 
chen,  durch  die  das  Trommelfell  übermäßig  gespannt  von  den  Luft- 
schwingungen  nicht  aus  seiner  Ruhelage  gebracht  werden  kann.    Dieser 


22  I  Michael  Ettmüller. 


Muskelkrampf  sei  die  Ursache  von  Hörstörungen  bei  hysterischen  Indivi- 
duen und  Hypochondern.  Die  hierbei  auftretende  subjektive  Empfindung, 
als  ob  etwas  vor  ihren  Ohren  ausgespannt  wäre  (quibus  saepe  aliquid 
ante  aures  obtendi  videtur),  verschwindet  rasch  wieder,  wenn  der  Krampf 
nachläßt. 

Die  Nervenaffektionen  teilt  er  ein  in  angeborene  Bildungs- 
fehler, wenn  nämlich  der  Hörnerv  nicht  zum  inneren  Ohr,  sondern  in 
anderer  Richtung  (ad  alium  locum)  verläuft,  in  Kompression  oder 
Verstopfung  (bei  Gehirnerschütterung,  Lues,  fieberhaften  Erkran- 
kungen etc.),  die  den  Durchtritt  der  „Spiritus  animales"  verhindern,  endlich 
in  Erkrankung  der  in  der  Schnecke  und  im  Labyrinthe  ausgebreiteten 
Membranen,  die  von  „paralysi"  oder  „spasmo"  ergriffen  werden  können. 
Daß  Fasern  dieser  „Membrana  auditoria"  bei  paralytischer  Konstitution 
durch  heftige  Geräusche,  wie  manche  meinen,  geschädigt  oder  gar  zer- 
rissen werden,  bestreitet  er  mit  dem  Himveise  auf  das  Trommelfell,  das 
den  heftigen  Schall  aufhalte  und  die  Wirkung  auf  die  tieferen  Teile 
abschwäche.  Eine  spastische  Spannung  der  Fäden  der  Hörmembran 
macht  sie  zum  Mitschwingen  untauglich.  Charakteristisch  für  die  da- 
maligen Ansichten  ist  die  Argumentierung  in  einem  Falle,  betreffend 
einen  alten  Mann,  der  infolge  einer  Taubheit  sein  scharfes  Sehvermögen 
wieder  erlangte  und  nach  Heilung  der  Taubheit  wieder  schlecht  gesehen 
haben  soll.  Durch  den  „spasmus"  des  Hörnerven,  meint  Ettmüller,  seien 
die  „spiritus  Animales"  zum  Sehnerv  und  nach  Lösung  des  „spasmus" 
nicht    mehr    in  solcher  Menge  zu  ihm  gelangt. 

Prognostisch  hält  er  das  Hinzutreten  eines  Deliriums  zu  einer  vor- 
hergehenden Taubheit  bei  akuten  Erkrankungen  für  ungünstiger  als  das. 
Hinzutreten  von  Taubheit  zu  einem   vorhandenen  Delirium. 

Die  Therapie  ist  der  polypragmatischen  Idee  seines  Zeitalters  ent- 
sprechend von  einer  ebenso  überwältigenden  wie  wertlosen  Reichhaltigkeit. 
Erwähnenswert  wäre  nur  die  Mitteilung,  daß  die  Taubheit  eines  Hundes 
durch  eine  Bluttransfusion  vom  Schafe  geheilt  worden  sein  soll7).  Die 
subjektiven  Geräusche  (auditus  depravatus)  scheidet  Ettmüller  in  ein 
„Sausen  und  Brausen  (sonitus)"  und  ein  („tinnitus")  Klingen  der  Ohren. 
Als  Ursache  führt  er  neben  anderen  Momenten  auch  eine  durch  heftigen 
Impuls  hervorgerufene  Dislokation  des  Trommelfells  und  der  Gehör- 
knöchelchen, ferner  Verletzung  oder  Dislokation  der  Fibrillen  der  Hör- 
membran in  der  Schnecke  an.  Wenn  heftige  Pulsation  von  kleinen 
Arterien  die  Schuld  trage,  könne  man  die  Beobachtung  machen,  daß  bei 
eintretendem  Nasenbluten  das  Ohrgeräusch  aufhöre. 

')  1.  c.  Tom.  II,  Lib.  I,  Sect.  18,  Art.  16,  p.  1101  —  1104.  De  Inflammatione 
Aurium  earumque  Ulcere. 

2)  ibid.  Lib.  II,  Sect.  II,  Cap.  2.  Art.  1—2.  p.  1360—1372.  De  Auditus  laesionibus. 


Ant.  Nuck.     M.   G.  Purmann.  225 

3)  ibid.  Cap.  3.  Art.  6,  p.  1395—1399. 

4)  Mirabile  Inflammationis  Auris  Exeiuplum  est ,  quod  Bartholinus  cent.  3, 
Epist.  17,  p.  67  refert,  in  abscessu  aurium  erumpens  pus  et  vehens  simul  secum 
dentem,  sine  defectu  dentis  ullius  in  Maxillis.    1.  c.  p.  1102  (offenbar  ein  fremder  Zabn). 

5)  Caeterum  quod  dicat,  Tympani  hanc  excretionem  observatam  fuisse  citra 
auditus  laesionem,  dubito,  et  suspendo  bac  in  parte  Judicium,     ibid. 

6)  Sufficit,  si  modo  mundus  servetur  Meatua  auditorius,  id  quod  optime  mediante 
urina  humana  assequimur.     p.  1104. 

7)  Journal  de  Scavans  Ann.  1668.     Acta  Societ.  Reg.  Vol.  I,  p.  705. 

Die  Chirurgie  der  Ohraffektionen  am  Ende  des  17.  Jahrhunderts 
weist  kaum  einen  Fortschritt  gegen  Pare  und  Fabricius  Hildanus 
auf.  Die  chirurgischen  Eingriffe  beschränken  sich  noch  immer  auf  die 
Extraktion  von  Fremdkörpern  und  Polypen. 

Antonius  Nuck  (1650 — 1692),  der  sich  durch  seine  Untersuchungen 
über  die  Lymphgefäße  und  Drüsen  des  menschlichen  Körpers  besonders 
verdient  gemacht  hat,  gibt  in  seinen  „Operationes  et  experimenta  chi- 
rurgica",  Lugd.  Batavor.  1696,  in  einem  kurzen  Abriß  „de  aurium 
Chirurgia"  (p.  50)  einige  nützliche  Winke  über  Extraktion  von  Fremd- 
körpern. Vor  allem  soll  der  Gehörgang  mit  dem  Speculum  auris 
von  Solingen  erweitert  werden.  Am  besten  werden  verschiedenartige 
Haken  zur  Extraktion  verwendet.  Das  von  anderen  Autoren  empfohlene 
Anbohren  des  Fremdkörpers  mit  einem  Bohrer  (Terebellum)  behufs 
Extraktion  verwirft  er,  weil  dabei  das  Trommelfell  verletzt  werden 
kann.  Zur  Entfernung  von  Insekten  aus  dem  Ohre  bedient  er  sich 
einer  Sonde ,  die  mit  einem  in  Terpentinharz  getränkten  Schwämmchen 
armiert  ist. 

Granulationen  und  Polypen  im  äußeren  Gehörgange  sind  mit 
Messer  oder  Schlinge  abzutragen.  Scharfe  Aetzmittel  sind  wegen  der 
Gefahr  einer  Schädigung  des  Trommelfells  zu  vermeiden. 

Bisweilen  wird  der  Gehörgang  durch  eine  einem  ausgespannten 
Segel  ähnliche  Membran  verschlossen.  Befindet  sich  diese  in  der  Nähe 
des  Trommelfells,  so  unterlasse  man  jeden  operativen  Eingriff. 

Schließlich  empfiehlt  er  für  hochgradige  Schwerhörigkeit,  gegen  die 
sich  die  medikamentöse  Behandlung  als  wirkungslos  erweist,  ein  mehr- 
fach gewundenes,  metallenes  Höhrrohr  (Tuba  sonorifera  seu  acovistical. 
welches  er  auch  abbildet. 

Matth.  Gottfr.  Purmann  (1648 — 1721),  dessen  in  deutscher  Sprache 
geschriebenes  Werk*)  zu  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  erschien,  berichtet 
(p.  62)  über  Anheilung  einer  fast  ganz  abgÄtauenen  Ohrmuschel,  deren 
Wundflächen    zuerst    „geritzet",    dann    mit    einem  Heftpulver  (bestehend 


i   Matth.  Gottfr.  Purmanni,    Grolier   und  neugewundener  Lorbeerkranz. 
Frankfurt  und  Leipzig  1722. 

Politzer,  Geschichte  dei  Ohrenheilkunde.    I  15 


226 


Joh.  Jak.  Wepfer. 


aus  Pulv.  rad.  consol.,  Gummi  arabic,  Tragakant  und  Sarkokoll)  bestreut 
und  mit  Heftpflaster  befestigt  wurden. 

Granulationen  (Fleischgewächse),  die  nach  „übeler  Heilung  der 
Aposthemen  in  den  inneren  Ohrenhöhlen"  entstehen,  sind  gut  „auszu- 
trocknen", weil  sie  sonst  zur  Atresie  des  Gehörgangs  führen  können. 
Purmann  wiederholt  hier  die  Angaben  Pares.  Desgleichen  werden 
in  Bezug  auf  den  Ersatz  verloren  gegangener  Ohrmuschelteile  die  Vor- 
schriften Tagliacozzis  und  Pares  wiedergegeben. 

In  dem  Kapitel  „Von  den  Gewächsen,  so  sich  gemeiniglich  in  den 
Ohren  und  am  Halse  finden  lassen"  (p.  251)  schildert  er  neben  zwei 
anderen  Fällen  eine  1685  ausgeführte  Polypenoperation  bei  einem  19jäh- 
rigen  Mädchen  „sanguinischer  Komplexion",  die  sich  „mit  selbigem 
Leiden    seit   4    Jahren    geschleppet"    (Fig.  10).    Die    nach    der   Methode 

des  Fabricius  Hildanus  aus- 
geführte „ Unterknüpf ung"  wurde 
„  3  Morgen  nach  einander "  wieder- 
holt, bis  der  Polyp  „gleichsam 
abstarb".  Als  Pur  mann  im  Be- 
griff war,  die  Wurzel  des  Ge- 
wächses „auszureißen",  vergriff 
sich  sein  „Geselle  in  der  Arznei" 
und  ließ  ihr  einige  Tropfen  von 
„Aqua  fortis"  (Scheidewasser) 
ins  Ohr  fallen,  worauf  heftige 
Schmerzen,  Hitze  und  Konvul- 
sionen eintraten.  Nach  sechs- 
tägiger Behandlung  schwanden 
die  beunruhigenden  Symptome 
und  P  u  r  m  a  n  n  fand ,  daß  auch 
die  Wurzel  des  Polypen  jetzt 
ganz   „ausgereutet"   war. 

Als  Beispiel  der  kompli- 
zierten Therapie  jener  Zeit  möge 
das  folgende  zur  Beseitigung  des  Ohrenflusses  empfohlene  „Trucken- 
pulver"  dienen.  Rec.  Lithargyr.  Coct.  Unc.  ss.  Tutiae  ppt.  Ceruss.  lot.  aa. 
Drachm.  V.  Lap.  Calaminar.  ppt.  Drachm.  ij.  Rad.  Aristoloch.  long. 
Brvon.  Serpentar.  aa.  Drachm.  iij.  Fol.  Persicar.  Theae  ää.  Drachm.  ijss. 
Flor,  zinci  Unc.  ss.  Croci  metallor.  Scrup.  ij.  M.  F.  ad  subtilisst.  pulv.  S.  &c. 
Johann  Jakob  Wepfer,  ein  hervorragender  Schweizer  Arzt  des 
17.  Jahrhunderts  (1620 — 1695),  der  sich  um  die  pathologische  Anatomie 
mehrerer  Krankheiten  (Apoplexie)  große  Verdienste  erworben  hat,  berührt 
in  seinen   „Observationes  medicopracticae  de  affectibus  capitis  internis  et 


Fig.  10.     Reproduktion  der  Abbildung  eines 

Ohrpolypen    aus    dem    zitierten    Werke    M. 

G.  Purmanns. 


Joh.  Jak.  Wepfer.  227 


externis"*)  auch  otiatrisches  Gebiet.  Ta  die  betreffende n  Kranken- 
geschichten nur  Unwesentliches  enthalten ,  können  wir  auf  deren  Ana- 
lyse verzichten .  Subjektive  Geräusche  beobachtete  er  außer  bei 
Ohraffektionen  auch  bei  Hemikranie  (Obs.  LV. ,  p.  149),  bei  „obtusio 
capitis"  (Obs.  LXL,  p.  186  u.  191),  bei  Schwindel  (Vertigo  gyrosa  et 
titubans,  Obs.  LXX.,  p.  230)**),  bei  h  y  st  er  ischen  Krampf  en  (motus 
convulsivi  cum  Clavo  hysterico,  Obs.  CXVIIL,  p.  549);  Ohrensausen 
bei  Ohrerkrankungen  versucht  er  aus  irgend  einem  Hindernis  ( Cerumen, 
Sekrete,  Tubenverschluß  etc.)  der  Luftströmung  aus  dem  Ohre  zu  er- 
klären, wie  sich  leicht  beweisen  lasse,  wenn  man  beispielsweise  das 
normale  Ohr  mit  dem  Finger  verschließe  oder  ein  Trinkglas  vorhalte, 
so  vernehme  man  deutlich  ein  Brausen,  während  jemand,  der  an  sub- 
jektiven Geräuschen  leide ,  bei  diesem  Versuche  kein  neues  Geräusch 
(Obs.  CLXXXVI..  p.  882)  wahrnimmt.  Ebenso  kompliziert  wie  irrationell 
ist  seine  Therapie;  so  empfiehlt  er  gegen  den  „tinnitus  aurium"  starke 
Geräusche,  z.  B.  das  Zusammenschlagen  zweier  Steine,  wodurch  das  Ab- 
fließen der  das  Sausen  bedingenden  serösen  Flüssigkeit  aus  dem  Ohre 
erzielt  werde  (Obs.  LIL,  p.  141). 

Außer  den  im  Texte  angeführten  Autoren  sind  noch  folgende,  unwesentliche 
Details  enthaltende  Schriften  des  17.  Jahrhunderts  zu  erwähnen. 

Nicol.  Henelius.  Otium  Wratislaviense.  Jenae  1658,  Cap.  17.  Aurium 
nariumque  resectio. 

Histoire  de  l'Academie  Royale  des  Sciences  depuis  son  etablissement  en 
1666  jusqua  1686.  Tom.  1,  annee  1684,  p.  395.  Sur  l'Organe  de  l'o  u  i  e. 
Paris  1733. 

Hyac.  Jordanus,  Theorica  medicinae  S.  Thomae  etc.  Physiologiae  par- 
ticula  4  anatomica  articulata  10.  De  auribus.     Neapoli  1643. 

Fra'nciscus  Junius,  De  pictura  Veterum.  Lib.  III,  Cap.  9,  §  12.  Au  res 
mediocres  optimae.     Roterodami  1694- 

Jos.  Langius,  Florilegium  verbo  Auditus  et  audire  p.  71.  Argen- 
torati  1662. 

Fortun.  Licetus,  De  Aristot,  libro  de  admirandis  auditionibus  etc. 
Cap.  28,  29,  30,  31.     ütini  1646. 

Pietro  Mengoli,  Speculationi  di  Musica.  Specul.  1,  Descrizione  dell' 
orecchio,  e  Specul.  3  et  4.  dell'  udito.   Bologna  1670. 

Dan.  Georg  Morhofius,  Dissertationes  variae  etc.  Diss.  XI.  De  paradoxis 
sensuum.   Cap.  3.   De  paradoxis  auditus.   Hamburg!  1699. 

Nicol.  Nancelius.  Analogia  Microcosmi  etc.  Lib.  III,  Part.  2,  Cap.  2.  De 
auditu  et  auribus.     Parisiis  1629. 

Honoratus  Nicquetius,  Physiognomia.  Lugduni  1648.  Lib.  II,  Cap.  11. 
De  Auribus. 


*)  Herausgegeben  von  den  Enkeln  Bernhard  und  Georg  Michael  Wepfer, 
Schaffhausen  1727. 

**)  Das  Werk  Wepfers  ist  in  der  älteren  Literatur  die  beste  Quelle  für  den 
„Schwindel"  als  Symptom  bei  den  verschiedenartigsten  Erkrankungen. 


Zur  otologischen  Literatur  des  17.  Jahrhundert-. 

Joh.  Friedr.  Ortlob,  Historia  partium  et.  oeconom.  homin.  Diss.  29.  De 
Audi  tu.   Lipsiae  1697. 

Emilio  Parisano,  Nobilium  exercitationum.  Lib.  XII.  De  subtilitate  micro- 
cosmica  etc.   Venetiis  1623.   Lib.  II.    De  Auditus  orgauo. 

Alessandro  Paseoli,  De  Corpore  humano.  Tom.  III.  Sect.  1,  Cap.  3.  De 
Auribus.   Romae  1718. 

Francesco  Pietri.  Problemi  Accademici.  Problema  50,  quäl  sia  di  maggior 
senso  o  potenza,  l'occhio  o  l'orecchio.  Napoli  1642. 

Meissner,  Diss.  de  auditu  eiusque  vitiis.    Pragae  1690. 

Seh  rader,  Diss.  de  audit.  gravitate.   Heinist.  1694. 

Nymmanus,  Diss.  de  gravi  auditu  et  surditate.     1694. 

Theod.  Grammaeus,  De  morb.  oculor.  et  aurium.    Venet.  1601. 

Joann.  Wolff,  Diss.  in  Galeni  libros  de  affectibus  aurium.  Helmstadii  1619. 
In  exercitationib.  semioticis  ad  Claud.    Galeni  libros  de  locis  affectis.    Helmstadii  1620. 

Menjotii,  Diss.  de  bombis  aurium.    App.  ad  bist.  febr.  malign.   Paris  1622. 

Alsarius  a  Cruce,  Consultatio  pro  nobili  adolescentulo,  oblivione,  surdi- 
tate et  obauditione  laborante.   Rom  1629. 

Zeidler,  Diss.  de  aurium  tinnitu.   Lips.  1630 

Deusing,  Diss.  de  surdis   ab  ortu.    Groening.  1660. 

Warenius,  Diss.  de  catarrho  et  ex  eo  descendente  otalgia  etc. 
Rostock  1663. 

Brotbeck,  Diss.  de  inflammatione  aurium.    Tubing.  1667. 

Joann.  Theod.  Schenck.  Diss.  de  tinnitu  aurium.     Jenae  1667. 

Steudner,  Diss.  de  auditus  d  i  m  i  n  u  t  i  o  n  e  et  abolitione.  Lugd. 
Batav.  1669. 

Screta  a  Zavorziz,  Diss.  de  laesa  auditione.     Basil.  1671. 

Rud.  Guil.  Crausius,  Diss.  de  tinnitu  aurium.     Jenae  1681. 

Weigelii,  I>is>.  de  auditu  laeso.     Basil.   1593. 

Jakob  Alting,  Academicae  dissertationes.  Groningae  1671.  Fptad.  2.  Diss.  6. 
De  perforatione  aurium,  memorata  psalm.  40,  vers.  7. 

Franciscus  Baronius,  De  Corpore  etc.  Panormi  1664,  Tit.  12.  De 
Auribus. 

Joh.  Christ.  Beckmann,  Historia  Orbis  terrarum  etc.  Francofurti  1865. 
Cap.  9,  Sect.  2,  Num.  8.  De  otomegalis,  hoc  est  gentibus  habentibus  patulas  et 
magnas  aures. 

Petrus  Berchorius,  Reductorium  morale  utriusque  Testamenti.  Coloniae 
1672.    Lib.   II,  Cap.  10.    De  Auribus. 

Claude  Guillermet  de  Beauregard  (Berigardus  1578—1663),  Circuli 
Pisani  in  Lib.  Aristotel.  de  Anima  etc.    Utini  1643.    Circ.  15.    De  auditu. 

Laetius  Bisciola,  Horarum  subsecio.  Coloniae  1618.  Tom.  II,  Lib.  7,  Cap.  4. 
Aurium  et  oculorum  praestantia. 

Philipp  Bonannas,  Recreatio  mentis  et  oculi.  probl.  30.     Romae  1684. 
I  d.,  Recreatio  Oculorum  probl.  25,  de  Testaceis  cur  careant  auditu.  Romae  1684. 

Gio.  Bonif accio,  L'arte  dei  cenni.  Vicenza  1616.  Part.  I,  Fol.  238.  Degli 
o  r  e  c  c  h  i. 

Joh.  Franciscus  Bononnius,  Chiron  Achillis,  hoc  est  Emblemata,  quo- 
rum  42.  Folles  cum  lemmate,  Folles  linguarum  aures  contra  maledicentiam  aus- 
cultantes.     Bononiae  1661. 

Pompeo  Caimo  (1568—1631),  Dell'  Ingegno  umano.  Venezia  1629.  Lib.  I, 
Ca],.  12,  a   Fol.  \:>,2,  ad  Fol.  137. 


Zur  otologischen  Literatur  des  17.  Jahrhunderts.  229 

Ludovic.  Cresolius,  Yacationes  autumnales.  Lutetiae  1620.  De  actione 
orator.     Lib.  II,  Cap.  6.     De  auribus. 

Honoratus  Fabrus,  De  homine.  Parisiis  1666.  Lib.  II.  propos.  57.  De 
auditus  o  rgano. 

Filippo   Finella,   Fisonomia.     Napoli  1625.     Cap.  10.     Dell'  Orecchie. 

Jo.  Arnold.  Fridericus,  De  aure.    Jenae  1670.    Responsio  Jo.  Guil.  Eichron. 

Georg  Funcius,  Satyr,  medica,  continuat.  10.  De  Auribus  humanis 
mobilibus.     Responsio  Dan-Pitz.     Heidelbergae  1616. 

C ornelio  Ghirardelli,  C'efalogia  Fisonomica.  Bologna  1670.  Dell' 
Orecchie. 

Martin  Hartman,  Diss.  sab  Praes.  Schenckio,  de  tinnitu  aurium. 
Jenae  1669. 

Jo.  Bapt.  Cord.  Ptolomaeus,  Philosophia  rnentis  et  sensuuni,  physic. 
particularis  de  corpore  animato.  Augustae  Vindelicorum  1698.  Diss.  12,  p.  611. 
De  A u d i t u. 

Recueil  desQuestionset  Conferences  du  Bureau  etc.  Paris  1655.  Tom.  4, 
Num.  28,  Fol.  231.     Du  tintement  d'oreille. 

Pierre  Silvain  Regis,  Cours  entier  de  Philosophie  selon  les  principes  de 
Mr.  Descartes  tom.  3,  de  la  Physique,  livr.  8,  part.  2,  chap.  6,  de  Fouie  et  des 
causes  physiques  de  ses  fonctions  et  chap.  7 ,  de  l'Organe  immediat  de  Fouie. 
Amsterdam  1691. 

Gasp.  S ch o ttus ,  Magia  universalis  Naturae  et  artis.  Part.  II,  Lib.  I,  Synt.  1, 
Cap.  1  et  seqq.,  et  Synt.  3,  Cap.  1  et  seqq.,  de  organo  auditus  et  aurium  ana- 
tomia.     Herbipoli  1657. 

Id.,  Physica  curiosa.  Lib.  III,  Part.  III.  Cap.  33,  §  3.  Mirabilia  aurium  et 
auditus.     Herbipoli  1657. 

Philippe  Verheyen  (1648 — 1710),  Anatomia  corporis  humani.  Lovanii  1706. 
Tom.  I,  Tract,  4,  Cap.  15  de  Auribus.  Tom.  II,  Tract.  1,  Cap.  28,  de  Cerumines  et 
aurium  sordibus  et  Tract.  3,  Cap.  9,  de  Auditione. 

I  d.,  Vera  historia  de  horrendo  sanguinis  fluxu  ex  oculis ,  naribus ,  auribus 
et  ore,  et  miraculosa  ejusdem  sanatione.     Loewen  1708. 

Paolo  Zacchias,  Quaestiones  medicolegales  etc.  Lugduni  1674.  Lib.  V, 
sit.  3,  quaestia  4,  num.  22  usque  ad  30,  de  Auribus. 

Marcus  Banz  er,  Dissertatio  de  auditione  laesa.     Witenberg  1640. 

Camillo  Baldo  (1527 — 1634),  In  physiognomica  Aristotelis  commentarii. 
Bologna  1621.     Part.  IV,  Apostel.  85  et  seqq.,  de  Auribus,  Fol.  465. 

Guillaume  de  Baillou  (Ballonius,  1538—1616),  Opera  omnia  medica. 
Venetiis  1735.  Tom.  III.  Consiliorum  medieinalium  .  Lib.  III,  cons.  19,  de  Aure 
Buppurata. 

Thomas  Browne  (1605—1682):  Opera,  hoc  est  Errores  populäres  etc.,  ubi 
ib.  5,  deridet  eos  qui  si  aures  suaa  tinnire  sentiant,  aliquem  de  se  loqui  autumnant. 


Die  Otiatrie  in  der  neueren  Zeit. 


a)  Stand  der  Anatomie  und  Physiologie  des  Gehörorgans 
im  18.  Jahrhundert. 

Die  am  Ende  des  17.  Jahrhunderts  durch  Duverney  vorgezeichnete 
Behandlung  der  Anatomie  des  Gehörorgans  hat  sich  für  die  Forschung 
auf  diesem  Gebiete  als  fruchtbringend  erwiesen.  Insbesondere  nahm  die 
normale  deskriptive  und  die  vergleichende  Anatomie  des  Ohres  einen  neuen 
Aufschwung  und  gelangte  in  diesem  Zeiträume  durch  die  unvergäng- 
lichen Arbeiten  Valsalvas,  Cotugnos,  Scarpas,  Comparettis  und 
Cassebohms  zu  Ergebnissen,  die  durch  spätere  Forschungen  kaum  mehr 
überholt  wurden.  Ihr  Verdienst  ist  umso  höher  anzuschlagen,  als  die 
gröberen  anatomischen  Details  des  Gehörorgans  durch  die  Anatomen  des 
16.  und  17.  Jahrhunderts  bereits  erforscht  waren  und  den  neueren 
Forschern  die  Auffindung  äußerst  schwer  darstellbarer  Gebilde  des  inneren 
Ohres  gelungen  war.  Wir  brauchen  nur  auf  die  Entdeckung  der  Vorhofs- 
und  Schneckenwasserleitung  durch  Cotugno  und  der  membranösen  Ge- 
bilde durch  Scarpa  hinzuweisen,  um  die  Bedeutung  dieser  Epoche  für 
die  Ohranatomie  zu  charakterisieren.  So  erhob  sich  die  Ohranatomie 
durch  die  rege  Mitarbeit  namhafter  Forscher  fast  aller  Länder  auf  ein 
höheres  Niveau;  nicht  zum  geringsten  beweisen  dies  die  zahlreichen  oto- 
logischen  Dissertationen  aus  dieser  Zeit.  Endlich  fand  auch  die  lange 
vernachlässigte  Embryologie  ausgedehnte  und  systematische  Pflege. 

Auch  die  Physiologie  des  Gehörorgans  konnte  zielbewußter  an 
die  Lösung  wichtiger  Probleme  schreiten,  da  ihr  einerseits  die  Anatomie 
und  die  rasch  sich  entwickelnde  mikroskopische  Technik,  anderseits  die 
Arbeiten  namhafter  Physiker  auf  dem  Gebiete  der  Akustik  zu  statten 
kamen. 

Die  Führung  in  der  anatomischen  Erforschung  des  Gehörorgans 
übernahmen  in  dieser  Periode  abermals  die  Italiener. 

Yalsalva. 

Unter  den  Autoren  der  Uebergangsperiode  vom  17.  zum  18.  Jahr- 
hundert nimmt  Valsalva  den  ersten  Rang  ein.  Seine  Abhandlung  über 
die  Anatomie  des  Ohres,  ein  Gebiet,  das  er  mit  besonderer  Vorliebe  be- 


Tafel  XIII 


ANTONIO  MARIA  VALSALVA 


Valsalva.  231 

handelte,  wurde  nach  seinem  Tode  von  seinem  trefflichen  Schüler  Mor- 
gagni kommentiert  und  erweitert;  sie  zählt  trotz  mancher  Irrtümer  zu 
den  besten  ihrer  Art. 

Die  verläßlichste  Quelle  für  den  Lebenslauf  und  die  Leistungen 
Valsalvas  ist  Morgagni,  der  die  Ausgabe  der  Werke  Valsalvas 
mit  einem  biographischen  Abriß  seines  Lehrers  einleitete x).  Die  Be- 
geisterung, mit  der  Morgagni  von  seinem  Meister  spricht,  läßt  ermessen, 
welche  Bedeutung  den  Werken  Valsalvas  von  seinen  Zeitgenossen  bei- 
gelegt wurde. 

Antonio  Maria  Valsalva,  der  Sprößling  einer  alten,  edlen 
Familie  in  der  Romagna,  wurde  am  6.  Februar  1666  zu  Imola  geboren. 
Bereits  früh  zeigten  sich  Spuren  seines  anatomischen  Talents;  er  fand 
schon  als  Knabe  Geschmack  daran,  Vögel  und  andere  Tiere  zu  zergliedern. 
Als  Jüngling  besuchte  er  die  hohe  Schule  zu  Bologna,  wo  er  zuerst  Philo- 
sophie, Mathematik,  Botanik  trieb,  um  sich  später  den  medizinischen 
Studien  zu  widmen.  Sein  Lehrer  in  der  Anatomie  war  der  große  Mal- 
pighi.  Valsalva  erwarb  bereits  1687  den  Doktortitel.  Doch  befriedigte 
ihn  die  damals  noch  immer  scholastische,  dem  Geiste  wahrer  Natur- 
wissenschaft widersprechende  Studienart  so  wenig,  daß  er  dem  Rate 
Malpighis  folgend  sich  der  objektiven  Naturforschung  zuwandte,  wozu 
ihm  das  Studium  am  Krankenbette,  die  Veranstaltung  von  pathologischen 
Sektionen  und  von  Vivisektionen  an  Tieren  Gelegenheit  bot.  Mit  welcher 
Ausdauer  Valsalva  auch  in  späteren  Jahren  der  anatomischen  Forschung 
oblag,  dafür  liefern  die  Worte  Morgagnis  Zeugnis,  daß  er  in  Ausdauer 
und  Kühnheit,  in  Eifer  und  Opfermut  selbst  Anatomen,  wie  Vesal  oder 
Ruysch,  weit  hinter  sich  gelassen  habe.  Denn  diese  vollbrachten  Aehn- 
liches  nur  in  den  Tagen  stählerner  Jugendkraft,  während  Valsalva  noch 
im  späten  Mannesalter,  als  er  Ruhm  und  Verdienste  reichlich  erworben, 
ungeachtet  seines  leidenden  Zustandes,  Tage  und  Nächte  unter  Kadavern 
zubrachte  2). 

Die  Anatomie  umschließt  jedoch  nicht  seine  ganze  Lebensarbeit,  denn 
nebst  seiner  Professur  der  Anatomie  zu  Bologna  bekleidete  er  noch  die 
Stelle  eines  Ober-  und  Wundarztes  am  Hospitale  S.  Orsola.  Durch  eine 
Reihe  trefflicher  medizinisch-chirurgischer  Arbeiten,  sowie  durch  Angabe 
neuer  chirurgischer  Behandlungs-  und  Operationsmethoden  und  durch 
glänzende  Diagnosen ,  die  er  durch  pathologisch-anatomische  Unter- 
suchungen kontrollierte ,  erwarb  er  sich  auch  einen  im  Auslande  ver- 
breiteten  Ruf  als  gefeierter  Lehrer,  als  Arzt  und  Operateur.  Die  Lon- 
doner Akademie  ernannte  ihn  gleichzeitig  mit  seinem  Lehrer  Malpighi, 
dessen  Nachfolger  er  1  ( > '. » 7  wurde,  zu  ihrem  Mitgliede.  Er  starb,  57  Jahre 
alt,  am  2.  Februar  1723  an  Apoplexie,  einer  Krankheit,  deren  ana- 
tomische   Ursachen    er    zuerst    klar    erkannte.     Morgagni    liefert i     der 


232  Valsalva. 

Nachwelt  nicht  nur  ein  Porträt  seines  Lehrers  als  Gelehrten,  sondern 
auch  eine  Schilderung  seiner  Persönlichkeit3),  die  uns  diesen  würdigen 
Altmeister  unseres  Faches  auch  menschlich  näher  bringt.  Das  Werk 
Valsalvas  über  Anatomie  und  Physiologie  des  Ohres  ist  die  Frucht 
einer  16jährigen  Arbeit,  während  welcher  Valsalva  mehr  als  tausend 
Köpfe  der  Zergliederung  unterzog1).  Der  wissenschaftliche  Wert  seiner 
Ohranatomie,  das  Resultat  eigenster  Forschung,  erhellt  am  deutlichsten 
daraus,  daß  alle  otologischen  Werke  bis  zum  19.  Jahrhundert  in  ihrem 
anatomischen  Teile  auf  den  Arbeiten  Valsalvas  basieren,  denen  wir 
noch  heute  unsere  volle  Anerkennung  zollen  müssen. 

In  der  Präparationsmethode  des  Gehörorgans  brachte  er  es  zu  einer 
solchen  Vollkommenheit,  daß  er  die  Bewunderung  seiner  Zeitgenossen 
errang:  eines  seiner  schönsten  Präparate  hinterließ  er  der  Bologneser 
Akademie  der  Wissenschaften,  ein  Stück  von  höchstem  Werte:  es  war 
das  erste  Präparat  eines  Gehörorgans  im  Zusammenhange,  während  man 
bisher  die  einzelnen  Teile  gesondert  präparierte 5). 

Der  ..Tractatus  de  aure  humana'*,  in  dem  Valsalva  seine 
Forschungsergebnisse  niederlegte,  erschien  in  mehreren  Auflagen,  zuerst 
in  Bologna  1704,  sodann  von  Morgagni  herausgegeben  zusammen  mit 
dessen  anatomischen  Briefen,  die  eine  Kommentierung  und  Erweiterung 
bilden  (Venedig  1740),  und  enthält  10  Tafeln  mit  sehr  guten  Abbildungen. 
Der  Traktat  Valsalvas  steht  dem  Duverneyschen  nicht  nur  würdig  zur 
Seite,  sondern  übertrifft  ihn  noch  Aveitaus  an  Inhaltsreichtum,  der  in 
seltener  Weise  mit  Kürze  und  Prägnanz  des  Ausdrucks  gepaart  ist.  Er 
umfaßt  die  Anatomie  und  Physiologie,  sowie  auch  Kapitel  aus  der  Patho- 
logie des  Gehörorgans  und  enthält  neben  geklärter  Darstellung  des  bisher 
Bekannten  viel  Neues.  In  der  Beschreibung  der  knöchernen  Teile  leistete 
schon  Duverney  fast  das  Aeußerste  für  seine  Zeit;  doch  überragt  ihn 
Valsalva  weitaus  in  der  Kenntnis  der  häutigen  und  muskulösen  Partien, 
was  nicht  zum  geringsten  in  seiner  Hörtheorie  zur  Geltung  gelangt. 

Das  Buch  ist  in  zwei  Hauptabschnitte  geteilt,  deren  jeder  aus  drei 
Kapiteln  besteht,  in  einen  anatomischen  (continens  auris  descriptionem)6) 
und  in  einen  physiologischen  (continens  auris  partium  usus) 7).  Schon 
äußerlich  hält  also,  wie  man  sieht,  Valsalva  zum  ersten  Male  strenge 
an  der  Dreiteilung  des  Ohres  (äußeres,  mittleres,  inneres)  in  unserem 
Sinne  fest.  Bei  der  Beschreibung  des  äußeren  Ohres  erwähnt  er  zum 
ersten  Male  die  kleinen  Talgdrüsen  (Glandulae  Sebaceae)  in  der  Haut 
der  Ohrmuschel  und  vergleicht  sie  mit  analogen  anderer  Körperstellen, 
z.  B.  der  Nase8),  ferner  die  präaurikulare  Lymphdrüse,  die  er  nach 
ihrem  Bau  und  der  Beziehung  zu  ein-  und  austretenden  Lymphgefäßen 
von  den  Drüsenschläuchen  der  Parotis  unterscheidet9). 

Von  den  äußeren  Ohrmuskeln  beschreibt  Valsalva  außer  den  bereits 


Valsalva.  233 

bekannten  den  Musculus  Anterior,  den  Musculus  Tragi,  den 
M.  Antitragi  sowie  jene  Bündel,  die  den  M.  transversus  auriculae  zu- 
sammensetzen10). Bedenkt  man  die  Kleinheit  und  meist  schwache  Ent- 
wicklung dieser  Muskeln,  die  allen  vorangegangenen  Anatomen  entgangen 
waren,  so  muß  man  die  Sorgfalt  des  Meisters  bewundern,  die  sich 
in  diesen  Entdeckungen  kundgibt.  Noch  sei  der  Spina  helicis  (von  ihm 
Acutus  Processus  Cartilaginis  Auriculae  genannt)11)  und  des  vorderen 
Ohrbandes  gedacht,  die  er  ebenfalls  als  Erster  beschrieb12). 

In  der  nun  folgenden  exakten  Schilderung  des  äußeren  Gehör- 
ganges13), von  dem  er  sich  Wachsabdrücke  herstellte,  sind  die  Inzi- 
suren  und  Ohrenschmalzdrüsen  noch  besser  dargestellt  als  bei  Duvernev. 
Beim  Fötus  und  Neugeborenen  findet  er  das  innere  Ende  des  äußeren 
Gehörganges,  dessen  Wände  bis  zur  nahezu  vollständigen  Berührung 
einander  genähert  sind,  und  das  Trommelfell  mit  einer  dicken,  weißlichen 
Masse  nach  Art  einer  Pseudomembran  bedeckt,  die  nach  und  nach  ein- 
trocknet und  in  kleinen  Partikelchen  mit  dem  Cerumen  ausgestoßen 
wird14). 

Den  Schluß  des  ersten  Kapitels  bildet  die  Anführung  der  Ar- 
terien, Venen  und  Nerven  des  äußeren  Ohres.  Insbesondere  erwähnt 
er  sehr  ausführlich  den  Verlauf  der  Vena  occipitalis  15)  und  spricht 
die  Vermutung  aus,  daß  auch  die  Ohrmuschel  und  der  Gehörg-ano- 
Lymphgefäße  besitzen10). 

Ganz  ausgezeichnet  ist  das  zweite,  dem  mittleren  Ohr  gewidmete 
Kapitel.  Unter  den  neuen  Forschungsergebnissen,  die  Valsalva  hier 
mitteilt,  verdienen  einige  hervorgehoben  zu  werden.  Das  Trommelfell 
besteht  aus  zwei  Schichten,  die  namentlich  beim  Fötus  leicht  trennbar 
sind,  aus  einer  inneren,  die  er  irrtümlicherweise  von  der  Dura  Mater  ab- 
leitet,  und  einer  äußeren,  die  von  der  Gehörgangshaut  stammt17). 

Seine  eingehenden  Untersuchungen  über  das  angebliche  „foramen 
Rivini"  im  Trommelfelle  ergaben  kein  Resultat,  und  er  ließ  es  dahin- 
gestellt sein,  ob  eine  in  der  Gegend  des  kleinen  Hammerfortsatzes  sondier- 
bare Lücke  ein  Artefakt  sei  oder  nicht18). 

Die  Trommelhöhle  fand  er  in  der  Gegend  der  Schneckenspitze 
am  niedrigsten,  dem  ovalen  Fenster  gegenüber  am  höchsten;  ihre  Länge 
und  Breite  hielt  er  von  gleicher  Dimension.  Die  pneumatischen  Räume 
des  Warzenfortsatzes  erklärt  er  im  Hinblick  auf  die  Bulla  ossea  bei 
Tieren  als  einen  Bestandteil  der  Trommelhöhle19). 

Das  Manubrium  des  Hammers  stellt  er  sieh  aus  drei  Fortsätzen 
zusammengesetzt  vor,  aus  einem  kleineren  (unser  Proc.  longus),  aus  einem 
größeren  (unser  heutiges  Manubrium)  und  aus  einem  kleinsten  (unser 
Proc.  brevis).  Dementsprechend  beschreibt  er  drei  Muskeln.  Sein  ..Mus- 
culus Processus  Majoris  Mallei"   ist  identisch    mit    unserem  Tensor  tym- 


234  Yalsalva. 

pani.  Unklar  ist  jedoch  die  Beschreibung  seiner  beiden  anderen 
„Hammermuskel",  des  „Musculus  Processus  Minoris"  und  des  „Musculus 
Processus  Minimi" 20).  Die  von  früheren  Anatomen  beschriebene  zwischen 
den  beiden  Steigbügelschenkeln  ausgespannte  Membran  erklärt  er  für  eine 
inkonstante  Schleimhautfalte  gleich  denjenigen,  die  man 
nicht  selten  in  der  Trommelhöhle  vorfindet21).  Auffällig  ist 
seine  irrige  Ansicht,  daß  die  Gehörknöchelchen  kein  Periost  besäßen, 
obwohl  er  an  ihrer  Oberfläche  Blutgefäße  nachweisen  konnte22).  Die  von 
ihm  beschriebenen  nicht  konstanten  Oefthungen  am  Dach  der  Trommel- 
höhle und  über  dem  Warzenfortsatze ,  durch  welche  Schädelhöhle  und 
Trommelhöhle  in  Verbindung  stehen,  sind  wahrscheinlich  den  später  von 
Hyrtl  geschilderten  Dehiszenzen  des  Tegmen  tympani  gleich- 
zustellen. Yalsalva  war  indes  in  dem  Irrtum  befangen,  daß  durch  diese 
Löcher  „in  quibusdam  casibus  praeternaturalibus''  Flüssigkeit  aus  der 
Schädelhöhle  gegen  das  Ohr  abfließe  („Fluida  a  Cranii  cavitate  in 
Aurem")23). 

Wahrhaft  klassisch  ist  die  Schilderung  der  Ohrtrompete,  bei 
deren  Zergliederung  wir  seine  Meisterhand  bewundern.  Sie  wurde  von 
ihm  nach  Eustachio  benannt  und  in  ihrem  knorpeligen,  membranösen 
unil  knöchernen  Teil  auf  das  Genaueste  untersucht.  Er  entdeckte  auch 
den  Dilatator  tubae  (III.  Fig.  14) 24)  und  wußte,  daß  der  Tensor  tympani 
zum  Teile  an  der  knorpeligen  Partie  der  Trompete  inseriert.  Die  nach 
der  Tubenbeschreibung  eingeschalteten  Abschnitte  über  die  Muskulatur 
des  Pharynx  und  der  Uvula20),  wobei  die  Musculi  salpingostaphylini, 
glossostaphylini ,  pharyngostaphylini,  stylopharyngei ,  hyopharyngei  u.  a. 
eingehend  beschrieben  werden,  finden,  soweit  einige  dieser  Muskel  zum 
Gehörorgane  in  Beziehung  stehen,  ihre  Erledigung  im  physiologischen  Teile. 

Was  die  Gefäß  Versorgung  der  Trommelhöhle  anbelangt,  so  be- 
obachtete  er,  daß  die  Carotis  durch  einen  Knochenkanal  einen  Zweig  in 
die  Trommelhöhle  entsendet  und  die  Trommelhöhlenvene  ihr  Blut  in  die 
Jugularis  ergießt.  Die  Beteiligung  des  Gehörorgans  an  drei  verschiedenen 
Gefäßgebieten  ist  für  ihn  eine  wichtige  Stütze  seiner  Dreiteilung  des 
Ohres26). 

Bei  der  Beschreibung  des  inneren  Ohres  übersieht  Yalsalva 
nicht  die  geringste  Leistung  seiner  Vorgänger;  viele  Details  sind  genauer 
und  klarer  dargestellt  und  durch  gute  Abbildungen  erläutert.  Er  nimmt 
zum  ersten  Male  für  das  ganze  innere  Ohr  den  Namen  Labyrinth  in 
Anspruch.  Die  knöchernen  Bogengänge  benennt  er  nach  ihrer  Länge 
„Canalis  semicircularis  major,  minor,  minimus"  und  beschreibt  ihre  Am- 
pullen und  andere  Details  ziemlich  richtig.  Sie  variieren  in  der  Größe 
bei  verschiedenen  Menschen,  stehen  aber  bei  ein  und  demselben  Indivi- 
duum stets  in   einem    gewissen  Längenverhältnisse   zueinander   und   sind 


Valsalva.  235 

in  beiden  Ohren  gleich  groß  und  symmetrisch27).  Das  Spiralblatt  der 
Schnecke  läßt  Valsalva  aus  einem  dichteren,  leicht  zerreiblichen  Teil 
bestehen,  der  sich  der  Spindel  zunächst  befindet  und  eine  Mittelstellung 
zwischen  Haut  und  Knorpel  einnimmt,  ferner  aus  einem  weichen,  dünnen 
membranösen  Teile,  den  er  „Zona"  nennt.  Wenn  Valsalva  in  der  Be- 
schreibung der  Schnecke  die  „Scala  vestibuli"  für  die  untere,  die 
„Scala  tympani"  für  die  obere  ansieht,  so  erklärt  sich  dies  aus  dem 
Umstände,  daß  er  seine  Lagebezeichnungen  im  Sinne  der  stark  nach 
unten  geneigten  Schneckenachse  im  Schädel  auffaßte,  während  wir  heute 
das  „oben"  und  „unten"  relativ  auf  die  Schnecke  beziehen28).  Irrtüm- 
lich stellt  er  die  Kommunikation  zwischen  beiden  Treppen  in  Abrede  z9), 
hingegen  ist  die  Annahme  richtig,  daß  die  Vorhofstreppe  beträchtlich 
länger  ist  als  die  Trommelhöhlentreppe. 

Seine  Vorstellung  vom  Nervenverlaufe  im  Labyrinthe  ist  ungefähr 
folgende:  Der  Vestibulär  nerv  teilt  sich  in  fünf  Zweige,  die  er  durch 
fünf  Löcher  in  den  Vorhof  entsendet,  wo  sich  diese  Zweige,  miteinander 
vereinigt,  in  eine  sehr  dünne  Membran  ausspannen30).  Valsalva  dürfte 
somit  Fragmente  des  Utriculus  und  der  membranösen  Ampullen  („Mem- 
brana Vestibuli")  als  eine  Ausbreitung  des  Hörnerven  angesehen  haben. 
Von  dieser  „ Vorhofsmembran "  gehen,  wie  er  weiter  ausführt,  die  ein- 
zelnen nervösen  „Membranen"  der  Bogengänge  aus,  welche  die  Gestalt 
von  schmalen  Bändchen  oder  kurzen  Gürteln  haben  und  von  ihm  „Zonae 
Sonorae"  genannt  werden.  Diese  häutigen  Bändchen  (unsere  häutigen 
Bogengänge),  deren  Röhrenform  er  nicht  erkannt  hat,  hält  er  als  Nerven- 
abkömmlinge für  das  eigentliche  Sinnesorgan  (Proprium  sensorium);  sie 
sind  ebenso  lang,  aber  viel  schmäler  als  die  knöchernen  Bogengänge,  am 
breitesten  noch  die  „Zona  sonora"  des  gemeinsamen  Bogenganges31). 
Der  Schneckennerv  geht  nach  seiner  Anschauung  durch  sehr  kleine, 
der  Zahl  nach  schwer  bestimmbare  Löcher  in  die  Schnecke,  wo  er  die 
membranöse  Scheidewand  zusammensetzt,  die  Valsalva  konform  seiner 
obigen  Nomenklatur  als  „Zona  Cochleae"  bezeichnet32).  Ob  eine  Ver- 
bindung der  „Membrana  Vestibuli"  mit  der  „Zona  Cochleae"  besteht, 
konnte  er  trotz  häufiger  Untersuchung  nicht  ermitteln.  Vom  häutigen 
Labyrinthe  hat  Valsalva  somit  nur  eine  vage  Vorstellung  und  die  auf 
Tab.  VIII.  Fig.  8,  9,  10  abgebildete  Ausbreitung  des  N.  acusticus  in  den 
Booreno-ängen  und  in  der  Schnecke  kann  wohl  nur  als  schematische  Dar- 

o       o       o 

Stellung  seiner  irrtümlichen  Vorstellung  gelten.  Er  stellt  ferner  eine 
Periostauskleidung  der  Labyrinthräume  in  Abrede,  da  er  außer  den  be- 
schriebenen Membranen  keine  anderen  aufzufinden  vermochte33). 

Wie  aus  dem  Schlußabsatze  des  besprochenen  Abschnittes  hervor- 
geht, war  Valsalva  der  erste,  der  das  Vorhandensein  einer  wässerigen 
Flüssigkeit   im  Labyrinthe    konstatierte.     Er   fand  sie  beim  Fötus  blutig 


236  Valsalva. 

tingiert  (sanguinea  tinctura),  im  späteren  Alter  wie  klares  Wasser  („ut 
aqua  limpida  videatur").  Ueber  die  Herkunft  dieser  Flüssigkeit  ist  er 
jedoch  im  Unklaren;  er  möchte  sie  am  ehesten  als  Ausscheidung  der 
\<>n  ihm  entdeckten  Membranen  auffassen34).  Das  Verdienst,  die  Be- 
deutung der  Labyrinthflüssigkeit  in  anatomischer  und  physiologischer  Be- 
ziehung richtig  erfaßt  zu  haben,  gebührt  Cotugno,  da  Valsalva  neben 
der  von  ihm  erwähnten  Flüssigkeit  auch  noch  die  Anwesenheit  von  Luft 
im  Labyrinth  als  wesentlich  für  die  Schallaufnahme  hält. 

Endlich  sei  noch  bemerkt,  daß  er  das  Labyrinth  bei  Erwachsenen  nicht 
größer  fand  als  bei  Kindern  und  daß  er  die  Vermutung  aussprach,  es  dürften 
neben  Blutgefäßen  auch  Lymphbahnen  im  Labyrinth  vorhanden  sein35). 

Der  zweite  Teil  des  „Tractatus  de  aure  humana"  behandelt  die 
Physiologie  des  Gehörorgans  resp.  im  Galenischen  Sinne  den 
Nutzen  der  einzelnen  Teile  des  Ohres.  Mit  vollstem  Recht  kann  man 
Valsalva  das  Zeugnis  ausstellen,  daß  er  hierbei  mit  größter  Umsicht 
vorging,  alle  vagen  Theorien  vermied  und  kaum  jene  Kühnheit  für  sich 
in  Anspruch  nimmt,  wie  sie  z.  B.  Duverney  und  Schelhammer  zu 
eigen  war.  Valsalva  war  sich  der  beschränkten  Kenntnisse  seines 
Zeitalters  wohl  bewußt  und  erwartete  einen  Fortschritt  nur  durch  die 
Mitarbeit  der  Physiker,  die  über  der  Beschäftigung  mit  dem  Gesichts- 
sinn die  Lehre  vom  Schall  zu  sehr  vernachlässigt  hatten 36).  Wie  sehr 
er  den  Theorien,  die  von  den  Zeitgenossen  über  den  Schall  aufgestellt 
waren,  mißtraute,  geht  schon  daraus  hervor,  daß  er  immer  nur  von 
„motus  sonori"  sprach,  indem  er  unentschieden  ließ,  ob  darunter  Undula- 
tionen,  Vibrationen,  tremulierende  oder  anders  geartete  Bewegungen  zu 
verstehen  seien  :;T). 

Im  vierten  Kapitel  des  Werkes  wird  die  Physiologie  des  äußeren 
Ohres  besprochen  und  der  Nutzen  des  Baues  der  Ohrmuschel,  des 
Gehörgangs,  der  Ohrschmalzdrüsen  etc.  erklärt.  Von  Interesse  ist 
seine  Bemerkung,  daß  die  Inzisuren  des  Gehörganges  zur  Fortpflanzung 
und  Verstärkung  des  Schalles  von  Wichtigkeit  seien  und  daß  man  deshalb 
auch  die  Hörrohre  mit  derartigen  Einschnitten  konstruieren  solle38). 

Reichhaltiger  ist  das  folgende  Kapitel,  das  sich  mit  dem  mittleren 
Ohr  beschäftigt.  Wie  Duverney,  schreibt  er  dem  Trommelfell 
keine  wichtige  Rolle  bei  der  Schallaufnahme  zu,  von  der  Tatsache  aus- 
gehend ,  daß  auch  bei  Rupturen ,  die  nach  seiner  Ansicht  leicht  heilen, 
das  Gehör  fortbestehen  könne*). 

*)  Wenn  Valsalva  bei  Hunden  mit  einem  Speculum  das  Trommelfell  durch- 
rissen und  nach  späterer  Sektion  nicht  das  geringste  Zeichen  einer  Narbe  gefunden 
haben  will,  so  ist  diese  Angabe  mit  entsprechender  Reserve  aufzunehmen,  da  sehr 
zu  beweifeln  ist,  ob  ihm  bei  dem  gewundenen  Gehörgang  des  Hundes  und  ohne  jede 
Inspektion  die  experimentelle  Ruptur  auch  gelungen  ist. 


Valsalva.  237 

Die  Flüssigkeit,  die  sich  in  der  Trommelhöhle  vorfindet,  dient  zur 
Befeuchtuno-  des  Trommelfelles,  damit  es  bei  so  vielen  Bewegungen,  die 
es  machen  müsse,  nicht  austrockne. 

Was  die  Schallfortpflanzung  vom  Trommelfell  zum  Labyrinth 
anbelangt,  so  steht  Valsalva  auf  dem  richtigen  Standpunkt,  daß  sie 
durch  die  Kette  der  Gehörknöchelchen  geschieht.  Er  betrachtet 
diese  als  eine  Reihe  von  Hebeln,  die  in  demselben  Moment,  in  dem  das 
Trommelfell  in  die  Paukenhöhle  getrieben  werde,  in  Bewegung  gesetzt 
würden  und  durch  die  Fußplatte  des  Stapes  den  Schall  zum  Labyrinthe 
fortpflanzen.  Der  Hammer  sei  ein  zweiarmiger  Hebel;  der  Hammergriff 
bilde  den  einen  Arm,  den  anderen  der  Hammerkopf;  das  Hypomochlion 
liege  zwischen  beiden.  Von  dem  Tonus  der  „Muskel  des  kleineren  und 
kleinsten  Fortsatzes"  (der  Bünder)  hänge  die  Festigkeit  des  Hammers 
ab.  Ebenso  stellt  auch  der  Amboß  einen  Hebel  vor,  mit  dem  Körper 
als  einem  Arme,  dem  großen  Schenkel  als  zweitem  Arme  und  dem  Hypo- 
mochlion an  der  Stelle,  wo  der  kurze  Amboßfortsatz  fixiert  ist.  Der 
Arm  des  einen  Hebels  (Hammerkopf)  steht  mit  dem  des  anderen  (Amboß- 
körper) in  fester  Verbindung,  und  in  dem  Momente,  in  dem  der  Hammer- 
griff bewegt  wird,  wird  auch  der  lange  Amboßfortsatz  und  mit  diesem 
Stapes  und  Stapesplatte  in  Bewegung  gesetzt39).  Es  entspricht  dies 
vollständig  unserem  beutigen  Ideengang.  Der  Steig bügelmuskel 
verhütet  nach  Valsalva  bei  allzu  großer  Erschütterung  ein  starkes 
Eindrücken  der  Platte  ins  ovale  Fenster40).  Er  ist  ferner  der  Ansicht, 
daß  der  Muskel  bisweilen  gleichzeitig  mit  der  elastischen  Kraft  des 
Trommelfells  die  Gehörknöchelchen  in  ihre  Lage  zurückbewegen  könne. 
Da  der  Muskel  nur  in  schiefer  Richtung  die  einwärtsgedrängte  Stapes- 
platte herauszieht,  müsse  er  den  ihm  zunächst  liegenden  Teil  derselben  an 
den  Fensterrand  andrängen,  weshalb  auch  der  entsprechende  Teil  des 
Ringbandes,  wie  Valsalva  beobachtet  haben  will,  eine  festere  Struktur 
besitzt. 

Sehr  ausführlich  verbreitet  sich  Valsalva  über  die  akustische 
Funktion  der  Ohrtrompete,  wobei  er  außer  den  gewöhnlichen  An- 
sichten von  ihrem  Nutzen  (Entfernung  von  Eiter,  Flüssigkeiten  u.  a.  aus 
der  Trommelhöhle)  folgende  Theorie  entwickelt.  Es  sei  klar,  daß  das 
Trommelfell  sich  umso  leichter  bewegen  lasse,  je  weniger  Luft  dem  An- 
dringen der  Membran  Widerstand  leiste  und  je  rascher  die  Luft  aus- 
weiche. Der  von  ihm  zuerst  beschriebene  Diktator  tubae  erweitere 
die  Eustachische  Röhre  während  des  Höraktes,  damit  die  Luft,  wenn 
das  Trommelfell  nach  einwärts  getrieben  wird,  aus  der  Trommelhöhle 
entweichen  könne,  und  zwar  vollziehe  sich  die  Eröffnung  der  Tube 
durch  automatische  Muskelaktion  in  demselben  Maße,  als  die  Einwärts- 
wölbung   des  Trommelfells  erfolge41).     Damit   bei  den  Atembewegungen 


238  Valsalva. 

während  des  Hörens  keine  Luft  in  die  Paukenhöhle  eindringe  und  die 
Schallschwingungen  störe,  treten,  wie  sich  Valsalva  vorstellt,  die  Musculi 
pharyngostaphylini  und  petrosalpingostaphylini  in  Aktion42). 

Höchst  interessant  ist  die  Theorie,    die  Valsalva  über  die  Funk- 
tion des  Labyrinthes  aufstellt.    Sie  hat  viele  Aehnlichkeit  mit  der  Du- 
verneys,    unterscheidet  sich  von  dieser  jedoch  darin,    daß  er  nicht  wie 
Duverney  die  Lamina  Spiral,  ossea,  resp.  die  Bogengänge,  sondern  die 
von  ihm   als    letzte  Nervenausbreitung   aufgefaßten   .,Zonae  sonorae"   als 
Apperzeptionsorgan  für  den  Schall  ansieht.     Seine  Theorie  zeigt  also  in- 
sofern einen  Fortschritt,    als   die   weichen  Teile    des  Labyrinths   für  das 
Essentielle  angesehen  werden,  wodurch  sie  sich  der  modernen  Auffassung 
einigermassen  nähert.     Freilich  steht  Valsalva    trotz   der   von  ihm  ge- 
fundenen Lymphe  in  der  Labyrinthhöhle  noch  auf  dem  Standpunkte,   daß 
im  Labyrinthe  Luft  vorhanden  sei,    die    durch  ihre  Erschütterungen  die 
Zonae  sonorae  errege43).    Diese  bestehen  aus  kleinen  Streifen  von  bald 
größerer,  bald  geringerer  Länge  und  Breite,  die  er  mit  den  verschieden 
langen  Saiten  eines  Musikinstruments  vergleicht44).    Die  Verschiedenheit 
der  Zonae  sonorae-Streifen  in  Länge  und  Breite  bringt  er  in  Beziehung 
zur  Perzeption    verschieden   hoher  Töne45),    eine  Ansicht,    die   sich   der 
Helmholtzschen    Theorie    nähert.     Valsalva    kennt   vier   Zonen,    von 
denen  drei  den  Bogengängen,  eine  der  Schnecke  angehören;  der  Schnecke 
wird  keine  andere  Bedeutung  zugemessen  als  den  Kanälen.     Das  Laby- 
rinth   besitzt    deshalb    bei    Kindern    die    nämliche    Größe    wie    bei    Er- 
wachsenen .    weil    sonst    die    Töne    nicht   in    gleicher   Weise    empfunden 
würden :  ferner  sind  die  Teile  beider  Gehörorgane  stets  gleich  entwickelt, 
weil    andernfalls   eine  Ungleichheit   in    der  Tonwahrnehmung    stattfände. 
Endlich  erklärt  sich  aus  der  großen  Mannigfaltigkeit  im  Bau  des  Laby- 
rinths die   große  Verschiedenheit    in  der  musikalischen  Veranlagung  der 
einzelnen  Individuen. 

Obwohl  das  Verdienst  Valsalvas  um  die  praktische  Erwei- 
terung der  Otologie  nicht  auf  eine  Stufe  mit  seinen  anatomischen 
Leistungen  gestellt  werden  kann,  so  geben  doch  die  wenigen  Beobach- 
tungen über  pathologische  Prozesse  des  Ohres  und  die  therapeutischen 
Versuche,  die  sein  epochemachendes  Werk  an  einigen  Stellen  neben 
Anatomie  und  Physiologie  enthält,  deutliches  Zeugnis  von  der  reichen 
Erfahrung  dieses  Forschers. 

Valsalva  war  der  Meinung,  daß  die  durch  Ceruminalpfröpfe  be- 
dingte Taubheit  sehr  häufig  sei,  aber  selten  geheilt  werde,  weil 
die  Aerzte  die  Ursache  nicht  erkennen40).  Bei  der  pathologisch-ana- 
tomischen Untersuchung  eines  Gehörorgans  von  einem  wahrscheinlich 
an  chronischer  Mittelohreiterung  leidenden  Individuum  fand  er  das 
Trommelfell   mit   einer   aus   Eiter    bestehenden  Membran   bedeckt,    nach 


Valsalva.  239 

deren  Entfernung  er  das  sogenannte  Rivinisehe  Loch  (in  der  Gegend 
des  kurzen  Hammerfortsatzes)  sondieren  konnte47).  Bei  einer  Trommel- 
fellinspektion, die  Valsalva  als  erster  zur  Untersuchung 
des  Trommelfells  am  Lebenden  vornahm,  beobachtete  er,  daß 
das  Trommelfell  im  oberen  Abschnitte  von  Eiter  triefe  und  merkte  auch, 
daß  Eiter  und  Luft  in  der  Gegend  des  Foramen  Rivini  entwich,  sobald 
der  Patient  bei  geschlossenem  Munde  und  zugehaltener  Nase  kräftig  aus- 
atmete (Valsalvascher  Versuch)48).  Wie  gewissenhaft  und  genau  Val- 
salva pathologische  Sektionen  vornahm,  ergibt  sich  aus  der  interessanten 
Beobachtung  an  dem  Ohre  eines  Tauben,  an  dem  er  eine  durch  Ossi- 
fikation des  Ringbandes  erzeugte  Ankylose  der  Stapesplatte 
entdeckte49).  Falsch  gedeutet  aber  wurden  von  ihm  zwei  Sektionsbefunde, 
durch  die  er  eine  stete  Kommunikation  der  Schädel-  mit  der  Trommel- 
höhle beweisen  wollte50).  Von  Interesse  ist  ferner  ein  Fall,  bei  dem 
Valsalva  nebst  einem  großen  Trommeldefekt  feststellen  konnte,  daß  das 
Amboßsteigbügelgelenk  gelöst  sei  und  von  dem  Trommelfellreste  zum 
Stapesköpfchen  eine  Membran  hinziehe.  Diese  Membran  faßte  er  irrtüm- 
lich als  regeneriertes  Trommelfell  auf,  während  es  sich  wahrscheinlich 
um  eine  adhärente  Narbe  gehandelt  hat.  Bewundernswert  bleibt  es 
immerhin,  daß  Valsalva  diese  feinen  Details  bei  der  noch  primitiven 
Untersuchungsmethode  erkennen  konnte51). 

Was  die  später  in  die  Otiatrie  unter  dem  Namen  „Valsalva'scher 
Versuch"  eingebürgerte  Methode  anbelangt,  so  haben  wir  gesehen,  daß 
sich  bereits  bei  den  Arabern  (Mesue),  Latinobarbaren  (Saliceto,  Bruno, 
Arnaldo  de  Villanova,  Fabricius  Hildanus  u.a.*)  Andeutungen 
über  ihre  praktische  Anwendung  zur  Entfernung  von  Fremdkörpern, 
gegen  Schwerhörigkeit  u.  s.  w.  fanden.  Die  Stelle,  an  der  Valsalva 
seinen  Versuch  beschreibt  und  empfiehlt,  lautet: 

Nam  si  quis  in  Tympano,  aut  in  vicinia  Ulcus,  aut  tale  quid  gerens,  unde 
ichor  in  Meatum  Auditorium  assidue  distillet:  si,  inquarn.  iste.  clauso  Ore.  et  Naribus, 
aerem  intvo  comprimere  conetur;  inde  sanies  in  Meatum  Auditorium  ita  copiose 
solet  eodem  actu  protrudi;  ut  ad  istiusmodi  Ulceris  detersionem  nulluni  promptras, 
aut  utilius  Aegris  remedium  commendare  consuevevim ;  quam  mediocriter  frequentem 
talis  conatus  iterationein.     1.  c.  Cap.  5,  8.  p.  68. 

Valsalva  war  jedoch  der  irrigen  Ansicht,  daß  der  in  der  Trommelhöhle 
angesammelte  Eiter  durch  das  sogenannte  Foramen  Rivini  bei  seinem 
Versuche  in  den  äußeren  Gehörgang  gepreßt  werden  könne. 


*)  Vergl.  feiner:  Vesal,  De  corp.  huni.  fabr.  Lib.  t,  Cap.  12.  —  Kolfink, 
Diss.  Anat.  Lib.  IV.  Cap,  10  (der  diesen  Versuch  empfahl,  um  eine  Verrenkung  der 
Gehörknöchelchen  einzurichten).  —  Parr,  Lib.  XVI,  Cap.  23.  —  Diemerbroek, 
Anat.  Lib.  III,  Cap.  18  u.  a. 


240 


Yalsalva. 


Bei  einem  anderen  therapeutischen  Eingriff,  dessen  sich  Yalsalva 
wahrscheinlich  als  einer  der  Ersten  bediente,  gelang  ihm  der  sichere 
experimentelle  Nachweis  der  Kommunikation  der  Warzenfortsatzzellen 
mit  der  Trommelhöhle.  Als  er  nämlich  durch  eine  kariöse  Fistel  am 
Warzenfortsatze  Einspritzungen  vornahm,  sah  er  die  injizierte  Flüssigkeit 
in  den  Rachen  abfließen52).  Endlich  sei  noch  hervorgehoben,  daß  A'al- 
salva  die  Bedeutung  der  Eustachischen  Röhre  für  die  Hörfähigkeit 
erkannte,  indem  er  auf  Grund  klinischer  und  anatomischer  Erfahrungen 
feststellte,  daß  die  Ursache  der  Taubheit  oft  lediglich  in  der  Ver- 
stopfung der  Ohrtrompete  liege.  In  einem  Falle  berichtet  er  von 
einem  Nasenpolypen,  der  sich  Ins  zur  Uvula  erstreckte  und  die  Rachen- 
mündung der  Ohrtrompete  von  Tag  zu  Tag  mehr  verschloß,  wodurch  im 
gleichen  Maße  das  Gehör  progressiv  abnahm55).  In  einem  zweiten  Falle 
befand  sich  ein  Rachengeschwür  in  der  Nähe  der  Tubenmündung,  deren 
Verschluß  durch  eine  YVieke  sofortige  Schwerhörigkeit  hervorrief54). 
Auch  bei  Läsionen  von  Rachenmuskeln  beobachtete  er  Verschlechterung 
des  Gehörs55). 

Obwohl  die  praktische  Ohrenheilkunde  durch  Yalsalva  nicht  jene 
Förderung  erfahren  hat,  wie  nach  seinen  gründlichen  anatomischen  und 
pathologischen  Forschungen  zu  erwarten  stand,  so  finden  wir  bei  ihm 
doch  unverkennbar  den  Beginn  einer  rationellen  Therapie,  die  dem 
Fortschritte  der  Otologie  neue  Perspektiven  eröffnete. 

!)  Viri  celeberrimi  Antonii  Mariae  Valsalvae  Opera,  h.  e.  tractatus  de  aure 
humana  editione  hac  quarta  accuratissime  descriptus .  tabulisque  archetypis  ex- 
ornatus  etc.  Omnia  recensuit  et  auctoris  vitam ,  suasque  ad  tractatum  et  disserta- 
tiones  epistolas  addidit  duodeviginti  Joannes  Baptista  Morgagnus.     Yenetiis  1740. 

2)  1.  c.  Multa  ego  audivi,  nxulta  legi  de  Vesalio,  de  Ruyschio,  de  aliis  qui 
supra  quam  credi  possit,  Anatomen  adamarunt.  Incredibilia ,  cum  essent  juvenes, 
ausos  illos,  et  perpessos,  non  nego.  Hoc  nego  aut  unquam,  aut  certe  cum  viri  essent 
facti,  nactique  jani  magnam  in  Anatomicis  rebus  et  Medicis  ac  Chirurgicis  scientiam 
auctoritatemque  pertulisse. 

s)  Alta  amplaque  fronte,  nigris  oculis  ac  vividis,  decenti  naso,  ore  parvo.  labris 
rubentibus,  caetera  colore  inter  candidum  et  rubicundum ;  sereno  vultu,  sed  non  sine 
gravitate;  ad  haec.  congruentibus  membris  omnibus.  statura  non  magna,  sed  figura 
venusta,  satis  firmae  ad  laborem  ferendum  vires:  stabiles  manus,  eaedemque,  cum 
opus  esset,  promptae  atque  expeditae;  corpus  agile;  nisi  quod  extremis  sex  septemve 
annis  praegravante  pinguedine  tardabatur. 

4)  Qua  in  re  praestanda  tot  aures  aperui  ut  si  enumerarem,  jactationi  potius 
sitnile,  quam  veritati  videri  posset.     1.  c.  Einleitung,  p.  4. 

5j  1.  c.  ibid.  Non  ut  eo  usque  mos  fuerat,  in  varia  et  complura  segmina  Aurem 
dividendo;  sed  integram  totam  quanta  est  relinquendo.  nulla  ferme  vel  minima  parte 
a  proprio  situ  dimota  ;  quae  quidem  praeparatio  quantum  laboris,  quantum  temporis  ; 
praecipue  vero  quantum  studii  et  exercitationis  postulet;  nemo,  nisi  experiatur,  intelliget. 

fi)  1.  c.  Cap.  1-3,  p.  9-52. 

7i  1.  c.  Cap.  4—6,  p.  53—88. 


Valsalva.  241 

8)  1.  c.  Cap.  1,  3,  p.  10. 

9)  1.  c.  Cap.  1.  5,  p.  11. 

10j  1.  c.  Cap.  1,  6  u.  7.  p.  11—13. 
")  1.  c  Cap.  1,  4.  p.  11. 

12)  I.  c.  Cap.  1,  8,  p.  13. 

,3)  1.  c.  Cap.  1,  9,  12,  p.  13—15. 
u)  1.  c.  Cap.  1,  13,  p.  15. 

13)  1.  c.  Cap.  1.  14,  p.  16. 

16)  1.  c.  Cap.  1,  16    p.  17. 

17)  Ex  duplici,  diversaque  expansione  membranacea,  Tympani  membrana  coni- 
ponitur  (quae  Compositio  in  humano  foetu  patescit).  ...     1.  c.  Cap.  2,  1,  p.  18. 

1S)  1.  c.  Cap.  2,  2,  p.  18—20. 

19)  1.  c.  Cap.  2.  3,  p.  20. 

20)  1.  c.  Cap.  2,  5—7,  p.  21—23. 

21)  Ita  membranaceae  expansiones,  quae  irregulariter,  interdum  solent  protendi 
per,  Tympani  Cavitateni;  ad  Stapedem  ipsum  forfcuito  extenduntur,  hujusque  ali- 
quando  intermedium  spatium;  quod  saepius  quidem,  ut  indicabam,  apertum  est; 
fortuito  pariter;  non  certa,  aut  peculiaiiter  notabili  lege  occludunt.  1.  c.  Cap.  2, 
10,  p.  25. 

--)  1.  c.  Cap.  2.  12,  p.  25. 

23)  1.  c.  Cap.  2,  14,  p.  27—28. 

24)  1.  c.  Cap.  2,  16—18,  p.  30— 32.  Musculum  enim  Tuba  Eustachiana  sortita 
est.  a  quo,  ubi  opus  sit,  eadem  potest  dilatari  .  .  .  nam  si  Musculus  iste  leviter  dioitis 
trahatur;  tunc  Nasi  Interna  Foramina,  Tubaque  Eustachiana  dilatantur.  Ibid. 
Cap.  2,  18. 

25)  1.  c.  Cap.  2,  19—21,  p.  30—37. 

26)  1.  c.  Cap.  2,  22,  p.  38. 

27)  1.  c.  Cap.  3,  4—7,  p.  41—44. 

28)  Scala  tympani  superiorem  situm  obtinuit ;  Scala  autem  Vestibuli  inferiorem : 
quod  attendatur,  velim :  nam  Recentiores  Anatomici  banc  Superiorem;  illam  vero 
Scalam  Inferiorem  perperam  vocant ;  ex  hoc  facile  decepti,  quod  forte  Labyrinthum 
non  in  naturali  sede;  sed  a  reliqua  Aure  sejunctum  consideraverint.  1.  c.  Cap.  3. 
8,  p.  45. 

29)  Ope  cujusdam  Septi  in  duos  Canales  ita  dividitur:  ut  Canalis  alter  cum 
altero  nullo  pacto  communicet.     1.  c.  ibid. 

30)  Indicata  ergo  Mollis  Nervi  Pars  (Vestibularnerv)  in  quinque  surculos  divi- 
ditur, et  ipsos  per  ea  quinque  Foramina  intra  Vestibulum  mittit ;  in  quod  statim  ac 
ingressi  sunt,  laxati  in  tenuissimam  quandam  membranam  solent  uniri. 
Quae  quidem  membrana  modo  in  Vestibuli  medio  suspenditur.    1.  c.  Cap.  3,  11,  p.  47. 

:>>1)  Quinque  Nervei  Surculi  in  Vestibulo  in  Membranam  dilatati,  peculiari  in- 
cessu  membranaceo  ulterius  progrediuntur.  Etenim  a  Membrana  Vestibuli  quaedam 
aliae  Membranae  recedunt,  quarum  singulae  diversum  Canalium  Semicircularium 
Orificium  ingrediuntur;  ubi  vero  Membrana  per  unum  Canalis  Orificium  inirressa, 
Membranae  per  alterum  ejusdem  Canalis  Orificium  intranti.  percurrendo  occurrit: 
unam  continuatam  Membranam  ambae  componunt.  Tales  cum  strictioris  taeniolae 
sive  parvae  zonae  figuram  habeant;  sintque  Motibus  Sonoris  excipiendis,  tanquam 
Proprium  Sensorium,  destinatae ;  idcirco  a  nie  Zonae  Sonorae  nuncupantur.  1.  c.  Cap.  3. 
12,  p.  47. 

82)  Haec  vero  (Schneckennerv)  Sinuositatem,  versus  Cochleae  centrum  excavatam, 
manifesto  quidem  ingreditur .  .  .  Vidique  demum  minima  quaedam  Foramina,  in 
Politzer,  Geschichte  der  Ohrenheilkunde.    I.  16 


242  Valsalva. 

certum  nurnerum  difficile  cogenda,  per  quae  Nerveae  Fibrillae  Cochleam  subeunt. 
Intra  hanc  vero  eaedem  probabiliter  in  Membranarn  expansae .  Partera  illius  septi 
Membranaceam  componunt .  .  .  .  quam  ut  a  Canalium  Seinicircularium  Zonis  dis- 
criminem ;  cum  quibus  videlicet  multum  figura ;  substantia  vero  penitus  convenitv 
Zonam  Cocbleae  appellabo.     1.  c.  Cap.  3,  14,  p.  49. 

33)  1.  c.  Cap.  3,  15,  p.  50. 

34)  1.  c.  Cap.  3,  17,  p.  51. 
3T>)  1.  o.  Cap.  3,  15,  16. 

36)  1.  c.  Cap.  6.  10,  p.  87. 

37)  1.  c.  Cap.  4,  2,  p.  54. 

38)  Geminiano  Rondelle»  verdankt  Valsalva  diese  Bemerkung.  1.  c 
Cap.  4,  5,  p.  56. 

39)  1.  c.  Cap.  5,  2.  01—62. 

40)  Videtur  enim  Musculus  ille  esse  datus,  ne  unquam  vi  majoris  alieujus  motus 
ita  alte  Stapedis  Basis  per  Fenestram  ascendat,  ut  circumligans  membrana  rumpatur. 
1.  c.  Cap.  5,  3.  p.  62. 

41)  ...  quotiescumque  audiendum  erit,  statim  Tuba  ineipiet  magis  aperiri. 
Porro  aere  sie  egredi  statim  ineipiente ,  jam  Membrana  Tympani  ab  eodem  Sonoro 
Motu  facilius,  atque  amplius  retropulsa  Mallei  Manubrium  ulterius  retropellet;  hoc 
Musculum  Processus  Majoris  Mallei  magis  relaxabit;  Musculus  vero  iste  indicatum 
Cartilagineum  Tubae  latus  magis  remittet;  ideoque  Novus  Tubae  Musculus  idem 
magis  extrorsum  trahendo ,  Tubam  successive  magis  aperiet;  et  sie  tanto  majorem 
aeris  quantitatem  dimitti,  sinet ;  quanto  repulsio  Membranae  tympani  successive  major 
evaserit.     1.  c.  Cap.  5,  11.  p.  73. 

42)  1.  c.  Cap.  5,  12,  p.  74. 

4 ')  Iiaque  Motus  Sonori  per  impulsam  Stapedis  Basim  ae'ri,  qui  in  Vestibulo,. 
et  reliquo  Labyrintbo  est,  communicati,  intra  hunc  Impressionem  Sonoram,  in  aptam 
quidem  Partem,  facere  debent.  Apta  vero  Pars  nulla  alia  in  Labyrintbo  oecurrit, 
praeterquam  Membrana  in  Vestibulo  existens,  et  quattuor  Zonae;  tres  scilicet 
Canalium  Semicircularium,  et  una  Cochleae.     1.  c.  Cap.  6,  2,  p.  77. 

44)  Observatum  esse  in  pluribus  Musicis  Instrumentis  ;  in  quibus  variae  chordae, 
ut  fieri  solet,  ad  varios  tonos  disponuntur;  si  super  illis  fistula ,  aut  certe  ipso  ore 
variis  tonis  successive  increpemus ;  licet  cujusque  toni  motibus  chordae  omnes  semper 
attingantur,  et  percellantur  uteunque,  et  minus  sensibiliter ;  certam  tarnen  chordam 
a  certo  tono  longe  majorem  impressionem  suseipere  quam  reliquas.  1.  c.  Cap.  Q, 
4,  p.  79. 

45)  1.  c.  Cap.  6,  4,  p.  79—80. 

4G)  Quae  Surditatis  species,  etsi  frequenter  sit  obvia;  attamen  raro,  quia  non 
cognita,  curatur :  quamvis  diligenti  manuum  auxilio  desiderata  possit  restitui  sanitas. 
1.  c.  Cap.  1,  12,  p.  15. 

47)  1.  c.  Cap.  2,  2.  p.  19. 

48)  1.  c.  Cap.  2,  2,  p.  20. 

49)  Olim  namque  in  cujusdam  Surdi  Cadavere  surditatis  causam  in  eo  sitam 
inveni,  nempe  quod  indicata  Membrana  in  substantiam  osseani  indurata,  unum  con- 
tinuatum  os  constituebat  cum  Basi  Stapedis,  et  margine  Fenestrae  Ovalis;  ideoque 
efficiebat ,  ne  amplius  sursum ,  deorsumve  eadem  Basis  moveri  posset.  1.  c.  Cap.  2y 
10.  p.  25. 

50)  1.  c.  Cap.  2,  14,  p.  29. 
B1)  1.  c.  Cap.  5,  5,  p.  64. 
'-'»  1.  c.  Cap.  5,  9.  p.  71. 


Morgagni.  243 

5ri)  Quo  enim  hie  Polypus  magis  in  dies  crescebat,  et  eonsequenter  quo  magis 
ad  Orificia  Tubarum  penitus  claudenda  accedebat;  eo  magis  in  dies  Auditus  Aegro 
minuebatur  sie,  ut  tandem  omnino  surdus  evaserit.     1.  c.  Cap.  5,  10,  p.  72. 

54)  ibid. 

55)  1.  c.  Cap.  .5,  12.  p.  75. 

Gioyaimi  Battista  Morgagni. 

Große  Bedeutung  für  die  Entwicklung  und  Konsolidierung  der  Oto- 
logie  erlangte  ein  in  der  medizinischen  Literatur  fast  einzig  dastehendes 
Werk  des  18.  Jahrhunderts,  das  auf  gründlichem  Wissen,  reicher  Er- 
fahrung, selbständiger  Forschung  und  gewissenhafter  Nachprüfung  basiert. 
Es  sind  dies  die  als  Anhang  zu  der  Herausgabe  des  Valsalvaschen  Trak- 
tats 1740  in  Venedig  erschienenen  „Epistolae   anatomicae"  Morgagnis. 

Es  ist  hier  nicht  unsere  Aufgabe,  die  Verdienste  Morgagnis  um 
die  gesamte  Medizin  zu  schildern,  die  er  durch  Begründung  der  patho- 
logischen Anatomie  zu  einer  rationellen,  exakten  Wissenschaft  umschuf. 
Wir  müssen  uns  im  folgenden  darauf  beschränken,  den  otologischen 
Inhalt  dieser  Briefe  und  deren  Einfluß  auf  die  folgende  Epoche  der  Otiatrie 
in  kurzen  Umrissen  zu  skizzieren. 

Abgesehen  von  den  in  diesen  Briefen  enthaltenen  lehrreichen  patho- 
logisch-anatomischen Befunden  im  Gehörorgane,  gebührt  Morgagni  für 
die  Geschichtsforschung  das  große  Verdienst,  frei  von  jedem  Parteigeiste 
eine  kritische  Uebersicht  der  Anschauungen  und  Beobachtungen  aller 
vorangehenden  Forscher  geliefert  zu  haben,  die  sich  auf  eine  geradezu 
stupende  Belesenheit  gründet  und  trotz  ihrer  Reichhaltigkeit  nirgends 
Sichtung  und  Prüfung  vermissen  läßt.  Die  Briefe  Morgagnis  werden 
stets  als  die  reichhaltigste  und  verläßlichste  Quelle  für  den  Mediko- 
historiker  angesehen  werden  müssen.  Wie  hoch  Morgagni  den  Wert  der 
zu  jener  Zeit  vernachlässigten  historischen  Studien  schätzte,  zeigt  der 
folgende  in  seiner  Vorrede  enthaltene  lapidare  Satz:  „Ex  his  enim 
patebit,  quot  res  quae  vulgo,  ob  historiae  Anatomes  ignorationem,  repertae 
a  posterioribus  credebantur,  quanto  antea  propositae  fuerint;  quot  autem 
aut  fortuitae,  aut  inconstantes,  aut  falsae,  quae  certae,  perpetuae,  veris- 
simae  existimabantur." 

Uebrigens  zeigen  viele  Stellen  dieser  Briefe,  daß  Morgagni  nicht 
immer  den  Anschauungen  Valsalvas  unbedingt  Folge  leistet.  Er  diver- 
giert im  Gegenteil  in  manchen  Punkten  von  seinem  Lehrer  und  Freund, 
da  ihm  die  Wahrheit  und  Ueberzeugung  stets  höher  stand  als  persönliche 
Parteinahme.  Nur  diese  Eigenschaft  läßt  ihn  im  Streite  zwischen  Val- 
salva  und  Vieussens  zum  gerechten  Richter  werden  und  ein  Urteil 
fällen,  das  auch  der  Nachwelt  gerecht  erscheint,  „Ego  de  his  omnibus 
quid  mihi  observatum  sit,  ea  fide  proponam,  ut  Valsalvain  quidem  mihi 
amicum  esse,  intelligas ;  sed  veritatem  multo  magis."     Ep.  XII,  50. 


2  |  |  Morgagni. 

Die  „Epistolae"  Morgagnis  zeichnen  sich  durch  eine  wahr- 
haft klassische,  anmutige  Diktion  aus.  Sie  wirken  noch  heute  durch 
die  zahlreichen,  praktisch  wichtigen  Einstreuungen  anregend  und  be- 
lehrend. Die  Briefform  bewahrt  das  Werk  vor  jener  die  zeitgenössischen 
Arbeiten  charakterisierenden,  doktrinären  Schwerfälligkeit,  die  bei  dem 
überreichen  Inhalt  der  Briefe  Morgagnis  unvermeidlich  geworden  wäre. 

Giovanni  Battista  Morgagni,  einer  angesehenen  Familie  ent- 
stammend, wurde  am  25.  Februar  1682  zu  Forli  geboren.  Er  erhielt 
eine  ausgezeichnete  Erziehung  und  machte  besonders  in  den  Sprachen 
und  schönen  Wissenschaften  rasche  Fortschritte.  Als  Schüler  M  a  1- 
pighis,  Albertinis  und  Valsalvas  widmete  er  sich  mit  besonderem 
Eifer  der  Anatomie,  betrieb  aber  gleichzeitig  auch  Medizin,  Philosophie 
und  Philologie,  für  welch  letztere  er  ebenso  wie  für  Geschichte  und 
Archäologie  große  Vorliebe  besaß.  Daneben  fand  er  noch  Zeit,  sich 
eingehend  mit  Mechanik,  Geometrie,  Astronomie  und  Botanik  zu  befassen, 
zeichnete  sich  durch  gründliche  Kenntnis  der  klassischen  Sprachen  aus 
und  erlangte  so  den  Ruf  eines  Polyhistors,  wie  ihn  unter  den  Deutschen 
nur  Haller  besaß.  Schon  im  19.  Lebensjahre  stand  Morgagni  seinem 
Lehrer  Valsalva,  mit  dem  ihn  später  innigste  Freundschaft  verband, 
als  Prosektor  zur  Seite.  Bei  Valsalvas  Berufung  nach  Parma  er- 
hielt er  dessen  Stelle  als  Demonstrator  der  Anatomie  zu  Bologna.  Als 
solcher  veröffentlichte  er  seine  berühmte  Schrift  „Adversaria  anatomica". 
Nach  Verzicht  auf  diese  Stelle  betrieb  er  mehrere  Jahre  in  Venedig  und 
Padua  chemische,  pharmazeutische  und  zoologische  Studien  und  ließ  sich 
in  seiner  Vaterstadt  als  Praktiker  nieder.  Von  hier  wurde  er  1712  auf 
den  Lehrstuhl  der  Anatomie  zu  Padua  berufen,  wo  er  60  Jahre  mit 
dem  größten  Erfolge  lehrte  und  nebst  anderen  hervorragenden  Anatomen 
auch  Cotugno,  Scarpa,  Caldani  u.  a.  zu  seinen  Schülern  zählte.  Sein 
Ruf  als  Anatom  und  Patholog  drang  durch  ganz  Europa  und  aus  allen 
Weltgegenden  strömten  Schüler  nach  Padua,  um  sich  unter  seiner  Leitung 
auszubilden.  „Plures  viatores  (sagt  Tissot  in  seiner  Biographie  Mor- 
gagnis) anglos  praesertim  novi  qui  de  Italia  reduces,  laeti  et  grati 
memores  narrabant  quum  humaniter  illos  exceperat  et  quantum  ex  illius 
colloquiis  doctis,  varijs,  jucundis  profecerant."  Morgagni  starb  am 
6.  Dezember  1771. 

Von  seinen  zahlreichen  Werken  kommen  für  die  Otologie  einige 
der  „Epistolae  anatomicae"  und  das  berühmte  „De  sedibus  et  causis 
morborum"  in  Betracht.  Außerdem  gebührt  ihm  bei  den  Tafeln  des 
Valsalvaschen  Traktats  die  Ehre  der  Mitarbeiterschaft.  Keiner  war 
daher  so  geeignet,  den  Traktat  Valsalvas  zu  kommentieren  wie  Mor- 
gagni. Von  den  20  Briefen  beziehen  sich  der  III.,  IV.,  V.,  VI.,  VII., 
XII.  und  XIII.  auf  das  Gehörorgan1).    Bescheidenerweise  läßt  Morgagni 


Tafel  XIV 


IOANNF.S  BÄPTtöTA  MORGAGj^Sj 

nus  Forolivii  die  n   Fcbrudrii  anno  iCr->. 

in  Patavino    Gymnaslo  p  PFimartäSed 

•Vniiioiiuti    adhiic  docefoal  anno  176h 


JOANN.  BAPT.  MORGAGNI 


Morgagni.  245 

die  viel  umfangreicheren  „Epistolae"  als  Kommentar  zu  Valsalvas 
„Tractatus  de  aure  humana"  erscheinen:  in  der  Tat  jedoch  stellen  sie 
sich  als  selbständige  Erweiterung  der  Forschungen  Valsalvas  dar. 

Jeder  dieser  Briefe  beginnt  mit  einer  reichhaltigen  historischen 
Einleitung,  welche  die  Untersuchungen  aller  nur  irgend  wichtigen  Vor- 
gänger berücksichtigt;  darauf  folgt  die  berichtigende  Angabe  der  Val- 
salvaschen  Lehren  und  zum  Schlüsse  die  beistimmende  oder  abweichende 
Meinung  des  Autors  selbst.  An  der  Spitze  jedes  Briefes  wird  auf  die 
entsprechenden  Kapitel  des   „Tractatus  de  aure  humana"   verwiesen. 

Inhalt  der  Briefe:  Der  III.  Brief  handelt  über  die  Struktur  der 
Drüsen  und  speziell  über  die  von  Valsalva  beschriebenen  Ceruminal- 
drüsen. 

Der  IV.  Brief  bespricht  die  Ohrmuschel  und  den  äußeren  Gehörgang. 

Der  V.  Brief  das  Trommelfell  und  die  Trommelhöhle. 

Der  VI.  Brief  die  Gehörknöchelchen  und  deren  Muskeln. 

Der  VII.  Brief  die  fenestra  ovalis  und  rotunda,  die  Tuba  Eustachii, 
die  Gefäße  und  Nerven  der  Trommelhöhle. 

Der  XII.  Brief  das  Labyrinth. 

Der  XIII.  Brief:  Den  Nutzen  der  Teile  des  Gehörorgans,  haupt- 
sächlich aber  pathologische  und  therapeutische  Fragen. 

Aus  dem  reichen  und  für  die  damalige  Zeit  erschöpfenden  Inhalt 
dieser  sieben  Episteln  sei  in  Kürze  folgendes  angeführt: 

Bemerkenswert  ist  im  vierten  Briefe,  daß  Morgagni  die  da- 
mals noch  angezweifelten  äußeren  Ohrmuskeln  aufs  genaueste  be- 
schreibt und  für  die  bisweilen  vorkommende  Fähigkeit,  die  Ohrmuschel 
zu  bewegen,  zwei  Zeitgenossen,  Muretus  und  Mery,  anführt.  Er  fand 
den  vorderen  Muskel  aus  zwei  Bündeln  bestehend,  den  Muse,  helicis  major 
in  sehr  rudimentärer  Form.  Die  nach  Santorini  genannten,  aber  von 
Valsalva  und  Duverney,  ja  schon  von  Casserio  angedeuteten  In- 
zisuren  des  knorpeligen  Gehörgangs  seien  nicht  durch  Muskeln, 
wie  manche  angeben,  sondern  durch  Ligamente  überbrückt'-'). 

Im  fünften  Brief  schreibt  er  im  Gegensatz  zu  den  anderen  Au- 
toren dem  Trommelfell  nur  zwei  Schichten  zu,  deren  äußere  von  der 
Haut  des  äußeren  Gehörganges,  deren  innere  von  dem  Periost  der  Pauken- 
höhle abstamme.  Die  Pseudomembran  beim  Neugebornen  (macerierte 
Epiderniislage)  hält  er  für  ein  Produkt  der  Talgdrüsen  im  Gehörgange. 
Mit  Entschiedenheit  spricht  er  sich  auf  Grund  seiner  experimentellen 
Untersuchungen  gegen  die  Annahme  des  foramen  Rivini  aus.  Die  Zellen 
des  Warzenfortsatzes  fand  er  im  Gegensatz  zu  Cassebohm  bei  Er- 
wachsenen weiter  als  bei  Kindern  und  von  einer  Membran  ausgekleidet, 
die  sich  ähnlich  wie  die  Schleimhaut  der  Stirn  und  Kieferhöhlen  verhält3). 

Besonders  reichhaltig    ist  der    sechste   Brief.     Die  Ceruminal- 


246 

drüseu  reichen  nach  Morgagni  bis  zur  Mitte  des  äußeren  Gehörganges. 
Ausführlich  ergeht  er  sich  über  den  Bau  der  Gehörknöchelchen.  Hier 
teilt  er  Behelfe  mit,  um  die  der  rechten  von  denen  der  linken  Seite  zu 
unterscheiden.  Wie  exakt  Morgagni  die  anatomischen  Details  schil- 
dert, erhellt  aus  seiner  Beschreibung  des  Stapes.  Die  Schenkel  des 
Steigbügels  bilden  eher  einen  Bogen  (arcum)  als  ein  Dreieck  (triangulum) ; 
doch  seien  beide  Schenkel  nicht  gleich  gekrümmt,  da  der  hintere  beinahe 
in  gerader  Linie  verlaufe.  Der  krumme  Schenkel  sei  nicht  nur  länger, 
sondern  auch  dicker.  Den  Hals  und  das  Köpfchen  fand  er  nach  vorne 
geneigt,  und  zwar  manchmal  so  stark,  daß  es  den  Anschein  erweckte, 
als  ob  die  Krümmung  des  hinteren  Schenkels  in  den  Hals  und  das  Köpf- 
chen übergehe.  Er  suchte  ferner  den  Nachweis  zu  erbringen,  daß 
Aranzi  das  Linsenknöchelchen  bereits  gekannt  haben  müsse,  da  er  von 
einem  „tuberculum"  spricht,  das  an  den  Amboßschenkel  „per  symphysin 
ac  synchondrosimu  angewachsen  sei.  Im  Gegensatze  zu  seinem  Lehrer 
Valsalva  vertritt  er  die  Anschauung,  daß  die  Gehörknöchelchen  beim 
Neugebornen  nicht  ganz,  sondern  nur  annähernd  denen  der  Erwachsenen 
an  Größe  gleichkommen  (fere  aequare).  Ebenso  sah  er  sich  gezwungen, 
Valsalva  in  der  Frage  des  Periosts  der  Gehörknöchelchen  zu  wider- 
sprechen, da  es  ihm  leicht  gelang,  mit  einer  Nadelspitze  das  Periost  von 
den  Knöchelchen  abzustreifen  und  an  geeigneten  Objekten  auch  Blut- 
gefäße ohne  jede  Präparation  zu  beobachten.  Er  leitete  das  Periost  von 
einer  Membran  her,  die,  wie  er  sagt,  die  Trommelhöhlenwände  bedecke 4). 
Am  Tensor  tymp.  sah  er  im  Gegensatz  zu  vielen  seiner  Vorgänger  nur 
eine  Sehne  "'). 

Im  siebenten  Briefe  hebt  er  hervor,  daß  bereits  Colombo  die 
Lage  des  Stapes  in  einer  vertieften  Nische  der  inneren  Trommel- 
höhlenwand (unsere  pelvis  ovalis)  beschrieben  hat.  Die  Trommelhöhle 
hält  er  für  eine  Zelle  (ex  majoribus  cellis)  des  Schläfebeins.  Auffallender- 
weise bestätigt  er  die  von  Valsalva  vermeintlich  entdeckte  Kommuni- 
kation der  Trommelhöhle  mit  der  Schädelhöhle  (Hyrtls  Dehiscentiae 
tegm.  tymp.).  Obzwar  ..membranulae"  über  die  Löcher,  welche  die  Ver- 
bindung herstellen,  ausgespannt  seien,  wären  diese  doch  von  solcher 
Feinheit,  daß  sie  schwer  „humoris  ponderi"  und  Aehnlichem  auf  die  Dauer 
Widerstand  leisten  könnten.  So  gelange  beispielsweise  bei  einer  Schädel- 
erschütterung mit  Blutung  in  den  Hirnhäuten  Blut  durch  die  genannten 
Löcher  leicht  in  die  Trommelhöhle. 

Vorzüglich  ist  die  Beschreibung  der  Ohrtrompete  und  ihrer  Mus- 
kulatur, an  die  sich  einige  therapeutische  und  pathologische  Erwägungen 
anschließen. 

In  der  zwölften  Epistola  beschreibt  Morgagni  ausführlich  und 
klar   den   Recessus   sphaericus   und   ellipticus   (von   ihm  Cavitas 


Morgagni.  247 

Hemisphaerica  und  Semiovalis  genannt)  und  die  knöcherne  Leiste,  die 
beide  scheidet.  Er  kennt  den  Anfangsteil  des  Aquaeductus  vestibuli,  den 
er  als  „Cavitas  sulciformis"  auffaßt,  doch  ist  ihm  sein  Verlauf  im  Knochen 
und  seine  Endigung  unbekannt ü).  Die  ritzförmige  Furche  an  der  inneren, 
oberen  Wand  des  Vestibulum,  die  zur  Vorhofsöffnung  des  Aquaeductus 
vestibuli  führt  und  von  Morgagni  eingehend  geschildert  wird,  hat  später 
den  Namen  Sulcus  Morgagni  erhalten.  In  der  Bezeichnung  der  Bogen- 
gänge hält  er  sich  an  die  von  Valsalva  auf  Grund  exakter  Messungen 
angenommene  Einteilung  nach  ihrer  Länge.  Auf  einem  Bilde  sämt- 
liche Mündungen  der  Bogengänge  darstellen  zu  wollen,  erklärt  er  für 
unmöglich.  Die  Schnecke  kennt  er  in  allen  ihren  feinen  Einzelheiten 
und  gibt  an,  wie  man  die  linke  von  der  rechten  unterscheiden  könne; 
doch  bezweifelt  er,  daß  die  beiden  Skalen  an  der  Spitze  kommunizieren  7). 
Aus  den  Worten  „etiam  limbum,  et  sulcos  duos  non  multo  secus  quam 
in  Ovali  Fenestra  agnoviu  geht  seine  Kenntnis  vom  Falze  des  Schnecken- 
fensters hervor.  Die  Maculae  cribrosae  untersuchte  er  mit  peinlichster 
Genauigkeit  und  fand,  daß  sie  sich  aus  feinen,  netzartig  gruppierten 
Knochenfäden  zusammensetzen,  die  eine  große  Menge  kleiner  Löcher 
bilden. 

Auch  die  Löchelchen,  die  den  Verzweigungen  des  Acusticus 
zum  Durchtritte  dienen,  sind  in  diesem  Briefe  vielfach  beschrieben,  jedoch 
noch  nicht  in  der  Klarheit  und  Uebersichtlichkeit  wie  bei  Scarpa  und 
den  späteren  Anatomen.  Die  Periostauskleidung  des  knöchernen 
Labyrinthes  wird  von  ihm  bestätigt,  obwohl  Valsalva  sie  negiert 
hatte.  Ebenso  wendet  er  sich  gegen  die  Valsalvaschen  Zonae  sonorae 
des  Labyrinthes  und  nimmt  an  ihrer  Stelle  durchsichtige,  runde,  weiß- 
liche und  nervenähnliche  Fäden  in  den  Bogengängen  und  der  Vorhofs- 
treppe an,  die,  wie  Scarpa  später  fand,  unseren  membranösen  Bogen- 
gängen entsprechen8).  Ebenso  wie  Valsalva  beobachtete  auch  er  bei 
seinen  Sektionen  die  Labyrinthflüssigkeit,  ohne  jedoch  ihre  Bedeutung  zu 
ahnen,  die  erst  sein  großer  Schüler  Cotugno   erfaßte. 

Die  Labyrinthmündung  des  Aquaeductus  Cochleae  kannte  Morgagni 
genau;  da  es  ihm  aber  nicht  gelang,  den  Gang  zu  verfolgen  und  das 
Eindringen  von  Blutgefäßen  und  Nerven  in  ihn  nachzuweisen  („truncuin, 
aut  sanguiferum  aut  nerveum,  ullum"),  so  hielt  er  ihn  für  einen  Blindgang. 

Der  dreizehnte  Brief  enthält  unter  anderem  die  otophysiologischen 
Anschauungen  Morgagnis,  die  sich  in  der  großen  Mehrzahl  fast  nur 
in  den  Bahnen  älterer  Theorien  bewegen.  An  einem  Hunde,  dem  sein 
Lehrer  Valsalva  beiderseits  das  Trommelfell  durchbohrte,  beobachtete 
Morgagni,  daß  das  Gehörorgan  in  den  ersten  50  Tagen  nach  dem  Ver- 
suche normal  funktionierte,  daß  aber  später  der  Hund  über  die  Richtung, 
jius  der  man  ihn  anrief,  nicht  orientiert  schien.     Diese  Erscheinung  ver- 


Morgagni. 

schwand  nach  einem  Monate  vollkommen.  Bei  der  Sektion  fand  man  an 
einem  Ohre  bloß  einen  kleinen  Defekt  des  Hammergriffs,  am  anderen  das 
Trommelfell  rot  verfärbt,  abgeflacht,  an  der  Innenfläche  Teilchen  des- 
Hammergriffs  anhaftend,  dieser  selbst  beinahe  ganz  vom  Hammerhals 
abgebrochen. 

Die  Funktion  des  „recessus  he  m  i  sphaericu  s"  besteht  nach 
Morgagni  darin,  daß  er  die  Schallstrahlen,  die  an  der  Mündung  der 
Vorhofstreppe  vorübergleiten,  sammelt,  verstärkt  und  auf  dieselbe  Weise, 
wie  sie  die  äußere  Ohrmuschel  in  den  Gehörgang  wirft,  hier  in  die 
nächste  Mündung  der  Treppe  leitet9).  Die  „Maculae"',  die  er  nicht  kon- 
stant auffand,  seien  zum  Hören  wohl  nicht  notwendig,  doch  dürften  In- 
dividuen, bei  denen  sie  prägnanter  ausgebildet  sind,  mit  einem  besseren 
Gehör  begabt  sein.  Ebenso  hypothetisch  ist  seine  Ansicht  über  die 
„Membrana  in  vestibulo  suspensa",  die  zur  Aufnahme  oder  zur  Ab- 
dämpfung des  Schalles  diene  (..ad  hos  [nämlich  sonos]  excipiendos,  aut, 
si  mavis,  in  eo  transitu  nonnihil  infringendos  moderandosque" ). 

Schon  diese  Skizze  der  ..Epistolae  anatomicae"  zeigt,  welche  Summe 
von  Anregung  für  weitere  Forschungen  das  Werk  Morgagnis  enthält. 
Wie  befruchtend  sein  Beispiel  auf  die  folgende  Generation  wirkte,  be- 
weisen die  epochalen  Arbeiten  seiner  Schüler  Cotugno  und  Scarpa, 
welche  die  Ohranatomie  mit  unvergänglichen  Entdeckungen  bereicherten. 

Von  noch  größerem  Interesse  für  die  Otologie  sind  die  die  Pathologie 
des  Gehörorgans  betreffenden  Mitteilungen  Morgagnis  in  seinem 
klassischen  Werke  ..De  sedibus  et  causis  morborum,  per  anatomen  inda- 
gatis."  Venet.  1761.  Nicht  nur  das  Tatsächliche,  was  er  hier  vorbringt, 
sondern  die  in  seiner  Forschung  liegende  Methodik,  die  Beziehungen  des- 
Sektionsbefundes  zum  Krankheitsverlauf  und  die  klare  Darstellung  des. 
Gesehenen,  werden  für  alle  Zeiten  ein  Vorbild  pathologisch-anatomi- 
scher Forschung  bleiben.  Im  folgenden  beschränken  wir  uns  auf  ein 
Resume  der  wichtigsten,  im  genannten  Werke  enthaltenen  otologischen 
Befunde. 

Von  höchster  Bedeutung  für  die  wissenschaftliche  Ohrenheilkunde 
war  bei  Morgagni  die  Frage,  in  welcher  Beziehung  Gehirnabszeß  und 
Ohreiterung  zueinander  stehen,  hing  doch  damit  die  bis  in  die  Mitte 
des  19.  Jahrhunderts  viel  diskutierte  Frage  zusammen,  ob  Ohreiterungen 
behandelt  werden  sollen  oder  nicht.  In  dieser  wichtigen  Frage  überragte 
das  Urteil  Morgagnis  das  seiner  Vorgänger  und  vieler  seiner  Nach- 
folger. Im  vierzehnten  Briefe  deutet  er  den  Kausalnexus  jener  Fälle, 
in  denen  man  bei  der  Sektion  Karies  des  Schläfebeins  und  Hirnabszeß 
vorfand,  derart,  daß  das  Ohrleiden  die  primäre  Affektion  vor- 
stelle und  der  Hirnabszeß  sekundär  infolge  kariösen  Durchbruches  des 
Knochens   vom   Mittelohre    entstanden   sei.     Hierdurch   entfernte   er  sich 


Morgagni.  249 

von  den  älteren  Anschauungen  Avicennas,  Bonets*),  Laubius'**)  u.  a.r 
die  den  Ohrenfluß    stets    als   Folge    eines  Hirnabszesses  erklärten. 

Die  wörtliche  Uebersetzung  der  betreffenden  Stelle  lautet:  „Man  wird  leicht 
einsehen,  daß  die  Ueberschrift  der  ersten  Beobachtung  im  19.  Abschnitte  (des 
Sepulchretum  Bonets),  Eiterfluß  aus  den  Ohren  infolge  eines  Gehirn- 
abszesses, sich  von  der  Wahrheit  entfernt,  denn  im  Gegenteil  war  der  Gehirn- 
abszeß, für  dessen  frühere  Existenz  kein  einziges  Zeichen  angegeben  wird,  eine 
Folge  der  Unterdrückung  des  ichorösen  Ohrenflusses. "  Am  Ende  des 
zweiten  Paragraphen  des  14.  Briefes  sagt  er:  „Selbst  dann  also,  wenn  ich,  wie  vor- 
hin erwähnt,  nicht  nur  im  Innern  des  Schädels  eine  Jauche  von  derselben  Beschaffen- 
heit wie  die,  welche  aus  dem  Ohr  abgeflossen  wai-,  angetroffen  hätte,  sondern  sogar 
einen  durch  Karies  gebildeten  Verbindungsweg  zwischen  der  Schädelhöhle  und  dem 
Ohr,  würde  ich  dennoch  nicht  den  Ausspruch  getan  haben ,  daß  der  Eiter  aus  dem 
Gehirn  in  das  Ohr  abgeflossen  sei,  sondern  ich  würde  vielmehr  der  Meinung  sein,  er 
habe  sich  aus  dem  Ohr  einen  Weg  in  das  Gehirn  gebahnt." 

Zur  Illustration  seiner  nach  unseren  Begriffen  modernen  Anschauung 
über  die  otitischen  Hirnerkrankungen  teilt  er  mehrere  Sektionsbefunde 
mit,  die  wir  hier  auszugsAveise  wiedergeben:  Bei  einer  auf  Variola  fol- 
genden Ohreiterung  fand  er  einen  kariösen  Defekt  an  der  hinteren 
Pyramiden  fläche  zwischen  dem  Sinus  lateralis  und  Sinus  petrosus 
superior,  dem  ex  contiguo  ein  Kleinhirnabszeß  entsprach  (Ep.XIV, 3). 
In  einem  anderen  letal  endenden  Falle,  bei  dem  eine  Fistel  am  Warzen- 
fortsatze  bestand,  fand  sich  neben  Eiterung  in  der  Trommelhöhle, 
Karies  des  Fazialkanales  und  der  Bogengänge,  eine  spaltförmige  kariöse 
Lücke  in  der  hinteren  Wand  des  inneren  Gehörganges,  eine  Eiter- 
ansammlung zwischen  Dura  und  hinterer  Pyramidenfläche 
(Extraduralabszeß).     (Ep.  XIV,  5.) 

Die  mitgeteilten  Krankengeschichten  sind  knapp,  aber  scharf  und 
sicher  gezeichnet,  die  Sektionsbefunde  lassen  an  Klarheit  nichts  zu 
wünschen  übrig. 

Mangel  des  Stapes  hat  nach  Morgagni  notwendig  Taubheit  zur 
Folge,  weil,  wie  er  meint,  die  weichen  Labyrinthhäutchen  („mollissimae 
Labyrinthi  membranulau" )  durch  das  offenstehende  ovale  Fenster  den 
äußeren  Schädlichkeiten  ausgesetzt  seien.  Bei  Besprechung  der  Fremd- 
körper bringt  Morgagni  ein  kurzes  Resume  der  bis  zu  seiner  Zeit 
geübten  Beleuchtungsmethode  des  äußeren  Gehörganges.  Aus  seinen 
Ausführungen  ergibt  sich,  daß  die  dem  Fabrizio  bekannte  Technik  der 
Beleuchtung  (siehe  S.  115)  schon  von  Aranzi  für  die  Nasenuntersuchung 
benützt  wurde,  der  in  seinem  „lib.  de  Tumor,  praeternat.  c.  21"  fol- 
gendes sagt:    „cum    solis  aestus,    coelo  praesertim    calidiore,    aegrotanti, 


1:)  Sepulchretum  1.  c. 

*)  Ephem.  nat,  cur.  Cent.  VII.    Obs.  40,  Cent.  VIII.    Obs.  21  etc. 


250  Morgagni. 

niedico,  ministris  molestiam  adferat;  idcirco  in  lignea  fenestra  clausa 
artefactum  foramen,  ei  muneri  obeundo  aptissimum  cogitavit;  ut  per  id 
se  se  insinuans  solis  radius  ad  patientis  internas  nares  recta  perveniat.'" 
Ferner  gebt  aus  den  Mitteilungen  Morgagnis  hervor,  daß  die  Ver- 
wendung einer  mit  Wasser  gefüllten  Flasche  als  Sammellinse  erst  von 
ibm  empfohlen  wurde.  Der  sonstige  otologiscbe  Text  der  14.  Epistel 
enthält  kritische  Streiflichter  der  Befunde  Bonets  aus  dem  Sepulcbretum, 
dessen  otologischen  Inhalt  wir  schon  früher  besprochen  haben  (S.  175). 
Von  den  anderen  otiatrischen  Beobachtungen,  die  sich  als  Nebenbefunde 
zerstreut  in  den  Episteln  seines  Werkes  vorfinden,  wäre  folgendes  mit- 
zuteilen : 

Bei  einer  25jährigen  Frau,  die  an  einer  „febris  maligna"  starb  und 
die  im  Beginne  der  Erkrankung  schwerhörig  wurde  („cum  surditate  in 
principio"),  fand  er  das  Gehirn  vollkommen  intakt,  die  Trommelhöhle 
und  die  angrenzenden  Hohlräume  mit  Eiter  (saniosa  materia)  erfüllt. 
(EP.  VI,  4.) 

An  einem  Erhängten  sah  er  das  Trommelfell  einer  Seite  und  die 
Gehörknöchelchen  mit  Ekchymosen  bedeckt  („sanguine  tincta"),  das  andere 
etwas  injiziert  (sed  tarnen  solito  majorem  ostendit  rubedinem).  (Ep.  XIX,  8.) 

Im  21.  Briefe  findet  sich  die  Beschreibung  eines  Falles  von  meta- 
statischer Mittelohrentzündung   nach   Pneumonie.     (Ep.  XXI,  24.) 

Aus  der  Krankengeschichte  entnehmen  wir:  Eine  Frau  erkrankte 
ca.  8 — 10  Tage  nach  Abortus  eines  etwa  dreimonatlichen  Fötus  an 
„interna  thoracis  inflammatione".  Sie  konnte  nur  auf  der  linken  Seite  liegen, 
klagte  über  Fieber,  Atembeschwerden  und  innerliche  Brustschmerzen. 
Es  bestand  Husten  ohne  charakteristische  Expektoration.  Dazu  gesellte 
sich  Taubheit  und  Schmerzen  in  den  Ohren.  Die  Sektion  des  Gehör- 
organes  ergab  ein  schwärzlich  gefärbtes,  sehr  schlappes  Trommelfell 
beiderseits,  die  Warzenfortsatzzellen  mit  Flüssigkeit  gefüllt,  in  einer 
Trommelhöhle  eine  eiterähnliche  Masse.  Parotis  und  Gehörgang  waren 
normal. 

Im  51.  Briefe  beschreibt  er  die  Obduktionsbefunde  bei  folgenden 
Krankheitsfällen:  Ein  30jähriger  Mann,  der  in  die  Tiefe  gestürzt  war, 
verlor  die  Sprache,  erbrach  zuerst,  dann  blieb  bloß  der  Brechreiz  zurück. 
Es  traten  Konvulsionen  auf,  Rötung  des  Gesichtes ,  pulsus  turgidus 
(strotzend),  Blutung  aus  der  Nase  und  dem  linken  Ohre,  erschwerte 
Respiration  und  24  Stunden  nach  dem  Sturze  erfolgte  der  Tod.  Bei 
der  Sektion  fand  man:  Kontusion  des  Schläfenmuskels  und  Zerreißung 
der  Aeste  der  Schläfenarterie,  zwei  Querfinger  oberhalb  des  Ohres  eine 
bogenförmige  Schädelfissur,  neben  dieser  Fissur  ein  Hämatom  zwischen 
Schädeldecke  und  Dura,  diese,  sowie  das  Gehirn  normal. 

Ein  50jähriger  Mann   stürzte   vom   galoppierenden  Pferde   und  fiel 


Morgagni.  251 

mit  dem  Hinterhaupte  so  wuchtig  auf  einen  Stein,  daß  man  das  Geräusch 
des  brechenden  Knochens  vernahm.  Anfänglich  blieb  er  halbtot  liegen, 
kurz  darauf  versuchte  er  zu  sprechen,  konnte  jedoch  kaum  verstanden 
werden.  Aus  dem  rechten  Ohre,  der  Nase  und  dem  Munde  floß  Blut, 
dabei  bestand  heftiges  Erbrechen.  12  Stunden  nach  dem  Unfälle  eine 
Verlangsamung  der  Respiration,  die  bis  2  Stunden  vor  dem  Exitus  an- 
hielt. Die  Sektion  ergab:  Ausgedehnte  Schädelbasisfraktur,  die  sich  bis 
zum  Hinterhauptloche  erstreckte  und  auf  den  Processus  petrosus  fort- 
setzte. Die  Schädelbasis  zwischen  Dura  und  Pia  mater  mit  einer  großen 
Menge  Blutes  bedeckt. 

Nun  folgt  die  Deutung  der  vorliegenden  Sektionsbefunde,  erstens 
warum  das  Blut  trotz  der  Hinterhauptfraktur  in  der  vorderen  Partie 
des  Kopfes  zwischen  die  Meningen  ausgeströmt  war,  dann  warum  Blut 
durch  Mund,  Nase  und  Ohren  floß.  Letzteres  erklärt  er  aus  dem  Zer- 
reißen von  Gefäßen  außerhalb  der  Schädelhöhle  infolge  der  Gewalt- 
einwirkung. Dies  geschehe  umso  leichter,  wenn  die  Fissur  bis  zum 
Processus  petrosus  reicht  wie  im  zweiten  Falle,  oder  wenn  das  Blut  durch 
die  V als al vaschen  Kommunikationslöcher  von  der  Schädel-  in  die 
Trommelhöhle  eintritt  wie  im  ersterwähnten  Falle.  Das  Blut  kann  auch 
aus  der  Trommelhöhle  durch  die  Tuben  in  die  Choanen  oder  in  den 
Schlund  gelangen.     (Ep.  LI,  50  —  52.) 

Während  Morgagni  in  den  eben  zitierten  Fällen  den  Trommel- 
fellbefund nicht  erwähnt,  wird  ein  solcher  in  einem  Sektionsberichte  des 
52.  Briefes  genau  geschildert.  Eine  Bäuerin  war  kopfüber  die  Treppe 
hinabgestürzt  und  hatte  sich  eine  so  schwere  Schädelverletzung  zugezogen, 
daß  sie  auf  der  Stelle  die  Sprachfähigkeit,  die  Sensibilität  und  Beweg- 
lichkeit der  Extremitäten,  vornehmlich  der  unteren,  einbüßte.  Blutung 
aus  der  Nase  und  einem  Ohre.  Tod  innerhalb  einer  Stunde.  Der  Ob- 
duktionsbefund teilt  mit :  Querfraktur  der  Basis  mit  starker  Gehirnblutung, 
ferner  Bruch  des  äußeren  knöchernen  Gehörganges  mit  Trommelfellzer- 
reißung an  dem  Ohre,  aus  dem  die  Blutung  erfolgt  war.  Auch  die  Sinus 
laterales  waren  eingerissen  und  das  Kleinhirn  verletzt.    (Ep.  LIT,  25.) 

Schließlich  wird  in  Kürze  der  Ohrbefund  eines  gehirnlosen  Mon- 
strums erwähnt,  dessen  Geschwister  taubstumm  waren.  Morgagni 
fand  beide  inneren  Gehörgänge  durch  eine  feste  Membran  verschlossen, 
durch  die  der  Eintritt  eines  Nervenfilamentes  in  den  inneren  Gehörgang 
verhindert  wurde  („ut  ne  quidem  filamento  nerveo  ullus  relinqueretur 
transitous").     (Ep.  XL VIII,  48.) 

')  Im  ganzen  schrieb  Morgagni  zwanzig  Epist.  anat.  Da  die  ersten  zwei 
sich  nicht  auf  V als alva  beziehen,  so  sind  nur  die  weiteren  achtzehn  mit  Valsalvas 
Traktat  vereinigt. 

2)  Ep.  IV,  Cap.  10. 


252  Santorini. 

i  Ep.  V,  Cap.  24. 

4)  Ep.  VI,  Cap.  46,  48. 

•  i  Ep.  VI,  Cap.  23. 

B)   Ep.  XII.  Cap.  5,  60. 

')  Ep.  XII,  Cap.  25. 

v)  In  quatuordecim,  aut  quindecim  auribus  singulos  fere  canales  viderem  singula 
fila  continentes  tenuia,  longiuscula,  teretia,  albida,  et  nevvulorum,  ut  videbantur, 
quos  vascula  sanguifera  comitentur,  quam  simillima.     I.  c.  Ep.  XII,  Cap.  55. 

9)  Quidni  igitur  eodem  pertineat  ita  praepositurn  ejusdem  Scalae  orificio 
Hemisphaericum  Cavum;  ut  ex  illiusmodi  sonis  quosdam.  orificium  Scalae  effugientes. 
possit  colligere,  vividiores  facere,  nee  secus  atque  Auriculae  Conclia  in  Auditorium 
Meatum,  in  proximum  Sealae  orificium  compellere?    1.  c.  Ep.  XIII,  Cap.  48' 

Giovanni  Domenico  Santorini.  Zu  den  zeitgenössischen  Anatomen 
dieser  Periode  zählt  Giovanni  Domenico  Santorini  (1681 — 1737),  ein 
Schüler  Bellinis.  Santorini  gehörte  dem  Kreise  der  Gelehrten  an,  mit 
denen  Morgagni  in  freundschaftlichem  Verkehre  stand.  Nach  Ver- 
öffentlichung seiner  .,Observationes  anatomicae'*  *)  ging  Santorini  an 
die  Bearbeitung  eines  die  ganze  Anatomie  umfassenden  Hauptwerkes, 
dessen  Vollendung  jedoch  sein  frühzeitiger  Tod  verhinderte.  Das  Frag- 
ment wurde  von  Mich.  Girardi  herausgegeben2).  Besonders  eingehend 
beschäftigte  sich  Santorini  mit  den  Muskeln  des  Ohres,  in  deren 
Beschreibung  er  mit  Valsalva  und  Albin  wetteifert3).  Sie  finden 
sich  in  dem  zuerst  genannten  Werkchen  ..Observationes  anatomicae*, 
über  das  Haller  folgendes  Urteil  fällte:  ..Subtilissimus  incisorum  in  hoc 
exiguo  libro  innumera  nova  inventa  proposuit."  Insbesondere  bereicherte 
er  die  Kenntnis  der  dem  Ohrknorpel  allein  angehörenden,  in  seinem 
Werke  gut  abgebildeten  kleinen  Muskeln4).  So  entdeckte  er  zuerst 
den  M.  helicis  major  und  M.  helicis  minor.  Er  war  auch  der  erste, 
der  genauer  als  Mery  und  Duverney  die  nach  ihm  genannten  In- 
zisuren  des  äußeren  Gehörgangs  (Incisurae  Santorini)  beschrieb 
und  nachwies,  daß  bisweilen  über  den  ersten  größeren  Einschnitt  Muskel- 
fasern hinwegziehen  (Santorinischer  Muskel) 5).  Die  Trommelhöhle 
beschreibt  er  weit  besser  als  die  früheren  Anatomen6). 

])  Observationes  anatomicae.     Venet.  17_'4. 

-'•ptemdeeim  tabulae  .  .  .   Mich.  Girardi.    Parma  1775.    Opera.    Parma  1773. 

3)  Obs.  anat.  De  Aure  exteriore.  Cap.  II,  p.  37;  Cap.  I;  ferner  Tab.  XVII, 
posthum  ed.  Girardi.     Parma   1775.     Tab.  1. 

4)  Obs.  anat.  Tab.  I  und  Tab.  III.  Fig.  3.  Ostendit  potissimum  plerosque 
Auriculae  musculos. 

5)  Obs.  anat.  p.  41. 

■')  Varia  illius  figura  esse  solet,  aliquando  enim  veluti  in  duplicem  ab  uno 
exortus  prineipio  dirimitur,  atque  ejusdem  incisurae  diduetioni  imponitur;  interdum 
in  ärcus  similitudinem  componitur,  et  ejus  cavum  ad  exteriorem  convertitur.  Ea  est 
hujus  musculi  fibrarum  directio.  ut  ex  interiore  parte  ad  exteriora  vergant.  et  utroque 


Cotugno.  253 

tendineo  extremo  earumdem  marginibus  inserantur.  Alteram  quoque  incisurain  lacer- 
tosis  exterius  fibris  muniri,  quamquam  mihi  aliquando  non  obscure  vidisse  visus 
sum  etc.  1.  c.  p.  13. 

6)  Tab.  XVII;  Tab.  V. 

Domeiiico  Cotugno. 

Die  grundlegenden  Arbeiten  Valsalvas  und  Morgagnis  wurden 
von  dem  jungen  Schüler  des  letzteren,  Domenico  Cotugno,  in  glän- 
zender Weise  fortgesetzt.  Schon  im  Alter  von  24  Jahren  veröffentlichte  er 
seine  berühmte  Dissertation,  die  eine  neue  Epoche  in  der  Physiologie 
des  Gehörsinns  inaugurierte. 

Dom.  Cotugno  (Cottunni,  Cotunni,  Cotugni,  173G — 1822) 
wurde  zu  Ruvo  im  Neapolitanischen  am  3.  Dezember  1736  geboren. 
Trotz  bitterster  Armut  widmete  er  sich  anatomischen  Studien  und  erregte 
durch  seine  mit  peinlichster  Gewissenhaftigkeit  und  seltenem  Scharfsinn 
ausgeführten  Arbeiten  solche  Bewunderung,  daß  er  schon  im  Alter  von 
30  Jahren  auf  den  Lehrstuhl  der  Anatomie  und  Chirurgie  in  Neapel 
berufen  wurde,  den  er  bis  zu  seinem  am  6.  Oktober  1822  erfolgten  Tode 
innehatte.  Seine  Studien  über  Ischias,  den  Sitz  der  Blatternpusteln,  über 
den  Liquor  cerebrospinalis  und  andere  erwarben  ihm  bedeutenden  Ruf, 
den  größten  Ruhm  aber  erlangte  er  mit  seiner  ersten  Arbeit,  einer  kleinen, 
bloß  80  Seiten  umfassenden  Schrift:  „De  aquaeductibus  auris  humanae 
internae  anatomica  dissertatio."  Neap.  1760  x).  In  diesem  Meisterwerke 
beschrieb  er  aufs  genaueste  das  innere  Ohr  mit  der  Labyrinthflüssigkeit 
und  stellte  die  erste  Hörtheorie  auf,  welche  mit  dieser  rechnet  und  daher 
den  Ausgangspunkt  der  modernen  Anschauungen  bildet.  Der  aer  innatus 
der  antiken  Hörphysiologie  mußte  endlich  dem  realen  humor  aqueus 
labyrinthi  für  immer  Platz  machen2).  Wohl  hatten  mehrere  Anatomen, 
"wie  Duverney,  Valsalva,  Morgagni3),  vor  ihm  hie  und  da  die  Laby- 
rinthfeuchtigkeit beobachtet,  doch  keiner  hatte  den  Mut,  mit  der  Jahr- 
hunderte alten  Tradition  des  „aer  ingenitus"  zu  brechen.  Hier  zeigt  sich 
am  klarsten,  wie  grobe  Irrtümer  durch  das  schrittweise  Vordringen  der 
Erkenntnis  verdrängt  werden.  Cotugno  war  der  erste,  der  nachwies, 
daß  die  Flüssigkeit  die  Hohlräume  des  Labyrinths  vollständig  ausfülle. 
Nur  eines  ist  auch  bei  ihm  noch  mangelhaft:  die  Kenntnis  des  häutigen 
Labyrinths.  Dieser  Schlußstein  zur  makroskopischen  Erforschung  wurde 
erst  von  Scarpa  gelegt. 

Die  Dissertation  Cotugno  s,  schwunghaft  und  in  der  freudigen 
Stimmung  eines  jugendfrohen  Entdeckers  geschrieben,  verficht  vornehmlich 
vier  Thesen:  Die  Existenz  der  beiden  Aquädukte  (cochleae  et  vestibuli), 
das  stete  Vorhandensein  des  Labyrinthwassers,  die  Bedeutung 
der  Aquädukte  für  die  Ableitung  der  Labyrinthflüssigkeit,  endlich 
eine  gehörphysiologische  Hypothese.    Von  diesen  Thesen  vermochten  sich 


Cotugno. 


nur  die  beiden  ersten  auf  reale  anatomische  Anschauung  gegründeten 
dauernd  zu  erhalten,  während  die  Hörtheorie  längst  als  haltlos  der  Ver- 
gessenheit anheimfiel.  Auch  von  seinen  Ansichten  über  die  physiologische 
Bedeutung  der  beiden  Wasserleitungen  haben  sich  in  der  Folge  nur 
wenige  behauptet. 

Das  Gehörorgan  schien  damals  so  vollständig  durchforscht  zu  sein, 
daß  Cotugno  in  der  Vorrede  zu  seiner  Dissertation  sich  geradezu  ent- 
schuldigt, Neues  vorzubringen  *). 


Fig.  11.  Photogr.  Reproduktion  aus  Cotugnos  „De  aquaeductibus  auris  humanae  int." 
Taf.  II,  den  geöffneten  Saccus  endolymphaticus  an  der  hinteren  Pyramidenwand  zeigend. 
f.  Nervi  paris  septimi  portio  dura.  g.  Ejusdem  septimi  paris  portio  mollis.  hh.  Ori- 
ficium  canalis  communis  nervorum  paris  septimi.  k.  Janua  arcuata  orificii  inferioris 
cochkae  aquaeduetus.  pp.  Angulus  superior  ossis  petrosi  a  quo  tentorium  resectuni 
est.  rr.  Latus  posterius  ossis  petrosi  in  quo  desinit  vestibuli  aquaeduetus.  s.  Cavitas 
niembranea  aquaeduetus  vestibuli  aperta.  tt.  Rima,  in  qua  desinit  ossea  jiars  aquae- 
duetus vestibuli,  et  ad  cujus  directionem  prima  cavitatis  incitio  facia  est.  Tab.  1, 
Fig.  1,  mm,  Fig.  2,  i.  u  u.  Latera  disseeta  cavitatis  membraneae  revoluta.  xxxx.  Venulae 
lymphaticae  mercurio  plenae,  a  cavitate  aquaeduetus  membranea  procedentes  et  in 

lateralem  sinum  derivatae. 


Während  früher  die  Bezeichnung  „aquaeduetus"  in  der  Ohranatomie 
oft  eine  sinnwidrige  Anwendung  fand  (wurden  doch  der  Fazialkanal  und 
auch  die  Tube  so  genannt),  wählte  sie  Cotugno  mit  Absicht,  da  er  die 


Cotugno.  255 

richtige  Anschauung  vertrat,  daß  die  beiden  Kanäle  Labyrinthwasser 
leiten5).  Morgagni  kannte  wohl  die  in  der  nach  ihm  genannten  Ca- 
vitas  sulciforrais  gelegene  Anfangsöffnung  des  Aquaed.  vestibuli,  hielt 
ihn  aber  für  einen  blindendigenden  Kanal.  Auch  Cassebohm  kannte  die 
Vorhofsöffnung.  Aber  erst  Cotugno  verfolgte  den  Kanal  bis  zu  jener 
Spalte,  die  sich  an  der  hinteren  Felsenbeinfläche  zwischen  Sinus  sigmoid. 
und  meat.  aud.  intern,  befindet 6),  und  bestimmte  seine  Weite  und  Länge. 
Er  behauptet  ferner,  daß  das  äußere  Blatt  der  Dura  mater  den  Vorhofs- 
aquädukt auskleide  und  in  das  Periost  des  Labyrinthes  sich  fortsetze. 
Hinter  der  Spalte  an  der  hinteren  Felsenbeinwand  entdeckte  er  einen 
von  den  beiden  Blättern  der  Dura  eingeschlossenen,  sehr 
verschieden  gestalteten  Hohlraum  (Intraduralsack  des  Aquaed. 
vestib.),  den  er  „cavitas  aquaeductus  membranacea"  nannte  und  als  Fort- 
setzung der  Vorhofwasserleitung  auffaßte7).  Es  gelang  ihm  auch,  die 
Kommunikation  dieses  Sackes  mit  dem  Aquaeductus  des  Vorhofes  nach- 
zuweisen. Ferner  behauptet  er,  Venen  und  Lymphgefäße  durch  Injektion 
(mit  Quecksilber)  nachgewiesen  zu  haben,  die  die  Flüssigkeit  aus  dem  Sub- 
duralraum  wieder  ableiten8).  Cotugnos  Untersuchungen  erstreckten  sich 
auch  auf  das  Gehörorgan  des  Fötus  und  des  Neugeborenen  und  er  gibt  eine 
genaue  Anweisung  der  Präparationsmethode,  durch  die  er  sein  Ziel  erreichte. 

Mit  demselben  bewunderungswürdigen  Eifer  gelang  es  ihm,  den 
aquaeductus  Cochleae  aufzufinden,  dessen  Schneckenmündung  in  der 
Scala  tympani  neben  der  Fenestra  rotunda  bereits  von  Duverney  ab- 
gebildet wurde9).  Valsalva  konnte  die  kleine  Oeffnung  in  der  Scala 
tymp.  nicht  auffinden10),  hingegen  wurde  sie  von  Cassebohm  und 
Morgagni11)  genau  lokalisiert  und  beschrieben. 

Cotugno  verfolgte  den  Kanal  von  seinem  Beginn  in  der  Scala 
tymp.  (von  ihm  „orificium  superius"  genannt)  bis  zur  trichterförmigen 
Ausmündung  am  „orificiuni  inferius"  12).  Nach  seinen  konstanten  Be- 
funden besitzt  das  runde  Fenster  an  jener  Stelle,  die  der  Apertura  interna 
der  Schneckenwasserleitung  zunächst  liegt,  eine  kleine  knöcherne  Zunge 
(ligula  ossea),  gewissermaßen  als  Verzäunung  (sepimentum).  Die  an  das 
runde  Fenster  prallende  Labyrinthfiüssigkeit  trifft  nicht  auf  die  Fenster- 
membran, sondern  auf  jenen  Knochen,  der  sie  mit  voller  Kraft  „in  proxi- 
mum  aquaeductus  orificium"  schleudert.  Die  äußere  Mündung  der 
Schneckenwasserleitung  bildet  einen  dreikantigen  Raum,  der  einen  „hiatus" 
besitzt,    wodurch  ein   „semicanalis"   entsteht*).     Aus  diesem  jedoch  wird 


*)  Orificium  autem  inferius  in  quamdam  triangularis  areae  speciera  desinit; 
cuius  unum  latus  in  eo  est  margine  orificii,  qui  sub  canali  observatur  nervorum  com- 
muni,  duo  reliqua  antrorsum  ad  se  invicem  accedunt.  Postrema  tarnen  haec  latera 
in  angulum  non  conveniunt,  sed  hiatum  relinquunt  inter  se.  quo  semicanalis 
continetur  .  .  .  1.  c.  Cap.  75,  p.  65. 


Cotugno. 

beim  fortschreitenden  Wachstum  ein  ringsum  geschlossener  Kanal,  der  an 
der  unteren  Fläche  der  Pyramide  ausläuft.  Jener  Rand  der  äußeren 
Apertur,  „qui  ad  cavum  calvariae  pertinet",  hat  stets  Bogenform,  wes- 
halb gleichsam  eine  „janua"  (Türe)  zu  stände  kommt,  durch  die  sich 
Labyrinthflüssigkeit  ..intra  cranii  cavitatem"  ergießt.  Die  harte  Hirnhaut 
kleidet  den  aquaeductus  Cochleae  aus  und  setzt  sich  in  das  Schnecken- 
periost  fort.  Die  Ursache,  warum  der  Aquädukt  den  Anatomen  bisher 
entgangen  war,  erklärt  er  aus  dem  Umstand,  daß  ein  Bündel  (nervus 
glossopharyngeus)  des  achten  Hirnnerven  (nervus  vagus)  die  äußere 
Oefihung  des  aquaeduct.  cochl.  zum  Durchtritt  benützt.  Daß  durch  die 
Schneckenwasserleitung  Blutgefäße  ziehen,  wie  Morgagni  und  Casse- 
bohm  behauptet  haben,  wird  von  ihm  in  Abrede  gestellt;  Untersuchungen 
an  Schädeln  Erstickter  führten  ihn  vielmehr  zur  Annahme,  daß  die 
Schneckenvene  durch  ein  mit  dem  Aquädukt  paralleles,  nahes  Knochen- 
kanälchen  verlaufe. 

Cotugno  entdeckte  die  Schnecken  Wasserleitung  zuerst  beim  Pferd, 
später  fand  er  sie  aber  auch  im  menschlichen  Gehörorgan13). 

Von  grundlegender  Bedeutung  ist  seine  Schilderung  der  Labyrinth- 
flüssigkeit. Ihre  Menge  sei  so  groß,  daß  sie  die  Labyrinthhöhle  voll- 
ständig ausfülle.  Wer  mit  Aufmerksamkeit  frische  menschliche  oder 
tierische  Gehörorgane  untersuche,  werde  finden,  daß  keine  Luft  im 
Labyrinth  vorhanden  sei,  da  durch  den  Steigbügel  der  Zutritt  derselben 
unmöglich  gemacht  ist.  Der  Irrtum  aller  früheren  Anatomen  erkläre 
sich  lediglich  aus  dem  Umstand,  daß  sie  ihre  Forschungen  nur  an  alten, 
nicht  an  frischen  Gehörorganen  anstellten.  Die  Quelle  der  Labyrinth- 
flüssigkeit seien  Exhalationen  der  Gefäße.  Am  besten  könne  man  sich 
von  der  Existenz  des  Labyrinthwassers  überzeugen,  wenn  man  in  frischen 
Ohren  behutsam  den  Steigbügel  entfernt  oder  das  Felsenbein  durch  einen 
Schlag  zerschmettert 14).  Der  Nutzen  der  Flüssigkeit  bestehe  in  dem 
Schutze  der  Nerven,  die  durch  den  unmittelbaren  Kontakt  mit  den 
schwingenden  festen  Teilen  geschädigt  würden:  ..Humor  enim  intermedius 
leniter  undans  ob  acceptum  ab  ossibus  impulsum  concutit  nervös,  sed  molli, 
nee  aspero  contactu." 

Die  auf  die  physiologische  Bedeutung  der  beiden  Aquädukte  basierte 
Hörtheorie  Cotugnos  erwarb  sich  durch  ihren  bestechenden  Scharfsinn 
nicht  bloß  den  Beifall  der  Zeitgenossen,  sondern  blieb  lange  noch  herr- 
schend, obwohl  Scarpa  ihre  Unhaltbarkeit  nachwies.  Sie  beruht  näm- 
lich auf  der  von  den  meisten  zeitgenössischen  Anatomen  geteilten  irr- 
tümlichen Annahme  einer  nervigen  Scheidewand  des  Vorhofes15) 
und  mußte  durch  den  exakten  Nachweis  des  häutigen  Labyrinthes  zu  Falle 
kommen. 

Cotugnos   Theorie    baut  sich  folgendermaßen   auflü):    Durch  die 


Tafel  XV 


\ 


DOMENICO  COTUGNO 


Cotugno.  257 

Schallwellen  wird  das  Trommelfell  erschüttert,  nach  innen  getrieben  und 
Hammer,  Amboß  und  Steigbügel  in  Bewegung  gesetzt,  wodurch  die  Stapes- 
platte in  das  Vorhoffenster  gedrückt  wird.  Da  gleichzeitig  auch  die  Chorda 
erschüttert  wird  und  mit  ihr  die  Hammer-  und  Steigbügelmuskel  ver- 
sorgenden Zweige,  so  werden  diese  Muskeln  zur  Kontraktion  angeregt 
und  die  ganze  Bewegung  noch  verstärkt.  Durch  das  Eindringen  der 
Basalplatte  des  Steigbügels  muß  das  Labyrinthwasser  und  zugleich  die 
nervige  Scheidewand  des  Vorhofs  in  Schwingungen  geraten.  Die  nervige 
Scheidewand  wird  hierbei  nach  hinten  konkav,  nach  vorne  konvex.  Da- 
durch kommt  das  Labyrinthwasser  aus  seiner  Lage  und  macht  einen 
doppelten  Umlauf.  Der  eine,  größere,  beginnt  in  dem  vorderen  Ab- 
schnitte des  Vestibulums  und  setzt  sich  durch  den  (horizontalen)  äußeren 
Bogengang  zur  hinteren  Vorhofshöhle  fort,  worauf  er  auf  dem  Wege 
des  gemeinschaftlichen  und  oberen  Bogengangs  zum  vorderen  Abschnitt 
des  Vorhofs  zurückkehrt.  Der  zweite  kleinere  Umlauf  nimmt  seinen 
Weg  von  dem  hinteren  Teile  des  Vorhofs  durch  den  gemeinschaftlichen 
und  hinteren  Gang  nach  eben  diesem  Teile  des  Vestibulums.  Ebenso 
setzt  sich  der  Druck  der  Flüssigkeit  durch  die  Vorhofstreppe  fort,  um 
durch  den  Vieussen sehen  Becher  in  die  Paukentreppe  zu  gelangen.  Bei 
diesen  Flüssigkeitsschwingungen  wird  sowohl  die  Lamina  spiralis  der 
Treppe  als  auch  die  nervige  Vorhofsscheidewand  erschüttert,  welch  letztere 
eine  bald  nach  vorn  gewölbte,  bald  wieder  flache  Gestalt  annimmt.  So- 
mit werden  die  vom  tönenden  Körper  ausgehenden  Schallschwingungen 
im  selben  Rhythmus  den  in  der  Scheidewand  und  Lamina  spiralis  aus- 
gebreiteten Nervenendigungen  vermittelst  der  Labyrinthflüssigkeit  mit- 
geteilt und  so  dem  Sensorium  zugeführt.  Damit  die  Chorden  jedoch  nicht, 
wie  sonst  beim  Mitschwingen,  weiter  schwingen,  sind  sie  „molles"  und 
fortwährend  von  Flüssigkeit  gepreßt;  sie  stehen  nach  einer  Schwingung 
stille  und  geraten  nicht  früher  in  Bewegung,  als  bis  sie  einen  neuen 
Impuls  vom  Stapes  erhalten*). 

Der  Zweck  der  Wasserleitungen  besteht  darin,  die  von  der  Be- 
wegung der  Stapesplatte  gegen  den  Vorhof  gedrängte  Flüssigkeit  durch 
die  Aquädukte  abzuleiten.  Nach  Aufhören  des  Druckes  kehrt  die  Flüssig- 
keit wieder  in  die  Labyrinthhöhle  zurück. 

*)  Sunt  igitur  nervi  acustici  quasi  chordae  in  singulo  tremore  sonori  corporis 
semel  oscillantes.  totque  cum  audimus  impressiones  cerebro  numeratim  impertientes, 
quot  numero  sunt  sonori  corporis  vibrationes.  Sed  quae  chorda  semel  percussa 
oscillat  semel.  C'erte  quae  tensa  nimium,  et  siccissima  chorda  est,  semel  pulsata. 
valide,  diutiusque  tremit;  sed  vitare  natura  hanc  multiplicem  oscillationem  in  chordis 
nostris  acusticis  visa  est,  neque  enim  tensas  nimium,  neque  aridas,  sed  molles,  et 
fluido  continuo  pressas  easdem  efformavit.  Ita  enim  fit,  ut,  cum  a  stapede  im- 
pelluntur,  nunquam  aeeeptum  continuent  tremorem.  sed  semel  motae,  quiescant,  nee 
iterum  moveantur,  nisi  nova  accedat  stapedis  impulsio.  1.  c.  Cap.  91,  p.  78. 
Politzer,  Geschichte  der  Ohrenheilkunde     I.  17 


258  Cotugno. 

Die  Schallwahrnehmung  findet  hauptsächlich  in  der  Vorhofs- 
scheidewand statt,  die  Tonempfindung  speziell  in  der  Schnecke17). 
Cotugnos  Ausführungen  über  die  physiologische  Bedeutung  der  Schnecke 
sind  deshalb  von  ganz  besonderem  historischen  Interesse,  weil  er  ganz 
richtig  die  längsten  Chorden  in  die  Spitze,  die  kürzesten  in  die  Basis 
der  Schnecke  verlegt,  eine  Annahme,  die  mit  der  Helmholtzschen  Hör- 
theorie vollkommen  im  Einklang  steht*). 

Das  Gesagte  würde  genügen,  um  das  Interesse  zu  erklären,  das 
Cotugnos  Schrift  erregte.  Aber  auch  sonst  bietet  diese  Dissertation 
viel  Neues  und  Anregendes.  So  z.  B.  die  Maßangaben  der  einzelnen 
Teile  des  Gehörorgans18),  die  kurze,  aber  vortreffliche  Beschreibung 
der  Schnecke  19),  in  der  er  über  den  Tractus  spiralis  foraminulentus  und 
das  Helicotrema20)  mit  einer  Klarheit  handelt,  die  man  bis  auf  Scarpa 
bei  allen  Autoren,  selbst  bei  dem  scharf  charakterisierenden  Cassebohm 
vermißt21). 

Cotugnos  Arbeiten  enthalten  eine  große  Summe  von  exakten 
anatomischen  Ergebnissen,  die  teils  unter  seinem,  teils  unter  fremdem 
Namen  Gemeingut  geworden  sind.  Die  auf  seine  anatomischen  Ent- 
deckungen aufgebauten  Theoreme  aber  sind  trotz  ihres  geistreichen 
Aufbaus  verschollen.  Immerhin  jedoch  enthalten  sie  mehr  als  einen  Kern 
von  Wahrheit,  so  daß  der  Historiker  nicht  ohne  weiteres  über  sie  hinweg- 
gehen kann. 

Die  Angaben  Cotugnos  über  die  technische  Darstellung  der  von  ihm  ent- 
deckten Vorhofswasserleitung  waren  so  mangelhaft,  daß  es  den  späteren  Anatomen 
nicht  gelang,  die  Entdeckung  zu  bestätigen.  Hatte  doch  der  durch  eine  hervor- 
ragende Präparationstechnik  berühmte  Hyrtl  die  Existenz  des  Aquaed.  vestibuli  in 
Abrede  gestellt  und  ihn  als  gefäßführenden  Kanal  erklärt.  Selbst  nach  der  bildlichen 
Darstellung  des  Intraduralsackes  durch  van  den  ßroeck  (Atlas  1852)  und  nach 
der  Schilderung  Böttchers**),  der  an  mikroskopischen  Schnitten  das  Verhalten  der 
Vorhofswasserleitung  darlegte ,  war  man  vom  Vorhandensein  derselben  nicht  über- 
zeugt. Bezüglich  dessen  sei  erwähnt,  daß,  als  Kölliker  1876  in  Wien  weilte  und 
Zuckerkandl  ihm  mitteilte,  daß  es  ihm  gelungen  sei,  an  der  hinteren  Felsenbein- 
fläche den  Intraduralsack  der  Cotugnoschen  Wasserleitung  aufzufinden***),  Kölliker 
erst  dadurch  von  deren  Existenz  überzeugt  wurde,  als  Zuckerkandl  in  seiner 
Gegenwart  die  Präparation  des  Sackes  ausführte.  Um  dieselbe  Zeit  gelang  es  auch 
Web  er- Li  eil  den  Intraduralsack  aufzufinden. 


*)  Apparet  aeque  necessitas  Cochleae,  in  qua  series  chordarum  parallelarum 
tensarumque  cymbalo  similis  abscondetur.  cujus  in  zona  Cochleae  sedes  est,  quae  fila 
nervosa  a  spirali  lamina  accepta,  et  parallela  continet  longitudinis  variae.  Hamm 
ego  chordarum  minimam  in  zonae  originepono,  prope  orificium  scalae 
tympani,  ubi  arctissima  zona  est,  maximam  vero  versus  zonae  hamu- 
lum.     1.  c.  Cap.  91,  p.  79. 

**)  Böttcher,  Arch.  f.  Ohrenheilkunde  Bd.  8. 
***)  E.  Zuckerkandl,  Mon.  f.  Ohrenh.  Jahrg.  10,  1870. 


Cotugno.  259 

J)  Erschien  auch  Neapoli  1761.     Viennae  1774. 

2)  De  aquaeductibus.     Cap.  29,  p.  22  f. 

3)  Hoc  est  primum  rcapd8o|ov,  cpjod  in  medium  afferre  videbor,  in  tanta  quidem 
Anatomicorum  omnium,  quod  sciam,  consensione,  existimantium  madescere  quidem, 
non  ad  amussim  impleri  hoc  humore  labyrinthum ,  et  aerem  a  tympano  venientem 
simul  continere.  Qui  vero  attente,  non  in  humanum  modo  labyrinthum,  sed  et  eorum 
quoque  animalium,  quibus  humano  respondens  labyrinthus  datus  est,  rem  ipsam  in- 
quisiverint,  mecum  absque  dubio  manifeste  videbunt,  nihil  aeris  in  labyrintho  in  aure 
recenti,  ac  vivo  propterea  homine  inveniri,  sed  omne  spatium  lympha  repleri.     1.  c. 

4)  Mirum  proinde,  vel  rerum  gnarissimis,  videri  poterit,  valuisse  me  aliquid 
de  hoc  organo  proferre ,  quod  tantorum  Anatomicorum  attentionem  praeterierit. 
Aquaeductus  enim  auris  internae  exponere  aggressus  sum,  quales  adhuc  inauditi. 
Sed  et  de  aure  post  Fallopium  inaudita  protulit  Eustachius,  nova  post  hunc  Cas- 
serius,  novaque  Folius,  meliora  Du  Verneyus,  illustriora  Valsalva  et  Cassebohmius, 
ac  pleraque  longe,  post  tot  tantosque  viros,  definita,  Morgagnus.  Nempe,  quia 
naturam  nunquam  sine  fructu  consulimus,  nee  post  mille  saecula  praecludetur  inqui- 
rentibus  occasio  nova  detegendi.     Praef. 

5)  Quae  faciunt  ut  credam,  me  non  esse  nominis  hujus  proprietate  abusum, 
cum  canalibus  aptavi,  qui  aquaeduetuum,  et  formam  et  officium,  omni  ex  parte  sibi 
vindicant.     1.  c.  Cap.  1,  p.  2. 

6)  Canalis  ab  hoc  procedit  orificio,  qui  introrsum  sursumque  tendit  per  medium 
os  petrosum,  superscandens  canalem  communem.  Lineae  spatium  hoc  decursu  per- 
currit;  atque  mutata  inde  directione,  extrorsum  deorsumque  curvatur,  inque  illa 
terminatur  rima,  quam  in  posteriori  interno  latere,  prope  foveam  sigmoideam,  os 
petrosum  habet.     1.  c.  Cap.  59,  p.  49. 

7)  Durae  matris  . .  .  lamina  exterior.  quae  immediato  contactu  ossibus  applicatur, 
per  rimam,  in  qua  canalis  osseus  aquaeduetus  vestibuli  finem  habet,  intra  aquae- 
duetum  reflectitur.  1.  c.  Cap.  60,  p.  50.  Constat  ex  dictis  aquaeduetus  vestibuli 
duas  esse  partes,  unam  ab  orificio  ad  rimam,  quae  ossea  pars  dici  potest,  alteram 
a  rima  ortam.  et  intra  duram  matrem  excavatam.  quam  cavitatem  aquaeduetus  mem- 
braneam  licet  appellare.     1.  c.  Cap.  64,  p.  54. 

8)  1.  c.  Cap.  65.  p.  55. 

9)  Traite  de  l'organe  de  l'ouie.     Tab.  X,  Fig.  8. 
10)  De  aure  humana.     Cap.  3,  p.  15. 

u)  Cassebohm,  De  aure  humana,  Tract.  V,  199,  Morgagni,  Ep.  XII,  60. 
,2)  De  aquaeduetib.     Cap.  75,  p.  63  f. 

13)  1.  c.  Cap.  81,  p.  69. 

14)  Quoties  enim  auris  recentissima,  et  integra.  nee  dimoto  stapede  ad  obser- 
vandum  assumitur,  dum  leviter  stapes  de  fenestra  ovalis  subducitur,  totum  vestibulum 
aqua  plenissimum  observatur.  Imo  si  in  ipsa  calvariae  basi,  aliquis  canalium  semi- 
circularium  uno  ictu  frangatur,  lumen  aqua  plenissimum  ostendet;  quod  et  in  Cochlea 
discissa  manifestissimum  est.     1.  c  Cap.  29,  p.  23. 

,r>)  Fila  haec  omnia  (sc.  nervi)  cum  in  vestibulum  pervenere  uno  excepto,  quod 
saepe  canalem  externum  penetiare  conspexi,  ab  ipso  a  pyramide,  adsitisque  forami- 
nibus  exitu,  veluti  a  centro  in  membranam  simul  expanduntur,  quae  versus  fundum 
vestibuli  contendit.  Haec  ita  distenditur,  ut  integrum  septum  in  vestibulo  faciat, 
toto  ambitu  circumligatum,  quo  cavitas  haec  bipartitur,  in  cavitatem  anteriorem, 
atque  posteriorem  ...  Membranam  nervosam  istam  septum  nervosum  vesti- 
buli appello.     1.  c.  Cap.  26,  p.  20. 

•6)  1.  c.  Cap.  87—91,  p.  70—78. 


260  Scarpa. 

17)  Septo  igitur  sonum  percipimus,  Cochlea  tonos  discernimus.  1.  c.  Cap.  92,  p.  79. 

,s)  Beispielsweise  des  Vestibulums:  Axis  vestibuli  major,  qui  parallelus  est 
horizonti,  duas  saepe  lineas  aequat,  minor  qui  perpendieularis  1'2.  profunditas  ejus 
iia.  sive  distantia  ab  ovali  fenestra  ad  vestibuli  fundum,  lineam  l2/s  adaequat, 
quamquam  aliquando  perpendiculari  axi  aequalis  sit.     1.  c.  Cap.  3,  p.  3. 

19)  1.  c.  Cap.  11—22.  p.  8— 17. 

-°)  Facile  est  intelligere,  inter  hamulum  laminae,  cum  reliquo  zonae  hamulo. 
et  secundi  gyri  pavimentum,  circa  cujus  centrum  hamuli  diriguntur,  distantiam 
relinqui.    Hiatu  prope  triangulari  in  infundibuli  tubo  patentem.    1.  c.  Cap.  18,  p.  14. 

21)  In  dem  kleinen  30.  Kapitel  faßt  er  die  Hauptirrtümer  der  Vergangenheit 
zusammen:  Quot  ergo  foramina,  per  quae  nervi  in  vestibulum  intrant?  Non  duo  ut 
fortasse  putavit  Du  Verneyus;  non  quinque  ut  Valsalva  sed  innumera.  Quid  zonae 
sonorae  a  Valsalva  propositae?  Aliquid  in  quo  bonus  dormitavit  Homerus.  Quid 
aer  ille  ingenitus  Aristoteli  dictus,  et  toti  prope  antiquitati  accei>tus,  cui  tantum 
Anatomici,  et  Physici  videntur  tribuisse?     Patet. 

Antonio  Scarpa 

(1747—1832). 

Den  Höhepunkt  erreichte  die  otologische  Forschung  des  18.  Jahr- 
hunderts in  den  Werken  Scarpas,  die  durch  ihre  mustergültige  Exakt- 
heit, ihren  reichen  Inhalt  und  durch  die  Klarheit  und  Anschaulichkeit 
der  Darstellung  die  uneingeschränkte  Bewunderung  der  Zeitgenossen  er- 
regten. Die  anatomische  Erforschung  des  membranösen  Labyrinthes  hat 
Scarpa  den  Ruhm  eines  der  größten  Anatomen  aller  Zeiten  eingetragen. 
Nicht  nur  die  Sorgfalt  der  Beobachtung  ist  es,  die  Scarpas  Arbeiten 
so  weit  über  seine  Zeit  erhebt ,  sondern  die  Schärfe  der  Auffassung, 
welche  sich  in  der  überaus  klaren  Ausdrucksweise  kundgibt  und  seiner 
Beschreibung  den  Stempel  der  Wahrheit  aufdrückt.  Den  W^ert  der 
Arbeiten  Scarpas  erhöhen  die  naturgetreuen,  von  ihm  selbst  gezeich- 
neten Abbildungen,  die  von  der  Künstlerhand  Anderlonis  in  Kupfer- 
stich ausgeführt  dem  Werke  beigegeben  sind. 

Während  durch  Folios,  Duverneys,  Valsalvas  und  Morgagnis 
Arbeiten  die  Kenntnis  des  knöchernen  Labyrinths  der  Vollkommenheit 
nahe  gebracht  wurde,  herrschten  bis  Scarpa  über  das  häutige  Laby- 
rinth nur  falsche  und  irrige  Vorstellungen,  welche  wohl  der  fehlerhaften 
Methodik  der  Präparation  beigemessen  werden  dürfen.  Schon  Cotugno 
erkannte,  daß  an  mazerierten  Gehörorganen  nicht  alles  aufgefunden 
werden  kann  und  verdankte  dem  Umstände,  daß  er  frische  Objekte  wählte, 
seine  Entdeckung  des  Labyrinthwassers  und  der  Aquädukte,  doch  gelang 
es  ihm  nicht,  die  Details  des  häutigen  Labyrinthes  zu  erforschen.  Erst 
Scarpa  war  es  vorbehalten,  die  Zonae  sonorae  des  Valsalva,  die  nervige 
Vorhofsscheidewand  Cotugnos  und  andere  irrtümliche  Angaben  zu  be- 
seitigen und  die  Anatomie  des  häutigen  Labyrinthes  endgültig  festzu- 
stellen. 


Tafel  XVI 


ANTONIO  SCARPA 


Scarpa.  261 

Antonio  Scarpa,  aus  Motta  in  der  Mark  Treviso,  wurde  am 
13.  Juni  1747  geboren.  Er  erhielt  eine  ausgezeichnete  Jugenderziehung 
und  fand  schon  frühzeitig  durch  seinen  Oheim,  einen  hervorragenden 
Mathematiker,  reiche  Anregung  zum  Studium.  Lust  und  Vorliebe  für 
Medizin  drängten  ihn,  die  Universität  Padua  zu  besuchen,  wo  damals 
neben  anderen  Celebritäten  noch  Morgagni  wirkte.  Dieser  wendete 
dem  jungen  Scarpa  seine  Gunst  zu  und  fesselte  ihn  als  Vorleser  und 
Sekretär  an  sich.  Durch  den  Verkehr  mit  dem  großen  Manne,  durch 
die  Erledigung  seiner  reichen  Korrespondenz  mit  den  hervorragendsten 
Gelehrten  Europas ,  durch  die  gemeinsame  Lektüre  wissenschaftlicher, 
namentlich  klassischer  Meisterwerke  fand  der  empfängliche  Geist  Scarpas 
eine  Anregung,  die  ihn  weit  über  das  Niveau  des  fachlichen  Forschers 
hob.  Nach  zwei  aufs  beste  ausgenützten  Jahren  verließ  er  Padua,  um 
in  Bologna  vorwiegend  klinische  und  chirurgische  Ausbildung  zu  erlangen. 
Dort  legte  er  unter  der  Leitung  Rivieris  den  Grund  zu  seinen  später  so 
berühmten  chirurgischen  Kenntnissen  und  empfing,  nach  weiteren  zwei 
Jahren  zurückgekehrt,  den  Doktorhut  aus  den  Händen  Morgagnis,  der 
bald  hierauf  in  den  Armen  seines  Lieblings  verschied.  Schon  im  folgen- 
den Jahre  (1772)  wurde  Scarpa  Professor  der  Anatomie  und  erster 
Chirurg  am  Hospitale  zu  Modena.  Während  seines  dortigen  achtjährigen 
Aufenthalts  schrieb  er  zwei  anatomische  Werke,  die  namentlich  die 
Sinnesorgane  und  das  Gangliensystem  behandeln ;  auch  verdankte  ihm 
die  medizinische  Schule  Modenas  die  Errichtung  eines  anatomischen  Hör- 
saals und  einer  chirurgischen  Klinik.  Von  Hercules  III.,  dem  Nachfolger 
des  gütigen  Herzogs  Franz  von  Modena,  beleidigt,  verließ  er  Modena  und 
begab  sich  nach  Frankreich,  Holland  und  England,  avo  er  mit  den  her- 
vorragendsten Zeitgenossen  wie  Vicq-d'Azyr,  Baron  Wenzel,  Bram- 
billa,  Pott,  Hunt  er  u.  a.  in  Berührung  trat  und  jene  reichen  Er- 
fahrungen und  Kenntnisse  sammelte,  die  später  seinen  europäischen  Ruf 
als  Anatom.  Chirurg  und  Ophthalmolog  begründeten.  Dem  freundschaft- 
lichen Einfluß  Brambillas  verdankte  er  im  Jahre  1783  seine  Ernennung 
zum  Professor  der  Anatomie  und  Chirurgie  zu  Pavia,  wo  Joseph  IL  eine 
neue  Lehrkanzel  für  Anatomie  und  eine  chirurgische  Klinik  gegründet 
hatte.  Ende  1783  war  Scarpa  mit  Volta  nach  Wien  gereist,  wo  beide 
dem  Kaiser  vorgestellt  wurden.  Er  begab  sich  dann  nach  den  bedeu- 
tendsten Universitäten  Deutschlands,  überall  die  wissenschaftlichen  Insti- 
tute besuchend.  Zurückgekehrt,  beendigte  er  den  zweiten  Band  seiner 
..Annotationes  anatomicae",  welcher  über  das  Geruchsorgan  wertvolle 
Studien  enthält. 

Sein  für  die  Otologie  bemerkenswertestes  Werk  „Disquisitiones  ana- 
tomicae de  auditu  et  olfactu"  erschien  im  Jahre  1789,  in  zweiter  Auf- 
lage 1795.     Der   damalige  Kriegszustand  Italiens    entriß    ihn    eine   Zeit- 


Scarpa. 

lang  seiner  wissenschaftlichen  Tätigkeit  und  als  im  Jahre  1796  die 
Transpadanische  Republik  gegründet  wurde  und  Scarpa  dieser  den  ver- 
langten Eid  der  Treue  verweigerte,  war  er  genötigt,  sich  von  der  öffent- 
lichen Lehrtätigkeit  zurückzuziehen.  Er  benützte  nun  die  unfreiwillige 
Muße,  um  sich  ganz  in  seine  während  der  Kriegsjahre  gesammelten 
chirurgischen  Studien  zu  vertiefen,  als  deren  Resultate  die  allseitig  mit 
Beifall  aufgenommenen  Schriften  über  die  Aneurysmen,  den  Klumpfuß 
und  Augenkrankheiten  erschienen.  Erst  1805,  als  Napoleon  nach  Pavia 
kam  und  sich  die  Professoren  der  Universität  vorstellen  ließ,  wurde 
Scarpa  rehabilitiert;  denn  als  man  dem  Kaiser  die  Ursache  seiner 
Absetzung  mitteilte,  sagte  dieser:  ..Eidesverweigerung  und  politische  An- 
sichten haben  mit  der  Wissenschaft  nichts  zu  tun.  Scarpa  ist  eine 
Zierde  der  Universität  und  meiner  Staaten,  ich  will,  daß  er  seinen  Platz 
wieder  einnehme."  Napoleon  zeichnete  ihn  noch  durch  Ernennung  zu 
seinem  Chirurgen  und  durch  Verleihung  der  Ehrenlegion  aus. 

Die  weitere  Wirksamkeit  des  Meisters  war  vornehmlich  der  Chirurgie 
und  pathologischen  Anatomie  gewidmet.  Seine  Schriften  übertreffen  an 
Originalität  der  Beobachtung  alle  zu  dieser  Zeit  erschienenen  Fachwerke. 
Zum  größten  Leidwesen  verließ  er  1812  die  Lehrkanzel,  bekümmert 
durch  den  Tod  seines  Lieblingsschülers  Jacopi.  Trotzdem  setzte  er 
seine  wissenschaftlichen  Studien  fort.  Die  Mußestunden  verbrachte  er 
mit  der  Lektüre  moderner  Werke  und  der  Klassiker  des  Altertums,  denen 
er  jenen  klaren,  prägnanten  Stil  verdankt,  der  noch  heute  den  Leser 
seiner  Schriften  erfreut. 

Scarpa,  der  sich  bis  ins  hohe  Alter  dauernder  Gesundheit  er- 
freute, erlag  einer  chronischen  Affektion  der  Harnblase  1832  (31.  Oktober). 

Von  den  beiden  für  unser  Fach  in  Betracht  kommenden  Werken 
wollen  wir  zunächst  den  Traktat  über  den  Bau  des  runden  Fensters  und 
seiner  Membran  besprechen  1).  In  der  Vorrede ,  welche  das  Programm 
und  das  Resume  der  Schrift  enthält,  hebt  der  Verfasser  hervor,  daß 
bisher  die  wenigsten  Anatomen  dem  Schneckenfenster  jene  Aufmerksam- 
keit gewidmet  hatten,  die  ihm  in  Anbetracht  seiner  Wichtigkeit  für  das 
Zustandekommen  des  Höraktes  zukomme 2).  Das  Werk  zerfällt  in  fünf 
Kapitel. 

Das  erste  ist  historischen  Inhalts ;  die  zwei  folgenden  behandeln 
in  eingehendster  Weise  Bau,  Struktur,  Lage  und  Zweck  des  runden 
Fensters  und  seiner  Membran  3). 

Scarpas  Vorgänger  gaben  höchst  mangelhafte  Beschreibungen  und 
Abbildungen  vom  Schneckenfenster4),  insoferne  sie  keine  Rücksicht  auf 
die  Lageverhältnisse  in  den  verschiedenen  Altersstufen  nahmen.  Scarpa 
zeigte,  wie  die  Lage  des  Fensters  während  der  fötalen  Entwicklung 
wechselt5).     Im   dritten  Monate   liegt    es   dem  Trommelfell  fast  parallel, 


Scarpa.  263 

im  vierten,  wo  die  Schnecke  schon  verknöchert  ist,  tritt  das  Fenster 
noch  weiter  nach  vorne,  während  es  im  fünften  wieder  zurücktritt,  sich 
mehr  nach  hinten  neigt  und  zugleich  wegen  der  Entwicklung  des 
Trommelfellringes  sich  mehr  vom  Trommelfell  entfernt.  Die  Distanz 
des  Schneckenfensters  vom  Trommelfell  werde  in  den  späteren  Monaten 
noch  bedeutender,  betrage  im  siebenten  bloß  l3/*  Linien,  im  achten 
schon  2,  im  neunten  endlich  3  Linien.  Ebenso  bestimmte  Scarpa  bei 
Erwachsenen  und  Greisen G)  die  Abstufungen  der  Stellung  des  Fensters. 
Seine  Gestalt,  welche  die  früheren  Anatomen  als  rund  oder  oval  an- 
gegeben hatten,  definierte  er  als  dreieckig  und  wußte,  daß  es  eigentlich 
-den  Eingang  in  einen  Kanal  abschließe,  der  ebenfalls  mit  einer  dreieckigen 
Mündung  in  die  Schnecke  übergehe7).  Zwar  hatten  schon  Casserio, 
Duverney,  Cassebohm,  Haller  diesen  Kanal  angedeutet,  Scarpa 
jedoch  verfolgte  ihn  zuerst  genauer  und  beschrieb  den  Falz  (Sulcus), 
den  man  nach  ihm  am  besten  sieht,  wenn  man  schief  in  den  Kanal 
hineinblickt  8). 

Mit  besonderer  Sorgfalt  beschreibt  er  in  den  folgenden  Abschnitten 
•die  Membran  der  Fenestra  rotunda  in  Bezug  auf  Struktur,  Ursprung  und 
Lage,  wobei  die  Aehnlichkeit  mit  dem  Trommelfell  hervorgehoben  wird, 
weshalb  Scarpa  die  Bezeichnung  „tympanuni  secundarium"  vorschlägt9). 
Die  Membran  sei  zart,  dünn,  setze  sich  aus  dem  Periost  der  Paukenhöhle 
und  dem  des  Labyrinths  zusammen.  Der  Raum,  der  sie  gegen  die  Schnecke 
abschließt,  kommuniziere  nicht,  wie  manche  Anatomen  glauben,  mit  dem 
Vorhof,  und  sie  sei  im  Falze  des  Fensters  so  eingespannt,  daß  sie  gegen 
die  Trommelhöhle  zu  konkav,  gegen  die  Schneckentreppe  aber  konvex 
erscheine. 

Das  nächstfolgende  (dritte)  Kapitel  ergeht  sich  über  die  physio- 
logische Bedeutung  des  Schneckenfensters.  Im  Gegensatze  zu 
■der  von  anderen  vertretenen  Anschauung,  daß  nur  die  Gehörknöchelchen 
oder  nur  die  Luft  der  Paukenhöhle  den  Schall  zum  Labyrinth  leite,  war 
Scarpa  der  Ansicht,  die  Fortpflanzung  des  Schalles  geschehe  auf  beiden 
Wegen10).  Die  Ansicht,  daß  nur  das  runde  Fenster  der  Schalleitung 
diene  (Schelhammer,  Vieussens),  weist  er  energisch  zurück.  Umso 
entschiedener  verficht  er  seinen  Standpunkt,  daß  die  Luft  der  Trommel- 
höhle in  Schwingungen  gerate,  die  durch  den  resonanzfördernden  Bau 
•des  Tvmpanums  verstärkt  würden  und  die  Membrana  tympani  secundaria 
in  Erschütterung  versetze.  Für  die  Notwendigkeit  des  Schneckenfensters 
zum  Hören  spreche  das  stete  Vorkommen  bei  den  verschiedensten  Tieren 
sowie  pathologische  Befunde  und  physikalische  Erwägungen.  Der  Bau 
des  Schneckenfensters  entspreche  völlig  dem  Gehörgang  mit  dem  Trommel- 
fell, der  Paukenhöhle  gleiche  der  kleine  Raum,  der  sich  hinter  der 
Membran    des    Fensters    befinde    und    den    Anfang    der    Paukentreppe 


Scarpa. 

bilde,  welch  letztere  bemerkenswerterweise  stets  weiter  als  die  Vorhofs- 
n  ppe  sei 1X). 

Das  vierte  und  fünfte  Kapitel  handelt  eingehend  über  das  Gehör- 
orgau  der  Vögel  und  sucht  in  diesen  vergleichend- anatomischen  For- 
schungsergebnissen Stützen  für  die  oben  erwähnten  Hörtheorien  beizu- 
bringen. Die  beiden  Tafeln  mit  ihren  zahlreichen  Figuren  übertreffen 
an  Exaktheit  und  Schönheit  beinahe  alle  vorhergegangenen  otologischen 
Werke. 

Scarpas  Jugend  werk  „De  structura  fenestrae  rotundae'',  das  erste 
in  seiner  Art,  machte  großes  Aufsehen,  obwohl  es  von  manchen  Wider- 
sachern für  ein  Plagiat  der  Galvanischen  Forschungen  gehalten  wurde, 
die  sich  besonders  auf  das  Gehörorgan  der  Vögel  bezogen.  Indes  er- 
kannten bald  italienische  und  fremde  Anatomen,  namentlich  Haller, 
seine  volle  Bedeutung. 

Die  kleine  Schrift  war  aber  nur  der  bescheidene  Vorläufer  der 
.,Disquisitiones  anatomicae  de  auditu  et  olfactu",  die  Scarpa  den  Ruhm 
der  Entdeckung  des  häutigen  Labyrinths  sichern. 

Dieses  im  Jahre  1789  erschienene  Werk  12)  bildet  einen  Grenzstein 
in  der  otologischen  Forschung,  indem  es  die  vormikroskopische  Methode 
insoferne  zum  Abschluß  brachte,  als  die  meisten  Angaben  Scarpas 
noch  heute  Geltung  haben.  Erst  durch  die  verfeinerten  Präparations- 
methoden unseres  Jahrhunderts  wurden  den  Ergebnissen  der  Unter- 
suchungen Scarpas  einige  neue  Details  hinzugefügt.  Zwar  bediente  sich 
auch  Scarpa  des  Mikroskopes *),  welches  seit  Harveys  Zeiten  fast  alle 
hervorragenden,  namentlich  die  italienischen  Anatomen  verwendeten,  doch 
entbehrte  das  Instrument  damals  noch  jener  Vollkommenheit,  die  es  zur 
wissenschaftlichen  Beobachtung  der  feinsten  Elemente  in  den  Sinnesorganen 
erst  geeignet  macht.  Der  Fortschritt  der  Technik  bahnte  hier,  wie  über- 
haupt in  der  Medizin,  den  Fortschritt  des  Wissens  an. 

Scarpa  verdankte  die  großen  Resultate  seiner  Gehöranatomie  der 
vergleichenden  Anatomie,  die  er  mit  besonderer  Vorliebe  betrieb.  Die 
schönen  Vorarbeiten  auf  diesem  Gebiete,  die  unter  anderen  Geoffroy, 
Galvani,  Camper,  Vicq-d'Azyr,  Kölreuter,  Monro  und  Hunter 
geliefert  hatten,  waren  für  ihn  ein  Ansporn,  diese  zu  erweitern  und  zu 
berichtigen.  Eine  großzügige  naturphilosophische  Auffassung  ganz  im 
Darwinschen  Geiste  leitete  ihn  bei  der  Auffindung  des  häutigen  Laby- 
rinths. Von  der  Untersuchung  der  niederen  Tierklassen  ausgehend, 
denen  einzelne  oder  alle  sonstigen  Bestandteile  des  menschlichen  Gehör- 
organs fehlten,  gelangte  er  zu  Resultaten,  die  zur  Entdeckung  des  häutigen 
Labyrinthes  beim  Menschen  führten. 


*)  Wie  vor  ihm  Vieussens,  Morgagni  u.  a. 


Scarpa. 


265 


Das  Werk  zerfällt  in  drei  Abteilungen,  die  erste  ist  dem  Gehör- 
organ der  Tiere  (Insekten,  Würmer,  Knorpelfische,  Schuppenfische,  Am- 
phibien, Reptilien  und  Vögel)  gewidmet,  die  zweite  dem  Gehörorgan  des 
Menschen.  Letztere,  die  uns  näher  beschäftigt,  basiert  auf  der  vorher- 
gehenden Abteilung. 

Das  erste  Kapitel  (der  IL  Abt.)  gibt  eine  Uebersicht  über  den  Bau 
des  knöchernen  Labyrinths  nach  dem  Stand  der  damaligen  Forschung, 
ohne  daß  Scarpa  auf  die  von  ihm  neu  entdeckten  Details  besonderes 
Gewicht  geleert  hätte. 


Fig.  12.  Photogr.  Reproduktion  aus  Scarpas  Werk.  Taf.  VI,  Fig.  5.  Die  häutigen 
Bogenröhren ,  ihr  gemeinschaftlicher  Schlauch,  das  runde  Säckchen  des  Vorhofs, 
a.  Die  obere  häutige  Bogenröhre.  b.  Die  hintere  häutige  Bogenröhre.  c.  Die 
äußere  häutige  Bogenröhre.  d.  Das  Bläschen  der  oberen  häutigen  Bogenröhre. 
e.  Das  Bläschen  der  äußeren  häutigen  Bogenröhre.  f.  Das  Bläschen  der 
hinteren  häutigen  Bogenröhre.  gg.  Der  gemeinschaftliche  Schlauch  der  häutigen 
Bogenröhren.  h.  Der  gemeinschaftliche  Kanal  der  oberen  und  hinteren  Röhre. 
i.  Das  andere  Ende  der  äußeren  häutigen  Bogenröhre.  k.  Das  runde  Säckchen 
des  Vorhofs  geöffnet.  1.  Der  Hörnerv,  wie  er  sich  an  die  Bläschen  des  oberen 
und  äußeren  häutigen  Bogengangs  verteilt,  m.  Der  Hörnerv,  wie  er  sich  auf  dem 
Schlauche  der  häutigen  Bogengänge  verbreitet,  n.  Ein  Bündel  des  Hörnerven  für 
das  Bläschen  des  hinteren  häutigen  Bogengangs,  o.  Die  Breisubstanz  des  Hör- 
nerven, welche  den  Grund  des  sphärischen  Säckchens  überzieht,  p.  Die  Vertiefung 
des  runden  Fensters,    q.  Die  Paukentreppe,    r.  Die  Vorhofstreppe,    s.  Die  Schnecke. 


Zu  diesen  gehört  die  klare,  kurze  Beschreibung  der  beiden  Kecessus 
des  inneren  Gehörgangs,  ferner  der  Fovea  hemisphaerica  und  F. 
hemielliptica  an  der  Innenwand  des  Vestibulum,  der  Bogengänge, 
der  Lamina  spiralis,  des  Tractus  spiralis  foraminulentus  etc. 
Scarpa  wußte  zuerst,  daß  die  beiden  Gruben  des  Vorhofs,  deren  Zweck 
keiner  der  vorausgehenden  Anatomen  kannte,  zur  Aufnahme  von  Bestand- 
teilen des  häutigen  Labyrinths  diene,  ferner  wußte  er,  weshalb  der  Ein- 
gang der  Bogengänge  ampullenförmig  gestaltet  sei,  daß  das  obere  Blatt 
der  Lamina  spiralis  gekerbt  und  gefurcht,  das  untere  dagegen  glatt  sei. 
Mit  besonderer  Klarheit  schildert  er  die  knöcherne  Kegion,  die  den  Ver- 


266  Scarpa. 

zweigungen  des  Hörnerven  zum  Verlauf  dient.  Er  teilte  die  Nervenlöcher 
in  zwei  Hauptklassen,  solche,  die  zum  Vorhof  und  den  Bogengängen,  und 
solche,  die  zur  Schnecke  führen.  Die  ersteren  finden  sich  an  drei  verschie- 
denen Stellen,  im  Recessus  superior,  im  Recessus  inferior  und  zwischen 
beiden,  nahe  an  der  Spina  falciformis.  Scarpa  verfolgte  ihren  Verlauf 
mit  peinlichster  Genauigkeit  bis  zur  Ausmündung,  benannte  die  „macula 
cribrosa"  die  „foramina  propria  vestibuli"  und  vervollständigte  die  von 
Cotugno  begonnene  Beschreibung  des  Tractus  foraminulentus  hinsicht- 
lich seiner  Struktur  und  des  Verlaufs  seiner  Kanälchen  in  der  Lamina 
spiralis  und  Schneckenspindel.  Wir  werden  auf  diese  Verhältnisse  bei 
Scarpas  Schilderung  der  Nervenverzweigungen  noch  zurückkommen  13). 

Den  wichtigsten  Teil  der  Entdeckungen  Scarpas  enthält  das  zweite 
Kapitel,  welches  das  häutige  Labyrinth  behandelt.  Was  Scarpa  hier 
vorbringt,  ist  durchwegs  neu  und  erfuhr  später  nur  unwesentliche  Er- 
gänzung. Damit  waren  die  auf  mangelhafter  Untersuchung  basierten 
..Zonae  sonorae''  Valsalvas  und  die  „nervige  Vorhofsscheidewand"  Co- 
tugno s  für  immer  abgetan. 

Scarpa  zeigte,  daß  das  häutige  Labyrinth  beim  Menschen  und 
den  höheren  Tierklassen  der  Konfiguration  des  knöchernen  entspricht 
und  im  wesentlichen  aus  zwei,  in  den  Vorhofsgruben  befindlichen  Säck- 
chen besteht,  von  deren  hinterem  (Sacculus  ellipticus,  jetzt  Utriculus) 
die  drei  häutigen  Bogengänge  ausgehen.  Das  elliptische  Säckchen  be- 
schrieb er  als  die  gemeinschaftliche  Höhle  der  Bogengänge;  am  runden 
Säckchen  (Sacculus)  unterschied  er  zwei  Hälften,  von  denen  die  eine 
in  der  runden  Vorhofsgrube  liegt,  während  die  andere  hinausragt  und 
von  der  gemeinschaftlichen  Höhle  der  Bogengänge  in  einem  eigenen 
Grübchen  aufgenommen  wird. 

Die  beiden  Säckchen  hielt  er  für  völlig  voneinander  getrennt,  der 
Ductus  cochlearis  sowie  der  Canalis  reuniens  waren  ihm  jedoch  unbekannt. 
Die  häutigen  Bogenröhren  seien  vermittelst  eines  sehr  zarten  Zellstoffs 
an  die  knöchernen  Röhren  befestigt*).  Um  diese  Teile  und  ihren  Zu- 
sammenhang, die  er  mit  Vergrößerungsgläsern  untersuchte,  noch  sicht- 
barer darzustellen,  bediente  er  sich  der  Injektion11). 

Scarpa  kannte  nicht  bloß  das  Labyrinthwasser  im  Sinne  Cotugnos, 
d.  h.  die  Perilymphe,  sondern  auch  die  Endolymphe,  die  eben  erst  nach 
Auffindung  des  häutigen  Apparats  entdeckt  werden  konnte.  Durch  die 
wässerige  Flüssigkeit  erscheinen  die  Bläschen  und  häutigen  Bogengänge 
durchsichtig,  so  daß  sie  einer  mangelhaften  Untersuchung  leicht  entgehen 
konnten1'1).     Außerdem  fand  er  bereits  den  Ohrsand,    den   er  mit   den 


*)  Bekanntlich  schrieb  sich  Rüdinger   die  Entdeckung  zu,   daß  die  häutigen 
Bogengänge  wandständig  an  den  knöchernen  befestigt  seien. 


Scarpa.  267 

Ohrsteinchen  der  Fische  und  Amphibien  identifizierte ;  jedoch  modifizierte 
er  später  sein  Urteil,  indem  er  den  länglichen  weißen  Fleck  am  Grunde 
des  Sacculus  als  Ausbreitung  des  Gehörnerven  auffaßte. 

Mit  großer  Genauigkeit  beschrieb  Scarpa  auch  die  Schnecke,  in 
deren  Schilderung  er  Cotugno  übertrifft:  vorzüglich  sind  insbesondere 
die  Maßangaben  der  Schnecke  und  die  Beschreibung  der  Kanäle  in  der 
Spindel.  Irrtümlich  ist  dagegen  die  Annahme,  daß  das  Spiralblatt  bereits 
unter  der  Hälfte  der  zweiten  Windung  in  das  Rostrum  laminae  spiralis 
übergehe. 

Was  die  häutigen  Teile  der  Schnecke  anbelangt,  so  faßte  er 
die  Lamina  spiral.  membranacea  als  Duplikatur  des  Periosts  des  Spiral- 
gangs auf  und  ließ  sie  aus  zwei  Substanzen  bestehen,  wovon  die  eine 
eine  Mittelkonsistenz  zwischen  Knorpel  und  Haut,  die  man  lederartig  nennen 
könnte,  besitze,  die  andere  aber  ganz  häutig,  fast  schleimig  sei.  Diese  sei 
am  Rande  durchsichtig  und  im  Aeußeren  einem  mit  wässeriger  Flüssigkeit 
gefüllten  Röhrchen  nicht  unähnlich*).  Der  Rand,  mit  dem  das  häutige 
Spiralblatt  mit  dem  knöchernen  zusammenhänge,  habe  viele  kleine  Kanäle, 
die  sich  in  jene  fortsetzen,  die  aus  der  Spindel  in  die  Paukentreppe  ein- 
treten und  zwischen  den  zwei  Platten  des  knöchernen  Spiralblattes  ver- 
laufen. Xoch  klarer  als  Vieussens  und  Cotugno  stellte  Scarpa  die 
Verbindung  der  beiden  Treppen  dar,  die  Cassebohm  so  kompliziert 
geschildert  hatte.  Selbstverständlich  fand  er  auch  in  der  Schnecke  das 
Labyrinthwasser,  welches  das  Spiralblatt  wie  zwei  Wasserströme  ein- 
schließe. 

Das  dritte  Kapitel  handelt  speziell  über  den  Gehörnerven,  von 
seinem  Ursprung  aus  markigen  Streifen  des  vierten  Ventrikels  bis  zu 
den  feinsten  Verzweigungen  seiner  beiden  Aeste,  des  Vorhofs-  und 
Schneckennerven.  Den  Verlauf  des  letzteren  gibt  Scarpa  folgender- 
maßen an.  Die  Grübchen  der  Macula  cribrosa  und  alle  die  einzelnen 
größeren  und  kleineren  Löcher  haben  auf  ihrem  Grunde  wiederum  viele 
andere  Löcher,  die  zu  ebensovielen  knöchernen  Kanälen  führen,  unter 
denen  die  von  dem  ersten  Umgang  des  löcherigen  Spiralgangs  abstam- 
menden zur  ersten ,  die  vom  zweiten  Umgang  ausgehenden  aber  zur 
zweiten  Schneckenwindung  gelangen.  Der  durch  die  Achse  der  Spindel 
ziehende  Zentralkanal  gelangt  bis  zur  äußersten  Spitze  der  Spindel  und 
zum  Trichter  der  Schnecke.  Ebenso  verhält  es  sich  mit  der  Verteilung 
des  Schneckennerven.  Durch  die  Löcher  der  ersten  Windung  des  Spiral- 
zuges dringen  die  größeren  Nervenfäden  in  die  Kanälchen  der  Spindel 
bis  zur  Spiralplatte  der  ersten  Schneckenwindung,  treten  dann  divergierend 
zwischen  die  Blätter  der  Spiralplatte,  anastomosieren  untereinander,  lösen 


*)  Dies  würde  unserem  heutigen  Ductus  Cochlea ris  entsprechen. 


Scarpa. 

sich  pinselartig  auf  und  gehen  zu  dem  weichen  Teile  der  Platte,  um  mit 
sehr  feinen  und  weißen  Streifen  zu  endigen.  Durch  die  feineren  Löcher 
der  zweiten  Windung  des  Spiralzugs  treten  andere  Fäden  des  Gehör- 
nerven in  die  Spindel  ein,  gehen  bis  zur  zweiten  Windung  des  Spiral- 
gangs in  seiner  Substanz  fort,  biegen  dann  um,  dringen  in  den  Spiral- 
gang  und  endigen  auf  dieselbe  Weise  in  der  Spiralplatte.  Durch  den 
Zentralkanal  ziehe  ein  stärkerer  Strang  bis  zur  dritten  Windung,  und 
verliert  sich  in  der  letzten  Halbwindung  der  Spiralplatte. 

Ebenso  ausführlich  und  sorgfältig  verfolgte  Scarpa  die  drei 
Zweige  des  Vorhofsnerven  bis  zu  der  früher  angenommenen  Nerven- 
pulpa der  Ampullen.  Die  Verbreitung  des  mittleren  Bündels  des  Vor- 
hofsnerven im  Sacculus  hemisphaericus  verglich  er  mit  der  Ausbreitung 
des  Sehnerven,  denn  auch  dieser  letztere  begebe  sich  durch  kleine  Löcher 
in  die  häutige  Kugel  des  Auges  und  werde  hier  ebenfalls  zu  einem 
Schleim  (Nervenpulpa),  der  sich  allenthalben  an  dem  Grunde  und  an 
den  inneren  Wänden  des  Auges  anhefte. 

Auf  Grund  dieser  anatomischen  Entdeckungen  folgt  im  vierten 
Kapitel  eine  Theorie  des  Hörens,  die  sich  im  Gegensatz  zu  Cotugnos 
Hypothese,  durch  Schlichtheit  des  Aufbaus  der  modernen  einigermaßen 
nähert. 

Nach  Scarpa  ist  die  Basis  des  Steigbügels  im  Vorhofe  so  an- 
gebracht, daß  sie  gleichsam  im  Mittelpunkte  liegt,  und  gegen  die  gemein- 
schaftliche Höhle  der  Bogengänge,  gegen  das  sphärische  Säckchen  des 
Vorhofs  und  gegen  die  Mündung  der  Vorhofstreppe  gerichtet  ist.  Die 
Schallschwingungen,  die  somit  vermittelst  des  Steigbügels  in  den  Vorhof 
gelangen  und  dem  Labyrinthwasser  mitgeteilt  werden,  treffen  in  erster 
Reihe  den  gemeinschaftlichen  Schlauch  der  Bogengänge  und  das  sphärische 
Säckchen.  Von  hier  pflanzen  sich  die  Schallwellen  auf  die  Perilymphe 
der  Bogengänge  und  auf  die  Endolymphe  des  Säckchens  und  der  häutigen 
Bogengänge  fort,  und  erregen  so  die  in  ihnen  ausgebreitete  Nerven- 
pulpa. Aus  der  Anordnung  der  Anfangs-  und  Endmündungen  der  Bogen- 
gänge zieht  Scarpa  den  Schluß,  daß  die  Pulpa  der  Ampullen  und  der 
gemeinschaftlichen  Höhle  stärker  von  den  Schallschwingungen  getroffen 
werde,  als  die  übrigen  Nerven  des  Vorhofs.  Die  Erschütterung  der 
Flüssigkeit  in  den  Bogenröhren,  den  Ampullen  und  den  Säckchen  wieder- 
hole sich,  so  oft  der  Steigbügel  das  Labyrinthwasser  erschüttert. 

Das  Spiralblatt  der  Schnecke  wird  —  da  die  eine  Treppe  in  den 
Vorhof  mündet,  die  andere  vom  runden  Fenster  ihren  Anfang  nimmt, 
beide  mit  Labyrinthflüssigkeit  gefüllt  sind  und  an  der  Spitze  der  Schnecke 
miteinander  kommunizieren  —  von  den  Schallschwingungen  der  Steig- 
bügelplatte und  zugleich  von  denen,  welche  die  Membran  des  runden 
Fensters  treffen,  auf  seinen  beiden  Seiten  erschüttert  und  nebst  den  pinsel- 


Scarpa.  269 

förmig  auf  ihm  verbreiteten  Nerven  in  Schwingung  versetzt.  Der  Um- 
stand, daß  die  Nervenpulpa  in  besonderen  Kanälen  und  häutigen  Säckchen, 
die  in  dem  Wasser  des  Labyrinths  schwimmen,  enthalten  ist,  bewirkt, 
daß  sie  selbst  stärkere  Erschütterungen  ohne  Störung  verträgt. 

Vom  vergleichend-anatomischen  Standpunkt  ist  noch  ein  Zusatz  der 
Theorie  Scarpas  von  großem  Interesse,  der  sich  auf  die  verschiedenartige 
Endigung  des  Vorhof-  und  Schneckennerven  bezieht:  Bei  allen  Tierklassen 
von  den  Schuppenfischen  bis  zum  Menschen  sehen  wir  den  Gehörnerven 
in  zwei  Teile  geteilt,  nämlich  den  pulpös  endigenden  und  den  verästelten. 
Dem  letzteren  ist  immer  noch  eine  Vorrichtung  zugegeben ,  wodurch  er 
stärker  als  der  pulpös  endende  in  Bewegung  versetzt  werden  kann.  Bei 
den  Tieren,  denen  die  Schnecke  und  das  runde  Fenster  fehlt,  wird  nämlich 
der  ästige  Teil  des  Gehörnerven  durch  Steinchen  von  kreideartiger  Sub- 
stanz unterstützt,  damit  die  Schwingungen  dieser  Körper  die  Nervenfäden 
lebhafter  in  Erschütterung  versetzen ,  als  es  das  Wasser  des  Vorhofs 
vermöchte. 

Vorstehende  Ausführungen  ergänzen  die  in  Scarpas  Erstlingswerke 
„De  membrana  tympani  secundaria"  enthaltenen  Anschauungen.  Be- 
merkenswert und  auffallend  ist  namentlich  der  Umstand,  daß  Scarpa 
die  Wasserleitungen  Cotugnos  unerwähnt  und  in  seiner  Theorie  gänzlich 
unberücksichtigt  läßt,  ein  Vorgang,  der  nach  unseren  jetzigen  An- 
schauungen, soweit  sie  den  Hörakt  betreffen,  ganz  berechtigt  war. 

')  De  structura  fenestrae  rotundae  auris  et  de  tympanos  secundario  anatomicae 
observationes,  Mutinae  1772.  Anatomicarum  annotatianuin  liber  primus  de  nervoruni 
gangliis  et  plexibus,  Mutinae  1779.     Pic  reg.  et  Mediol  1792. 

2)  Videtur  enim  natura  hujusce  particulae  praesidio  alteram,  quasi  dicerem 
intimiorein  aurem,  niinoremque  internae,  majorique  auri  adjunxisse,  ut  sonori  tre- 
mores  adaugerentur,  et  facilius  ad  möllern  nervi  acustiei  substantiam  pervenirent. 
Praefatio,  12.  13. 

3)  Kap.  2  u.  3  bilden  die  Ausführung  zu  den  Schlußsätzen  des  1.  Kapitels: 
Et  sane  nobis  tria  statuenda  occurrerunt :  I.  Germanam  fenestrae  rotundae  structuram 
nondum  expositam  fuisse,  quam  idcirco  damus.  II.  Occludenti  ejusdem  membranae 
Tympani  minoris,  aut  Secundarii  nomen  ob  suam  conformationem  convenire.  III.  De- 
mum  Tympanum  hoc  Secundarium  auditui  perfectiori  inservire,  ut  eo  potissimum 
usa  fuisse  natura  videatur,  quotiescumque  alia  defecerint  instrumenta. 

4)  1.  c.  Cap.  2,  §  4.  Non  enim  difficile  fuerat  vetustioribus  circa  structuram 
fenestrae  ita  hallucinari,  ut  apertam  semper  et  patulam  eamdem  fecerint.  Hnjusmodi 
sese  offert  explorantibus  aures  longo  tem{)oris  spatio  exsiccatas,  in  quibus  quidquid 
membranacei  est  penitus  absumptum  fuerat,  ac  labefactatum. 

5)  Cap.  2,  §  6—8. 

6)  Cap.  2,  §  8.  Quoniam  vero  osseum  Cochleae  tuber  aetate  crassescit,  inde 
saepissime  fit,  ut  foramen  fenestrae  rotundae  in  senibus  angustetur,  et  posterius  in 
tantum  vergat,  atque  aversum  fit  membranae  tympani,  ut  canaliculum  spectet,  intra 
quod  stapedis  musculus  sese  occultat. 

7)  Cap.  2,  §  12.     Verum   sedula   adhibita   administratione   cuilibet  Anatomiae 


270  Scarpa. 

cultori  facile  erit  conspicere  fenestram  hanc,  sicuti  exterius,  interius  quoque  figuram 
triangulärem  exhibere.  .  .  . 

R)  Cap.  2,  §  12.  Quam  enim  fenestram  rot  und  am  vocant,  non  ea  foramen  est, 
ut  ajebant,  sed  conicus  quidam  canalis.  ...  §  13.  Neque  haec  tantummodo  in  ossea 
i'enest rae  parte  animadvertimus,  sed  in  sulcum  quemdam  incidimus.  .  .  .  Sulcus  hie 
manifestissimus  ei  fit,  qui  per  fenestram  oblique  intra  canalem  inspiciat. 

s)  Tantam  esse  membranae  huic  cum  tympano  affinitatem,  ut  tympani  minoris, 
seu  seeundarii  nomine  possit  insigniri.  Diese  Bezeichnung  haben  auch  schon  vor  ihm 
Schaarschmid   und  andere  gebraucht   (Tab.  Anat.  Splanc  p.  160).     Cap.  2,   §  19. 

I0)  Cap.  3,  §  23.  Igitur  bina  in  aure  tympana  sunt  externos  sonos  ad  laby- 
rinthum,  et  ab  hinc  ad  proximam  auditus  sedem  deferentia.  Alterum  anterius  com- 
positius ,  omnibusque  notum ,  posterius  alterum  simplicius,  et  a  nobis  nunc  in  lucem 
constitutum.  Illud  externas  auris  undulationes  per  auditorium  meatum  ab  auricula 
advenientes  excipit,  deinde  tremens  eas  aeri  proximam  cavitatem  oecupanti.  et  per 
ossiculorum  machinamentum  communicat  aquae  vestibulum  obsidenti,  cui  semicircu- 
larium  canalium,  et  scalae  augustioris  ostia  respondent.  Hoc  vero  tremores  aeris 
interioris  a  primarii  cavo  tamquam  ab  auricula  collectos  ope  canaliculi  meatus 
auditorii  viribus  fungentis  suseipit.  .  .  . 

n)  Cap.  3,  §  21.  Immo  quemadmodum  retro  membranam  primarii  cavitatem 
aperuit,  ita  retro  seeundarium  tympanum  spatiolum  posuit,  intra  quod  ejus  oscilla- 
tiones  sese  difunderent. 

12)  Disquisitiones  anatomicae  de  auditu  et  olfactu.  Ticini  et  Mediolani  1789. 
Fol.  c.  tab.  aen.  II.  ed.  1792,  1795.  Französisch:  Recherches  anatomiques  et  physio- 
logiques  sur  l'organe  de  l'oui'e;  par  J.  Tour  des,  Sedillot.  rec.  period.  de  la  soc. 
de  sante  de  Paris,  Vol.  IV.  Deutsch:  von  Ch.  H.  Th.  Schreger,  Anton  Scarpas 
anatomische  Untersuchungen  des  Gehörs  und  Geruchs.  A.  d.  Latein.  Mit  Kupfern. 
Nürnberg  1800. 

13)  Den  Verlauf  der  Kanälchen  in  der  Schneckenspindel  schildert,  Scarpa  nach 
Schregers  deutscher  Uebersetzung  folgender  Art:  Sect.  II,  Cap.  1,  §  15,  p.  75.  „An- 
fangs gehen  sie  fast  perpendikulär,  wie  dies  jene  in  der  Paukentreppe  befindlichen, 
inwendig  hohlen  Fäden,  welche  eben  der  äußeren  Schale  der  Spindel  das  rauhe  Aus- 
sehen verleihen,  deutlich  zeigen;  sobald  aber  diese  Kanälchen  an  die  Wurzel  des 
knöchernen  Spiralblatts  kommen,  verändern  sie  ihre  Richtung,  gehen  von  der  Spindel 
ab  und  schlagen  sich  zwischen  die  zwei  Platten  des  Spiralblattes.  Daselbst  trennen 
sie  sich  mehr  als  einmal  wieder  in  andere  noch  kleinere  Röhrchen,  werden  ästig 
und  öffnen  sich  mit  äußerst  engen  Mündungen  auf  das  feinste  an  dem  freien  Rande 
des  knöchernen  Spiralblattes.  .  .  .  Das  letzte  Halbgewind  des  Spiralblattes  nimmt 
hingegen  nur  ein  einziges,  doch  verhältnismäßig  sehr  weites  Röhrchen  auf.  Dieses 
weitere  Röhrchen  geht  von  demjenigen  größeren  Loche,  das  sich  in  dem  Mittelpunkt 
der  Grundfläche  der  Spindel  vorfindet,  durch  die  Achse  der  Spindel  zum  Häkchen 
(hamulus)  und  zum  äußersten  Ende  des  Spiralblattes. " 

14)  Zu  diesem  Zwecke  wählte  ich  drei-  und  viermonatliche  Früchte,  wo  das 
Labyrinth  schon  gehörig  ausgebildet  und  die  Bearbeitung  der  knöchernen  Teile  weder 
allzuschwer,  noch  mühsam  ist,  auch  außerdem  die  häutigen  Bogengänge  und  ihre 
gemeinschaftliche  Höhle  bei  der  Untersuchung  den  Vorteil  verschaffen,  daß  sie  des 
zarten  Alters  ungeachtet  doch  weit  dickere  und  festere  Häute  haben,  als  im  Er- 
wachsenen. Hier  öffnete  ich  das  Labyrinth  von  der  Seite  |des  eirunden*)  Fensters, 
nahm  ein  Vergrößerungsglas  vor  das  Auge,   und  spritzte  blau  gefärbtes  Wasser  ver- 

*)  Ovalen. 


Comparetti.  271 

mittelst   der  Anel'schen  Spritze    durch    das  Bläschen    des   hinteren    Bogengangs    ein. 
Jetzt  sah   ich   zu  meinem  Vergnügen  das  ganze   gemeinschaftliche  Bett  im  Vorhofe 
mit  den  drei  Bläschen  der  Bogengänge    sich    sogleich    erheben,    und    durchaus   blau 
unterlaufen  aufschwellen."     1.  c.  p.  82. 
15)  1.  c.  Cap.  2,  §  8.  p.  82. 

Andrea  Comparetti,  ein  Zeitgenosse  und  Landsmann  Scarpas, 
wurde  im  Jahre  1746  zu  Vicinale  in  Friaul  geboren;  er  studierte  zu 
Padua  Medizin,  wo  der  berühmte  Morgagni  sein  Lehrer  war.  Nachdem 
er  den  Doktorgrad  erreicht  hatte,  praktizierte  er  in  Venedig  und  erhielt 
nach  dem  Tode  Bianchinis  eine  Berufung  an  die  Universität  Padua, 
wo  er  als  Professor  der  praktischen  Medizin  Avirkte.  Er  starb  am  22.  De- 
zember 1801. 

Von  den  zahlreichen  Schriften,  die  Comparetti  teils  den  Natur- 
wissenschaften, teils  der  Anatomie  und  praktischen  Medizin  widmete, 
interessieren  uns  hauptsächlich  seine  .,Observationes  anatomicae  de  aure 
interna  comparata"  (Patavii  1789)*),  ein  Werk,  welches  Chladni  für 
eine  der  vorzüglichsten  Arbeiten  über  das  Gehörorgan  des  Menschen 
und  der  Tiere  erklärte.  Da  Scarpas  Arbeit  über  den  gleichen  Gegen- 
stand aus  demselben  Jahre  datiert,  scheint  die  Feststellung  nicht  un- 
wichtig, daß  Comparetti  die  „Disquis.  de  audit.  ac  olfac.'*  von  Scarpa 
bereits  kannte,  wie  aus  dem  Schlüsse  des  Vorwortes  hervorgeht.  Dies 
schmälert  indes  keineswegs  das  Verdienst  Comparettis,  vielmehr  liefert 
sein  umfangreiches  Werk  beredtes  Zeugnis  von  dem  emsigen  Fleiße,  der 
unermüdlichen  Ausdauer  und  der  bewunderungswürdigen  Beobachtungs- 
gabe des  Autors. 

Die  Untersuchungen  Comparettis  beziehen  sich  auf  alle  Teile  des 
Gehörorgans  ohne  Ausnahme,  indem  er  dessen  Topographie,  Morpho- 
logie, Dimension  und  andere  physikalische  Qualitäten  beim  Menschen  und 
bei  den  verschiedenen  Spezies  aller  Tierklassen  eingehend  untersucht, 
untereinander  vergleicht  und  zum  Schlüsse  Betrachtungen  über  die  Physio- 
logie und  Pathologie  des  Ohres  anstellt. 

Die  ersten  sechzig  Beobachtungen  umfassen  das  menschliche  Gehör- 
organ, die  übrigen  acht  sind  der  vergleichenden  Anatomie  gewidmet. 
Da  Comparetti  aber  aus  dieser  großen  Zahl  von  Beobachtungen  kein 
umfassendes  Gesamtbild  liefert,  sondern  jede  Sektion  einzeln  Avohl  sorg- 
fältig aber  zu  weitsch weifig  und  ohne  Selbstkritik  beschreibt,  so  fehlt 
seiner  Arbeit  die  Präzision  und  Uebersichtlichkeit,  die  Scarpas  Meister- 
werk so  auszeichnet.  So  verweilt  er  oft  bei  unwichtigen  Details  über- 
mäßig lange  und  ermüdet  den  Leser  durch  Mitteilung  zahlreicher 
inkonstanter     Messungen     der     einzelnen    Abschnitte     des    Gehörorgans, 


*)  Nicht  im  Jahre  1789,  wie  auf  dem  Titel  angegeben,  sondern  erst  1791  er- 
schienen. 


Comparetti.     Antonio  Caldani. 

während  wichtige  Daten  flüchtig  behandelt  werden.  Die  dem  Text  bei- 
gegebenen Abbildungen  sind  roh  und  unkünstlerisch  und  vermögen  die 
Beschreibungen  nicht  genügend  zu  illustrieren.  Diese  Schattenseite  der 
immerhin  wertvollen  Abhandlung  mag  auch  der  Grund  sein,  daß  wir  sie 
trotz  der  großen  Gelehrsamkeit,  die  Comparetti  in  ihr  entwickelt,  bei 
den  zeitgenössischen  und  späteren  Autoren  wenig  erwähnt  finden. 

Die  wichtigsten  Punkte  über  die  Physiologie  und  Pathologie  des 
Gehörorganes,  denen  er  am  Schlüsse  des  Werkes  unter  dem  Titel  „Con- 
siderationes"  einige  Seiten  widmet,  mögen  hier  kurz  erwähnt  werden. 
Comparetti  bemerkt  wohl  ganz  richtig,  daß  bei  obliterierter  Tube  Luft- 
verdünnung in  der  Trommelhöhle  entsteht,  ist  aber  nicht  im  klaren 
darüber,  warum  dann  Schwerhörigkeit  eintrete,  da,  wie  er  meint,  ver- 
dünnte Luft  den  Schall  besser  leite ;  er  übersieht  hierbei  vollkommen,  daß 
infolge  des  Ueberwiegens  des  äußeren  Luftdruckes  Trommelfell  und  Ge- 
hörknöchelchenkette nach  innen  gedrängt  werden  und  infolge  der  ein- 
seitigen Belastung  einen  Teil  ihrer  Schwingbarkeit  einbüßen  r).  An  einer 
anderen  Stelle2)  pflichtet  er  der  irrtümlichen  Ansicht  Hallers  bei,  daß 
wegen  der  Schrägstellung  des  runden  Fensters  die  Luftschalleitung  durch 
die  Trommelhöhle  nicht  in  Betracht  kommen  könne. 

Comparettis  Hörtheorie  klingt  phantastisch  und  entbehrt  jeder 
realen  Begründung.  Versteigt  er  sich  doch  zu  der  Hypothese,  daß  die 
Zahlen  2,  3  und  5,  welche  bei  den  Tönen  eine  große  Rolle  spielen,  sich 
bei  dem  Aufbau  des  Labyrinthes  wiederholen :  2  Treppen,  3  Bogengänge, 
5  Mündungen  3),  und  daß  die  Bogengänge  in  den  Verhältnissen  der  Oktav, 
Terz  und  Quint  angelegt  sein  sollen. 

Die  Bemerkungen  Comparettis  über  die  Pathologie  des  Ohres 
enthalten  nur  unwesentliches  Detail.  Er  bespricht  ausführlich  die  ver- 
schiedenen Arten  der  subjektiven  Geräusche  und  die  wechselnden  Ur- 
sachen ihres  Entstehens  (Syrigmus  a  plethora,  a  debilitate,  ab  oxyecoia  etc.)  4). 
Seine  Ansichten  von  dem  Wesen  der  Gehörerkrankungen  sind  noch  in 
manchem  Irrtum  befangen  und  überragen  das  Niveau  seiner  Zeit- 
genossen nicht. 

')  1.  c.  p.  334.  Si  tuba  obstructa  et  aere  interno  rarefacto  in  eodem  spatio, 
auditus  gravitas  et  surditas;  annon  ab  aeris  interioris  resistentia  id  fiat?  etc. 

2)  1.  c.  p.  334. 

3)  1.  c.  p.  341. 

4)  1.  c.  p.  349. 

Leopoldo  Marc  Antonio  Caldani  (1725 — 1813),  ebenfalls  ein 
Schüler  Morgagnis,  wurde  1755  als  Professor  der  Anatomie  und 
Medizin  an  die  Universität  Bologna  berufen.  Nach  dem  Tode  Morgagnis 
folgte  er  diesem  auf  dem  Lehrstuhl  der  Anatomie  zu  Padua,  den  er 
durch  40  Jahre  in  Ehren  bekleidete. 


Antonio  Caldani.     Floriano  Caldani.  273 

Seine  auch  in  andere  Sprachen  übersetzten  „Institutiones  physio- 
logicae"  zeigen  Caldani  auf  der  Höhe  seiner  Zeit,  da  er  die  neuen 
anatomischen  Entdeckungen  Cotugnos  und  die  gehörphysiologischen 
Ansichten  Hallers  ganz  und  voll  akzeptiert,  wodurch  sein  Werk  sich 
rühmlich  von  den  einschlägigen  zeitgenössischen  Arbeiten  unterscheidet. 
Wir  greifen  aus  diesem  Werke  nur  das  Bemerkenswerteste  heraus. 

Caldanis  anatomische  Beschreibung  des  Trommelfells  basiert 
noch  auf  der  Annahme,  dieses  und  das  eigentliche  Häutchen  werde 
durch  die  Beinhaut  des  äußeren  Gehörganges  und  der  Trommelhöhle 
gebildet.  Er  sieht  die  Auskleidung  der  letzteren  für  eine  von  der  harten 
Hirnhaut  stammende  Periostlage  an.  Von  den  Binnenmuskeln  des  Ohres 
hält  er  ganz  richtig  nur  den  M.  tensor  tymp.  und  M.  stapedius  für  sicher- 
gestellt. 

Hingegen  ist  seine  Ansicht,  daß  der  Tensor  tymp.  das  Trommelfell 
je  nach  Bedarf  Avillkürlich  spannt  und  erschlafft,  ebenso  irrig,  wie  die, 
daß  der  Muse,  stapedius  die  Stapesplatte  in  das  ovale  Fenster  hineindrücke. 

In  der  Schilderung  des  Baues  der  Schnecke  lehnt  er  sich  an  seine 
Vorgänger  an.  Die  membranöse  Spiralplatte  hält  er  für  eine  Ver- 
längerung der  das  Schneckeninnere  auskleidenden  Beinhaut  (Endost). 
Die  beiden  Treppen  kommunizieren  an  der  Spitze  der  Schnecke.  Er 
akzeptiert  die  neue  Entdeckung  Cotugnos,  der  die  Labyrinthhöhle  mit 
Flüssigkeit  erfüllt  fand,  und  gibt,  um  sich  von  der  Richtigkeit  dieser 
Tatsache  zu  überzeugen,  folgenden  Versuch  an.  Man  feile  an  der 
Schneckenspitze  so  viel  vom  Knochen  ab,  bis  eine  kleine  Oeffnung  ent- 
stehe. Uebt  man  auf  das  Stapesköpfchen  einen  leichten  Druck  aus,  so 
sieht  man  die  Flüssigkeit  in  der  Schneckenöffnung  emporsteigen.  Die 
Entdeckungen  Scarpas  sind  ihm  noch  nicht  bekannt,  da  er  von  einer 
Haut  im  Vestibulum  spricht,  die  dieses  auskleide  und,  wie  es  scheint, 
auch  im  Vestibulum  schwebe. 

Als  perzipierendes  Organ  für  den  Schall  betrachtet  er  die  Schnecke, 
weil  sich  in  dieser  Nervenfaden  von  verschiedener  Dicke  ausbreiten,  die 
an  der  Basis  länger,  an  der  Spitze  kürzer  und  möglicherweise  auch  ver- 
schieden gespannt  sind.  Die  Schnecke  könne  daher  —  falls  die  bis  dahin 
nur  hypothetisch  angenommenen  Nervenfäden  existieren  —  mit  einer 
Geige  verglichen  werden,  deren  Saiten  mit  den  harmonischen  Tönen 
gespannt  werden. 

Floriano  Caldani,  ein  Neffe  des  vorigen,  der  nach  dem  Tode  seines 
Onkels  dessen  „Icones  anatomicae",  Venet.  1813,  herausgab,  beschäftigt 
sich  in  seinem  „Osservazioni  sulla  membrana  del  tympano  e  nuove  ricerche 
sulla  elettricitä  animale",  Padua  1799,  betiteltem  Werke  eingehender  mit 
dem  Baue  des  Trommelfells.  Er  ist  der  erste,  der  sich  zur  Erkenntnis 
der  feineren  Struktur  der  Membran  eines  verbesserten  Mikroskops  bedient. 

Politzer,  Geschichte  der  Ohrenheilkunde.    I.  18 


274  Floriano  Caldani. 


Auf  die  einschlägigen  Arbeiten  seines  Onkels  zurückgreifend,  schil- 
dert er  das  Trommelfell  aus  vier  Schichten  zusammengesetzt.  Es  sind 
dies  die  äußere  Epidermislage,  die  Cutisschichte  des  äußeren  Gehörgangs, 
das  Periost  der  Membran  (subst.  propria)  und  eine  kurze  Zellschichte, 
die  diese  Lamellen  verbindet  r). 

Die  eigentliche  Haut  des  Trommelfells  besteht  aus  zwei  sich  kreu- 
zenden Lagen,  von  denen  die  eine  zirkulär,  konzentrisch  geschichtet 
ist,  während  die  andere  in  radiärer  Anordnung  von  der  Mitte  der 
Membran  gegen  die  Peripherie  gerichtet  ist2).  Das  Geschilderte  wird 
durch  eine  Abbildung  (Taf.  I,  Fig.  1)  veranschaulicht.  Der  jüngere 
Caldani  ist  demnach  der  erste,  der  die  radiäre  und  zirkuläre  Faser- 
schichte des  Trommelfells  erkannt  hat. 

An  der  Oberfläche  der  Innenseite  frischer  Trommelfelle  fand  er 
kleine  punktförmige  Körperchen,  die  er  irrtümlich  für  Drüschen  hielt,  die 
aber  zweifellos  nichts  anderes  sind  als  die  von  Ger  lach  beschriebenen 
Papillen  auf  der  Schleimhautschichte  des  Trommelfells. 

Im  zweiten  Teile  seiner  Abhandlung  teilt  Caldani  die  Resultate 
seiner  vergleichend-anatomischen  Arbeiten  über  das  Gehörorgan  der  Vögel 
mit  und  weist  auf  die  Tatsache  hin,  daß  das  runde  Fenster  bei  den 
Vögeln  größer  sei  als  das  ovale  und  auch  größer  als  das  runde  Fenster 
beim  Menschen  und  bei  den  Vierfüßern.  Er  tritt  der  Ansicht  entgegen, 
daß  die  schräge  Stellung  der  Membran  des  runden  Fensters  zum  Trommel- 
felle einen  Einfluß  auf  die  Schallfortpflanzung  durch  die  Trommelhöhle 
habe,  da  die  Schallwellen  sich  durch  die  das  Cavum  tymp.  erfüllende 
Luft  nach  allen  Richtungen  ausbreiten 3). 

Caldani  hat  auch  die  Membran  des  runden  Fensters  untersucht 
und  gefunden,  daß  sie  aus  zwei  sich  kreuzenden  Faserschichten  bestehe, 
doch  ist  die  Anordnung  dieser  Schichten  ganz  verschieden  von  den  zwei 
Faserschichten  des  Trommelfells. 

Zum  Schlüsse  sei  hier  noch  auf  eine  Abhandlung  L.  Galvanis  „De  volatilium 
aure"  *)  hingewiesen,  die  das  Gehörorgan  der  Vögel  zum  Gegenstande  hat.  Besonders 
hervorzuheben  ist  die  durch  vortreffliche  Abbildungen  illustrierte  Beschreibung  des 
membranösen  Labyrinths  der  Vögel,  die  sich  würdig  der  Entdeckung  des 
membranösen  Labyrinths  beim  Menschen  durch  Scarpa  anreiht.  Ob  Scarpa,  wie 
manche  behaupten,  bei  der  Publikation  seiner  Entdeckung  die  Arbeit  Galvanis 
bekannt  war,  läßt  sich  nicht  entscheiden.  Dagegen  spricht  die  anerkannte  Gewissen- 
haftigkeit Scarpas,  mit  der  er  die  Leistungen  anderer  zitiert. 

])  S.  3:  „Ora  perö  comunemente  s'insegna  che  quattro  sono  le  laminette  com- 
ponenti  la  membrana  del  timpano.  cioe  la  cuticola,  e  la  cute  del  meato  uditorio, 
il  periostio  del  timpano,  ed  una  brevissima  cellulare  che  unisce  queste  lamine 
vicendevolmente. " 


*)  Opere   edite   e  non  edite  de  Professore  Luigi  Galvani,  raccolte  e  publicate 
per  cura  Dell  Accademia  della  scienza  dell'  instituto  di  Bologna  1841. 


Vieussens.  275 

2)  S.  5:  „essa  e  composta  come  di  clue  strati  di  fibre,  che  s'incrocicchiano  le 
une  perpendicolarniente  alle  altre,  com'e  facile  ravvisare  nella  Fig.  1  della  Tav.  I. 
Uno  degli  strati  c  di  circolari  concentriche,  l'altro  di  radiate,  che  dal  punto  di,  mezzo 
della  membrana  si  portano  alla  circonferenza:  comprendono  esse  fra  di  loro  degli 
spazi  piccolissimi  e  sernpre  decrescenti    in  grandezza,    accostandosi  verso  il  centro." 

3)  S.  33:  „che  non  possa  esser  percossa  la  membrana  di  cpuesta  fenestra,  stante 
ch'  essa  e  posta  un  poco  posteriormente ;  ma  quando  mi  si  voglia  concedere  che  dalle 
oscillazioni  della  membrana  de!  timpano  viene  posta  in  tremori  l'aria  tutta  che 
riempie  la  cavitä  del  timpano  stesso." 

Frankreich. 

Nach  dem  Tode  Duverneys  am  Ausgang  des  17.  Jahrhunderts 
findet  die  Ohranatomie  in  Frankreich  kaum  einen  Bearbeiter,  der  den 
Vergleich  mit  Cotugno  oder  Scarpa  bestehen  könnte.  Dionis,  ein 
Schüler  Duverneys,  gibt  in  seiner  ,,L' Anatomie  de  l'Homme  etc.", 
Paris  1705,  einen  kurzen  Abriß  über  den  Bau  des  Gehörorgans,  der 
sich  ganz  an  den  Traktat  Duverneys  anlehnt  und  nur  die  eine  von 
diesem  abweichende  Bemerkung  enthält,  daß  die  beiden  Skalen  der 
Schnecke  an  der  Spitze  kommunizieren,  was  Duverney  bestritten  hat. 

Von  den  französischen  Anatomen,  die  sich  durch  Entdeckungen  auf 
anderen  Gebieten  der  Anatomie  großen  Ruhm  erwarben,  aber  auch  das 
Gehörorgan  in  den  Kreis  ihrer  Untersuchungen  zogen,  ist  in  erster 
Linie  Raymond  Vieussens  zu  nennen,  dem  sich  Forscher  von  minderer 
Bedeutung  wie  Le  Cat,  Senac,  Geoffroy,  Lieutaud,  Vicq  d'Azyru.  a. 
anschließen. 

Raymond  Vieussens.  Abgesehen  von  den  sonstigen  Verdiensten 
dieses  Autors  um  die  Wissenschaft,  fesselt  seine  literarische  Fehde  mit 
Morgagni  über  den  Wert  und  die  Bedeutung  der  Valsalvaschen  Ent- 
deckungen das  historische  Interesse. 

Raymond  Vieussens,  einer  der  hervorragendsten  Anatomen 
Frankreichs,  der  sich  besonders  durch  seine  wertvollen  Beiträge  zur 
Lehre  des  Nerven-  und  Gefäßsystems  einen  rühmlichen  Namen  er- 
worben hat,  wurde  1G41  in  einem  Dorfe  der  Rouergue  (im  südlichen 
Frankreich)  geboren.  Er  war  Arzt  am  Hospitale  St.  Eloy  zu  Montpellier, 
später  Leibarzt  der  Prinzessin  von  Montpensier  zu  Paris ,  nach  deren 
Tode  er  in  seine  frühere  Stellung  nach  Montpellier  zurückkehrte.  Er 
starb   1715. 

In  der  Otologie  wurde  Vieussens  besonders  wegen  seiner  Epistola 
ad  Societ.  reg.  Lond.  missa  de  organo  auditus  (Philos.  transact.  1699, 
Vol.  XXI,  p.  370)  vielfach  genannt,  die  in  dem  erst  1714  zu  Toulouse 
erschienenen  Werke  „Traite  nouveau  de  la  structure  de  l'oreille"  Er- 
gänzung fand. 

Dieses  Werk  ist  zum  Teile  eine  Streitschrift  gegen  Valsalva,  in  der 


276  Vieussens. 

er  die  Priorität  mehrerer  Entdeckungen  dieses  Forschers  bestritt,  indem 
er  darauf  verwies,  daß  dieselben  in  dem  genannten  Brief  an  die  Londoner 
Akademie  enthalten  wären.  Diese  Behauptung  hat  sich,  wie  Morgagni 
schlagend  nachwies,  als  unrichtig  erwiesen,  da  die  Entdeckungen  Valsalvas 
vor  denen  Vieussens'  bereits  bekannt  waren.  Auch  sonst  reicht  das 
Buch  Vieussens'  nicht  an  das  Valsalvas  hinan,  da  es  zahlreiche  Irr- 
tümer enthält  und  auch  die  richtigen  Angaben  hinter  so  dunklen  Be- 
schreibungen verbirgt,  daß  es  selbst  den  Zeitgenossen  nur  mit  Mühe 
lesbar  war.  Auch  die  beigefügten  Abbildungen  x)  entbehren  nahezu  jedes 
wissenschaftlichen  Wertes. 

Vieussens  unterschied  wie  die  älteren  Anatomen  ein  äußeres  und 
ein  inneres  Ohr.  Zum  ersteren  rechnet  er  nur  die  Ohrmuschel,  den 
äußeren  Gehörgang  und  das  Trommelfell,  zum  inneren  Ohr  das  ganze 
Mittelohr  und  das  Labyrinth  mit  dem  Hörnerven. 

Die  Konfiguration  der  Ohrmuschel  mit  ihren  Muskeln,  von  denen 
er  sich  die  Entdeckung  der  Muse,  tragi  und  antitragi  vor  Valsalva 
zuschreibt,  sowie  die  Struktur  der  die  Ohrmuschel  bedeckenden  Haut, 
ihre  Gefäße  und  Nerven  werden  ohne  Vorbringung  neuer  Details  aus- 
führlich geschildert  und  der  Nutzen  der  Ohrmuschel  weitläufig   erörtert. 

Das  Trommelfell  ist  nach  Vieussens  nur  eine  Fortsetzung  der 
Auskleidung  des  äußeren  Gehörgangs 2) ,  es  ist  aus  zwei  Lamellen  zu- 
sammengesetzt. Seine  Verletzung  schädigt  das  Gehör  nicht  nur  infolge 
der  äußeren  Schädlichkeiten ,  denen  die  Trommelhöhle  ausgesetzt  ist, 
sondern  auch  wegen  der  nun  verminderten  Spannung  der  Luftsäule  in 
der  Trommelhöhle. 

Die  Beschreibung  der  Trommelhöhle  (tambour)  ist  so  kompliziert 
und  verworren,  daß  es  unmöglich  ist,  sich  aus  ihr  ein  Bild  der  betreffenden 
anatomischen  Verhältnisse  zu  konstruieren.  Die  Fenestra  ovalis  nennt  er 
„Porte   du  Labyrinthe". 

Die  Auskleidung  der  Trommelhöhle,  die  er  als  „membrane 
interne  du  tambour"  im  Gegensatz  zur  „membrane  externe  du  tambour" 
(membrana  tympani)  bezeichnet,  wird  von  einem  aus  der  Carotis  stam- 
menden Gefäßnetz  durchzogen.  Am  Felsenbein  zeigt  sie  kleine  Erhaben- 
heiten (bosses),  die  aus  Blut-  und  nervösen  Lymphgefäßen  (lymphatiques 
nerveux)  bestehen.  Dieselbe  Auskleidung  überzieht  auch  die  Gehör- 
knöchelchen. 

Wie  leichtfertig  Vieussens  seine  Schlüsse  zieht,  ergibt  sich  daraus, 
daß  er  durch  mehrere,  am  Gehörorgane  ausgeführte  Versuche  zu  beweisen 
sucht,  die  das  ovale  Fenster  überziehende  Auskleidung  der  Trommelhöhle 
sei  so  dünn,  daß  die  durch  den  Tubenkanal  einströmende  Luft  mit 
Leichtigkeit  die  Poren  dieser  Membran  durchdringt  und  sich 
in  allen  Abteilungen  des  Labyrinthes  ausbreitet3). 


Tafel  XVII 


RAYMOND  VIEUSSENS 


Vieussens.  277 

Die  ausführliche  Beschreibung  der  Gehörknöchelchen  enthält 
keine  neuen  Details. 

Von  den  Muskeln  der  Trommelhöhle  gilt  ihm  nur  der  M..  tensor 
tymp.  und  der  M.  stapedius  für  wirklich  muskulös,  die  anderen  von  den 
früheren  Anatomen  angeführten  Muskeln  hingegen  hält  er  für  Ligamente. 
Den  Tensor  tymp.,  der  nach  ihm  zwei  Ursprünge  (totes),  einen  Bauch 
und  zwei  Sehnen  besitzt,  nennt  er  monogastrisch.  Er  hat  die  Aufgabe, 
das  Trommelfell  und  die  Kette  der  Gehörknöchelchen  anzuspannen. 

Der  Muse,  stapedius  (petit  muscle)  bewirkt  eine  Bewegung  der 
Stapesplatte  nach  außen  und  eine  Relaxation  des  Trommelfells.  Die  beiden 
Binnenmuskeln  und  das  Trommelfell  halten  die  Gehörknöchelchen  im 
Gleichgewicht.  Wie  dies  geschieht,  wird  in  unklarer  Weise  des  breiten 
auseinandergesetzt. 

Die  Ohrtrompete  (Aqueduc)  ist  kurz  und  schlecht  beschrieben 
und  durch  eine  rohe  und  unrichtige  Abbildung  (PI.  3)  illustriert. 

Die  Anatomie  des  Labyrinths  leitet  eine  Schilderung  der  Bogen- 
gänge ein.  Ihr  Durchmesser  ist  oval,  die  Mitte  enger  als  die  Enden. 
Sie  sind  sehr  hart  und  werden  von  einer  nervösen  Membran  ausgekleidet. 
Interessant  ist  die  Tatsache,  daß  Vieussens  die  Priorität  für  diese 
von  Valsalva  irrtümlich  angenommenen  „Zonae  sonorae"  in  Anspruch 
nimmt. 

Das  rundliche  Vestibulum  (conque)  hat  drei  Linien  im  Durch- 
messer, und  besitzt  außer  den  fünf  Mündungen  der  Bogengänge,  der 
Kommunikationsöffnung  der  Schnecke  und  den  beiden  Labyrinthfenstern 
noch  zwei  Oeffnungen  für  den  Eintritt  der  Nervenzweige  des  Acusticus. 
Unter  diesen  Oeffnungen  befindet  sich  eine  scharf  vorspringende  Knochen- 
leiste (avance  osseuse  un  peu  raboteuse  et  pointue,  que  nous  appelons 
l'eminence  osseuse  de  la  conque).  Die  Wände  des  Vestibulum  sind 
gleich  den  Bogengängen  von  der  nervösen  Membran  des  Hörnerven  ausr 
gekleidet. 

Die  Schnecke  (coquille),  die  von  Valsalva  so  klar  und  anschau- 
lich dargestellt  ist,  wird  von  Vieussens  so  verworren  geschildert,  daß 
es  unmöglich  ist,  sich  das  Bild  ihres  Baues  zu  konstruieren,  das 
Vieussens  vorgeschwebt  haben  mochte.  Soviel  sich  aus  dem  unklaren 
Texte  entnehmen  läßt,  benennt  er  den  Raum  zwischen  der  Membran  des 
runden  Fensters  und  dem  Beginn  der  Spirallamelle  „Carrefour  du  laby- 
rinthe".  Die  Schnecke  teilt  er  ein  in  die  Grube  (la  fosse),  welche  am 
Durchtritt  des  größten  Astes  des  Schneckennerven  vom  inneren  Gehör- 
gange aus  sich  befindet  und  in  den  halbovalen  Spiralgang  (le  conduit 
spirale-demiovale).  Nach  einer  langen  geradezu  unentwirrbaren  Schil- 
derung der  einzelnen  Schneckenwindungen,  die  er  mit  besonderen  Namen 
belegt,   kommt  er  zu  der  nicht  klareren  Beschreibung  des  von  ihm  ent- 


278  Vieussens.     Le  Cat. 


deckten  und  seinen  Namen  führenden  Trichters  (Scyphus  Vieussensii). 
Nachdem  der  Hörnerv  an  der  Spitze  hervortritt,  nimmt  er  die  Form 
eines  kleinen  ausgehöhlten  Körpers  an,  der  membranös  erscheint  und  die 
Form  eines  kleinen  Trichters  hat4).  Komplizierter  ist  noch  seine  Schil- 
derung der  Schnecke  durch  die  Einteilung  der  Windungen  in  eine 
vordere,  mittlere  und  hintere  blinde  Kavität  (cavite  aveugle).  Danach 
schließt  er,  daß  auch  die  in  der  mittleren  und  hinteren  Kavität  befind- 
liche reine  Luft  sich  immer  um  die  Achse  der  ersten  spiral-nervösen 
Lamelle  bewegt5). 

Trotz  seines  Festhaltens  an  der  „reinen  Luft"  im  Labyrinthe  hebt 
er  doch  als  wichtig  hervor,  daß  die  Labyrinthhöhle,  Bogengänge  und 
Schnecke  eine  ansehnliche  Menge  von  Flüssigkeit  enthalte,  die  dazu 
diene,  das  Trockenwerden  der  membranös-nervösen  Gebilde  zu  verhindern. 

Was  Vieussens  über  die  Funktion  der  einzelnen  Teile  des  Laby- 
rinthes (p.  88 — 90)  und  über  die  Hörstörungen  vorbringt,  die  durch  die 
Verstopfung  oder  Paralyse  der  einzelnen  Labyrinthabschnitte  entstehen, 
ist  rein  hypothetisch  und  entbehrt  jeder  anatomischen  Begründung. 

*)  „Les  planches,  qui  sont  au  nombre  de  six  sont  si  mal  faites  qu'on  ne  saurait 
reconoitre  la  nature."     (Portal  Hist.  de  l'anatoniie  etc.     Vol.  4,  p.  32.) 

2)  p.  17.  En  s'y  dilatant  elles  forment  cette  autre  Membrane,  qui  fait  la 
cloison  de  l'extremite  du  conduit  de  Tome,  et  qui  separe  par  consequent  l'Oreille 
externe  d'avec  l'interne. 

3)  p.  29.  II  est  tres-vraisemblable ,  pour  ne  pas  dire  tres-certain,  que  l'air 
exterieur,  du  moins  le  plus  fin  qui  vient  par  l'aqueduc  dans  le  tambour,  penetre 
assez  aisement  les  pores  de  cette  portion  de  membrane  dont  nous  venous  de  parier, 
et  s'insinue  dans  les  endroits  les  plus  reculez  et'  les  plus  cachez  du  labyrintbe ;  d'oü 
il  peut  sortir,  suivant  toute  apparence,  avec  la  meine  liberte  qu'il  y  est  entre:  en 
sorte  qu'il  y  a  une  communication  assez  libre  entre  l'air  du  tambour  et  celui  du 
labyrintbe. 

4)  „Lorsque  le  nerf  auditif  est  sorti  du  trou  du  noyau  pyramidal  il  se  change 
en  un  petit  corps  cave,  qui  parott  tout  membraneux  ä  la  vüe,  et  qui  a  quelque 
rapport  par  la  figure  exterieure  avec  une  petite  coupe;  c'est  pourquoi  nous  l'appel- 
lerons,  la  coupe  du  nerf  mol  de  l'oreille. 

5)  „l'air  pur  contenu  dans  la  mitoyenne  et  dans  la  posterieure,  se  meut  toü- 
jours  ä  l'entour  de  Taxe  de  la  premiere  lame  spirale-nerveuse. 

Nie.  Le  Cat  (1700 — 1765).  In  seiner  Abhandlung  über  die  Sinne*), 
deren  größter  Teil  dem  Gesichtssinn  gewidmet  ist,  gibt  Le  Cat,  Hospital- 
chirurg in  Rouen,  einen  kurzen  Abriß  über  das  Gehör,  dessen  Beschreibung 
zum  großen  Teile  seinen  Vorgängern  entlehnt  ist.  Die  beigegebene  Tafel 
enthält  in  roher,  zum  Teile  schematischer  Darstellung  die  Abbildungen 
des  Trommelfells  und  der  Gehörknöchelchen,  des  Labyrinths  und  eine 
topographische  Uebersicht  des  ganzen  Hörapparates. 


*)  Traite  des  Sens.  1742  und  1744. 


Le  Cat.     J.  P.  Palfyn.  279 


Wie  in  den  meisten  Abhandlungen  jener  Epoche  wird  auch  hier 
ein  großer  Abschnitt  der  Theorie  des  Schalles  eingeräumt.  Die  ana- 
tomische Schilderung  des  Gehörorgans  und  seiner  Funktion  ist  mit 
einigen  Abweichungen  dem  Claude  Perrault  entnommen,  besitzt  jedoch 
nicht  die  diesem  Autor  eigentümliche  Klarheit  der  Darstelluno-.  Dem 
Hammer  schreibt  Le  Cat  die  Eigenschaft  zu,  das  Trommelfell  bei 
starker  Schalleinwirkung  zu  entspannen,  bei  schwacher  Vibration  hin- 
gegen anzuspannen.  Das  innere  Ohr  (organe  immediat)  teilt  er  in  das 
Labyrinth,  zu  welchem  er  das  Vestibulum  und  die  Bogengänge  zählt, 
und  in  die  Schnecke.  Auch  Le  Cat  ist  noch  von  der  Existenz  des  aer 
implantatus  überzeugt  und  glaubt,  daß  dieser  entweder  durch  die  Porosi- 
täten der  Membranen  der  Labyrinthfenster  oder  durch  Ausscheidung  der 
Flüssigkeit  entstehe,  welche  vom  Periost  des  Labyrinths  geliefert  werde. 
Er  erklärt  die  Hörsensation  durch  das  Zusammentreffen  der  Vibrationen 
dieser  Luft  in  der  Mitte  eines  jeden  Kanals  1).  Le  Cat  hebt  indes  hervor, 
daß  dem  Vestibulum  und  den  Bogengängen  mehr  die  Perzeption  der  Ge- 
räusche (organe  general  des  bruits),  der  Schnecke  hingegen  eine  höhere 
physiologische  Funktion  zukäme  (un  usage  plus  recherche).  Er  stützt  seine 
Ansicht  auf  die  ungleiche  Spannung  der  Spiralmembran  von  der  Basal- 
windung der  Schnecke  bis  zur  Spitze,  durch  die  sie  befähigt  wird,  die 
verschiedensten  Impulsionen  der  sie  umgebenden  Luft  (de  Fair  interieur 
qui  l'environne)  zur  Perzeption  zu  bringen 2). 

Den  Schluß  der  Abhandlung  bilden  einige  unwesentliche  Bemer- 
kungen über  Taubheit  und  Taubstummheit  und  die  Beschreibung  eines 
von  Le  Cat  konstruierten  und  abgebildeten  Hörrohrs,  bestehend  aus  einem 
weiten  Trichter  und  einem  in  den  Gehörgang  einzufügenden  Schallfänger. 

*)  S.  59:  j,On  concoit  que  l'air  etant  pousse  dans  le  vestibule,  et  dans  les 
embouchures  de  ces  canaux,  les  vibrations  d'air  qui  ont  enfile  chaque  embouchure, 
doivent  se  rencontrer  au  milieu  de  chaque  canal,  et  lä  il  se  doit  faire  une  collision 
toute  propre  ä  exciter  un  freniissement,  ou  des  vibrations  dans  ces  canaux,  et  dans 
la  membrane  nerveuse  qui  les  tapisse;  c'est  cette  impression  qui  produit  la  Sensation 
de  TOuie." 

2)  S.  61:  „C'est  pourquoi  je  regarde  le  Limacon  cornme  le  sanctuaire  de  l'Ouie, 
comme  l'organe  particulier  de  l'harmonie,  ou  des  Sensations  les  plus  distinctes,  et  les 
plus  delicates  en  ce  genre." 

Den  französischen  Autoren  des  18.  Jahrhunderts,  die  sich  minder  ein- 
gehend mit  der  Anatomie  und  Physiologie  des  Gehörorgans  beschäftigten, 
wären  noch  anzureihen: 

Jean  P.  Palfyn  (1650—1730),  ein  Schüler  Boerhaves,  seit  1708 
Professor  der  Anatomie  und  Chirurgie  in  Gent,  liefert  in  seinem  Werke*) 
eine  Schilderung  des  Gehörorgans,  der  wir  folgendes  entnehmen. 

*)  Chirurgische  Anatomie  von  J.  Palfyn.     Deutsche  Uebersetzung  1735. 


280  J-  P-  Palfyn.     J.  B.  Senac. 


Die  Drüsen  der  Haut  der  Ohrmuschel  sind  bezüglich  ihres  Baues 
von  denen  der  übrigen  Haut  verschieden.  Die  Ceruminaldrüsen  sind 
kleine,  eirunde  Follikel.  Von  den  drei  Schichten  des  Trommelfells 
hält  er  irrtümlich  die  mittlere  (subst.  propria)  als  die  blutgefäßreichste. 
Bei  der  Schilderung  der  Ohrtrompete  wird  die  jüngst  gemachte  Er- 
findung des  Katheterismus  durch  den  V.ersailler  Postmeister  Guyot  und 
ein  von  Palfyn  selbst  konstruierter  Ohrkatheter  nicht  näher  beschrieben. 
Die  Schilderung  der  zwei  Flächen  des  Hammer-Amboßgelenks  stimmt 
mit  der  von  Helmholtz  vollständig  überein.  Unser  heutiges  Ligam. 
mall  ei  ext.  hält  er  wie  die  meisten  seiner  Zeitgenossen  für  einen 
Muskel.  Durch  die  Aktion  der  Binnenmuskeln  des  Ohres  wird  die 
Luft  abwechselnd  verdichtet  und  verdünnt,  so  daß  in  der  Trommelhöhle 
wie  in  der  Lunge  ein  Ein-  und  Ausatmen  vor  sich  geht.  Er  vertritt 
noch  die  Existenz  der  „inneren  Luft"  im  Labyrinthe,  die  in  den  Kanälen 
der  Schnecke  und  in  den  Bogengängen  zirkuliert.  Der  Hörnerv 
breitet  sich  als  eine  sehr  dünne  Membran  im  Labyrinthe  aus.  Der 
Stapes  trägt  nichts  zum  Gehör  bei,  er  dient  nur  dazu,  die  Stärke  der 
erschütternden  Luft  zu  mäßigen,  indem  er  den  Durchgang  für  die  Luft 
mehr  oder  weniger  öffnet.  Palfyn  steht  in  dieser  Frage  somit  noch 
auf  dem  Standpunkte  Merys. 

Jean  Baptiste  Senac,  geb.  1693  zu  Lombez  in  der  Gascogne, 
Leibarzt  König  Ludwigs  XV.  und  Mitglied  der  Akademie  der  Wissen- 
schaften in  Paris,  einer  der  berühmtesten  Aerzte  des  18.  Jahrhunderts, 
veröffentlichte  unter  dem  Titel:  „L'anatomie  d'Heister  avec  des  essais  de 
physique,  sur  l'usage  des  parties  du  corpg  humain,  et  sur  le  Mechanisme 
de  leurs  mouvemens,"  Paris  1724,  ein  Werk,  in  welchem  die  Anatomie 
und  Physiologie  des  Gehörorgans  zum  großen  Teile  Auszüge  aus  den 
Werken  Heisters  enthält. 

Von  den  spärlichen  selbständigen  Ansichten  des  Autors  wollen  wir 
folgendes  erwähnen:  Das  Trommelfell  besteht  aus  drei  Schichten, 
deren  mittlere  er  gleich  Palfyn  irrtümlich  für  sehr  gefäßreich  hält, 
während  die  äußere  und  innere  bloß  eine  Fortsetzung  der  Epidermis  sei. 
Die  Zellen  des  Warzenfortsatzes  seien  mit  einer  Membran  aus- 
gekleidet, die  allen  jenen  Organen  zukomme,  welche  die  Aufgabe  hätten, 
eine  gewisse  Materie  zu  filtrieren1).  Die  halbzirkel förmigen  Kanäle 
fand  er  mit  einer  Membran  überzogen,  die  einen  bandartigen  Streifen  zu 
bilden  scheint,  der  den  Hohlraum  des  Bogengangs  in  zwei  Teile  teilt 
und  vielleicht  identisch  ist  mit  den  von  Valsalva  als  „zonae  sonorae" 
bezeichneten  Gebilden. 

Gestützt  auf  die  falsche  Annahme,  daß  die  Vögel  keine  Schnecke 
besitzen  und  doch  gut  hören,  schreibt  er  den  Bogengängen  eine  größere 
Wichtigkeit  für  die  Schallperzeption  zu  als  der  Schnecke.    Diese  Ansicht 


J.  B.  Senac.     J.  Lieutaud.  281 


-wird,  wie  wir  sehen  werden,  von  den  meisten  der  zeitgenössischen  fran- 
zösischen Autoren  vertreten. 

Der  Umstand,  daß  die  Bogengänge  an  den  Enden  breiter,  sind  als 
in  der  Mitte,  bewirkt,  daß  die  Schallwellen  in  der  Mitte  der  Bo°-en- 
gänge  zusammentreffen  und  dadurch  verstärkt  würden.  Dieselbe  Ver- 
stärkung erfahren  die  Schallwellen  auch  an  der  Schneckenspitze,  da  hier 
die  in  die  Scala  vestibuli  und  tympani  eingedrungenen  Schallwellen  zu- 
sammentreffen. Sowohl  Bogengänge  als  Schnecke  seien  schon  durch  ihre 
Gestalt  geeignet,  die  Schallwellen  zu  verstärken,  da  ja  gekrümmte  Röhren 
physikalisch  diese  Eigenschaft  besitzen. 

Dagegen  stellt  Senac  die  Wichtigkeit  der  Spirallamelle  für  die 
Schallperzeption  in  Abrede. 

Seiner  Ansicht  nach  dringt  beim  Sprechen  der  Schall  in  die  Ohr- 
trompete, man  sei  somit  im  stände,  durch  diese  allein  zu  hören.  Diese 
Annahme  entspricht  der  auch  jetzt  geltenden.  Bei  Verschluß  der  Ohr- 
trompete trete  Schwerhörigkeit  ein,  welche  durch  Ansammlung  von 
Materie  zu  stände  komme. 

J)  Ces  cellules  sont  revetues  d'une  ineinbrane  qui  paroit  couvrir  une  des  organes 
qui  filtrent  quelque  matrere.     1.  c.  Seconde  edition  1735,  p.  742. 

Joseph  Lieutaud,  geb.  1703  zu  Aix  in  der  Provence,  der  Ent- 
decker des  nach  ihm  benannten  „Trigonum  Lieutaudii",  hat  sich,  neben 
seiner  praktischen  Tätigkeit  vielfach  mit  anatomischen  Studien  beschäftigt, 
die  ihm  den  Ruf  eines  hervorragenden  Anatomen  seiner  Zeit  sichern. 
Er   gilt    als    der  Begründer    der  pathologischen  Anatomie  in  Frankreich. 

Sein  Werk  „Essais  anatomiques,  contenant  l'histoire  exacte  de  toutes 
les  parties  qui  composent  le  Corps  de  l'Homme;  avec  la  maniere  de  les 
decouvrir  et  les  demontrer,  orne's  de  Figures",  Paris  1776,  enthält  ein 
Kapitel  „Les  Oreilles"  (Pars  II,  Artikel  II,  pag.  540),  das  ausschließlich 
die  Sektionstechnik  des  Schläfebeines  bebändert. 

Bei  der  Präparation  des  äußeren  Ohres  empfiehlt  er,  durch  Zug  an 
der  Ohrmuschel  nach  unten  bezw.  vorn  sich  von  der  'Insertion  des 
Muskels  zu  überzeugen  l). 

Die  Präparation  der  Gehörknöchelchen  könne  man  nur  an  frischen 
Präparaten  vornehmen,  da  die  Gelenke  im  mazerierten  gelöst  seien. 

Das  runde  Fenster  bringt  er  durch  Ausfeilen  einer  Oeffnung  an 
der  Fossa  jugularis  zur  Ansicht2).  Für  die  Präparation  der  Schnecke 
gibt  er  eine  genaue  Direktive.  Man  führe  eine  Sonde  vom  inneren  Ge- 
hörgang aus  in  den  Anfangsteil  des  Aquäductus  (Canal.  facialis)  und  eine 
andere  in  das  „trou  anonyme"  (=  Hiatus  canal.  facial.).  Die  beiden 
Sonden  bilden  miteinander  einen  Winkel,  in  dem  die  Schnecke  zu  suchen 
ist.     Man    eröffnet    die   Schnecke    mit    der  Feile    und   braucht   nicht   zu 


282  J-  Lieutaud.     E.  L.  Geoffroy. 


fürchten,  sie  unabsichtlich  zu  verletzen,  da  man  die  knöcherne  Schnecken- 
kapsel an  ihrer  Härte  sogleich  erkenne. 

Er  verwirft  die  bisher  übliche  Eröffnung  des  Vestibulum  von  der 
Trommelhöhle,  vom  inneren  Gehörgang  oder  von  der  Schnecke  aus,  weil 
dadurch  immer  wichtige  Teile  des  Labyrinthes  zerstört  werden.  Vorteil- 
hafter sei  es,  das  Vestibulum  von  oben  und  hinten  zu  eröffnen,  indem 
man  in  einer  Höhe,  die  durch  die  oben  erwähnten  zwei  Sonden  markiert 
wird,  einen  horizontalen  Sägeschnitt  führt,  der  knapp  vor  dem  oberen 
Bogengang  in  einen  vertikalen  umbiegt  nnd  dadurch  das  Vestibulum  von 
den  Bogengängen  trennt. 

Die  abgetrennten  Bogengänge  können  nach  Einführung  dünner 
Sonden  leicht  herauspräpariert  werden. 

Die  Freilegung  des  Hammermuskels  (Tensor  tympani)  ist  leicht, 
nur  müsse  man  ihn  sorgfältig  von  den  membranösen  Strängen  sondern, 
die  den  Nervus  petrosus  superf.  major  begleiten. 

Dagegen  sei  der  Steigbügelmuskel  wegen  Vorlagerung  des  Fazial- 
kanals  sehr  schwer  zu  präparieren.  Die  beste  Methode,  den  Muskel  im 
Zusammenhang  mit  dem  Steigbügel  zur  Ansicht  zu  bringen,  ist  die  voll- 
ständige Trennung  der  Pyramide  von  der  Schuppe.  Die  Stelle,  welche 
zur  Führung  des  Sägeschnittes  gewählt  werden  müsse,  zeige  der  zwischen 
Felsenbein  und  Schuppe  eingeschobene  Canalis  caroticus  an. 

')  On  s'assurera  de  leur  insertion,  en  tirant  l'oreille,  en  bas..  et  en  devant. 
1.  c.  p.  540. 

2)  La  fenetre  ronde  comme  nous  l'avons  dejä  remarque.  n'etant  point  tournee 
du  cöte  du  conduit  auditif,  ne  scauroit  etre  vue  par  dehors;  de  sorte  qu'on  est  oblige 
de  scier  toute  la  partie  de  Tos  qui  la  cache ,  ou  de  faire  une  Ouvertüre  du  cöte  de 
a  fosse  jugulaire,  si  l'on  vent  bien  juger  de  sa  Situation  et  de  sa  forme.    1.  c.  p.  541. 

Etienne  Louis  Geoffroy  (1725—1810),  praktischer  Arzt  in  Paris, 
beschäftigte  sich  in  seinen  Mußestunden  eingehend  mit  vergleichender 
Anatomie,  wobei  er  namentlich  das  Gehörorgan  der  Reptilien  und  Fische, 
vergleichend  mit  dem  Gehörorgan  des  Menschen,  in  den  Bereich  seiner 
Untersuchungen  zog.  In  seiner  Abhandlung*)  enthält  der  Abschnitt  über 
das  menschliche  Gehörorgan  nichts  Neues.  Von  Interesse  ist  hingegen 
seine  trotz  Cotugno  noch  auf  die  „innere  Luft"  basierende  Hörtheorie, 
die  er  durch  jseine  vergleichend-anatomische  Methode  zu  stützen  suchte. 

„Man  kann  die  Scheidewand,  welche  sich  zwischen  den  beiden 
Treppen  der  Schnecke  befindet,  wie  eine  Zusammensetzung  von  Saiten 
betrachten,  welche  nach  und  nach  von  dem  Eingange  bis  zur  Spitze 
dieses   Teils   unvermerkt   abnehmen.      Diese   kleinen    Saiten   fangen   von 


*)  Dissertations  sur  l'organe  de  l'oui'e  de  rhomuie,  de  reptiles  et  des  poissons. 
Amsterdam  et  Paris  1778. 


E.  L.  Geoffroy.  283 

dem  Kern  der  Schnecke  an  und  befestigen  sich  an  der  anderen  Wand. 
Vermöge  ihrer  Stellung  können  sie  zu  gleicher  Zeit  von  beiden  Seiten 
geschlagen  werden,  sowohl  durch  die  Luft  der  oberen  Treppe,  welche  in 
den  Vorhof  geht,  als  auch  durch  die  der  unteren,  welche  durch  das 
runde  Fenster  mit  der  Trommelhöhle  vereinigt  ist.  Diese  so  von  beiden 
Seiten  auf  den  kleinen  Saiten  bewegte  Luft  setzt  diejenigen  in  Bewegung, 
welche  sich  mit  den  Schallstrahlen  in  Verbindung  befinden,  ungefähr  so, 
wie  der  Schall  eines  Instruments  die  Saiten  eines  anderen  erzittern  und 
bewegen  kann,  wenn  sie  auf  den  nämlichen  Ton  gestimmt  sind.  Da 
aber  die  ganze  Haut  der  mittleren  Scheidewand  der  Schnecke  mit  Nerven- 
fasern durchwirkt  ist,  so  kann  kein  Platz  dieser  Scheidewand  bewegt 
werden,  ohne  daß  nicht  ein  Ast  des  Gehörnerven  da  sein  sollte,  der  es 
empfände.  Und  auf  diese  Art  wird  die  Empfindung  des  Schalles  durch 
die  Wirkung  des  Nerven  bis  zum  Gehirn  gebracht." 

Wir  finden  auch  hier  wieder  eine  an  die  Helmholtzsche  an- 
klingende Hörtheorie. 

Eine  Stütze  dieser  Hypothese  sieht  Geoffroy  in  dem  Umstände, 
daß  das  Gehörorgan  das  einzige  Sinnesorgan  ist,  das  seine  Wahrneh- 
mung genau  (mathematisch)  abmessen  kann ,  indem  das  Ohr  die  Töne, 
halben  Töne  und  ihre  verschiedenen  Modifikationen  mit  ziemlicher  Ge- 
nauigkeit abzuschätzen  vermag,  während  das  Auge  die  Farben  wohl 
unterscheiden,  aber  nicht  die  bestimmten  Grade  in  ihren  Nuancen  fest- 
stellen kann.  Ohne  Zweifel,  meint  Geoffroy,  würde  auch  das  Auge, 
wenn  die  Retina  wie  der  Hörnerv  in  kleine  Fasern  von  verschiedener 
Länge  abgeteilt  wäre,  sehr  gut  das  Licht  messen  können,  wie  es  das 
Ohr  mit  den  Tönen  tut. 

Trotz  dieser  Hypothese  ist  für  ihn  nicht  die  Schnecke  das  eigent- 
lich perzipierende  Organ,  weil  er  ihr  Analogon  bei  den  Fischen,  Vögeln 
und  Amphibien  irrtümlich  vermißte,  während  Vorhof  und  Bogengänge 
vorhanden  sind.  Die  Schnecke  soll  nach  Geoffroy  den  Eindruck  des 
Schalles  bloß  am  deutlichsten  empfinden.  Bemerkenswert  ist  seine  Auf- 
fassung von  der  Funktion  der  Ohrtrompete.  Da  viele  Tiere  (Am- 
phibien), bei  denen  ein  äußeres  Ohr  fehlt,  eine  Ohrtrompete  besitzen, 
scheint  sie  ihm  bei  diesen  Tieren  zur  Schalleitung  zu  dienen,  eine  Funktion, 
die  sie  auch  bei  den  Quadrupeden  haben  dürfte,  da,  wie  Geoffroy 
voraussetzt,  die  Natur  mit  den  bei  den  verschiedenen  Tieren  überein- 
stimmenden Organteilen  den  gleichen  Zweck  verfolge. 

Der  französische  Arzt  M.  Esteve  bekennt  sich  in  seinem  vor  der 
Arbeit  Geoffroys  erschienenen  Werkchen  „Traite  de  l'ouie"*)  als 
Gegner  der  Hypothese  von  den  Nervensaiten,  und  zwar  aus  verschiedenen 


*)  Avignon  1751,  p.  22. 


284  E.  L.  Geoffroy.     F.  Vicq  d'Azyr.     Button. 


Gründen,  als  deren  wichtigster  der  anzusehen  ist,  daß  bisher  noch 
keineswegs  der  Parallelismus  der  Nervenchorden  in  der  Schnecke  eine 
erwiesene  anatomische  Tatsache  sei.  Im  übrigen  weist  er  auf  die 
Struktur  der  Nerven  hin,  die  sich  für  Schwingungen  wohl  kaum  eignen 
dürften,  und  die  auf  fester  Unterlage  so  nahe  aneinander  liegen,  daß  es 
kaum  glaublich  erscheine,  sie  könnten  einzeln  in  Vibration  geraten. 
Nach  seiner  Anschauung  sind  es  alle  Teile  des  inneren  Ohres ,  die  in 
ihrer  Gesamtheit  mit  Hilfe  der  eingeborenen  Luft  die  Gehörempfindungen 
aufnehmen.  (Vergl.  v.  Stein,  Die  Lehre  von  den  Funktionen  der  ein- 
zelnen Teile  des  Ohrlabyrinths.  Deutsche  Uebers.  von  v.  Krzywicki. 
1894,  S.  41.) 

Felix  Vicq  d'Azyr  (1748—1794),  Mitglied  der  Akademie  der 
Wissenschaften  in  Paris,  hervorragender  Forscher  auf  dem  Gebiete  des 
Zentralnervensystems,  beschäftigt  sich  in  seinen  vergleichend-anatomischen 
und  physiologischen  Werken*)  mit  dem  Gehörorgan  und  kommt  am 
Schlüsse  des  betreffenden  Abschnittes  zu  folgenden  zum  großen  Teile 
irrigen  Konklusionen : 

1.  Das  Vorhandensein  der  Gehörknöchelchen  ist,  obschon  viel- 
leicht nicht  absolut  notwendig,  so  doch  sehr  nützlich  für  die  Wahr- 
nehmung des  Schalles,  da  sie  sich  bei  allen  hörenden  Tieren  finden;  es 
genügt  aber,  wie  bei  den  Vögeln  und  Reptilien,  ein  einziges  Knöchelchen. 

2.  Die  halbzirkelförmigen  Kanäle  müssen  einen  notwendigen 
Teil  des  Gehörorgans  darstellen,  da  sie  sich  bei  allen  darauf  untersuchten 
Tieren  vorfinden. 

3.  Hingegen  kann  die  Schnecke,  die  sich  beim  Menschen  und 
den  Vierfüßern  findet,  keinen  unbedingt  notwendigen  Teil  des  Gehör- 
organs bilden,  da  die  Vögel  auch  ohne  Schnecke  sehr  gut  hören. 

Buffon  (Le  Clerc  de).  In  seinem  großen  naturhistorischen  Werke  **) 
wklmet  Buffon  in  dem  Abschnitt  über  die  Sinne  auch  der  Physiologie 
des  Gehörorgans  ein  Kapitel ,  das ,  obwohl  es  im  allgemeinen  nur  die 
Ansichten  der  zeitgenössischen  Autoren  widerspiegelt,  doch  auch  manche 
für  den  Otologen  interessante  Bemerkungen  enthält. 

Buffon  vertritt  die  damals  gangbare  Ansicht,  daß  die  Schnecke 
und  zwar  deren  membranöser  Teil  als  das  mittelbare  Perzeptionsorgan 
für  den  Schall  anzusehen  sei,  während  die  Bogengänge  als  gekrümmte 
Röhren  dazu  dienen  sollen,  den  Schall  gegen  die  Schnecke  hinzuleiten  J). 

Die  Ursache  der  Alterstaubheit  sucht  er  in  Veränderungen  der 
häutigen  Schnecke.    Eine  Verdichtung  oder  ein  Starrwerden  der  häutigen 


*)  Oeuvres  de  Vicq  d'Azyr.     Tome  IV,  1805. 
**)  Histoire  Naturelle,  general  et  particuliere ,   avec  la  Description  du  Cabinet 
du  Roy.     Paris  1749.     Du  sens  de  l'ouie,  p.  395. 


Buffon.     Perolle.  285 


Spiralmembran  bedinge  Taubheit,  weil  damit  der  sensible  Teil  des  Organs, 
der  allein  im  stände  sei,  die  Schallempfindung  zu  vermitteln,  ausgeschaltet 
werde.  Diese  Taubheit  sei  unheilbar  und  wohl  zu  unterscheiden  von  einer 
anderen  ebenfalls  im  Alter  vorkommenden  Art  von  Taubheit,  die  ihre 
Ursache  in  der  Ansammlung  von  „matiere  e'paisse"  im  Gehörgang  habe 
und  durch  einfaches  Ausspritzen  des  Ohres  geheilt  werden  könne.  Zur 
Differentialdiagnose  lege  man  dem  zu  Untersuchenden  eine  kleine  Taschen- 
uhr in  den  Mund;  werde  der  Schlag  gehört,  so  handle  es  sich  um  die 
heilbare  Form  der  Taubheit,  werde  das  Ticken  nicht  perzipiert,  so  liege 
eine  Nerventaubheit  vor  2). 

Hervorzuheben  wäre  noch  aus  diesem  Abschnitte  die  von  Buffon 
an  mehreren  Individuen  gemachte  Beobachtung  der  Täuschung  über 
die  Schallrichtung  bei  Ungleichheit  des  Hörvermögens  beider  Ohren. 
Das  Symptom  soll  nach  Buffon  nur  bei  angeborener  einseitiger  Taub- 
heit, nicht  aber  bei  erworbener  Taubheit  eines  Ohres  vorkommen.  Diese 
Ansicht  ist  eine  irrige,  da  wir  wissen,  daß  das  als  „Paracusis  loci"  be- 
zeichnete Symptom  auch  bei  später  erworbener  unilateraler  Schwerhörig- 
keit häufig  beobachtet  wird. 

1)  Les  canaux  semi-circulaire  paroissent  etre  plus  necessaires,  ce  sont  des  especes 
de  tuyaux  courbez  dans  l'os  pierreu«,  qui  sembleut  servir  ä  diriger  et  conduire  le 
parties  sonores  jusqu'ä  la  partie  metubraneuse  du  limacon  sur  laquelle  se  fait  l'action 
du  son  et  la  production  de  la  Sensation.     1.  c.  p.  344. 

2)  Pour  reconnaitre  si  la  lame  spirale  est  en  effet  insensible ,  ou  bien  si  c'est 
la  partie  exterieure  du  eanal  auditif  qui  est  bouchee,  il  ne  faut  pour  cela  que  prendre 
une  petite  montre  ä  repetition,  la  niettre  dans  la  bouche  du  sourd  et  la  faire  sonner, 
s'il  entend  ce  son,  la  surdite  sera  certainement  causee  par  un  embarras  exterieure 
auquel  il  est  toüjours  possible  de  remedier  en  partie.     1.  c.  p.  345. 

Etienne  Perolle  (1760—1838).  Wertvoller  in  physiologischer  Be- 
ziehung sind  die  Ergebnisse,  zu  denen  dieser  Forscher  experimentell  über 
die  Schalleitung  durch  die  Kopfknochen  und  durch  die  Ohr- 
trompete gelangt  ist.  Bezüglich  der  ersteren*)  stellte  er  fest,  daß  eine 
Taschenuhr  nicht  nur  von  den  Zähnen  aus,  sondern  von  den  verschieden- 
sten Stellen  des  Kopfes,  jedoch  in  wechselnder  Intensität,  perzipiert  wird. 
Am  besten  wird  der  Schall  durch  die  Zähne,  vor  allem  durch  die  Eck- 
zähne dem  Gehörorgane  zugeleitet,  minder  intensiv  von  dem  vorderen 
seitlichen  Winkel  des  Scheitelbeins,  am  wenigsten  vom  Knorpel  der  Nase. 
So  richtig  das  Tatsächliche  dieser  Versuche  ist,  so  falsch  ist  seine  Folge- 
rung, daß  an  der  Perzeption  des  durch  Kopfknochen  fortgeleiteten  Schalles 
der  Fazialnerv  beteiligt  sei. 


*)  Recherches  et  experiences  relatives  ä  l'organ  de  l'Oui'e  et  ä  la  propagation 
des  sons.     Extrait  des  memoires  de  la  Societe  Royale  de  Medecine.     Paris  1779. 


28(5  Perolle.     Cuvier. 


In  einer  zweiten  Arbeit*)  sucht  er  den  Nachweis  zu  liefern,  daß 
die  Ohrtrompete  nicht  der  Schallfortpflanzung  zum  Mittelohr  dienen  könne, 
eine  Ansicht,  die  von  späteren  Physiologen  vielfach  bestätigt,  von  anderen 
wieder  bestritten  wurde.  Er  fand  nämlich,  daß  bei  verstopften  Ohren 
und  weit  geöffnetem  Munde  das  Ticken  einer  Uhr  auch  dann  nicht  per- 
zipiert  wurde,  wenn  die  Uhr  tief  in  den  Mund  eingeführt  ward,  voraus- 
gesetzt, daß  sie  keinen  festen  Teil  des  Mundes  berührte.  Heute  wissen 
wir,  daß  man  zwar  das  Uhrticken  durch  die  Tuben  nicht  hören  kann, 
wohl  aber  manche  Stimmgabeltöne  und  auch  die  Flüstersprache. 

Die  Paracusis  Willisii  erklärt  Perolle  durch  die  bei  heftigen  Ge- 
räuschen stattfindenden  Schwingungen  des  menschlichen  Körpers,  durch 
die  alle  Körperteile  beweglicher  und  schalleitungsfähiger  werden,  eine 
Ansicht,  die  der  jetzt  geltenden  nahe  kommt. 

Seine  Dissertation  über  den  Sprachunterricht  bei  Taubstummen**) 
ist  den  früheren  Arbeiten  Ponces  und  seiner  Schüler  entlehnt. 

Cuvier  (Baron  Georg  Leopold  Christian  Friedrich  Dagobert,  1769 
bis  1832).  Der  Naturforscher  Cuvier,  dessen  vergleichend  anatomische 
Arbeiten  die  Anatomie  und  Physiologie  des  Gehörorgans  nicht  unberück- 
sichtigt ließen,  verdient  durch  seine  vielfachen  Anregungen,  die  ihm  die 
vergleichende  otologische  Forschung  verdankt,  an  dieser  Stelle  genannt 
zu  werden***).  Als  Zoolog  unterwarf  er  hauptsächlich  das  Gehörorgan 
verschiedener  Tierarten  einer  eingehenden  Untersuchung.  Besonderes 
Interesse  beanspruchen  seine  Forschungsergebnisse  über  das  ovale  und 
runde  Fenster  der  verschiedenen  Tierspezies,  deren  Form  und  Größen- 
verhältnisse er  einer  eingehenden  Beobachtung  unterzog.  Für  den  wich- 
tigsten Bestandteil  des  Gehörorgans  erklärte  er  die  Nervenfaser,  die, 
in  Flüssigkeit  schwimmend,  sich  leicht  in  Bewegung  versetzen  läßt  und 
die  Tonempfindung  vermittelt.  Die  übrigen  Teile  des  Hörapparates 
dienen  einerseits  zur  Schallmodifikation,  anderseits  zur  Schallverstärkung. 

Die  Ohrmuscheln  sind  insbesondere  bei  den  schwachen  und  bei 
den  Nachttieren,  die  alle  über  ein  feines  Gehör  verfügen,  gut  ausgebildet. 
Die  Größe  des  Trommelfells  und  seine  Neigung  zum  äußeren  Gehör- 
gang steht  nach  seinen  Erfahrungen  im  geraden  Verhältnisse  zur  Hör- 
schärfe. Auch  die  Größe  und  Lage  der  beiden  Labyrinthfenster  übt 
nach  ihm  einen  wichtigen  Einfluß  auf  die  Schallwahrnehmung. 


*)  Diss.  anatomico-acoustique  contenant  des  experiences  qui  tendent  ä  prouver 
que  les  rayons  sonores  n'entrent  pas  par  le  trompe  d'Eustache  etc.     Ibid.  1788. 

**)  Diss.    anatomico-acoustique    sur   l'art    d'apprendre    ä   parier   aux   sourds  et 
muets  par  naissance.     Paris  1782. 

***)  Lecons  d'anatomie  comparee.  5  Vol.  Gesammelt  von  Dumeril,  Paris 
1800—1805,  auch  deutsch  von  Fischer,  Froriep  u.  Meckel.  Braunschweig  u. 
Leipzig  1800—1810. 


Bichat.  287 

Bichat  (Marie  Francis  Xavier).  Der  berühmte  Anatom  (1771—1802), 
dem  als  Begründer  der  Gewebelehre  auch  ein  Anteil  an  dem  Umschwuno- 
gebührt,  den  die  moderne  Medizin  genommen  hat,  steht  mit  seiner  auf 
realer  Forschung  basierenden  allgemeinen  und  pathologischen 
Anatomie  an  der  Schwelle  des  19.  Jahrhunderts.  Eine  eingehende,  auf 
selbständige  Untersuchung  begründete  Bearbeitung  der  Anatomie  des 
Gehörorganes  findet  sich  in  seiner  „Anatomie  descriptive  T.  II  1801", 
einem  Werke,  dessen  Bedeutung  schon  daraus  erhellt,  daß  es  noch  bei- 
nahe ein  halbes  Jahrhundert  nach  dem  Tode  seines  dreißigjährigen  Ver- 
fassers in  neuer  Auflage  erschien*). 

Aus  seiner  Beschreibung  heben  wir  folgendes  hervor:  Er  weiß,  daß 
die  innere  Schichte  des  Trommelfells  von  der  Trommelhöhlenschleim- 
haut gebildet  wird.  Das  Trommelfell  hält  er  im  normalen  Zustande  für 
vollkommen  durchsichtig,  doch  für  nur  scheinbar  gefäßlos.  Erst  im  ent- 
zündeten Zustande  kommt  es  zu  einer  starken  Gefäßentwicklung,  wodurch 
die  Membran  ein  rotes  Aussehen  gewinnt.  Bichat  hält  noch  an  der 
alten  Ansicht  fest,  daß  das  Trommelfell  bei  schwachem  Schall  gespannt, 
bei  starkem  Schall  erschlafft  werde. 

Treffend  ist  seine  Beschreibung  des  menibranösen  Teiles  der  Ohr- 
trompete im  Gegensatze  zu  der  oberflächlichen  Darstellung  früherer 
Anatomen.  Nach  Bichat  bildet  der  membranöse  Teil  fast  die  Hälfte 
der  äußeren  Tubenwand,  an  welcher  der  Peristaphylinus  externus  inseriert, 
während  der  Peristaphylinus  internus  sich  am  knorpeligen  Teile  der  Ohr- 
trompete befestigt.  Daß  der  Tubenkanal,  wie  er  auseinandersetzt,  von 
einer  Fortsetzung  der  Pharyngealschleimhaut  ausgekleidet  werde,  war  schon 
den  Anatomen  vor  ihm  bekannt.  Die  miteinander  kommunizierenden 
Zellen  des  Warzenfortsatzes  sind  stets  von  ungleicher  Größe;  selten 
wird  der  ganze  Fortsatz  bloß  von  einer  Zelle  eingenommen.  Das  Periost 
der  Gehörknöchelchen  ist  nach  ihm  sehr  dünn  und  mit  der  Schleim- 
haut verschmolzen.  Mit  Unrecht  behauptet  Bichat,  daß  die  von  den 
Anatomen  beschriebenen  Ligamente  nichts  anderes  seien  als  Schleim- 
hautfalten. Die  Membran,  welche  die  Trommelhöhle  auskleidet  und  die 
früher  allgemein  für  Periost  gehalten  wurde,  wird  von  Bichat  richtig 
als  Schleimhaut  (Membrane  mouqueuse  du  tympan)  bezeichnet,  ohne 
daß  er  hervorhebt,  daß  die  tieferen  Schichten  der  Schleimhaut  die  Rolle 
des  Periosts  vertreten.  Die  Gehörknöchelchen  sind  in  Duplikaturen 
dieser  Schleimhaut  eingeschlossen.  Hier  ist  sie  auch  wegen  ihrei  Fein- 
heit schwer  darstellbar;  bei  Neugeborenen  ist  sie  wegen  stärkeren  Ge- 
fäßreichtums und  Schwellung  leichter  abzupräparieren,  noch  leichter  bei 
Entzündung    der  Trommelhöhlenschleimhaut.     Von   minderem  Werte    ist 


*)  Nouvelle  edit.  1846. 


288  Bichat. 

Bi chats  Beschreibung  des  Labyrinths.  Nach  ihm  wird  die  Vorhofs- 
höhle von  einer  Membran  ausgekleidet,  die  dem  ganzen  Labyrinth  ge- 
meinsam und  mit  mehreren  Oeffnungen  zum  Zwecke  der  Kommunikation 
mit  den  benachbarten  Teilen  versehen  ist.  Diese  Membran  gleicht  weder 
der  Trommelschleimhaut  noch  dem  Periost.  Bichat  unterscheidet  einen 
oberen  vertikalen  Bogengang ,  der  quer  die  Pyramide  durchschneidet, 
einen  hinteren  vertikalen,  der  mit  seinem  Bogen  in  der  Längsachse  des 
Felsenbeins,  und  einen  horizontalen,  der  in  der  Horizontalebene  liegt. 
Der  von  den  Bogengängen  eingeschlossene  Raum  hat  die  Gestalt  einer 
Pyramide,  deren  Basis  nach  außen ,  deren  Spitze  nach  innen  und  hinten 
gerichtet  ist.  Beim  Embryo  ist  dieser  Raum  von  einem  Fortsatze  der 
harten  Hirnhaut,  beim  Erwachsenen  durch  diploetischen  Knochen  aus- 
gefüllt. Den  gemeinsamen  Gang  der  beiden  vertikalen  Bogengänge  hat 
Bichat  in  zwei  Fällen  vollständig  obliteriert  gefunden.  Die  Achse  der 
Schneckenspindel  liegt  nach  Bichat  nahezu  horizontal  und  durch- 
schneidet die  Längsachse  der  Pyramide  in  schräger  Richtung.  Die  Be- 
schreibung der  beiden  Aquädukte  läßt  schließen,  daß  Bichat  sich  ihre 
Kenntnis  durch  eigene  Präparation  angeeignet  hat. 

De  la  Rue,  Abrege  de  la  vue  et  de  l'ouie  et  l'espece  d'analogie,  qui  se 
trouve  ä  certains  egards  entre  ces  deux  organes.  Mein,  l'acad.  de  Caen  1754,  4, 
Ca]..  2,  P.  14—15,  Tab.  I  et  IL 

David  Cornel  de  Cour  Celles,  Icones  musculoruui  capitis,  utpote  faciei, 
au  r  iura,  oculorum,  linguae,  pbaryngis.  e.  s.  p.  Lugd.  Batav.  1748,  6,  P.  39,  Tab.  I, 
II,  IV  et  V. 

Vauquelin  in  Systeme  des  connaiss.  cbim.     T.  IX,  P.  370. 

Mastiani,  Observations  sur  plusieurs  pieces  en  bois  de  grandeur  quadruple, 
par  rapport  naturel,  pour  demontrer  l'organ  de  l'ouie.  In  Mein,  de  Paris  1743, 
P.  85.     Edit.  in  8  Hist,  P.  117. 

Godofridus  du  Bois,  Diss.  philosoph.  inaug.     Lugd.  Batav.   1724,  4. 

De  Mai  ran,  Discours  sur  la  propagation  du  son  dans  les  dift'erens  tons,  qui 
le  modifient.     In  Mein,  de  l'Acad.  Roy.  des  sciences.    1737. 

E.  Bonnet  de  Condillac,  Traite  de  sensations.     Paris  1754.     T.  II,  4. 

Nathanael  Beltz,  Dissertation  sur  le  son  et  sur  l'ouie,  qui  a  ramporte 
le  prix  propose  par  l'academie  roy.  de  sciences  et  belies  lettres  De  Prusse,  p.  1762. 

Lambert,  Sur  quelques  instrumentsacoustiques.  In  Mein,  de  l'Acad. 
de  Berlin  17G3.     Uebersetzt  von  Huth,  Berlin  1796. 


Niederlande.     England. 

Trotz  der  im  18.  Jahrhundert  so  regen  wissenschaftlichen  Tätig- 
keit auf  allen  Gebieten  der  Naturwissenschaft  in  beiden  Ländern  wurde 
die  Ohranatomie  in  weit  geringerem  Maße  gefördert  als  die  Anatomie 
anderer  Organe.  Die  wissenschaftliche  Ausbeute  in  der  Otologie  bleibt 
weit  hinter  der  der  Italiener  und  der  Deutschen  zurück.    Selbst  Forscher 


Ruysch. 


289 


wie  Ruysch  und  Boerhaave  streifen  die  Ohranatomie  und  Physiologie 
nur  oberflächlich  und  liefern  kaum  nennenswerte  selbständige  Ent- 
deckungen. Wir  beschränken  uns  im  folgenden  auf  eine  Skizzierung  der 
Forschungsergebnisse  der  bekannteren  Autoren  dieser  Periode. 

Fredrik  Ruysch,  im  Jahre  1638  zu  Haag  geboren,  studierte  in 
Leiden  Medizin  und  wurde  daselbst  im  Jahre  1664  zum  Doktor  promo- 
viert. In  rascher  Aufeinanderfolge  wurde 
er  in  Amsterdam  zum  Prosektor  der  Ana- 
tomie, zum  „Doctor  van  t'geregte"  (Me- 
dicus  forensis)  und  endlich  zum  Profes- 
sor der  Botanik  am  Athenaeum  illustre 
ernannt.     Alle  diese  Fächer  lehrte  er  in 

ausgezeichneter     Weise     bis    zu     seinem  Fig.  13.    Verzweigung  des  aus  der 

rp    ,      1  7qi  Art.  carotis  ext.  stammenden  Aest- 

iocle    Li 61.  chens    A    im    äußeren    Gehörgang. 

Ruysch  war  der  erste,  der  unserer  B  im  Trommelfell.  Photogr.  Repro- 

,       . .  ai  .. o  i  i    r.  duktion  aus  dem  Werke  Ruvsch s. 

heutigen  Anschauung  gemäß  annahm,  daß  rpaf,  IX   Fi°-.  9. 

das    Trommelfell    aus    drei    Schichten 

bestehe  und  zwar  beschreibt  er  eine  äußere  Lamelle,  welche  die  Fort- 
setzung des  Integumentes  des  äußeren  Gehörganges  bildet,  eine  innere, 
die  er  von  der  Trommelhöhlenschleim- 
haut herleitet,  und  eine  mittlere,  in 
der  sich  zahlreiche  Gefäße  der  Ca- 
rotis externa  verzweigen  x).  Diese 
letzte  Annahme  widerspricht  unseren 
heutigen  Anschauungen,  da  wir  wis- 
sen, daß  gerade  die  innere  und  die 
äußere  Lamelle  zahlreiche  Blutgefäße 
besitzen,  während  das  Stratum  pro- 
prium des  Trommelfells  verhältnis- 
mäßig  arm   an  Blutgefäßen  ist. 

Ruysch s  Meisterschaft  in  der 
anatomischen  Injektionstechnik  zeigt 
sich  auch  in  seinen  Abbildungen  des 
Gehörorgans.  In  der  in  Fig.  13  re- 
produzierten Abbildung  eines  aus  der 
Garot.  externa  stammenden  Aestchens 
gehört  A  der  oberen  Gehorgarigswand, 
B  dem  Hammergriff  und  der  Cutis- 
schichte  des  Trommelfells  an, 

In  einer  zweiten  Abbildung  (Fig.  14)  sehen  wir    die  gelungene  In- 
jektion der  Gefäße  der  die  Gehörknöchelchen  überziehenden  Schleimhaut 
und    des  Periosts,    womit   die  Streitfrage    über   das    Vorhandensein   oder 
Politzer,  Geschichte  der  Ohrenheilkunde.    I.  19 


Fig.  14.  Gehörknöchelchenkette  mit  den 

injizierten     Schleimhautgefäßen .     stark 
vergrößert.    Photogr.  Reproduktion  aus 

dem  Werke  Ruyschs.    Tat'.  IX.  Fig.  1. 


290  Ruysch.    Boerhaave. 


Fehlen  eines  die  Knöchelchen  überziehenden  Periosts  endgültig  entschie- 
den wurde2). 

Ruysch  stellt  die  Existenz  eines  Foramen  Rivini  in  Abrede,  da 
es  ihm  nie  gelang,  nach  Injektion  von  Quecksilber  durch  die  Ohr- 
trompete in  die  Trommelhöhle,  das  Metall  im  äußeren  Gehörgang  nach- 
zuweisen3). 

Der  Steig bügelmuskel  wird  von  ihm  noch  völlig  verkannt  und 
für  ein  Ligament  angesehen,  welches  die  Aufgabe  haben  soll,  den  Steig- 
bügel an  seiner  Stelle  zu  fixieren4).  Die  Membran,  die  beim  Embryo  die 
äußere  Fläche  des  Trommelfells  bedeckt,  hält  Ruysch  für  einen  Ab- 
kömmling der  Epidermis5);  sie  soll,  so  lange  der  äußere  Gehörgang 
noch  nicht  ausgebildet  ist,  das  Trommelfell  vor  schädlichen  Einwirkungen, 
besonders  vor  der  des  Fruchtwassers,  schützen. 

1)  In  resp.  ad  Epist.  probl.  VIII,  p.  10.  Fig.  9  u.  10  auf  Tab.  IX.  Thesauri 
anatoruici  decem  (Amst.  1701 — 1716).  Vascula  autem  sanguinea  non  per  extimam 
disserninari,  sed  prout  hactenus  offendere  mihi  licuit,  per  mediana,  ita  ut  conjiciendum 
sit ,  haec  vasculo  peculiari  prospicere  provinciae ,  et  raro  si  unquam  communicare 
cum  vasis  capsaui  perreptantibus. 

2)  Epist.  probl.  VIII,  Tab.  IX,  Fig.  1. 

3)  Thesaur.  anat.  VIII  u.  VI. 

4)  Thesaur.  anat.  IV,  Nr.  20 ,  2.  Dictum  ossiculum  loco  suo  continetur  pe- 
culiari ligamento,  id  quod  hie  luculenter  apparet. 

5)  Thesaur.  anat,  III,  Nr.  76. 

H.  Boerhaave  (Boerhaaven),  von  seinem  Schüler  Haller  der  „Magnus 
ille  medicorum  universae  Europae  praeeeptor"  genannt,  wurde  1668  in 
einem  Dorfe  nahe  bei  Leiden  (Voorhout)  geboren.  Nachdem  er  zuerst 
Theologie  und  Philosophie  studiert  hatte,  wandte  er  sich  dem  medizini- 
schen Studium  zu  und  erwarb  im  Jahre  1693  in  Hardenwyk  das  Doktor- 
diplom. Schon  im  Jahre  1701  erhielt  er  von  der  Universität  Leiden  eine 
Berufung  als  Lektor  der  theoretischen  Medizin ;  später  erlangte  er  auch 
noch  den  Lehrstuhl  der  Botanik  und  Chemie. 

Boerhaaves  Ruf  als  ausgezeichneter  Lehrer  verbreitete  sich  bald 
in  der  ganzen  zivilisierten  Welt  und  aus  allen  Ländern  strömten  wiß- 
begierige Schüler  herbei,  um  sich  unter  seiner  Leitung  auszubilden.  Er 
starb  am  23.  September  1738. 

Boerhaave  war  sicherlich  der  berühmteste  Arzt  seines  Jahr- 
hunderts, wiewohl  die  gesamte  Medizin  ihm  keine  epochemachenden 
Entdeckungen  verdankt.  Die  Grundlage  seines  weitverbreiteten  Rufes 
muß  vielmehr  in  seinem  Wirken  als  hervorragender  Lehrer  und  Arzt, 
nicht  als  Forscher  gesucht  werden.  Danach  sind  auch  seine  Leistun- 
gen auf  otiatrischem  Gebiete  zu  beurteilen.  In  dem  Werke  „Institu- 
tion es   medicae    in   usus   annuae  exercitationis   domesticos  di- 


Boerhaave.  291 

gestae"*),  das  als  Grundlage  zu  Boerhaaves  Vorlesungen  diente,  be- 
handelt er  auch  in  kompendiöser  Form  die  Anatomie  und  Physiologie 
des  Gehörorgans.  Zu  diesen  Institutionen  ließ  Hall  er  nach  den  Vor- 
lesungen Boerhaaves  eine  TexterkTärung  drucken,  die  überdies  von 
Haller  noch  kommentiert  wurde**).  Sie  enthalten  zum  großen  Teile 
schon  Bekanntes;  der  über  das  Ohr  handelnde  Abschnitt  sollte  zu  nichts 
anderem  als  zum  Lehrbehelfe  für  seine  Schüler  dienen,  welcher  Zweck 
auch  leidlich  gut  erreicht  worden  sein  mag. 

Nach  einigen  wenig  interessanten  Mitteilungen  über  das  Wesen  des 
Schalles  leitet  Boerhaave  die  Anatomie  des  Gehörorgans  mit  der  Be- 
sprechung der  Ohrmuschel  ein.  Aus  einem  Wachsabdruck,  den  er  sich 
von  der  Ohrmuschel  eines  Menschen  mit  gutem  Gehör  verfertigt  hatte, 
glaubte  er  nachweisen  zu  können,  daß  die  Schallstrahlen  entweder  sofort 
oder  nach  mehrmaliger  Reflexion  in  den  Gehörgang  gelangen***). 

Dem  Tensor  tympani  schreibt  er  folgende  Funktionen  zu:  er  kann 
das  Trommelfell  spannen,  erschlaffen,  wieder  konvex  machen,  festheften 
und  in  verschiedenen  Spannungsverhältnissen  festhalten.  Dadurch  ver- 
mag er  indirekt  den  Rauminhalt  der  Trommelhöhle  zu  variieren,  Luft 
einzuführen,  auszutreiben,  zu  komprimieren,  je  nachdem  die  Tube 
gleichzeitig  geöffnet  oder  geschlossen  ist.  Er  vermag  aber  auch  das 
Trommelfell  den  aufzunehmenden  Schallstrahlen  harmonisch  anzupassen 
(Akkommodationsapparat).  Boerhaave  schrieb  somit  dem  Trommelfell 
nicht  bloß  die  Funktion  zu,  durch  die  Schallwellen  in  Schwingung  ver- 
setzt zu  werden,  sondern  er  glaubte  auch,  daß  es  durch  die  Wirkung 
der  Muskeln  der  Gehörknöchelchen  einen  den  verschiedenen  Tönen  ent- 
sprechenden Grad  der  Spannung  annehme. 

Den  Folianischen  Fortsatz  des  Hammers  erklärt  er  für  ein 
eigenes  bewegliches  Knöchelchen,  welches  mit  dem  Hammer  artikuliere 
und  erst  mit  der  Zeit  mit  diesem  verwachse,  so  wie  der  Processus  styli- 
formis  mit  dem  Schläfebein  zu  verwachsen  pflege.  Hall  er  bekämpft 
diese  Ansichten  seines  Lehrers,  die  mit  seinen  Autopsien  an  Embryonen 
nicht  im  Einklänge  sind. 

Die  Warzenzellen  vermehren,  wie  Boerhaave  annimmt,  die  Re- 
sonanz des  Tones.  Die  Luft  in  der  Trommelhöhle  werde  durch  die  Wärme 
verdünnt  und  spanne  das  Trommelfell  gegen  den  äußeren  Gehörgang  (?); 
das  Gehör  würde   hierdurch  verringert   werden,    fände   nicht  inzwischen 


*)  Leidae  1708.  Von  mir  wurde  die  Ausgabe:  Viennae  1775  benützt,  p.  220—231. 
Cap.  547 — 565,  De  auditu. 

**)  Praelectiones  academicae  in  proprias  institutiones  rei  rnedicae  ed.  et  notas 
addidit.  Haller,  Göttingen  1740—1744.     7  Bde.     Vol.  4,  p.  290—421. 

***)  Treviranus,   Magen  die,   Esser  u.  a.   konnten   die  Richtigkeit  dieses 
Experimentes  nicht  bestätigen. 


292  Boerhaave.     Winslow. 


eine  Lüftung  der  Trommelhöhle  mittels  der  Tube  statt.  Vom  runden 
Fenster  glaubt  Boerhaave,  es  befinde  sich  in  der  Mitte  des  ellipti- 
schen Raumes  der  Trommelhöhe  gegenüber  der  Mitte  des  Trommelfells, 
eine  Ansicht,  die  Hall  er  entschieden  bestreitet. 

In  der  Deutung  der  physiologischen  Vorgänge  beim  Hören  sind 
ihm  vielfache  Irrtümer  unterlaufen.  Bezüglich  der  Funktion  des  Laby- 
rinths jedoch  ist  er  der  modernen  Auffassung  ziemlich  nahe  ge- 
kommen, wie  sich  aus  folgender  Stelle  der  Praelectiones  *)  entnehmen 
läßt:  Atqui  habemus  adeo  chordarum  inhnitum  numerum,  quae  cum 
infinitis  sonis  possint  in  unisonum  tremere:  Longissimae  enim 
gravissimos  sonos,  deinde  mediae  mediocres,  brevissimae  peracutos  ex- 
priment:  et  inter  infinitum  fere  numerum,  si  una  noluerit  contremiscere, 
alia  tarnen  reperietur,  quae  harmonice  tremat.  Aus  dieser  Stelle  geht 
mit  genügender  Deutlichkeit  hervor,  daß  Boerhaave  eine  der  heutigen 
völlig  identische  Anschauung  über  die  Perzeption  des  Schalles  hatte  und 
daß  er  ebenso,  wie  wir  heute,  die  Fähigkeit  Unterschiede  in  der  Ton- 
höhe Avahrzunehmen,  mit  der  verschiedenen  Länge  der  Chorden  begründete. 
Angedeutet  finden  wir  diese  Theorie  schon  bei  Duverney  (S.  204). 

Sie  geriet  wieder  in  Vergessenheit,  und  wurde  erst  von  Helm- 
holtz  aufs  neue  in  die  Gehörsphysiologie  eingeführt. 

J.  B.  Winslow,  einer  der  berühmtesten  Anatomen  des  18.  Jahr- 
hunderts, wurde  am  2.  April  1669  in  Odensen  auf  Firnen  geboren.  Er 
bekleidete  lange  Zeit  die  Professur  der  anatomischen  Lehrkanzel  zu  Paris, 
wo  er  sich  durch  sein  erfolgreiches  Wirken  als  Lehrer  einen  europäischen 
Ruf  erwarb.  Ihm  verdankt  insbesondere  die  topographische  Ana- 
tomie große  Förderung.     Er  starb  am  3.  April  1760. 

Die  Forschungsresultate  Winslows  sind  in  seinem  Hauptwerke 
„Exposition  anatomique  de  la  structure  du  corps  humain"  niedergelegt, 
das  sich  als  Lehrbuch  der  Anatomie  im  18.  Jahrhundert  einer  großen 
Beliebtheit  erfreute  und  zahlreiche  Auflagen  erlebte**). 

Winslow  behandelt  im  ersten  Bande  seines  Werkes  zuerst  die 
Anatomie  des  knöchernen  Gehörorgans***)  und  bespricht  erst  im  vierten 
Bande  die  anderen  Bestandteile  des  Ohres f). 

Die  Durchsicht  des  otologischen  Teiles  ergibt,  daß  Winslow  als 
langjähriger  Schüler  Duverneys  sich  im  großen  und  ganzen  den  An- 
schauungen seines  berühmten  Lehrers  anschließt. 

Von  den  Muskeln  des  äußeren  Ohres  beschreibt  Winslow  bloß 


*)  Prael.  p.  405. 

*■*)  Von   mir   wurde   die  lateinische  Ausgabe :    „Expositio  anatomica  structurae 
corporis  humani,  Francofurti  et  Lipsiae  1753 ".benutzt. 

***)  1:  c.  Ossa  auris  internae  sive  partes  osseae  organi  auditus.    T.  I,  p.  105 — 121. 
f)  1.  c.  Aures  in  genere,  Auris  externa,  Auris  interna.    T.  IV,  P.  2,  p.  181 — 201. 


Winslow.     Albinus.  293 


einen  hinteren  Ohrmuskel  und  erklärt  die  von  anderen  Schrift- 
stellern geschilderten  Muskeln  als  Artefakte1).  Vom  knöchernen  Ge- 
hörgang wird  hervorgehoben,  daß  er  in  seiner  Mitte  enger  sei  als 
außen2).  Die  äußere  Lamelle  des  Trommelfells  ist  nach  ihm  eine 
Fortsetzung  der  Epidermis  des  äußeren  Gehörganges.  Der  ganze  Ueber- 
zug  könne  wie  der  Finger  eines  Handschuhes  vom  Trommelfell  abgezogen 
werden3).  Die  Gehörknöchelchen  beschreibt  er  sehr  genau  und  gibt 
Merkmale  an,  durch  die  man  die  des  rechten  Ohres  von  denen  des  linken 
unterscheiden  könne.  Im  Gegensatz  zu  seinem  Lehrer  Duverney  spricht 
er  den  Gehörknöchelchen  ein  Periost  zu,  das  er  oft  seinen  Schülern 
demonstrieren  konnte *).  Er  gibt  ferner  an,  daß  es  ihm  scheine,  als  ob 
der  Hammergriff  in  einer  feinen  membranösen  Duplikatur  eingeschlossen 
sei,  durch  die  er  an  das  Trommelfell  angeheftet  werde  und  die  gleich- 
zeitig die  Stelle  des  Periosts  des  Hammergriffs  vertrete5).  Der  kleine 
Fortsatz  des  Amboß  es  werde  durch  ein  kleines,  aber  starkes  Ligament 
an  den  Rand  der  Apertur  der  Zellen  des  Warzenfortsatzes  angeheftet0). 
Die  Chorda  tympani  wird  von  ihm  als  Abkömmling  des  dritten  Trige- 
minusastes  gedeutet7).  Die  Ohrtrompete,  an  der  er  eine  innere  knorpe- 
lige und  eine  äußere  membranöse  Platte  unterscheidet,  ist  für  die  da- 
malige  Zeit  gut  beschrieben8).  Die  Bogengänge  bezeichnet  er  nach 
ihrer  Richtung  (verticalis  superior,  verticalis  posterior,  horizontalis).  Bei 
der  Schnecke  hebt  er  den  Unterschied  der  rechten  von  der  linken  her- 
vor und  spricht  von  einer  Kommunikation  beider  Schneckengänge  im 
Apex9).  Im  übrigen  schließt  er  sich  bei  der  Beschreibung  des  inneren 
Ohres  der  von  Duverney  gegebenen  an,  ohne  neue  Details  hinzuzu- 
fügen. 

')  1.  c.  T.  IV,  §  374,  p.  187. 

2j  1.  c.  T.  I,  §  395,  p.  106. 

3)  1.  c.  T.  IV,  §  394,  p.  194. 

4)  1.  c.  T.  IV,  §  396,  p.  194. 

i  Manubrium  hoc  membranaceae  subtili  adniodum  duplicationi  includi  videtur, 
qua  mediante  Membranae  Tyinpaiii  aimectitur,  quaeque  eidem  etiam  Periostii  loco 
est.     1.  c.  T.  IV,  §  395,  p.  194. 

6)  1.  c.  T.  IV,  §  398,  p.  195. 

7)  1.  c.  T.  IV,  §§  411  u.  412,  p.  200. 

8)  1.  c.  T.  IV.  §§  390  u.  391,  p.  193. 

9)  1.  c.  T.  I.  §  440,  p.  118. 

Bernhard  Siegfried  Albinus  (1697 — 1770),  Professor  der  Anatomie 
und  Chirurgie  in  Leiden,  Sohn  des  berühmten  deutschen  Arztes  Bernhard 
Albinus,  erwarb  sich  einen  glänzenden  Ruf  als  Forscher  auf  deskriptiv- 
anatomischem Gebiete. 

In    den   „Academicarum  anhotationum  libri   VI II",  die  mit  Kupfer- 


294  Albinus. 

sticken  von  der  Künstlerhancl  Jan  Wandelaers  ausgestattet  sind,  er- 
klärt Albinus,  daß  es  er  für  überflüssig  halte,  nach  den  vorzüglichen 
Werken  eines  Duverney  und  Valsalva  ein  neues  Werk  mit  Tafeln  des 
Gehörorganes  herauszugeben,  weist  jedoch  darauf  hin ,  daß  die  früheren 
Arbeiten  eine  genaue  Topographie  („partium  situm,  seriemque  continua- 
tam")  vermissen  lassen,  ein  Mangel,  dem  seine  nach  kindlichen  Gehör- 
organen hergestellten  Tafeln  abhelfen  sollen. 

Die  Muskeln  des  Ohres  läßt  diese  Arbeit  unberücksichtigt,  weil  sie 
in  seiner  „Historia  musculorum  corporis  hurnani"'  eingehend  behandelt 
wurden.  Ihre  ausführliche  Schilderung  im  Texte  hält  er  für  unnütz 
(„quod  non  ita  facile  intelligerer).  Bloß  der  Abbildung  des  Labyrinthes 
ist  eine  eingehendere  „  explicatio ''  beigegeben.  Im  übrigen  begnügt 
er  sich  mit  einigen  erläuternden  Worten.  Der  Wert  des  Werkes  be- 
ruht auf  den  wahrscheinlich  nach  der  großen  Präparatensammlung  des 
Albinus  gezeichneten  vorzüglichen  Tafeln,  welche  die  Teile  des  Gehör- 
organes stets  wie  im  Präparate  im  gegenseitigen  Zusammenhange  zeigen. 
Hervorzuheben  sind  die  Abbildung  des  Vorhofs  mit  dem  „sinus  semi- 
ovalis"  und  „sinus  hemisphaericus",  sowie  des  von  Morgagni  beschrie- 
benen „sinus  sulciformis".  Albinus  zeigt  ferner  in  einer  gelungenen 
Abbildung  (Taf.  II,  Fig.  6)  den  Ursprung  der  knöchernen  und  mem- 
branösen  Spiralplatte  im  Arestibulum,  wie  sich  die  membranöse  Spiral- 
lamelle an  den  Rand  des  runden  Fensters  anheftet,  wie  die  Spirallamelle 
in  ihrem  Beginne  das  runde  Fenster  vom  Vorhof  und  der  Vorhoftreppe 
trennt  und  fortlaufend  die  Schnecke  in  zwei  Treppen  teilt,  wie  das  runde 
Fenster  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  bloß  zur  Scala  tympani  gehört  und 
andere  Details,  die  von  den  früheren  Anatomen  wohl  beschrieben,  aber 
nicht  bildlich  dargestellt  worden  waren.  So  findet  sich  auch  z.  B.  an 
der  Abbildung  der  inneren  Trommelhöhlenwand  der  „recessus  epitympani- 
cus"  oder,  wie  Alb  in  sagt,  ..Tympani  pars  a  squamosa  effecta"  treu 
wiedergegeben. 

Die  Behauptung  Albinus1,  er  könne  nur  einen  hinteren  Ohr- 
muskel auffinden  und  die  knorpelige  Tube  werde  von  dem  ..musculus 
circumflexus  palati"  zusammengedrückt,  hat  sich  längst  als  irrtümlich  er- 
wiesen. 

Sein  jüngerer  Bruder  und  Nachfolger  im  Lehramte,  Friedrich 
Bernhard  Albinus  (1715—1778),  veröffentlichte  ein  „Libellum  de 
natura  hominis'**),  in  dem  er  das  Ziel  verfolgte,  aus  den  physiologischen 
Leistungen  die  Struktur  und  Beschaffenheit  der  Körpergewebe  zu  er- 
klären. 

Das  Cerumen   stellt   er   sich   als  das   eingedickte  Sekret  von  Talg- 


;)  Lugduni  Batav.  1775. 


Albinus.     Elliott.  295 


drüsen  vor.  Der  Zusammenhang  der  Chorda  mit  dem  dritten  Ast  des 
Trigeminus  ist  ihm  bereits  bekannt.  Den  Hörnerv  läßt  er  „per  innumera 
foramina*'  in  die  Labyrinthräume  eintreten  und  „in  expansiones  mollissi- 
masu  endigen,  welche  infolge  ihrer  Weichheit  und  Feinheit  dem  Tast- 
und  Gesichtssinne  entgehen.  Im  übrigen  sind  seine  Angaben  über  das 
Gehörorgan  wertlos. 

Im  physiologischen  Teile  akzeptiert  er  bereits  die  Ansichten  Co- 
tu nnis,  wenn  er  sagt:  „Eorumque  (nämlich  der  Gehörknöchelchen)  ope 
tremor  transit  in  fluidum  labyrinthi,  agitatque  expansiones  nervosas." 

John  Elliott  (1747—1787).  Unter  vielen,  meist  hypothetischen 
und  wertlosen  Betrachtungen  über  die  Funktion  des  Gehörorgans  finden 
sich  in  der  Arbeit  Elliotts  x)  manche  interessante  Mitteilungen,  die  in 
historischer  Beziehung  nicht  übergangen  Averden  können. 

Aus  den  18  Beobachtungen  über  gehörphysiologische  Fragen  sind 
die  folgenden  Ansichten  Elliotts  erwähnenswert.  Die  Annahme,  daß 
das  ganze  Trommelfell  durch  jeden  Ton  besonders  in  Schwingung  ge- 
setzt wird,  erklärt  er  ganz  richtig  für  unhaltbar,  da  ja  mehrere  Töne 
die  Membran  zugleich  treffen  und  durch  sie  fortgeleitet  werden.  Hin- 
gegen neigt  er  der  hypothetischen  Ansicht  zu,  daß  die  Lage  der  Töne 
gegeneinander  und  ihre  Richtung  durch  das  Gefühl  des  Trommelfells 
erkannt  wird.  Eine  Andeutung  über  das  sogen,  subjektive  Hörfeld 
ist  in  der  Angabe  Elliotts  enthalten,  daß  Manche  die  Schallempfin- 
dung in  das  Kleinhirn  oder  in  die  Stirne  verlegen 2). 

Zu  den  mannigfaltigen  Erklärungen  vom  Besserhören  bei  geöffnetem 
Munde  fügt  Elliott  die  neue,  daß  beim  Oeffnen  des  Mundes  der  äußere 
Gehörgang  erweitert  werde. 

Elliott  machte,  angeblich  geleitet  durch  die  Kenntnis  der  Farben- 
mischung, zum  ersten  Male  die  interessante  Beobachtung,  daß  Klänge 
a,ußer  durch  ihre  verschiedene  Höhe  und  Tiefe  und  ihre  verschiedene 
Intensität  sich  noch  durch  ihre  Klangfarbe  (mode  of  sound)  unterschei- 
den 3).  Durch  fortgesetzte  aufmerksame  Prüfung  konnte  sein  musikalisches 
Ohr  die  Klänge  in  einzelne  einfache  Töne  von  verschiedener  Höhe  und 
Intensität  zerlegen.  Nach  ihm  hängt  also  die  Klangfarbe  von  der  Art  der 
Mischung  der  einzelnen  Töne  ab.  Diese  Erklärung  der  Klangfarbe  fand 
bekanntlich  später  durch  die  Helmholtzschen  Resonatoren  auf  physi- 
kalisch-experimentellem Wege  ihre  Bestätigung. 

')  Philosophical  observations  on  the  senses  of  vision  and  hearing;  to  whicb 
are  added,  a  treatise,  on  harmonic  sounds.  and  an  essay  on  combustion  and  animal 
heat.  London  1780.  —  In  deutscher  Sprache:  J.  Elliots  physiologische  Beobach- 
tungen über  die  Sinne,  besonders  über  das  Gesicht  und  Gehör  etc.     Leipzig  1785. 

2)  These  phenomena  seem  to  indicate  that  the  nerves  which  serve  either  the 
tympanum  or  barrel  for  the  sense  of  feeling,  are  so  disposed  in  the  sensory  or  brain, 
that   if  the  organ  be  affected  in  one  point,   the  Sensation  shall  be  feit,   not  in  the 


296  Sleigh. 

part  affected,  but  as  in  the  fore  part  of  the  head.  If  in  another  part,  it  shall  be 
feit  as  in  the  back  part  of  the  head;  and  perhaps  there  are  other  points  of  that 
organ  correspond  with  the  whole  furface  of  the  head  respectively.     1.  c.  p.  33. 

3)  About  ten  years  ago,  I  observed  that  a  flute,  an  hautboy,  a  trumpet,  and 
other  Instruments,  though  they  were  made  to  yield  sounds  which  were  in  uniform 
with  each  other,  and  equally  loud,  yet  had  a  difference  which  every  one  could  ob- 
serve ,  and  which  I  then  called  the  mode  of  sound.  .  .  .  Whether  the  cause  of  this 
curious  phenomenon  had  been  discovered ,  I  could  not  learn;  but  by  meditating  on 
the  subject.  and  making  several  experiments .  I  found  that  these  sounds  were  not 
simple,  but  composed  of  others,  of  which  these  were  only  the  result  or  aggregate, 
even  as  the  colours  of  bodies  are  various  Compounds  of  the  several  original  colours. 
1.  c.  p.  43. 

Die  vergleichend  anatomische  Arbeit  des  Engländers  Alex.Monro*)  (1733 — 1771) 
enthält  keine  nennenswerten  neuen  Details.  Seine  Beschreibung  des  mittleren  und 
inneren  Ohres  nach  Korrosionspräparaten  ist  ziemlich  gut,  doch  bei  weitem  nicht  so 
detailliert,  wie  die  erschöpfende  Darstellung  Bezolds  in  seiner  Korrosionsanatomie. 
Seine  Abbildung  des  Korrosionsabgusses  der  Schnecke  steht  nach  v.  Stein**)  an 
Schönheit  der  der  Bezoldschen  Präparate  in  nichts  nach. 

Hier  wäre  noch  die  Arbeit  des  englischen  Arztes  Jos.  Fenn  Sleigh***)  zu 
erwähnen,  die  sich  vorzüglich  mit  der  Funktion  des  Trommelfells  befaßt,  deren  Wert 
jedoch  wegen  der  gänzlich  mangelnden  experimentellen  Begründungen  nicht  hoch 
anzuschlagen  ist.  Nach  ihm  hat  das  Trommelfell  vorzugsweise  den  Zweck,  das 
-Mittelohr  vor  Einwirkung  schädlicher,  in  der  Luft  befindlicher  Agentien  zu  schützen. 
Aus  den  bloßen  Ueberlegungen ,  daß  wir  im  stände  sind ,  den  kürzesten  Schall  zu 
perzipieren,  dem  sich  das  Trommelfell  nicht  zu  akkommodieren  vermag  (?).  daß  manche 
mit  perforiertem  Trommelfell,  sogar  bei  Verlust  der  Gehörknöchelchen,  die  Hör- 
fähigkeit behalten,  und  aus  anderen  ähnlichen  Gründen  spricht  Sleigh  dem  Trommel- 
fell die  Fähigkeit  ab,  sich  entsprechend  den  hohen  und  tiefen  Tönen  akkommodieren 
zu  können.  Er  glaubt  vielmehr,  daß  die  Membran  bei  starken  Tönen  relaxiert,  bei 
schwachen  gespannt  wird,  eine  Ansicht,  die  bekanntlich  unserer  heutigen  Auffassung 
widerspricht ,  da  wir  wissen ,  daß  Töne  von  verschiedenartigster  Höhe  gleichzeitig 
vom  Trommelfell  aufgenommen  und  fortgeleitet  werden. 

Sleigh  ist  auch  ein  Gegner  der  Theorie  von  der  Mitschwingung  der  Chorden 
in  der  Schnecke  und  glaubt,  daß  der  Ton  in  den  verschiedenen  Hohlräumen  des 
Ohres  auf  dieselbe  Weise  abgestimmt  wird  wie  in  den  „tubis  stentorophonicis". 

Archibald  Adams,  Part  of  letter,  concerning  a  monstrous  calf  and  some- 
things  observable  in  the  anatomy  of  a  human  ear.     Philosoph.  Transact.  1706. 

P.  Demeherenc  de  la  Consilliere.     De  auditu.     Ultrajecti  1710. 

Jacob  Douglas,  Descriptio  comparata  musculorum  corp.  hum.  et  quadru- 
pedis.     Lugd.  Batav.  1738,  P.  49. 

Laur.  Metz,  Diss.  de  auris  humanae  fabrica.    Lugd.  Batav.  1765. 


*)  Three  treatises  on  the  brain,  the  eye  and  the  ear.  Edinb.  1797.  Illustrated 
by  tables.  Observations  on  the  organ  of  Hearing  in  man  and  other  animals.  p.  177. 
I.  c. 
**)  Tentamen  physico-medicum  inaugurale  de  auditu.  Edinburgi  1753.  The- 
saurus Medicus  Edinburgensis  novus  sive  Dissertationum  in  Academia  Edinensi,  ad 
rem  medicam  pertinentiuni,  ab  anno  1759  ad  annum  1785  delectus,  ab  illustri  Socie- 
tate  Regia  Medica  Edinensi   habitus.     T.  II,  p.  37— 50,   Edinburgi  et  Londini  1785. 


Cassebohm.  297 


1  aygarth,  in  Medical  observations  and  inquiries.  Vol.  IV,  Edit.  2,  1772, 
P.  198—^05  (Ueber  das  Ohrenschmalz). 

J.  B.  Vermolen,  Diss.  de  aure  et  auditu.     Traj.  ad  Rhen.  1782. 
Edmund  Somers,  Diss.  physico-medica  de  sonis  et  auditu.    Edinburgi  1783. 

Deutschland. 

In  dieser  Periode  treten  —  wesentlich  beeinflußt  durch  die  Leistun- 
gen der  Italiener  —  zum  ersten  Male  deutsche  Gelehrte  als  Förderer 
der  Ohranatomie  auf.  Unter  den  zahlreichen  Bearbeitern  dieses  Spezial- 
gebietes ragen  besonders  Cassebohm,  Brendel,  Zinn  und  Meckel 
hervor.  Auch  in  der  Ohrphysiologie  wurde  ein  bedeutender  Fort- 
schritt angebahnt,  wozu  die  akustischen  Arbeiten  der  zeitgenössischen 
deutschen  Physiker  wesentlich  beitrugen.  In  den  Schluß  dieses  Zeit- 
raumes fällt  die  Tätigkeit  Sömmerrings,  dessen  anerkennenswerte 
Leistungen  jedoch  bereits  dem  Anfang  des   19.  Jahrhunderts  angehören. 

Der  weitere  Umkreis  der  Forschung  und  die  größere  Exaktheit  der 
Untersuchungen  brachte  bereits  eine  intensive  Arbeitsteilung  mit  sich, 
die  sich  in  den  vielen  Spezialschriften  ausdrückt,  die  an  Zahl  die 
das  Gehörorgan  behandelnden  Werke  früherer  Zeit  übertreffen. 

Unter  den  deutschen  Anatomen,  die  sich  um  die  Bereicherung  der 
Ohranatomie  besonders  verdient  gemacht  haben ,  ist  in  erster  Reihe 
Cassebohm  zu  nennen,  der  den  großen  Italienern  des  17.  u.  18.  Jahr- 
hunderts an  die  Seite  gestellt  werden  kann. 

Johann  Friedrich  Cassebohm,  geboren  zu  Halle,  ein  Schüler  des 
berühmten  Winslow,  bekleidete  die  Professur  in  seiner  Vaterstadt,  dann 
in  Frankfurt  a.  d.  Oder,  endlich  in  Berlin,  wo  er  am  3.  Februar  1743 
starb.  Obwohl  sich  Cassebohm  um  den  Fortschritt  der  Anatomie 
im  allgemeinen  verdient  gemacht  hatte,  wurde  er  doch  erst  durch  seine 
anatomischen  Arbeiten  über  das  Gehörorgan  bekannt.  In  seinen  Resultaten 
der  embryologischen  Forschung  des  Gehörorgans  läßt  er  alle  Vorgänger, 
auch  Valsalva  und  Morgagni,  Aveit  hinter  sich  zurück,  ja  wir  müssen 
sagen,  daß  bis  Huschke  und  v.  Baer,  Cassebohm  in  der  Entwicklungs- 
geschichte des  Ohres  allein  mustergültig  war. 

Seine  wissenschaftliche  Laufbahn  eröffnete  er  mit  der  „Disputatio 
anatomica  inauguralis  de  aure  interna.  Francof.  eis  Viadrum  1730".  Das 
Gesamtergebnis  aber  legte  er  in  seinen  sechs  Traktaten  über  das  Gehör- 
organ nieder.  „Tractatus  quatuor  anatomici  de  aure  humana,  Halae 
Magdeb.  1734;  Tractatus  quintus  anatomicus  de  aure  humana  cui  accedit 
tractatus  sextus  de  aure  monstri  humani,  Halae  Magd.  1735".  Da  die 
Dissertation  durch  das  Hauptwerk  ergänzt  und  überholt  ist,  genügt  esr 
auf  dieses  letztere  näher  einzugehen. 

Die  dem  Werke  beigegebenen,  von  dem  Studenten  Petsche  gezeich- 


298  Cassebohm. 


neten  Tafeln,    gehören   zu    den  besten    ihrer  Zeit   und  werden    nur    von 
Scarpas  Abbildungen  übertroffen1). 

Cassebohms  Traktate  enthalten  eine  Fülle  von  Verbesserungen 
und  Neuheiten,  nicht  zum  mindesten  bei  der  Darstellung  des  inneren 
Ohres  und  suchen  in  ihrer  mit  Kürze  des  Ausdrucks  gepaarten  Klarheit 
der  Beschreibung  ihresgleichen.  Ein  Beweis  hierfür  liegt  darin,  daß  der 
kritische  Morgagni  mit  Vorliebe  und  fast  immer  lobend  seinen  treff- 
lichen Zeitgenossen  zitiert.  Der  Inhalt  des  Werkes  entspricht  vollkommen 
dem  in  der  Vorrede  ausgesprochenen  Programm:  „Malui  enim,  quanta 
potui  brevitate  et  perspicuitate  meas  observationes  in  libellum  redigere 
quam  ex  alienis  volumen  magnum  consarcinare". 

Der  erste  Traktat  behandelt  das  Schläfebein,  der  zweite  das 
äußere  Ohr,  der  dritte  und  vierte  die  Trommelhöhle,  die  als  inneres 
Ohr  bezeichnet  wird,  der  fünfte  das  Labyrinth,  während  der  sechste 
der  Beschreibung  eines  monströsen  sechsmonatlichen  Fötus  gewidmet  ist, 
einer  Doppelbildung,  bei  welcher  zwei  Gehörorgane  zu  einem  ver- 
schmolzen waren.  Die  Mißbildungen  betrafen  hauptsächlich  die  Trommel- 
höhle, in  der  sieben  zum  großen  Teile  verbildete  Gehörknöchelchen  vor- 
handen waren,  während  das  Labyrinth  hinsichtlich  Lage,  Größe  und 
Gestalt  einen  ziemlich  normalen  Typus  aufwies. 

Es  würde  zu  weit  führen,  die  Detailarbeit  Cassebohms  aus- 
führlich wiederzugeben;  wir  müssen  uns  vielmehr  darauf  beschränken, 
nur  das  Wesentliche  aus  seinen  Arbeiten  hervorzuheben. 

Seine  Beschreibung  des  Schläfebeins  zeichnet  sich  durch  Prä- 
zision und  Gründlichkeit  aus.  Was  Vorgänger  und  Zeitgenossen  bloß 
angedeutet  hatten,  das  finden  wir  hier  klar  und  ausführlich  behandelt 
und  vorzüglich  abgebildet,  wie  die  Fissur a  tympanosquamosa,  die 
Furche  für  den  Nervus  petrosus  superfic.  major,  die  sogen.  Fis- 
sur a  Glaseri,  die  er  beim  Neugeborenen  sehr  klein  fand,  die  Promi- 
nenzen des  oberen  und  hinteren  Bogenganges  auf  der  oberen  und  hinteren 
Pyramidenfläche,  die  kleinen  Löcher  an  der  oberen  Wand  des  Canal. 
carot.  und  in  der  Fossa  jugularis  u.  s.  w.  An  der  Pyramide  unterscheidet 
er  vier  Flächen  und  zwar  zwei  innere  und  zwei  äußere;  die  inneren, 
resp.  äußeren  teilt  er  wieder  in  eine  obere  und  untere  Fläche.  Vom 
Foramen  stylomastoideum  und  dem  Griffelfortsatz  sagt  er,  sie 
lägen  beim  Neugeborenen  mehr  an  der  äußeren  oberen  Fläche  (unserer 
äußeren)  der  Pyramide,  rückten  aber  mit  dem  Wachstume  des  Fazial- 
kanales  gegen  die  äußere  untere  (unsere  untere)  Fläche.  Die  Angaben 
Duverneys  undSchelhammers,  daß  der  Griffelfortsatz  in  irgend  einer 
Beziehung  zur  Bildung  des  äußeren  Gehörganges  stehe,  hält  er  für  irr- 
tümlich, indem  er  darauf  hinweist,  daß  ersterer  beim  Fötus  lange  vor 
der  Entwicklung  des  äußeren  Gehörganges  vorhanden   sei.     Von  beson- 


Cassebohm.  299 


derer  Exaktheit  ist  seine  Darstellung  der  Bildung  des  knöchernen 
Teiles  des  äußeren  Gehörganges  aus  dem  Trommelfellringe,  zu 
welchem  Zwecke  zahlreiche  fötale  und  kindliche  Gehörorgane  der  ein- 
gehendsten Zergliederung  unterzogen  wurden.  Die  bereits  von  Riolan 
angedeutete  Ossifikationslücke  in  der  Mitte  der  vorderen  Wand  des 
knöchernen  äußeren  Gehörganges  (S.  187)  wird  von  Cassebohm  zum 
ersten  Male  genauer  beschrieben  und  abgebildet  (Taf.  I,  Fig.  2r),  wo- 
bei er  darauf  hinweist,  daß  Duverney  sie  gekannt  zu  haben  scheine,  da 
er  diese  Lücke,  wenn  auch  nicht  beschrieben,  so  doch  abgebildet  habe 
(S.  198,  Fig.  9)2). 

Das  Trommelfell  läßt  er  gleich  seinem  Lehrer  Winslow  aus 
vier  Häuten  bestehen  3).  Schon  damals  war  der  Streit  über  das  Foramen 
Rivini  entbrannt.  Cassebohm  leugnete  sein  Vorkommen ,  da  er  in 
vielen  Präparaten  vergeblich  darnach  gefahndet  hatte  4).  In  der  Trommel- 
höhle beschreibt  er  ausführlich  den  Falz  des  Schneckenfensters, 
ferner  die  Höhle  der  Eminentia  pyramidalis  und  ihre  Kommuni- 
kation mit  dem  Fallopischen  Kanal.  Er  fand  diesen  beim  Er- 
wachsenen länger  und  breiter  als  beim  Kinde 5).  Treffend  ist  seine  Be- 
schreibung der  Gehörknöchelchen,  denen  er  fünf  Bänder  zuschreibt. 
Am  Hammer  unterscheidet  er  den  Kopf,  den  Hals  und  drei  Fortsätze. 
Die  Gelenkfläche  des  Amboßes  ist  von  einer  Furche  umgeben,  ebenso 
fand  er  am  Halse  des  Hammers  eine  breite  schiefe  Furche.  Die  Furche 
des  Amboßes  an  der  Spitze  seines  kurzen  Fortsatzes  beim  Kinde 6)  ist 
von  ihm  zuerst  erwähnt.  Neu  ist  ferner  seine  Beschreibung  der  aponeuro- 
tischen  Scheide  des  Trommelfellspanners  und  des  Steigbügelmuskels, 
die  Konkavität  an  der  Innenseite  der  Stapesschenkel  und  die  durch 
mikroskopische  Untersuchung  festgestellte  Gefäßmembran  (..periostium 
internum" )  im  Innern  des  Hammers  und  Amboßes.  Vom  Warzenfort- 
satz behauptete  Cassebohm,  daß  er  beim  Fötus  keine  Zellen  besitze. 
Die  jetzt  bekannte  anatomische  Tatsache,  daß  normalerweise  nicht  selten 
diploetische  Warzenfortsätze  vorkommen,  in  denen  sich  nur  das  Antrum 
mastoideum  als  lufthaltiger  Raum  vorfindet,  dürfte  ihn  zu  der  Annahme 
veranlaßt  haben,  daß  die  pneumatischen  Zellen  mit  den  Jahren  wieder 
verschwinden  und  schließlich  nur  in  der  Mitte  allein  übrig  bleiben 7) 
(vergl.  Taf.  II,  Fig.  4).  Diese  Ansicht  findet  sich  jedoch  nur  in  seiner 
Diss.  de  aure  int.,  aber  nicht  mehr  in  seinen  Traktaten  über  das  mensch- 
liche Ohr8). 

Im  knöchernen  Labyrinth  waren  ihm  vor  Cotugno  die  beiden 
für  die  Vorhofsäckchen  bestimmten  Recessus  bekannt.  Die  fünf  Mün- 
dungen der  drei  Bogengänge  im  Vorhof  sind  topographisch  richtig 
beschrieben  und  auch  abgebildet.  Die  fünf  Bogengänge  selbst  benennt 
er  nach  ihrer  Lage  und  Richtung  als  „superior",   „inferior"  und  „medius" 


300  Cassebohm. 


oder  „externus*.  Er  zeigt  ferner,  daß  in  der  Länge  der  Bogengänge 
bei  Neugeborenen  und  bei  Erwachsenen  gleichen  Alters  große  Ab- 
weichungen bestehen. 

Hervorzuheben  sind  des  weiteren  seine  nahezu  richtigen  Messungen 
der  einzelnen  Teile  des  Gehörorgans;  so  bestimmte  er  z.  B.  den  Schnecken- 
kanal beim  Kinde  auf  zwölf  Linien. 

Wenn  auch  bereits  frühere  Autoren,  wie  Willis,  Vieussens, 
Bartolo  und  Winslow,  von  einer  Kommunikation  beider  Schnecken- 
gänge gesprochen  hatten,  so  war  Cassebohm  doch  unstreitig  der  erste, 
der  die  Kommunikation  im  Becher  ausführlich  beschrieben  hat;  doch 
leidet,  wie  Scarpa  hervorhebt,  seine  Beschreibung  an  ungewöhnlicher 
Dunkelheit9).  Die  Abbildung  des  Spindelkanals  stimmt  bis  auf  geringe 
Abweichungen  mit  der  späteren  Scarpas10).  Mit  größter  Genauigkeit 
beschrieb  Cassebohm  den  inneren  Gehörgang  und  den  sichelförmigen 
Grat,  der  den  Gang  in  die  beiden  Recessus  für  den  Hörnerv  und  den 
N.  facialis  scheidet11).  In  dem  unteren  Recessus  fand  er  im  Gegensatze 
zu  Valsalva  außer  fünf  größeren  noch  eine  Reihe  kleinerer  Oeffnungen. 
Auch  die  Eingänge  zu  den  beiden  Wasserleitungen  waren  ihm  nicht  ganz 
fremd12).  Labyrinthwasser  fand  er  gleich  Valsalva,  Vieussens  und 
Morgagni  als  zufälligen  Befund  (in  quibusdam  auribus),  ohne  eine 
richtige  Deutung  hierfür  geben  zu  können.  Er  glaubt,  daß  die  Flüssig- 
keit aus  der  Schädelhöhle  durch  die  Löcher  des  inneren  Gehörganges 
in  das  Labyrinth  gelange  oder  daß  sie  von  den  membranösen  Gebilden 
des  Labyrinthes  sezerniert  werde.  Zu  genaueren  Untersuchungen  hier- 
über, die  er  in  Aussicht  stellte,  sollte  es  nicht  mehr  kommen:  ..Plura 
de  hoc  humore  alio  tempore  Deo  volente  afferam". 

Was  das  häutige  Labyrinth  anlangt,  so  leugnete  er  die  ,.Zonaeu 
Valsalvas;  statt  dieser  beschreibt  er  Fäden  (Filamenta),  die  beim 
Herausziehen  aus  den  halbzirkelförmigen  Kanälen  wegen  ihrer  Befestigung 
im  Vorhofe  einigen  Widerstand  leisteten.  Es  waren  dies  offenbar  Frag- 
mente der  wandständigen  membranösen  Bogengänge. 

Desgleichen  verfolgte  er  die  Verbreitung  der  Gefäße  und  Nerven- 
verzweigungen in  der  Trommelhöhle  und  im  Labyrinthe  und  sprach 
sich  mit  Entschiedenheit  gegen  die  von  Morgagni  unterstützte  Annahme 
der  Valsalvaschen  Löcher  (Dehiszenzen  am  Tegmen.  tymp.)  aus,  die 
von  der  Trommelhöhle  in  den  Schädelraum  führen  sollten. 

Besonders  wertvoll  in  dem  Traktate  Cassebohms  ist  die  Beschrei- 
bung der  Veränderungen  der  einzelnen  Teile  des  Gehörorgans  in  den 
verschiedenen  Altersstufen,  besonders  beim  Fötus,  beim  Neugeborenen 
und  im  Greisenalter.  Aus  seiner  Embryologie  wäre  folgendes  hervor- 
zuheben. Im  Gegensatz  zu  Ruysch  hält  er  den  annulus  tymp.  für  eine 
pars  propria  des  Schläfenbeins13).    Die  Gehörknöchelchen,  die  er  beim 


Cassebohra.  301 


Fötus  teilweise  hohl  fand,  beobachtete  er  im  dritten  Monat  und  kannte 
ihren  ungleichmäßigen  Entwicklungsprozeß;  zuerst  verknöchern  Amboß 
und  Steigbügel,  später  erst  der  Hammer.  Bewunderungswürdig  ist  die 
Sorgfalt,  mit  der  Cassebohm  den  Entwicklungs-  und  Verknöclierungs- 
prozeß  der  Trommelhöhle,  der  beiden  Fenster,  des  Kanals  für  den  Tensor 
tympani,  des  Fallopischen  Kanals  u.  s.  w.  verfolgte,  wenn  auch  manches 
durch  spätere  Untersuchungen  berichtigt  wurde. 

Auch  die  Entwicklung  des  knöchernen  Labyrinths  fand  an  ihm  einen 
aufmerksamen  Beobachter.  Im  dritten  Fötalmonat  seien  die  Wände  des 
Vorhofs  knorpelig,  im  vierten  knöchern,  doch  noch  nicht  so  stark  und 
so  gewölbt  wie  in  der  späteren  Zeit;  den  Beginn  der  Ossifikation  ver- 
legte er  in  den  Umfang  des  Schneckenfensters.  Im  vierten  Monat  fand 
er  die  Schnecke  mit  Ausnahme  der  Lamina  spiralis  ganz  verknöchert; 
diese  ossifiziere  im  fünften  Monat.  Die  Bogengänge  seien  erst  im 
fünften  und  sechsten  Monat  vollkommen  ausgebildet.  Diese  Angaben 
stimmen  mit  den  Untersuchungsergebnissen  der  späteren  Forscher  nicht 
überein. 

Vom  äußeren  Ohr  beobachtete  er  bei  einem  einmonatlichen  Embryo 
noch  kaum  die  Anlage.  Hinsichtlich  der  Alterserscheinungen  bemerkte 
er  eine  Verkleinerung  der  Trommelhöhle  und  Abnahme  der  Zartheit  und 
Elastizität  des  Trommelfells. 

Raummangel  verbietet  uns,  der  Reichhaltigkeit  der  Forschungs- 
ergebnisse Cassebohms  gerecht  zu  werden,  doch  läßt  sich  schon  aus 
dem  Wenigen,  was  wir  hervorgehoben,  der  Umfang  und  die  Tiefe  seiner 
Leistungen  erschließen.  Seine  Arbeiten,  die  für  die  gesamte  Otologie 
von  nicht  gewöhnlicher  Bedeutung  sind,  sichern  ihm  in  der  Geschichte 
der  Ohrenheilkunde  für  immer  den  Rang  eines  hervorragenden  Forschers. 

Cassebohm  hat  auch  in  seiner  .,Anweisung  zur  anatomischen  Be- 
trachtung und  Zergliederung  des  menschlichen  Körpers"  (Neue  Ausgabe 
von  Baidinger  1769)  eine  spezielles  Kapitel  der  Sektionstechnik  des 
Gehörorgans  gewidmet*). 

')  In  pingendis  omnibus  sex  tabulis  singulareni  adhibuit  diligentiam  Dominus 
Joannes  Zaccharias  Petsche  Brunsvicensis  Medicinae  Studiosus,  qui  per  quinque  annos 
in  praeparationibus  anatomicis  mihi  sedulus  adstitit.     Tract.  V. 

2)  Idem  paries  (nämlich  anterior)  in  medio  foramen  habet,  in  infante  aliquod 
arnorum  magnum ;  in  juvene  autem  et  adulto  disparens,  quia  coaluit.  Riolanus  hujus 
foraminis  meminit ;  silent  vero  recentiores :  Duverney  tarnen  illud  adumbrasse  videtur. 
Tract.  III,  §  674,  p.  28. 

:i)  Tract.  III,  §  78,  p.  32. 

')  Licet  in  muh  eritras  ad  illud  detegendum  omnem  impenderim  operam, 

5)  Canalis  hie  plerumque  in  adulto  longior  et  latior  est  quam  in  int';inle. 
Tract.  IH,  §  97.  p.  39. 

*)  Cap.  27.     Von  der  Präparation  des  Ohres,  p.  358—363. 


302  Cassebohm.     Pyl. 


6)  In  infantia  inende ,  in  apice  cruris  brevis  impressionem  parvani  cum  sulco 
super  ea  animadverti  cuius  in  adulto  aliquod  remanet  vestigium.  Tract,  IV,  §  129,  p.  54. 

7)  Dis.  de  aure  int.     §  23,  p.  24. 

8)  Tract.  III,  §  92,  p.  37. 

9)  Scarpa  sagte  in  seinen  Disq.  anat.  de  auditu  et  olfactu  Sect.  II,  Cap.  2 
et  12:  Gleich  im  Anfange  muß  ich  gestehen,  daß  die  bisher  über  diesen  Gegenstand 
bekannt  gemachten  Beschreibungen  immer  so  dunkel  sind,  daß  ich  mich  nie  durch 
die  mancherlei  Schwierigkeiten  durcharbeiten  und  den  Sinn  des  Schriftstellers  ganz 
enträtseln  konnte.  Deutsche  Ausgabe  1800,  p.  85.  Deshalb  fand  ich  auch  keine 
einzige  Abbildung  auch  in  den  sonst  gerühmten  Cassebohmschen  Tafeln  der  Be- 
schreibung des  Verfassers  genau  entsprechend,  keine,  die,  worauf  es  am  ersten  an- 
kommt, mit  der  Wahrheit  übereinstimmt.     1.  c.  p.  87. 

,0)  Tab.  V,  Fig.  9. 

1!)  In  partis  petrosae  superficie  interna  et  inferiore  canalis  auditorius  internus 
ineipit,  qui  inde  ad  vestibulum  et  cochleam  progreditur  ibique  terminatur.  Hie 
terminus  vocatur  fundus,  quem  eminentia  quaedam  in  duos  alios  partitur,  quorum 
unus  fundus  superior,  sive  minor  vocatur;  alter  fundus  inferior  sive  major  audit. 
Tract.  V,  §  209. 

12)  Tract.  V,  §§  199  u.  216,  Tab.  IV,  Fig.  8  u.  12.  Tab.  V,  Fig.  8. 

13)  Coelo  existente  sereno  foetuum  annulos  oculo  examinavi,  atque  in  foetus 
trium  mensium  annulo  in  superficie  annuli  externas  fibras  longitudinales  cum  inter- 
jeetis  sulcis  longitudinalibus  vidi.     Tract.  III,  §  03. 

Theodor  Pyl.  Dem  Traktate  Cassebolims  ist  eine  Arbeit  an- 
zureihen, deren  Autor  insofern  als  Vorgänger  Cotugnos  angesehen 
werden  muß ,  als  er  der  erste  war ,  der  eine  Hörtheorie  auf  d  i  e 
Annahme  eines  flüssigen  Mediums  im  Labyrinthe  auf- 
baute. In  dieser  kurzen  Schrift,  betitelt  „Diss.  med.  de  auditu  in 
genere  et  de  illo  qui  fit  per  os  in  specie".  Gryphiswald.  1742  (Praeses 
Theod.  Pyl  resp.  Ch.  Lud.  Willich),  heißt  es  nämlich*):  „Facili  negotio 
itaque  indueimur,  ut  credamus,  in  toto  Labyrintho  contineri  liqui- 
dum sive  fluid  um  elasticum  subtile,  aereum  forsitan,  quod,  qua 
ratione  in  hoc  cavum  eiusve  contenta  perveniat,  ab  iis  demum  edo- 
cemur  qui  illud  a  fluido  ex  vasculis  minimis  secreto  separari  statuunt, 
eiusve  phenomini  explicationem  ex  Physicis  de  vapore  petunt  et  fluido. 
...  §  27.  Nunc  superius  vidimus,  aerem  tremulum  externum  ferire 
tympani  membranam,  quae,  ut  motum  impressum  communicet  malleo, 
necesse  est;  hie  ob  articulationem  suam  mobilem  cum  reliquis  ossi- 
culis,  motum  impressum  illis  communicat;  et  ad  ultimum  eorum  in 
ordine  extendit:  hoc,  cum  varie  moveri  possit,  ut  tremulos  duos  motus 
in  labyrintho  haerenti  subtili  elastico  flu  id  o  communicet,  neces- 
sario  ex  modo  sequitur."  Hier  wird  somit  zum  ersten  Male  klar  aus- 
gesprochen, daß  das  Labyrinth  „in  toto"  von  Flüssigkeit  erfüllt  ist. 
Dies    schmälert   jedoch    keineswegs    das    Verdienst    Cotugnos,     der 


*)  p.  20  u.  21,  §  26. 


Pyl.     Brendel.  303 

19  Jahre  später,    ohne  Pyls  Dissertation  zu  kennen,  zu  demselben  Er- 
gebnisse gelangte. 

Wie  langsam  damals  wissenschaftliche  Entdeckungen  sich  selbst  in 
den  Ländern  ihrer  Entstehung  verbreiteten,  erhellt  daraus,  daß  der  Deutsche 
Ch.  L.  Hoff  mann  in  der  .,Diss.  inaug.  physioL  de  auditu"  (Praes. 
S.  Paul  Hilscher),  Jena  1746,  somit  vier  Jahre  nach  der  Publikation 
Pyls,  eine  Hörtheorie  auf  Grundlage  der  bekannten  physikalischen  Ge- 
setze und  mit  der  Annahme  der  Labyrinthluft  entwickelte,  da- 
bei jedoch  von  einer  Labyrinthfeuchtigkeit  spricht,  die  stets  vorbanden 
sein  müsse,  um  die  Vertrocknung  der  Nerven  durch  die  Körperwärme 
zu  verhüten  (Diss.  de  auditu,  p.  38:  „Cum  labyrinthus  semper  obser- 
vatur  madefactus  .  .  .")• 

Ueber  das  Labyrinth  hatten  in  diesem  Zeitraum  mit  besonderem 
Erfolge  Brendel,  Zinn  und  Meckel  gearbeitet.  Die  beiden  ersten 
wählten  sich  die  Schnecke  als  Forschungsobjekt. 

Gottfried  Brendel  (1712—1758),  Sohn  des  Wittenberger  Ana- 
tomen Adam  Brendel,  wurde  Professor  zu  Göttingen,  später  Hallers 
Nachfolger  in  der  Chirurgie  und  erwarb  sich  abgesehen  von  seinen  oto- 
logischen  Arbeiten  auch  auf  dem  Gebiete  der  gerichtlichen  Medizin  be- 
sondere Verdienste. 

In  seiner  Schrift  ..Progr.  de  auditu  in  apice  Cochleae" ,  Götting. 
1747,  beschrieb  er  eingehend  das  Spiralblatt,  die  Spindel  und  den 
Spindelkanal  der  Schnecke,  sowie  den  Verlauf  des  Nerven  in  der 
Schnecke.  Seiner  Ansicht  nach  tritt  ein  Zweig  des  Schneckennerven, 
der  durch  den  Spindelkanal  zieht,  aus  kleinen  Löchern  am  blinden  Ende 
desselben  in  den  Vieussensschen  Becher,  um  sich  in  dessen  Spitze 
auszubreiten1). 

An  der  Spindel  unterschied  Brendel  eine  äußere  härtere  und  glattere 
Rinde  und  einen  inneren  weicheren  Teil,  der  den  Zentralkanal  umschließt. 
Ein  sprechendes  Zeugnis  für  die  Gründlichkeit  seiner  Untersuchungen 
bildet  die  Auffindung  der  Kommunikationsstelle  beider  Treppen  in  einer 
kleinen  Oeffnung  des  Bechers2).  Eigentümlicherweise  verlegt  er  den  Ort 
des  Hörens  in  die  Schneckenspitze,  weil  er  die  Beobachtung  gemacht 
haben  wollte,  daß  der  Hörnerv  nach  Passierung  des  Spindelkanals  sich 
an  der  Schneckenspitze  in  Fasern  auflöst;  hier  sollen  nun  nach  seiner 
irrigen  Auffassung  die  Schallwellen  wie  in  einem  Breunpunkte  zur  Ver- 
einigung gelangen  (Senac). 

J)  Unde  non  omnino  videtur  alienum,  canalem  illum  (sc.  modioli)  non  quidem 
continuo  tubo  in  cavum  ascendere  conoidis,  sed  per  exilissimos  quosdam  angiportus 
foraminulis  memoratis  exeuntes,  habere  aliquid  commercii  et  immissi  in  illum  nervi 
subtilissimos  surculos,  per  has  angustias  in  cavum  conoidis  pervenire  ibique  expli- 
cari  .  .  .    semel   illum    canalis    ductuin   studiose  acutissimoque  et  subtilissimo  culteoll 


304 Zinn. 

,us,   finem  illi  coecum  esse  coniperi,  at  fundum  quendam  perexiguis  foraminulis 
pettusum. 

2)  Nam  lamella  spiralis,  ubi  basin  conoidis  prope  attigit,  liiatu  quodam  efficit, 
ut  binae  scalarum  cavitates  in  hoc  conoidis  cavum  confluant. 

J.  G.  Zinn.  Ebenso  gediegen  ist  die  Schrift  eines  anderen  Göt- 
tinger Professors  J.  G.  Zinn  (1727 — 1759),  der  gleichfalls  die  Schnecke 
zum  Untersuchungsobjekt  wählte.  Zinn,  ein  Lieblingsschüler  Hallers, 
lehrte  Anatomie  zu  Göttingen.  Er  starb  im  Alter  von  32  Jahren  an  der 
Schwindsucht.  Sechs  Jahre  vor  seinem  Tode  veröffentlichte  er  die  auch 
otologisch  bemerkenswerte  Arbeit:  ..Observationes  quaedam  botanicae,  et 
anatomicae  de  vasis  subtilioribus  oculi  et  Cochleae  auris  internae"  (Göt- 
tingen 1753).  In  dieser  Arbeit  beschreibt  er  ausführlich  das  Spiralblatt 
der  Schnecke  auf  Grund  von  mikroskopischen  Untersuchungen. 
Er  fand  es  aus  zwei  Teilen  bestehend ,  aus  einer  der  Spindel  zu- 
gewendeten rauhen  und  gefurchten  und  einer  glatten,  aus  queren  Fasern 
zusammengesetzten  Partie,  welch  letztere  der  Lamina  membranacea  zur 
Befestigung  dient1).  Die  Lamina  Spiral,  membranacea  stellt  er  sich  als 
Duplikatur  des  Schneckenperiosts  vor2).  Aehnlich  wie  Brendel  schildert 
Zinn  die  Kommunikation  beider  Treppen  im  Scyphus3). 

Mit  großer  Genauigkeit  verfolgte  er  den  Schneckennerven  un'd  be- 
schrieb zuerst,  schon  vor  Cotugno,  dessen  Eintritt  in  Form  eines  spiral- 
förmigen Zuges4)  in  die  Schnecke,  sowie  die  Ausbreitung  der  Fasern  auf 
dem  Spiralblatt  nach  dem  Verlassen  der  Spindel.  Obwohl  Zinn  eine 
ziemlich  richtige  Vorstellung  des  Hörnervenverlaufs  in  der  Schnecke  hatte, 
opponierte  er  doch  der  zu  dieser  Zeit  durch  Boerhaave  (siehe  diesen) 
vertretenen  Hypothese  von  den  Schwingungen  der  Nervenfasern  der  häu- 
tigen Spiralmembran.  Er  meint  nämlich,  mit  dem,  was  wir  über  Struktur 
und  Funktion  der  Nerven  wissen,  könne  unmöglich  Boerhaave  an- 
nehmen, daß  die  Nervenfasern  zwischen  den  beiden  Lamellen  der  mem- 
branösen  Spirale  so  disponiert  seien,  daß  sie,  an  dem  knöchernen  Teil 
fixiert,  jede  einzeln  in  Schwingung  gerieten.  Nach  der  Annahme  Zinns 
sollen  vielmehr  die  knöchernen  Streifen  (striae)  im  stände  sein,  isoliert 
zu  schwingen  und  dann  diese  Schwingung  auf  die  entsprechende  Nerven- 
faser zu  übertragen"'). 

Zinn  war  es  auch,  der  zuerst  Genaueres  über  die  Gefäße  der 
Schnecke,  namentlich  des  Bechers,  mitteilte.  Desgleichen  erwähnt  er  eine 
Arterie  und  einen  Nervenzweig,  die  den  M.  stapedius  versorgt,  ferner 
eine  Arterie,  die  durch  einen  Verbindungskanal  zwischen  Canalis  Fallop. 
und  dem  Warzenfortsatz  verläuft. 

')  Ipsa  autem  lamina  ossea  ex  duplici  substantia  composita  mihi  esse  videtur. 
Pars  nempe  interior,  quae  ex  modiolo  enata  in  cavitatem  gyri  producitur,  asperior 
semper   est,   in   scala  vestibuli  multis  granulis  hirta  et  foveolis  inaequalis,    in  scala 


Meckel.  305 

tympani  autem  notatur  multis  lineis  extantibus  ex  ipso  modiolo  in  illam  porrectis. 
Altera  pars  in  ijiso  gyro  suspensa,  structura  niultum  a  priori  diversa  videtur  et 
fasciam  refert,  quae  nullis  neque  granulis  neque  lineolis  extantibus  hirta,  levior  et 
solidior  observatur,  quae  tarnen  fasciola,  si  microscopio  inspiciatur,  lineata  et  ex 
striis  transversis  plane  parallelis  sensim  brevioribus  composita  apparefc,  cuius  orae 
liberae  subtilissime  serratae  pars  membranea  laminae  spiralis  adnectitur.    1.  c.  p.  31. 

2)  Pars  altera  hujus  laminae  spiralis  membranea  est,  ipsi  periostio  concbae 
•  ontinua,  ut  inde  statim  pateat,  laminae  spiralis  partem  membraneam  duplici  lamella 
esse  compositam.     1.  c.  p.  32. 

3)  Dum  autem  hamulus  ille  biatum  transcendit,  inter  illum  et  parietem  in- 
ternam  foramen  relinquitur,  per  quod  seala  tympani  in  cavitatem  scyphi  hiat,  quae 
tarnen  scala  ibi  non  plane  terminatur,  sed  inter  partem  membraneam  et  parietem 
intern  am  pergit,  usque  dum  angustissima  facta,  lamina  membranea  sab  acutissimo 
angulo  ad  parietem  internam  accedente,  finiatur.  Scala  autem  vestibuli  inter  hamulum 
laminae  spiralis  osseae  et  ipsum  fornicem  Cochleae  per  biatum  ad  scyphum  Vieussenii 
pertingit.     1.  c.  p.  33. 

4)  In  sinu  autem  Cochleae  semper  observo  lineam  eminentem  spirali  via,  eadem 
cum  scalis  directione,  versus  apicem  nuclei  porrectam,  et  in  vallecula  inter  gyros 
lineae  eminentis  interposita  spirali  plurima  foraminula  duplici  serie  posita,  scalas 
Cochleae  respicientia  quorum  agmen  tandem  claudit  canaliculus  ille,  qui  per  medium 
nucleum  (Schneckenspindel)  ascendit.     1.  c.  p.  30. 

5)  Cum  autem  Striae  osseae  transversae  parallelae,  ex  quibus  lamina  ossea 
componitur,  sibi  invicem  potius  agglutinatae  et  contiguae.  quam,  uti  fibrae  partis 
membranaceae  sibi  continuatae  videantur,  singula  stria  tremere  et  unice  suum  nervulum 
percutere  poterit.  reliquis  striis  et  nervulis  vel  maxime  vicinis,  plane  quietis  et  in- 
concussis,  aut  si  contremiscant  nonnullae,  harmonicae  tantum,  et  octava  ad  octavam. 
consonabunt.     1.  c.  p.  36. 

Philipp  Friedrich  Theodor  Meckel  (1756—1803),  ein  Mitglied 
der  berühmten  deutschen  Gelehrtenfamilie,  hat  in  seiner  Dissertation  .,De 
labyrinthi  auris  contentis"  *)  eine  anatomisch-physiologische  Arbeit  über 
das  Ohrlabyrinth  geliefert,  die  bei  allen  Fachgenossen  ungeteilten  Bei- 
fall errang.  Wenn  auch  Meckel  in  seinen  Schilderungen  der  Vorhofs- 
und  Schneckenwasserleitung,  denen  er  treffliche  Abbildungen  beigab,  den 
Spuren  des  großen  Cotugno  folgte,  so  setzt  dies  den  Wert  seiner 
Arbeit  doch  nicht  herab;  denn  die  klassische  Art  und  Weise,  wie  er 
diese  Frage  behandelte  und  neue  Beweismittel  zu  Cotugnos  Ent- 
deckung lieferte,  charakterisiert  ihn  als  erstklassigen  Anatomen,  zu- 
mal, wie  wir  gesehen  haben,  Scarpa  sich  über  die  Aquädukte  nicht 
äußerte,  andere  sogar  so  weit  gingen,  ihre  Existenz  in  Abrede  zu 
stellen.  Erwähnenswert  ist,  daß  Meckel  zum  ersten  Male  die  Wände 
der  Wasserleitungen  aus  der  Knochenmasse  in  ähnlicher  Weise  heraus- 
präpariert und  abgebildet  hat,  wie  es  später  durch  den  Präger  Ana- 
tomen Ilg  geschah.  Um  den  Nachweis  zu  erbringen,  daß  sich  wirklich 
keine    Luft    im    Labyrinth    befinde,    eröffnete    er    an    jungen    Katzen    das 


i   Ar-vntorati  1777. 
Politzer,  Geschichte  der  Ohrenheilkunde.    [.  20 


306  Meckel.     Walther. 


innere  Ohr  vom  äußeren  Gehörgange  und  der  Trommelhöhle  aus  vorsichtig 
unter  Wasser,  wobei  sich  zeigte,  daß  keine  einzige  Luftblase  aufstieg. 
Als  er  nämlich  mit  der  Spitze  des  Skalpells  in  das  runde  Fenster  ein- 
stieß, sah  er  ..limpida,  paulo  rubicunda  aquula"  hervorquellen  und,  als 
er  hierauf  den  Stapes  bewegte,  kam  eine  weitere  Menge  dieser  Flüssig- 
keit aus  der  gesetzten  Wunde.  Vollkommenes  Gelingen  dieser  opera- 
tiven Methode  verlangt,  wie  er  betont,  exakte  Blutstillung  und  Reinigung 
der  Trommelhöhle  von  Schleim.  Ferner  injizierte  er  Quecksilber  in  ein 
Labyrinth,  um  zu  zeigen,  daß  nirgends  ein  Ausweg  vorhanden  seit. 
tatsächlich  drang  nirgends  auch  das  kleinste  Quecksilbertröpfchen  durchs 
woraus  er  schloß,  daß  keine  Kommunikation  der  Trommelhöhlenluft  mit 
dem  Labyrinthe  bestehe.  Nach  Willis  sind  dies  die  ersten  Experimente 
an  lebenden  Tieren.  Im  Gegensatze  zu  Cotunni  vergleicht  Meckel  das 
Labyrinthwasser  nicht  mit  jenen  Flüssigkeiten,  die  in  den  übrigen  Körper- 
höhlen abgeschieden  werden,  da  es  nicht  wie  diese  dazu  dient,  die  Reibung 
herabzusetzen. 

In  den  Dissertationsschriften  aus  damaliger  Zeit  finden  sich 
kurzgefaßte  Ueberblicke  über  den  Stand  der  Ohranatomie;  doch  haben 
die  meisten  nur  geringen  wissenschaftlichen  Wert.  Eine  selbständige 
Leistung  war  in  den  wenigsten  enthalten.  Wir  werden  deshalb  nur  die 
wichtigsten  einer  kurzen  Besprechung  unterziehen  und  verweisen  im 
übrigen  auf  das  nachfolgende  Literaturverzeichnis. 

Aug.  Fr.  Walther.  Die  1725  erschienene  Dissertation  des  Leip- 
ziger Professors  der  Anatomie  Augustin  Friedrich  Walther  (1688 
bis  1746)  über  den  Bau  des  Trommelfells  (Dissertatio  anatomica  de  mem- 
brana  tympani)  umfaßt  nahezu  sämtliche,  die  Otologen  jener  Zeit  inter- 
essierenden Fragen  über  die  Struktur  und  die  Funktion  des  Trommel- 
fells, die  insoferne  auch  die  übrige  Ohranatomie  berühren,  als  sie  in 
mehr  oder  minder  näherer  Beziehung  zum  Trommelfelle  stehen. 

Das  Trommelfell  besteht  nach  ihm  aus  zwei  Häuten,  deren  innere 
vom  Trommelhöhlenperiost,  die  äußere  vom  Perichondrium  und  der  Haut 
des  äußeren  Gehörganges  gebildet  wird.  Lage  und  Form  des  Trommel- 
fells, seine  Verbindung  mit  dem  Hammer,  dieser  selbst  und  die  übrigen 
Gebilde  der  Trommelhöhle  werden  übersichtlich  geschildert.  Er  verteidigt 
gegen  Heister  die  knöcherne  Beschaffenheit  des  langen  Hammerfort- 
satzes, der  um  ein  Achtel  kleiner  als  der  Hammer  sei,  wendet  sich  gegen 
die  Annahme  eines  dritten  Hammerfortsatzes,  an  dem  der  Tensor  tympani 
sich  ansetzen  solle,  und  bestreitet  gegen  Duverney  das  Vorhandensein 
dreier  Hammermuskel. 

An  der  äußeren  Fläche  des  Trommelfells  unterscheidet  er  zwei 
Punkte,  die  durch  den  kurzen  Fortsatz  und  das  Hammergriffende 
(Umbo)    markiert  werden.     Die  Linie,    an    die    sich   das  Manubrium  an- 


Walttier.  307 

setzt,  teilt  das  Trommelfell  in  eine  vordere  größere  und  eine  hintere 
kleinere  Partie.  Die  Membran,  welche  die  Stapesplatte  umgibt  (Ligament, 
orbicul.  stapedis),  hält  er  zur  Uebertragung  der  Schallwellen  für  vorzüg- 
lich geeignet1). 

Zu  den  bisher  bekannten  besonderen  Merkmalen  des  kindlichen 
Schläfebeins  fügt  er  einige  neue,  wie  den  Mangel  der  Gelenksgrube 
(Fossa  glenoidalis)  für  das  Unterkieferköpfchen,  das  Fehlen  des  (knöcher- 
nen) Griffelfortsatzes  2). 

Das  Trommelfell  ist  beim  Neugeborenen  dicker  als  beim  Er- 
wachsenen, der  Hammergriff  steht  mehr  vertikal  und  mit  dem  langen 
Amboßfortsatz  beinahe  parallel.  Die  beiden  Fenster  weisen  seiner 
Ansicht  nach  in  den  verschiedenen  Lebensaltern  keine  Unterschiede  auf. 

Seinen  Ausführungen  über  die  Entwicklung  des  Ohres  beim  Fötus 
entnehmen  wir,  daß  im  dritten  Monate  die  Pyramide  ein  „tuberculum 
osseum''  darstelle,  im  vierten  der  Annulus  tympanicus  sich  vom  übrigen 
Knorpel  bereits  unterscheiden  lasse  und  am  Ende  des  vierten  Monats  die 
Gehörknöchelchen  schon  vorhanden  seien3). 

Den  Schluß  der  Dissertationsschrift  bildet  die  durch  zahlreiche  Ex- 
perimente an  Kindern,  Erwachsenen  und  Säugetieren  unterstützte  Beweis- 
führung,  daß   das  Foramen  Kivini  nicht  existiere. 

Eine  andere  Arbeit  desselben  Autors  „Teneriorum  musculorum  ana- 
tome"   enthält  Unwesentliches  über  die   äußeren  und  inneren  Ohrmuskel. 

!)  Inde  enim  accidit,  ut  membrana,  quae  basin  stapedis  circumdat,  et  ovale 
forarnen  claudit,  jam  magis  depressa  ,  paululum  intendatur,  ac  sonum  melius,  et 
promptius.  debitaque  proportione,  et  impetu  modico,  ad  vestibuluin,  scilicet,  a  latere 
istius  basis  per  foraminis  ovalis  reliquum,  et  ita  patentem  ambitum  transmittat.  Est 
enim  imprimis  in  nomine  omnis  stapedis  basis  foramine  jam  dicto  minor,  nee  in- 
tegrum exaete  claudit,  sicut  explorando  stapedem ,  et  ipsum  intrudendo  in  vesti- 
bulum  saepissime  cognovimus,  etiamsi  permulti  contradicant;  hinc  si  sonus  duriora 
ligna,  et  muros,  omnesque  commissuras  aretissimas  penetrat,  cur  is  per  pelliculam 
non  ita  crassam,  rimamque  exilem,  et  a  stapedis  depressi  margine  transire  et  ferri 
ad  vestibulum  non  poterit?    p.  848. 

2)  Eo  tempore  aetatis  primo,  neque  maxillaris  ossis  temporum  processus,  qui 
meatui  ricinus  est,  acquisivit  sinum,  qui  inferioris  maxillae  condylum  reeipiat,  neque 
mammillaris  processus,  neque,  qui  a  stylo  nomen  habet,  protenduntur ;  neque  in- 
tegrum illud  os,  quoad  partem  cerebri  sustinet,  ampliatur,  et  excavatur,  et  plurimis 
modis  a  perfectione  deficit.    p.  351. 

3)  Hoc  enim  mense  durissimus  processus,  qui  petrosus  dicitur,  primum  tuber- 
culum osseum  repraesentat,  nee  annulus,  post  quem  nostra  membrana  sita  est,  citius 
quam  quarto  mense  sua  duritie  ab  annexa  cartilagine  distinguitur;  cuius  mensis 
initio  etiam  processus  Zygomaticus  osseus  apparet,  tenuemque  repraesentat  filum. 
Hocce  finito,  ossicula  dignoseuntur.    p.  353. 

Herm  Fried.  Teichmeyer,  der  die  Existenz  des  Foramen  Rivini 
im  Trommelfell  annimmt  und  es  an  die  Stelle  verlegt,  wo  der  Hammer- 


308  Teichmeyer. 

griff  in  den  Hammerhais  übergeht,  gibt  in  seiner  Dissertationsschrift 
„Sistens  vindicias  quorundam  inventorum  meoruin  anatomi- 
corum  a  nonnullis  celebratissimis  anatomicis  in  dubium  voca- 
torum",  Jenae  1727,  eine  Zusammenstellung  der  Anatomen,  die  sich 
um  die  Entdeckung  und  Beschreibung  der  Gehörknöchelchen  Verdienste 
erworben  haben,  und  bringt  eine  Tabelle  mit  neun  verschiedenen  Ab- 
bildungen der  Gehörknöchelchen.  Teichmeyer  teilt  die  Gehörknöchel- 
chen in  zwei  Gruppen  ein,  in  drei  Ossicula  majora  (Malleus,  Incus, 
Stapes)  und  in  vier  Ossicula  minora  (Oss.  ovale,  semilunare,  lenticulare, 
trianguläre) *). 

Das  Ossiculum  ovale,  von  Teichmeyer  selbst  so  benannt2),  von 
Franziscus  Sylvius  aufgefunden  und  als  Ossic.  quartum  oder  rotundum 
bezeichnet,  sei  in  die  Sehne  des  Steigbügelmuskels  als  Sesamknöchelchen 
eingefügt.  Von  Folius  und  Vesling  werde  dieses  Knöchelchen 
Osseus  globus,  von  Casserio  Os.  globosum  genannt.  Von  Marchetti 
ist  sein  Vorkommen  beim  Menschen  in  Abrede  gestellt  worden,  auch 
Schelhammer  habe  es  nicht  gekannt. 

Der  Ruhm  der  Auffindung  des  von  Teichmeyer  als  das  Ossi- 
culum semilunare  bezeichneten3)  Linsenknöchelchen  gebühre  dem 
Franziscus  Sylvius,  der  es  mit  Unrecht  Ossiculum  orbiculare  nenne, 
während  ihm  Lindanus  den  Namen  Ossiculum  cochleare,  Fontanus 
den  Namen  Ossiculum  squamosum  beilege.  Auch  dieses  fünfte  Gehör- 
knöchelchen erwähnt  Schelhammer  nicht. 

Die  Entdeckung  eines  sechsten  Knöchelchen,  des  Ossiculum  lenti- 
culare, vindiziert  Teich m eye r  sich  selbst4),  gibt  jedoch  zu,  es  nicht 
im  menschlichen  Schädel,  sondern  im  Schädel  des  Kalbes  gefunden  zu 
haben.  Es  befinde  sich  am  großen  Amboßfortsatze  und  zwar  an  der 
Stelle,  die  der  Lage  des  vorher  erwähnten  Ossiculum  semilunare  ent- 
gegengesetzt sei.  Heister  und  Nicolai  hätten  das  regelmäßige  Vor- 
kommen dieses  Gehörknöchelchens  beim  Menschen  geleugnet  und  es  als 
akzessorisches  (peculiare)  bezeichnet. 

Endlich  berichtet  Teich meyer  über  ein  siebentes  Knöchelchen, 
das  er  auch  entdeckt  haben  will  und  Ossiculum  trianguläre  be- 
nennt. Dieses  liege  in  der  an  den  Sinus  stoßenden  Wand  des  Pro- 
cessus mastoideus  (in  pariete  sinuositatis  mastoidei  ossis)  und  sei  ein 
Hypomochlion,  auf  das  sich  der  kurze  Amboßschenkel  stütze4).  Bezüglich 
der  von  Teichmeyer  beschriebenen  „ossicula  minora"  ist  zu  bemerken, 
daß  es  sich  mit  Ausnahme  des  Ossiculum  semilunare,  welches  jetzt  Ossi- 
culum lenticulare,  Linsenknöchelchen,  genannt  wird,  nur  um  akzes- 
sorische Befunde  von  untergeordneter  Bedeutung  handelt. 

J)  Tria  antea  exposita  ossicula  auditus  a  me  iure  meritoque  majora  vocantur, 
et  de  illorum  existentia  apud  prosectores  nulluni  amplius  est  dubium.    Quae  vero  a 


Schmidt.  300 

me  vel  primum  observata  atque  inventa,  vel  ab  oblivione  vindicata  sunt,  et  respectu 
priorum,  quae  majora  dicuntur,  minora  i-alutantur,  magnas  inter  eruditos  excitarunt 
controversias  et  lites. 

2)  Ut  appareat  paulo  luculentius,  quod  ossiculum  quartum,  ovale  a  me  vocatum, 
aliis  Anatomicis  jam  dudum  innotuerit,  operae  pretium  est,  eorum  hie  proponere  verba. 

3)  Quintuna  ossiculum,  praesenti  seculo  magis  notum,  quam  quartum,  corumu- 
nissime  salutatur  orbiculare,  a  me  vero  semilunare,  propter  figuram  quam  possidet, 
vocatur.  Hocce  ossiculum  a  nemine  unquam  Anatomicorum,  praeter  me,  vel  obser- 
vaturn,  vel  descriptum. 

4)  Hocce  ossiculum ,  propter  figuram  ita  dictum ,  reperitur  in  pariete  sinuosi- 
tatis  mastoidei  ossis ,  estque  nihil  aliud ,  quam  hypomochlion ,  vel  basis,  cui  insistit 
crus  incudis  rectum. 

Joh.  And.  Schmidt.  Trotz  des  unwiderlegbar  durch  Ruysch  er- 
brachten Nachweises,  daß  die  Gehörknöchelchen  ein  Periost  besitzen,  blieb 
dies  doch  noch  lange  ein  strittiger  Punkt.  Da  frühere  Forscher  wie  Du- 
verney  und  Schelhammer  ein  Periost  der  Knöchelchen  geleugnet  hatten, 
so  stellte  J.  A.  Schmidt  in  seiner  Arbeit  „De  periostio  ossicu- 
lorum  auditus  eiusque  vasculis"  1719  sich  die  Aufgabe,  die  Be- 
weisgründe, welche  diese  Anatomen  für  und  wider  die  Annahme  eines 
Periosts  anführten,  auf  ihre  Stichhältigkeit  zu  prüfen  und  insbesondere 
die  Momente  anzugeben,  die  für  ein  Periost  sprechen.  Da  der  mikro- 
skopische Nachweis  des  Periosts  damals  noch  nicht  erbracht  werden 
konnte,  suchte  Schmidt  auf  folgende  Weise  das  Vorhandensein  des 
Periosts  festzustellen.  Er  injizierte  in  die  Carotis  interna  einer  Leiche 
eine  Flüssigkeit,  worauf  er  zahlreiche  zarte  Gefäßverzweigungen  auf  der 
Oberfläche  der  Gehörknöchelchen  sah,  aus  denen  er  den  Schluß  zog,  daß 
diese  Gefäße  sich  nur  in  einer  Membran  ausbreiten  könnten ,  die  eben 
das  Periost  der  Gehörknöchelchen  vorstelle  1). 

!)  Quid  vero  eorum  praesentia  aliter  indicat,  quam  omnia  haec  ossa  peculiari 
membranae  involui.    p.  11. 

Die  Abhandlung  des  Chr.  Em.  Wünsch  „De  auris  humani  pro- 
prietatibus  et  vitiis  quibusdam.  Lipsiae  1777"  enthält  u.  a.  eine  inter- 
essante Zusammenstellung  von  Maßangaben  des  Verfassers  und  der  hervor- 
ragendsten Autoren  (Mus che nbro eck,  Duverney,  Valsalva,  Cotugno, 
Cassebohm)  unter  dem  Titel:   „Machinularum  auditus  mensura". 

Joh.  Heinr.  Hofmeisters  Dissertation  „De  organo  auditus  et 
eius  vitiis.  Lugd.  Batav.  1741"  enthält  einen  kurzgefaßten  Ueberblick 
über  die  Anatomie  des  Gehörorgans,  an  die  sich  eine  anatomische  Ein- 
teilung der  Ohrenkrankheiten  anschließt. 

Von  größerer  Bedeutung  ist  das  1795  in  deutscher  Sprache  er- 
schienene kompilatorische  Werk  Wildbergs.  „Versuch  einer  anatomisch- 
physiologisch-pathologischen Abhandlung  über  die  Gehörwerkzeuge  des 
Menschen.     Mit   Kupfern.     Jena".     Es    bringt    die    Resultate    und    Ent- 


310  Wildberg. 

deckungen,  die  in  Spezialschriften  oder  in  den  damals  schwer  zugäng- 
lichen Werken  der  ausländischen  Autoron  enthalten  sind,  in  ein  ge- 
ordnetes übersichtliches  Ganze.  —  Nach  Wildberg  ist  das  ganze  Laby- 
rinth ohne  irgendwelchen  Unterschied  Sitz  des  Gehörs.  Die  mannig- 
faltigen Krümmungen  vergrößern  in  dein  an  sich  kleinen  Raum  die  per- 
zipierende  Oberfläche.  Der  Nutzen  der  Bogengänge  besteht  darin,  daß 
sie  mit  dem  unmittelbaren  Gehörwerkzeuge  in  Verbindung  stehen  und 
die  Oberfläche  vergrößern,  wodurch  die  Erschütterung,  die  sich  beim 
Schalle  der  Pyramide  mitteilt,  von  ihnen  aufgenommen  und  zu  den  Am- 
pullen und  dem  gemeinschaftlichen  Sacke  des  Vorhofs  geleitet  wird. 
Den  damaligen  Anschauungen*)  entsprechend,  daß  die  dem  Gehirne 
eigentümliche  Kraft,  die  Lebenskraft  (vis  vitalis),  die  Nervenflüssigkeit 
ununterbrochen  in  alle  Nerven  enthaltenden  Teile  fortbewege,  nahm  Wild- 
berg  an,  daß  sich  die  Nervenflüssigkeit  auch  durch  alle  Nerven  des 
Labyrinthes  ergieße  und  zur  Erhaltung  einer  bestimmten  Beschaffen- 
heit des  Labyrinthwassers  diene.  Sobald  nun  eine  Bewegung  des  Laby- 
rinthwassers durch  den  Schall  hervorgerufen  werde ,  bewirkt  dies  einen 
Eindruck  auf  die  im  Labyrinthe  ihrer  Scheide  entblößten  Nerven,  in- 
dem der  gleichförmigen,  ununterbrochenen  Bewegung  der  Nervenflüssig- 
keit ein  Widerstand  entgegengesetzt  werde.  Die  auf  diese  Weise  gehinderte 
Tätigkeit  der  „Lebenskraft"  teile  sich  der  Seele  mit  und  so  entstehe  in 
ihr  eine  Vorstellung  des  Widerstandes,  d.  h.  einer  Empfindung  des 
Schalles.  Diese  Anschauung  Wildbergs  über  die  Theorie  des  Hörens 
ist  der  interessanteste  Teil  seiner  Arbeit. 

Weniger  Selbständigkeit  beansprucht  der  anatomische  Teil.  Die 
beigegebenen  Kupfertafeln  sind  teils  nach  Wildbergs  und  seines  Bruders 
Präparaten  verfertigt,  teils  Casse  bohms  und  S  c a r  p  a s  Traktaten  ent- 
lehnt. In  der  Schneckenwasserleitung  bildete  er  einen  Venenkanal  der 
Schnecke  (Canalis  venosus  Cochleae)  ab,  unterschied  ihn  aber  von  dem 
eigentlichen  Aquädukt,  den  er  auch  in  der  pyramidenförmigen  Knochen- 
vertiefung  (Aditus  ad  aquaed.  Cochleae)  münden  ließ.  Er  erwähnt  ein 
seltenes  Emissarium,  das  durch  den  hinteren  Anteil  der  Glaserschen 
Spalte  hindurchzieht,  dann  ein  anderes,  das  aus  dem  Sinus  transversus 
in  die  Venen  der  Schläfe  übergeht.  Ferner  fand  er,  daß  in  der  Haut 
des  äußeren  Gehörganges  das  Rete  Malpighii  sich  nicht  deutlich  erkennen 
lasse  u.  s.  w.  Der  Ansicht  einiger  Anatomen,  daß  das  runde  Fenster  bei 
alten  Menschen  enger  sei  als  bei  jungen,  tritt  er  entgegen,  indem  er  darauf 
hinweist,  daß  er  bei  seinen  Sektionen  von  älteren  Menschen  den  Durch- 


*)  Isenflamm,  Versuch  einiger  praktischen  Anmerkungen  über  die  Nerven. 
Erlangen  1774. 

Arnold,  De  motu  fluidi  nervei  per  fibras  nervorum  u.  a. 


Haller.  311 

messer  stets  ebenso  groß  gefunden  habe  wie  bei  Köpfen  jüngerer  Indi- 
viduen, und  daß  er  sogar  mehrmals  den  Durchmesser  bei  verschiedenen 
Köpfen  jüngerer  Subjekte  verschieden  groß  gesehen  habe.  Wildberg 
scheidet  die  Zellen  des  mittleren  Ohres  in  Cellulae  tympanicae,  die  sich 
schon  beim  Fötus  im  hinteren  Teile  der  Trommelhöhle  nach  oben  zu  be- 
finden, also  zu  einer  Zeit,  in  der  der  Warzenfortsatz  noch  nicht  aus- 
gebildet ist,  und  in  Cellulae  mastoideae.  Die  Auskleidung  der  Trommel- 
höhle hält  er  für  eine  Fortsetzung  der  zarten  Schleimhaut  der  Eustachi- 
schen Röhre,  die  sämtliche  in  der  Trommelhöhle  befindlichen  Gebilde 
überkleidet.  An  der  äußeren  Fläche  des  Trommelfelles  will  er  kleine 
ceruminöse  Drüsen  gesehen  haben*).  Wildberg  erklärt  es  für  falsch, 
daß  die  Chorda  im  stände  sei  eine  Gehörsempfindung  zu  vermitteln. 

Die  Physiologie  des  Gehörorgans  im  18.  Jahrhundert  findet  in 
dem  genialen  Alb  recht  von  H  aller  ihren  würdigsten  Vertreter. 

Albrecht  von  Haller,  zu  Bern  am  16.  Oktober  1708  geboren,  be- 
zog, kaum  15  Jahre  alt,  die  Tübinger  Universität.  Da  ihm  jedoch  die 
Art  und  Weise  des  dortigen  medizinischen  Unterrichtes,  besonders  in 
der  Anatomie,  nicht  zusagte,  suchte  er  im  Jahre  1725  die  Universität 
Leiden  auf,  an  der  damals  Albinus  und  Boerhaave  wirkten.  Nach 
Erlangung  des  Doktorgrades  1727  unternahm  er  Studien  halber  Reisen 
nach  London  und  Paris.  Hier  hatte  er  Gelegenheit,  die  Anatomen  Win  slow 
und  Douglas  kennen  zu  lernen,  mit  denen  er  in  nähere  Beziehung  trat. 
Von  Paris  begab  er  sich  nach  Basel,  wo  er  sich  vor  allem  der  dichteri- 
schen Tätigkeit  und  botanischen  Studien  widmete.  In  seine  Vaterstadt 
1729  zurückgekehrt,  ließ  er  sich  daselbst  als  Arzt  nieder,  erhielt  mit 
vieler  Mühe  eine  Anstellung  als  städtischer  Bibliothekar  und  die  Er- 
laubnis, eine  anatomische  Unterrichtsanstalt  einzurichten.  Auf  den  Wunsch 
seiner  Freunde  veröffentlichte  er  im  Jahre  1732  seine  schweizerischen 
Gedichte,  die  ihn  mit  einem  Schlage  zum  berühmtesten  Dichter  seiner 
Zeit  machten.  Der  Ruf,  den  Hall  er  bald  als  Anatom  und  Botaniker 
genoß,  führte  1736  zu  seiner  Berufung  an  die  neugegründete  Universität 
Göttingen,  wo  er  als  Professor  der  Anatomie,  Chirurgie  und  Botanik 
durch  nahezu  18  Jahre  seinen  wissenschaftlichen  Forschungen  mit  un- 
ermüdlichem Eifer  oblag.  Im  Jahre  1753  zog  er  sich  vom  Lehramt  nach 
Bern  zurück  und  verbrachte  die  meiste  Zeit  mit  fruchtbringender  wissen- 
schaftlicher Arbeit,  ohne  die  abermalige  Berufung  nach  Göttingen,  Berlin 
und  Halle  trotz  der  glänzendsten  Angebote  anzunehmen.  Sein  Tod  fällt 
auf  den   12.  Dezember  1777. 

Es  dürfte  sich  in  diesem  Zeiträume  kaum  ein  anderes  Werk  finden, 
in    dem    die    anatomischen  und    physiologischen  Leistungen    auf   otologi- 

*)  1.  e.  ]).  Ififi. 


312  Haller. 

schem  Gebiete  in  so  übersichtlicher  und  verständnisvoller  Weise  darge- 
llt  sind,  wie  in  Hallers  „Elementa  Physiologiae  corporis 
humani"*).  Obwohl  er  selbst  nicht  viel  zur  weiteren  Ausbildung  der 
Anatomie  und  Physiologie  des  Gehörorganes  beigetragen  hat,  gebührt 
ihm  doch  das  große  Verdienst,  ausgerüstet  mit  einer  umfassenden 
Literaturkenntnis  und  Gelehrsamkeit,  eine  für  seine  Zeit  in  jeder  Be- 
ziehung mustergültige  Anatomie  und  Physiologie  des  Ohres  geschaffen 
zu  haben. 

Was  Hallers  eigene  Untersuchungen  anbelangt,  so  haben  wir 
nicht  viel  als  wichtig  daraus  hervorzuheben.  Aus  dem  ersten  Ab- 
schnitte, der  sich  „Fabrica  organi"  betitelt  und  die  Anatomie  des 
Ohres  behandelt,  erwähnen  wir  folgendes:  Hall  er  fand,  daß  sich  die 
Ceruminaldrüsen  bis  in  den  vorderen  Teil  des  knöchernen  Gehörganges 
erstrecken ,  wo  die  Haut  fest  und  unmittelbar  dem  Knochen  anliegt *). 
Vom  Trommelfell,  das  er  noch  fälschlich  aus  vier  Lamellen  zusammen- 
gesetzt glaubt,  bemerkt  er  ganz  richtig,  daß  es  beim  Fötus  und  Neu- 
geborenen nahezu  horizontal  gestellt  ist-).  Daß  Hall  er  sich  gegen  ein 
Foramen  Rivini  ausspricht3),  ist  an  anderer  Stelle  eingehend  dargelegt 
worden.  Die  Spitze  des  Hammergriffs  beschreibt  er  nach  außen  und 
vorne  umgebogen  und  schaufelförmig  plattgedrückt4).  Er  berichtet  ferner 
von  einem  fast  dreieckigen  Steigbügel  mit  langen  und  geraden  Schen- 
keln ,  ferner  von  einem  runden  unförmigen  Stapes  mit  stark  ge- 
krümmten Schenkeln5).  Der  knorpelige  Teil  der  Tube  setzt  sich  nach 
Hallers  Ansicht  aus  drei  um  sich  selbst  gewundenen  Knorpelplatten 
zusammen6). 

Im  zweiten  Abschnitte  seiner  Arbeit  behandelt  Hall  er  die  Lehre 
vom  Schalle,  „Soni  theoria  physica".  Sowohl  dieser  als  auch  der  dritte 
Abschnitt,  „Auditus",  welcher  der  Physiologie  des  Gehörorgans  gewidmet 
ist,  ist  nichts  anderes  als  eine  fleißige  Kompilation  aller  interessanten 
und  bemerkenswerten  Ansichten  seiner  Vorgänger  und  Zeitgenossen  und 
als  solche  kein  zu  unterschätzendes  Hilfswerk  für  den,  der  es  unter- 
nimmt, eine  Geschichte  der  Ohrenheilkunde  zu  schreiben.  Sagt  doch 
Hall  er  selbst,  daß  er  sich  angesammelter  Schätze  bediente:  „Etiam  hie 
repeto,  non  semel  a  me  iteratam  confessionem.  Utor  divitiis  collectitiis, 
neque  in  hac  theoria  proprium  habeo  inventum"  (Sect.  II,  §  1,  p.  249). 
Nichtsdestoweniger  kann  man  dem  physiologischen  Teile  einige  Selb- 
ständigkeit nicht  absprechen,  und  so  manche  Bemerkung  Ha  Hers  be- 
w.  ist  deutlich,  daß  er  die  Physiologie  des  Hörens  richtig  erfaßt  hat. 

Bei  der  Besprechung  der  Funktion  der  Eustachischen  Röhre 
erwähnt  er,  daß  er  während  des  Gähnens  gar  nichts  zu  hören  vermöge7)» 


)  Lausanne  1757—1766. 


Haller.  313 

eine  Beobachtung,  die  schon  vor  ihm  Aristoteles8)  und  Du  Laurent 
gemach  hatten.  An  derselben  Stelle  hebt  Haller  auch  ganz  richtig 
hervor,  daß  auf  dem  Wege  der  Ohrtrompete  äußere  Luft  in  die  Trommel- 
höhle gelange,  einerseits  um  die  in  der  Trommelhöhle  enthaltene  Luft 
aufzufrischen,  damit  sie  nicht  nach  Verlust  ihrer  Spannung  unbrauchbar 
werde,  anderseits  um  die  äußere  und  die  Trommelhöhlenluft  stets  in  gleicher 
Spannung  zu  erhalten.  Schon  früher  hat  Senac,  wie  Haller  bemerkt, 
die  Behauptung  aufgestellt,  daß  die  Tube  zur  Lüftung  der  Trommel- 
höhle diene  ,  damit  die  Luft  daselbst  nicht  allzu  dünn  oder  dicht  sei  °). 
Haller  ist  der  erste,  der  scharf  zwischen  einer  Luftleitung,  die  durch 
die  Gehörknöchelchen  oder  auch  durch  die  Ohrtrompete  geht,  und  einer 
Knochenleitung  durch  die  Schädelknochen  unterscheidet. 

Das  größte  Interesse  beansprucht  jedoch  eine  Stelle10),  aus  der, 
wie  auch  Fleischl11)  dargetan  hat,  unzweideutig  hervorgeht,  daß 
Hall  er  s  Darstellung  der  Hörtheorie  der  jetzt  allgemein  gültigen 
Helmholtzschen  Auffassung  sehr  nahe  steht,  und  daß  überhaupt  zu 
Hall  er  s  Zeiten  eine  Hörtheorie  im  Helmholtzschen  Sinne  allgemein 
verbreitet  war.  Klar  und  deutlich  führt  dort  Haller  mit  Hinweis  auf 
Aussprüche  von  Boerhaave12)  Perrault13)  und  anderen  Autoren 
die  Schallperzeption  auf  das  Mitschwingen  transversal  zur  Schnecken- 
achse gespannter  Chorden  zurück  und  begründet  die  Fähigkeit,  Unter- 
schiede in  der  Tonhöhe  wahrzunehmen,  damit,  daß  die  angeblich  längsten 
Chorden  an  der  Schneckenbasis  mit  den  tiefsten  Tönen ,  die  angeblich 
kürzesten,  an  der  Spitze  der  Schnecke  mit  den  höchsten  Tönen  mit- 
schwingen. Also  bis  auf  den  Irrtum  von  der  Abnahme  der  Chorclen- 
länge  gegen  das  Helikotrema  zu,  eine  der  Helmhol tz  sehen  Lehre  ent- 
sprechende Auffassung.  Heute  nehmen  wir  eben  an,  daß  die  mit  den 
tiefsten  Tönen  mitschwingenden  Chorden  an  die  Spitze,  die  mit  den 
höchsten  Tönen  mitschwingenden  Chorden  an  die  Basis  der  Schnecke  zu 
verleben  seien. 


>)  Vol.  V,  Lib.  XV,  Sect.  f,  §  9,  p.  198. 
-)  §  11,  p.  200. 

3)  §  12,  p.  204. 

4)  §  15,  p.  209. 

5)  §  17,  p.  212-213. 
c)  §  24,  p.  223. 

7)  Sect.  III,  §  r,,  ,,.  287. 

8)  De  gener.  LV,  c.  2.  Isagog.  c.  54. 

9)  Mein,  de  l'Acad.  1724,  p.  254. 

10)  Cum  enim  ea  lamina  verum  sit  triangulum,  tantum  eonvolutum,  rectangulum. 
cujus  angulus  ad  verticem  Cochleae  peracutus  fit,  continuo  viderunt  viri  ingeniosi, 
habere  se  machinulam,  in  qua  chordae  innumerabiles  contineantur.  .  .  .  Neinpe  chordas 
longissima-; ,  ad  basin  positas,  cum  sonis  gravissimis,  brevissimas,  quae  sunt  ad  ver- 


;',14  Zur  Literatur  des  18.  Jahrhunderts. 

ticem,  cum  acutissimis  sonis  harmonice  coritremiscere  et  per  eos  tremores  animae  eos 
sonos  distincte  repraesentai-e  u.  s.  w.     Sect.  III,  §  7,  p.  293  ff. 

n)  Gesammelte  Abhandlungen  von  Ernst  Fleischl  von  Marxow,  herausgeg. 
von  Dr.  Otto  Fleischl  von  Marxow. 

,2)  Praelect.  T.  IV,  p.  563. 

13)  Du  bruit  p.  246  seq.;  p.  212  u.  247. 

Autenrieth,  Sup])lementa  ad  historiam  embryonis  humani.  Tubingae  1797. 
—  Bachmann,  Diss.  inaug.  de  effectibus  musices  in  hominem.  Erlangae  1792.  — 
Berghaus,  Diss.  de  partibus  firmis  organi  auditorii.  Viteberg  1799.  —  Franz 
Ignaz  Biener  (1739),  De  organo  auditus  diss.  —  Job.  Friedr.  Blumenbach, 
Beschreibung  der  Knochen  des  menschlichen  Körpers.  Göttingen  1786.  Abschn.  V 
bis  VI.  —  Georg  Matth.  Böse,  Hypothesis  soni  Perraultiana  ac  in  eam  meditationes. 
Lipsiae  1734.  —  M.  G'asparus  Böse,  Dissertatio  anatomica  de  membrana  tympani  etc. 
Lipsiae  1725.  —  Burdach,  Diss.  de  vi  aeris  in  sono.  Lips.  1767.  —  Rud.  Jakob 
Camerarius,  Diss.  de  verme  anribus  excusso.  Tüb.  1721.  —  Eduard  Corvi- 
nus.  Institutiones  Philosophicae.  Florentiae  1733.  Tom.  IV,  disput.  3,  cap.  13, 
p.  201.  De  Auditu,  eiusque  organo  et  obiecto.  —  Franz  Dan z,  Grundriß  der 
Zergliederungskunde  des  ungeborenen  Kindes  in  den  verschiedenen  Zeiten  der 
Schwangerschaft,  mit  Anm.  von  Sömmerring.  Bd.  I — II.  Frankf.  u.  Leipzig 
1792  u.  1793.  —  Ant.  Dorsch,  Theorie  der  äußeren  Sinnlichkeit.  Frankf.  a.  M. 
1789.  —  Leop.  Euler,  Tentamen  novae  theoricae  musices.  Petropoli  1759.  —  Joh. 
Leonh.  Fischer,  Anweisung  zur  prakt.  Zergliederungskunst.  Die  Zubereitung  der 
Sinnwerkzeuge  u.  Eingeweide.  Mit  6  Kupfert.  Leipz.  1793.  —  Ad.  Wilh.  Franzen, 
De  auditu  prolusio.  Halae  Magdeb.  1763.  —  Fuchsius,  Programma  de  chorda 
tympani  secundum.  Jenae  1762.  —  Pet.  Gerike,  Singularia  quaedam  de  sensibus 
praecipue  externis.  Heimst.  1733.  —  Stephan  Graf,  Diss.  Auditus  et  Aurium  thau- 
matographiam  commemorans.  Kolon.  1712.  —  Joh.  Heinr.  Graetz,  Epistola  ana- 
tomica problematica  octava  authore  Jo.  Henr.  Graetz  ad  virum  clarissimum  Frederi- 
cum  Ruyschium,  de  structura  nasi  cartilaginea,  vasis  sanguiferis  arteriosis  membranae 
et  cavitatis  tympani  et  ossiculorum  auditus  eorumque  periosteo.  Amstelod.  1718.  In 
Fred.  Ruyschii  Opp.  omn.  anat.  medic.  Chirurg.  Amstel.  1721.  —  Joh.  Christ.  Grav, 
Diss.  med.  pbys.  de  cerumine.  Jenae  1705.  —  Hautefeuille  (M.  de),  Lettre  ä 
M.  Bourdelot  sur  le  moyen  de  perfectionner  l'ouie,  avec  deux  lettres  de  M.  Perrault 
sur  le  meine  sujet.  Paris  1712,  in  .8.  —  Chr.  Ludw.  Hoff  mann,  Diss.  inaug. 
phys.  de  auditu.  Jenae  1746.  —  Marcus  Herz,  Versuch  über  den  Schwindel. 
Berlin  1791.  —  Hie ck ins,  Programma  invitatorium  de  Chorda  tympani.  Jenae 
1762.  —  Joh.  Jo  rissen,  Diss.  inaug.  sistens  novae  methodi  surdos  reddendi 
audientes ,  physicas  et  medicas  rationes.  Halae  Magdeb.  1757.  —  J.  Jos.  Kausch, 
Psychologische  Abhandlung  über  den  Einfluß  der  Töne  und  insbesondere  der  Musik 
auf  die  Seele.  Breslau  1782.  —  Joh.  Hieronimus  Kniphof,  De  praeparatione 
anatomica  organorum  auditus.  In  Act.  Acad.  nat.  curios.  Vol.  III,  p.  228.  —  Friedr. 
Ludw.  Kreysig,  Aristotelis  de  soni  et  vocis  humanae  natura  atque  ortu  theoria  cum 
recentiorum  decretis  comparata.  Lips.  1793.  —  F.G.Kuhn,  Pars  I.  Scrutinii  sensüs 
auditus.  Regiuin.  1736,  in  4.  —  Conr.  Joachim  Kühnau,  Disp.  de  organis  auditui 
inservientibus.  Götting.  1798.  —  Job.  Ad.  Kuhn,  Exercitatio  physica  de  auditu. 
Gedani  1728.  —  J.  A.  Kulmus,  De  auditu.  Gedani  1724,  in  4.  —  A.  Künzel,  De 
musicae  artis  cum  medicina  connubio.  Halae  1800.  —  Leber,  Vorlesungen  über  die 
Zergliederungskunst.  Wien  1776,  p.  495.  496.  —  Marc.  Mappus,  Diss.  de  aurium 
cerumine.      Argent.    1684.    —   J.  F.  Meckel,    Tractatus    anatomico-physiologicus   de 


Pathologie  und  Therapie  des  Gehörorgans  am  Ende  de«  18.  Jahrhunderts.       315 

quinto  pare  nervorum  cerebri.  Gottingae  1748.  —  Ernst  Anton  Nicolai,  Prog.  I. 
bis  IV.  oxponens  rationem  structurae  quamndam  auris  partium.  Jen.  1760 — 61.  — 
R  a  v  i  u  s  ,  C'h.  Henr.  Ernal ,  iter  anglicanurn  et  batavum.  Arnstel.  1706.  — 
Franz  Ant.  Rhode,  Diss.  de  usu  sensus  et  motus  in  negotio  vitae  et  sanitatis. 
Argent.  1734.  —  Andr.  u.  Friedr.  Rößlein,  Diss.  de  differentiis  inter  foetum  et 
adultum.  Argent.  1783.  —  J.  Salzmann,  Diss.  anat.  de  aure  humana.  Argent. 
1719.  —  Schmid,  Diss.  anat.  de  membrana  tympani.  Lipsiae  1725.  —  Christ.  Jak. 
Trew,  Tegumentum  peculiare  membranae  tympani  foetuum  inserviens.  In  Act.  Acad. 
nat.  cur.  Vol.  II,  p.  128.  —  Christ.  Jak.  Trew,  Diss.  de  differentiis  quibusdam 
inter  hominem  natum  et  nascentem  intercedentibus.  Norimbergae  1736.  —  Tschu- 
dius.  Otiatria  s.  auriura  medicinal.  pars  prior,  quae  auris  anatomiam  exponit.  Basil. 
1715.  —  Volmer,  Diss.  anat.  phys.  explanans  auditus  fabricam  ac  soni  physicam.  Mar- 
burg! 1795.  —  Joh.  Gottlieb  Walter,  Abhandlung  von  trockenen  Knochen  des 
menschlichen  Körpers.  Berlin  1789.  —  Augustin  Friedr.  Walther,  Anatome 
musculorum  teneriorum  humani  corporis  repetita.  Lipsiae  1731.  Mit  der  Santorini- 
schen  Tafel.  —  Theod.  Thom.  Weichhardt,  Initio  de  natura  soni  etc.  Lipsiae 
1776.  --  Is.  Heinr.  Winkler.  De  ratione  audiendi  per  dentes  programma.  Lip- 
siae 1759.  —  Heinr.  Aug.  Wrisberg,  De  praecipuis  inter  foetum  et  adultum 
differentiis.  Argent.  1729.  —  Descriptio  anatomica  embryonis,  observationibus  illu- 
strata.     Gottinar.  1764. 


Pathologie  und  Therapie  des  Gehörorgans  im  18.  Jahrhundert. 

Die  Erkenntnis  der  Wichtigkeit  der  pathologischen  Anatomie 
für  die  Begründung  einer  rationellen  Pathologie  und  Therapie  ließ  im 
18.  Jahrhundert  trotz  der  klassischen  Arbeiten  Morffaffnis  nur  ge- 
ringen  Fortschritt  erkennen.  Spuren  der  pathologischen  Anatomie  des 
Gehörorgans  lassen  sich,  wie  die  bisherige  Darstellung  ergibt,  nicht 
weit  nach  rückwärts  verfolgen.  Meist  handelte  es  sich  um  zufällige 
Befunde,  die  nur  selten  mit  einer  Krankengeschichte  in  Zusammenhang 
gebracht  wurden,  oder  um  die  im  Geiste  des  Zeitalters  liegende  Sucht, 
Raritäten  oder  ganz  außergewöhnliche  Abnormitäten  —  Lusus  naturae 
— •  zu  beschreiben.  Von  einem  tiefer  dringenden  Nutzen  für  die  Ohren- 
heilkunde konnte  umsoweniger  die  Rede  sein,  als  die  pathologische 
Anatomie  als  Spezialfach  nicht  anerkannt  wurde. 

Trotz  der  trefflichen  Vorarbeiten  von  Bon  et  und  Morgagni 
dauerte  das  geringe  Interesse  für  die  pathologische  Anatomie  des  Ohres 
bis  zur  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  fort,  bis  Toynbee  mit  seinen 
bahnbrechenden  Arbeiten  eine  neue  Aera  der  Otiatrie  inaugurierte. 

Wenn  wir  von  den  pathologisch-anatomischen  Befunden  im  Gehör- 
organe absehen,  die  in  Bonets  „SepulchretunT,  in  den  Traktaten  von 
Duverney  und  Valsalva  und  in  Morgagnis  „De  sedibus  et  causis 
morborum"  enthalten  sind,  so  weist  die  folgende  Periode  nur  Einzel- 
beobachtungen   auf,    von    denen  wohl  manche    besonderes  Interesse  dar- 


31  li       Pathologische  Anatomie  des  Gehörorgans  am  Ende  des  18.  Jahrhunderts. 

bieten ,  die  Mehrzahl  jedoch  keine  neuen  Gesichtspunkte  für  die  patho- 
logisch-anatomische Forschung  enthält.  Es  seien  daher  im  folgenden, 
nur  im  Interesse  des  historischen  Zusammenhanges,  die  nennenswerten 
pathologisch-anatomischen  Befunde  im  Ohre  in  Kürze  skizziert. 

Auch  in  den  Memoiren  der  medizinischen  Gesellschaften  finden  sich  verstreute 
Notizen  über  Sektionen  Schwerhöriger,  so  enthalten  z.  B.  die  Veröffentlichungen  der 
medizinischen  Gesellschaft  von  London  Sektionsbefunde  von  Sims,  Hougthon, 
Zenker  und  Roslet*). 


Uebersicht  des  Standes  der  pathologischen  Anatomie  des 
Gehörorgans  bis  zum  Ende  des  18.  Jahrhunderts. 

Besondere  Beachtung  fanden  die  Mißbildungen  des  äußeren  Ohres, 
wie  dies  aus  der  reichen  Literatur  über  mangelhafte  Bildung  der  Ohrmuschel, 
Fehlen  einzelner  Teile  des  Ohres  oder  Abnormitäten  des  Situs  hervorgeht.  So 
fand  Prochaska  bei  einer  Cyklopenbildung  vollständiges  Fehlen  des  äußeren 
Ohres,  des  Gehörgangs  und  der  Trommelhöhle.  Es  waren  in  diesem  Falle 
nur  die  Bogengänge  und  die  Schnecke  erhalten  ').  Einen  ähnlichen  Fall  beschreibt 
Curtius2).  Defekt  der  Ohrmuscheln  beobachteten  Bartholin3),  Fritelli4) 
und  Oberteuffer5),  Dystopie  der  Ohrmuscheln  Sebenezius6),  Colomb7)  und 
Lycosthenes8).  Außerdem  wären  noch  zu  erwähnen  die  Arbeiten  von  Schenk  a 
Grafenberg9),  Haller10),  Lachmund  u),  Stark12),  Wedemeier13),  Wolf  u)  und 
Löffler15). 

Ueber  Verlust  der  Ohrmuschel  durch  Ulzeration  berichten  Wepfer16), 
Conradi17).  Hensler1*),  über  skirrhöse  Entartungen  der  Ohrmuschel  Ch. 
Fr.  Fischer19),  über  Atherome  und  Lipome  des  äußeren  Ohres  das  Commercium 
litterarium  Noricum  1732,  p.  10. 

Der  pathologische  Befund  von  Obliteration  des  äußeren  Gehörganges 
kehrt  in  der  Literatur  sehr  oft  wieder,  Man  wußte,  daß  die  Verwachsung  angeboren 
oder  erworben  sein  könne ,  daß  sie  sich  bloß  auf  einen  Teil  oder  auf  den  ganzen 
Gehörgang  erstrecke,  endlich  auch,  daß  verschiedene  Krankheiten  zum  Verschlusse 
des  Ganges  führen20).  Auch  wurden  Membranbildungen  vor  dem  Trommelfelle. 
zu  denen  die  sogen.  Duplizität  des  Trommelfells  gehört,  beschrieben21),  ferner  öfters 
Anomalien  in  der  Länge,  Weite  und  Richtung  des  Meatus  auditorius  externus22), 
Duplizität  desselben23),  endlich  steinartige  Konkremente24). 

Die  pathologischen  Befunde  am  Trommelfell  weisen  keine  große  Mannig- 
faltigkeit auf.  Ueber  die  von  Valsalva,  Morgagni,  Vieussens  und  zahlreichen 
anderen  Autoren  beobachtete  Destruktion  des  Trommelfells  wurde  an  anderer 
Stelle  schon  berichtet.  Häufig  fand  man  Kalkablagerungen,  die  damals  als 
Ossifikation  gedeutet  wurden25).  Die  Mitteilungen  über  vermehrte  Spannung  oder 
Erschlaffung  der  Membrana  tympani26)  erscheinen  weder  anatomisch  noch 
klinisch  begründet. 

Ueber  die  pathologische  Anatomie  der  Trommelhöhle  liegen  eingehendere 
Studien  vor.  Morgagni  fand,  wie  wir  gesehen  haben,  bei  seinen  Sektionen  Eiter- 
massen,   Blut,    seröse  Ergüsse,    ferner  auch  zahlreiche  Membranen  in  der  Trommel - 


)  William  R.   Wilde,  Prakt.  Bern,  über  Ohrenheilk.  u.  die  Nat.  u.  Beh.  <1. 
Krankh.  d.  Ohr.     Aus  d.  Engl.      Göttinnen  1855. 


Pathologische  Anatomie  des  Gehörorgans  am  Ende  des  18.  Jahrhunderts.       317 

höhle  vor.  Aehnliche  Befunde  finden  sich  im  Traktat  Yalsalvas  erwähnt.  Auch 
andere  Autoren27)  berichten  über  derartige  Befunde,  Duverney  sah  Schleim,  Otto28) 
eine  gelatinöse  Masse  bei  Syphilis  u.  s.  w.  Lieutauds  Sammelwerk  „Historia  anat. 
medica,  Paris  1767"  enthält  unter  anderem  fünf  kurze  kasuistische  Mitteilungen  über 
Trommelhöhlenerkrankungen  nach  fremden  Autoren. 

Besonderes  Interesse  wurde  den  Anomalien  der  Gehörknöchelchen  zuge- 
wendet29). So  findet  man  in  der  Literatur  M  an  gel  einzelner  Knöchelchen 3n),  über- 
zählige31) oder  abnorme  Kleinheit32)  oder  Größe33)  derselben,  besonders  des 
Stapes,  erwähnt.  Karies  der  Gehörknöchelchen,  deren  Verwachsung  (Ankylose) 
untereinander  oder  mit  den  Wänden  der  Trommelhöhle  sind  des  öfteren  beschrieben34), 
lieber  Trennung  der  Gehörknöchelchen  durch  Auseinanderweichen  der  Schläfenbein- 
teile berichtet  B  lum  enbach  35). 

Beobachtungen  über  pathologische  Veränderungen  der  Muskeln  der  Gehör- 
knöchelchen liegen  von  Morgagni36)  vor,  der  Atrophie  und  Vertrocknung  derselben 
feststellte,  ferner  von  Vieussens  37),  der  sie  „korrumpiert"  fand. 

lieber  völlige  Ossifikation  der  St  eig  büg  elm  emb  r  an  berichtet  Mor- 
gagni33), über  Verschluß  des  runden  Fensters  durch  Hyperostose  Casseb  o  hm  39), 
über  knöcherne  Obstruktion  des  runden  Fensters  bei  Greisen  Cotugno40)  und 
Scarpa  (1.  c). 

Von  pathologischen  Prozessen  in  der  Ohrtrompete  wurde  die  Verwachsung 
der  pharyngealen  Mündung  schon  von  Tulpius  erwähnt;  auch  bei  anderen  Schrift- 
stellern finden  wir  Mitteilungen  darüber41).  Verstopfung  durch  Schleim  beob- 
achtete Wathen42)  bei  der  Sektion  eines  tauben  35jährigen  Mannes.  Katarrh  der 
Tubenschleimhaut,  der  von  der  Entzündung  des  Nasen-  und  Rachenraumes  seinen 
Ausgang  nahm,  erwähnte  Schneider  (S.  222). 

Die  Varianten  des  Warzenfortsatzes  in  Bezug  auf  Gestalt  und  Größe 
kannten  die  meisten  Anatomen  dieser  Periode,  Mangel  der  Zellen  fiel  Murray43) 
bei  einer  Sektion  auf  (wahrscheinlich  ein  diploetisoher  Warzenfortsatz).  Morgagni44) 
fand  Membranen  in  den  pneumatischen  Zellen,  A r n e m a n n  ' •"•)  kreide- 
artige Konkremente  bei  Syphilis. 

Sehr  dürftig  waren  die  Kenntnisse  von  pathologischen  Veränderungen  im  Laby- 
rinthe. Röderer46)  sah  in  einem  Falle  von  Taubstummheit  statt  des  Labyrinthes 
eine  Höhle,  die  keine  weiteren  Details  erkennen  ließ.  Mundini47)  fand  bei  einem 
verstorbenen  taubstummen  Knaben  eine  Mißbildung  der  Schnecke.  Eine  Windung 
derselben  fehlte  vollständig  und  die  Ausbreitung  des  Acusticus  war  mangelhaft. 
Außerdem  war  der  Aquaeductus  vestibuli  abnorm  weit  und  mündete  in  einen 
großen  Durasack. 

Nach  der  Entdeckung  der  Labyrinthflüssigkeit  schrieb  man  der  übermäßigen 
Ansammlung48)  oder  dem  Mangel  lfl)  derselben  die  Ursache  von  Taubheit  zu.  So  be- 
schrieben Haighton  und  Cline  einen  Fall,  wo  bei  einem  von  Geburt  Taubstummen 
das  ganze  Labyrinth  mit  einer  käseartigen  Masse  erfüllt  war  "'"). 

Haller  fand  bei  einem  Kinde  nach  schwerer  Geburt  die  Labyrinthflüssigkeit 
blutig  fingiert'"'1). 

Auch  die  Kenntnisse  von  der  pathologischen  Anatomie  des  Hörnerven  und 
seiner  Ausbreitung  im  Labyrinthewaren  sehr  gering  und  beschränkten  sich  last  aus- 
schließlich auf  Bildungsanomalien.  Einige  Beobachtungen  rühren  von  Bonet52) 
und  Valsalva  "•  j  her.  Im  oben  erwähnten  Falle  von  Haighton  war  der  Eörnerv 
nur  halb  so  stark  als  gewöhnlich,  der  Gesichtsnerv  aber  ganz  normal.  Saudi  fort 
beschrieb  ausführlich  einen  knorpelharten  Tumor,  der  den  Bö r nerv  kom- 
primierte   und  Taubheit  verursacht  hatte.     Die  gegen  die  Schädelbasis  gerichtete 


318     Literatur  der  pathol.  Anatomie  des  Gehörorgans  am  Ende  des  18.  Jahrhunderts. 

Fläche  des  Tumors  war  uneben,  mit  kleineren  und  größeren  Höckern  versehen.  Der 
Tumor  selbst  konnte  vom  Hörnerven  ohne  dessen  Beschädigung  nicht  loagelösl 
werden,  war  auch  vom  For.  aud.  int.  schwer  freizumachen,  leichter  von  der  Medulla 
oblongata,  mit  der  er  ebenfalls  zusammenhing.  Aul'  dem  Durchschnitte  sah  man 
eine  stärkere  Rinde  und  eine  weichere  Mitte54). 

')  Zergliederung  eines  menschlichen  Cyklopen  mit  1  Kupfertafel,  in  den  Abhand- 
lungen d.  böhmisch.  Gesellsch.  d.  Wissenschaften  für  d.  Jahr  1788,  T.  IV,  p.  230, 
zit.  in  Nuhn:  Commentatio  de  vitiis,  quae  surdomutitati  subesse  solent,  p.  4.  — 
2)  Specimen  inaugurale  medicum  de  monstro  humano  cum  infante  gemello.  Lugd. 
Batav.  1762.  —  3)  Acta  med.  et  philosoph.  Hafniens.  1671.  Vol.  I,  Obs.  24,  p.  53.  — 
')  M  eckeis  Handbuch  d.  pathol.  Anatomie.  Bd.  I,  p.  400.  —  5)  Stark s  neues  Archiv. 
Bd.  II,  p.  638.  —  c)  Diss.  physiol.  qua  respiratio  foetus  in  matre  nulla  evincitnr. 
Venet.  1765.  —  7)  Oeuvres  medico-chirurgicales.  Lyon  1798,  p.  458.  —  8)  Progre- 
diorum  et  ostentorum  chronica.  Basileae  1757,  p.  661.  —  9)  Observ.  med.  Franco- 
forti  1600,  p.  248,  Obs.  331.  —  10)  Progr.  de  monströs,  fabr.  Gott.  1753,  Obs.  I.  — 
")  Mise.  Nat.  Cur.  Dec.  I,  Ann.  VI,  Obs.  178,  p.  235.  —  ,2)  Neues  Archiv,  Bd.  I. 
p.  415.  —  13)  Handbuch  der  Chirurgie  und  Augenheilkunde  von  Gräfe  u.  Walther. 
I.  Bd.,  1.  Heft,  p.  112.  —  14)  Sect.  memor.,  T.  II  in  centen.  16,  p.  829.  —  1S)  Ver- 
such einer  prakt.  Abhandl.  über  Ohrenkrankh.  in  Starks  Archiv  f.  Geburtsh.  Bd.  I. 
p.  410.  —  16)  Med.  prakt.  Beobachtungen  von  den  inneren  und  äußeren  Krankheiten 
des  Kopfes.  Aus  d.  Latein.  vonWeiz.  Leipzig  1787,  p.  543.  —  1T)  Handbuch  der 
pathologischen  Anatomie.  Hannover  1799,  p.  494.  — -  18)  Vom  abendländischen  Aus- 
satz im  Mittelalter.  Hamburg  1790,  p.  158.  —  !9j  Abhandlung  vom  Krebse  des 
Ohrs,  nebst  Beschreibung  eines  merkwürdigen  Falles.  Lüneburg  1804.  —  20)  Len- 
tilius,  Miscellanea  medico-practica  tripartita.  Ulmae  1698,  p.  226.  —  Lachmund 
1.  c.  —  Büchner,  Miscell.  phys.  med.  1727.  —  Wedel  1.  c.  —  Henkel,  Neue 
mediz.  u.  chirurg.  Anmerk.  Berlin  1769,  Sammig.  I,  p.  11.  —  Bartholin,  Hist. 
anat.  rar.  Cent.  V.  Hain.  1661.  Vol.  III,  hist.  3-1.  p.  259.  —  Ulhoorn.  In  der 
belgischen  Uebers.  der  Institut,  chirurg.  Heisteri.     Amstelodami  1755.  T.  IT,  p.  733. 

—  Zwinger,  Paidojatreia  practica,  Basileae  1722,  Obs.  77,  p.  291. —  21)  Lösekc. 
Obs.  anat,  chir.  med.  nov.  et  rarior.  Berol.  1754,  p.  24.  —  Oberteuf fer  1.  c, 
p.  639.  —  Duverney  1.  c.  —  ")  Haas,  Diss.  de  auditus  vitiis  Lips.  1782.  — 
Osterdick  Schacht,  Instit.  medic.  practicae.  Amst,  1767,  p.  114.  —  Lametrie, 
Prix  de  l'ac.  de  chir.  IX.  in  Richters  Chir.  Bibl.  Bd.  IV,  p.  734.  —  2J)  Voigtel. 
Handbuch  der  pathol.  Anatomie.  Halle  1804,  IL  Bd.,  p.  38.  —  21)  Bartholin 
i.  c.  —  ■*)  Cassebohm,  Tract.  IV  anat.  de  aure  hum.  Halae  1734.  Tract.  III,  §  80, 
p.  33.  —  Löseke,  Obs.  anat.  chir.  med.  Berol.  1754,  p.  25,  N.  I.  —  Everard 
Home,  Philos.  transactions  for  1800.  Vergl.  Gilberts  Annalen  der  Physik.  Bd.  44, 
p.  368.  —  2C)  Gniditsch,  Diss.  de  morbis  membranae  tympani.  Lipsiae  1780. 
p.  30.  —  27)  Hellwig,  Obs.  phys.  med.  scholiis  adauetae  a.  L.  Schreck.  Aul;-. 
Vindel.  1680,  Obs.  25.  —  Felibien  in  Memoir.  de  l'acad.  des  scienc.  de  Paris  1703. 

—  Littre,  Histoire  de  l'acad.  royale  des  scienc.  pour  l'annee  1705.  Paris,  p.  53  u.  a. 

—  2S)  Handb.  d.  path.  Anat.  Breslau  1814,  p.  184.  —  29)  Hai ler,  Eiern.  Phys.  Tom.  Y. 
p.  209,  212,  213.  Lausanne  1763.  —  3(1)  Bonets,  sepulchr.  1.  c.  —  Ma  rin,  Mersennus 
epist.  ad  Beverwyk  de  calculo,  p.  80.  —  Caldani  in  Epistol.  ad  Hallerum  script. 
Vol.  VI,  p.  142.  —  Reimarus,  Allg.  Betracht,  über  die  Triebe  der  Tiere  u.  s.  w. 
IV.  Ausg.  Hamburg  1798.  p.  57.  —  31)  Teichmeyer  1.  c.  —  32)  Ba  il  ly  in  Bonets 
sepulchr.  1.  c  —  33)  Cotunni,  De  aquaed.  aur.  hum.  Neap.  1760,  §  72.  —  Comment, 
Bonon.    A.   VII,    Anat.    surdi   nat.,   p.  422.    —    34)    Marchetti,    Valsalva,    Mor- 


Pathologie  und  Therapie.  319 


gagni,  Ruysch,  Cassebohm  1.  c,  p.  62  u.  a.  —  Hofmeister,  Diss.  de  organo 
auditus  et  eius  vitiis.  Lugd.  Bat.  1741.  —  35)  Geschichte  u.  Beschr.  der  Knochen 
des  menschl.  Körpers.  Göttingen  1786,  §  48,  p.  140.  Anm.  3.  —  36)  De  caus.  et  sed. 
morb.  Ep.  XIV,  15.  —  3T)  Traite  de  la  structure  de  l'oreille.  Toulouse  1714,  .Part,  II, 
Chap.  4.  -  3S)  1.  c.  Ep.  XIV,  11.  —  39)  De  aure  hum.  Tr.  III,  §  95.  —  40)  1.  c.  §  72. 
—  41)  I.  c.  ferner  Boerhaave  in  Prelect.  acad.  ad.  Inst.  §  850;  Valsalva  1.  c, 
Morgagni.  —  42)  Philosoph,  tiansact.  1755.  Vol.  411.  Pars  I,  p.  212.  —  *3)  In  d. 
K.  Schwed.  Akad.  d.  Wissensch.,  neue  Abhandl.  aus  d.  Naturlehre,  Haushaltungskunst 
u.  Mechanik.  Aus  d.  Schwed.  übers,  v.  Kastner  u.  Brand is.  Leipzig  1791,  Bd.  X. 
p.  207.  —  44j  Epist.  anat.  V,  §  26,  p.  108.  —  4S)  Bemerk,  über  die  Durchbohrung 
des  Proc.  mast  in  gewissen  Fällen  von  Taubheit.  Göttingen  1792,  p.  25.  —  46)  De- 
script.  foetus  in  Comment.  Societ.  Göttingen  1751.  T.  IV,  p.  136.  —  47)  Comment. 
Soc.  Bononiens.  T.  VII,  1791,  p.  419.  —  4S)  Blizard  in  London  med.  Journal. 
1790,  I,  p.  31.  —  49)  Richerand,  Eiern,  de  Pbysiol.  T.  II.  p.  50,  IV  Ed.  —  50)  A 
case  of  original  deafness  in  Memoirs  of  the  medical  society  of  London,  Vol.  III, 
p.  1 — 15,  ferner  in  der  Sammlung  auserlesener  Abhandlungen  zum  Gebrauch  prakt, 
Aerzte.  Leipzig  1792.  Bd.  XV,  p.  585;  Philos.  Transactions  for  the  Year  1801.  P.  II, 
p.  447.  —  5I)  Elem.  Physiol.  T.  V,  p.  410.  —  32)  Sepulchr.  1.  c.  —  53)  Mor- 
gagni, Ep.  48,  §  48.  --  54j  Obs.  anat,  pathol.  Hb.  I,  Cap.  IX,  p.  116,  Tab.  VIII, 
f.  5,  6,  7.  L.  13.  1777.  Ad  basin  encephali  cum  nervorum  originibus  examinatos, 
corpusculum  nervo  auditorio  dextro  adhaerens,  tantae  duritie,  ut  ferme  cartilaginem 
referre  perspexi.    1.  c.  p.   117. 

Pathologie  und  Therapie. 

Infolge  der  unklaren  Vorstellungen  über  die  pathologisch-ana- 
tomischen Veränderungen  im  Gehörorgane  ist  die  wissenschaftliche  Aus- 
beute in  der  praktischen  Otiatrie  im  18.  Jahrhundert,  trotz  zahl- 
reicher otologischer  Publikationen,  nur  gering.  Die  Diagnostik  ruht  noch 
auf  schwachen  Füßen  und  demgemäß  zeigt  auch  die  Therapie  keinen 
nennenswerten  Fortschritt.  Die  Inspektion  des  Ohres  geschieht  noch 
immer  in  der  primitiven  Weise  mit  dem  Spekulum  des  Hildanus  (S.  152) 
bei  einfallendem  Sonnenlichte. 

Die  verschiedenen  medizinischen  Systeme  und  spekulativen  Theorien, 
die  im  18.  Jahrhundert  in  der  Pathologie  die  reale  naturhistorische 
Forschung  verdrängten,  wirkten  eher  hemmend  als  fördernd  auf  jeden 
Fortschritt  in  unserem  Fache.  Die  Methode,  die  Krankheiten  in  den  Lehr- 
büchern nicht  wie  früher  nach  den  einzelnen  Teilen  des  menschlichen 
Körpers,  sondern  systematisch  oder  symptomatologisch  abzuhandeln,  war 
die  Ursache,  daß  die  Ohrerkrankungen  in  dieser  Periode  entweder  nur 
dürftig  besprochen  oder  auch  häufig  ganz  übergangen  wurden.  An  der 
Abnahme  des  Interesses  für  die  Otiatrie  gegen  Ende  des  18.  Jahrhunderts 
trägt  ferner  noch  der  Aufschwung  schuld,  den  die  Chirurgie  um  diese 
Zeit  nahm.  Da  die  chirurgische  Encheirese  bei  der  Therapie  der  Ohr- 
affektionen bis  dahin  sich  nur  auf  einige  Eingriffe  an  der  Ohrmuschel 
und   dem   äußeren    Gehörgange    beschränkte ,    mußte    sich   bei   dem  Auf- 


320  Systematiker  des  18.  Jahrhunderts. 


schwunge    der    Chirurgie    auf    anderen   Gebieten    das    Interesse    an    den 
Ohren  erkrankungen  abschwächen. 

Erst  gegen  die  Mitte  und  am  Endo  des  Jahrhunderts  werden  in 
kurzer  Reihenfolge  drei  in  die  Praxis  tief  eingreifende  operative  Methoden, 
der  Catheterismus  tubae,  die  Perforation  des  Trommelfells  und  die  Er- 
öffnung des  Warzenfortsatzes,  bekannt,  von  denen  jedoch  nur  die  eiste 
lasch  Aufnahme  fand,  während  die  beiden  anderen  infolge  mißbräuch- 
licher Anwendung  der  Vergessenheit  anheimfielen,  um  erst  in  der  zweiten 
Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  zu  voller,  ihrem  Werte  entsprechender  Gel- 
tung zu  gelangen. 

Von  den  System  atikern  des  18.  Jahrhunderts  kommen  für  unser 
Fach  nur  wenige  in  Betracht,  so  der  Begründer  des  mechanisch-dynami- 
schen Systems  Friedrich  Hoffmann  aus  Halle  und  die  Vertreter  der 
älteren  Wiener  Schule,  Gerhard  van  Swieten  aus  Leiden  und  Anton 
de  Haen  aus  dem  Haag.  Welch  geringer  Einfluß  der  Anatomie  und 
Physiologie  von  den  größten  Aerzten  der  damaligen  Zeit  auf  den  Fort- 
schritt der  praktischen  Medizin  beigemessen  wurde,  beweist  ein  von 
Sprengel  citierter,  auf  das  Gehörorgan  bezüglicher  Ausspruch*)  des 
Systematikers  Georg  Ernst  Stahl,  der  als  einer  der  bedeutendsten 
Vertreter  dieser  Richtung  gilt. 

Friedrich  H.  Hoffmann.  Unter  den  Systematikern  des  18.  Jahrhunderts  war 
es  vornehmlich  Friedrich  H.  Hott' mann  (1660  —  1742),  der  in  seiner  Pathologie 
auch  die  Ohrenheilkunde  berücksichtigte  ').  Seine  Theorien,  die  uns  heute  absonder- 
lich erscheinen,  haben  bei  den  Zeitgenossen  großen  Beifall  gefunden.  Seinem  be- 
kannten Systeme  entsprechend  führte  er  auch  die  Affektionen  des  Gehörorgans  auf 
Abnormitäten  des  Tonus,  auf  zu  heftige  oder  zu  träge  Bewegung,  auf  übermäßige  An- 
spannung oder  Atonie  zurück,  welche  sich  hier  speziell  als  Schmerz.  Entzündung, 
Ohrentönen  resp.  Schwerhörigkeit,  Taubheit  äußert.  Der  Heilsehatz,  den  er  zur  Be- 
hebung der  krampfhaften  Anspannung  oder  zur  Beseitigung  der  Abspannung  ver- 
mittels lebhafteren  Zuströmens  des  Nervenäthers  empfiehlt,  umfaßt  die  meisten  der 
von  den  Vorgängern  verwendeten  Mittel,  nur  daß  ihre  Wirkungsart  in  neuem  Lichte 
erscheint.  Im  allgemeinen  ist  er  der  Ansicht,  daß  die  Ohraffektionen,  die  teils  idio- 
pathischer,  teils  sympathischer  Natur  sind,  nur  im  Beginne  heilbar  seien,  später  aber 
höchstens  gebessert  werden  könnten. 

Schwerhörigkeit  und  Taubheit  könne  durch  Bildungsfehler  verursacht  sein 
oder  durch  Verletzung  und  Erschütterung  des  Organs,  durch  Verhärtung  des  Trom- 
melfells, Verstopfung  des  Tubenkanals,  „Spasmus"  und  Trockenheit  des  Ohres,  Er- 
schlaffung der  akustischen  Teile  etc. 


Der  Hau  der  mäandrischen  Gänge  im  obre,  des  Amboßes,  Hammers,  Steig- 
bügels und  (welche  herrliche  Erfindung!)  des  runden  Knöchelchens,  würde,  wenn  er 
nicht  bekannt  wäre,  die  physische  Kenntnis  des  Körpers  sein-  mangelhaft  machen. 
Aber  der  Medizin  nützt  die  se  K  enn  tn  is  gerade  soviel,  als  die  Kunde 
von  dem  vor  zehn  Jahren  gefallenen  Schnee."  Propempt.  inaug. ,  quis 
bonus  theoreticus,  malus  practicus,  ad  Rhetii  diss.de  morbis  habitualibus,  Hai.  1798. 
Zit.  bei  Sprengel,  Vers,  einer  pragm.  Gesch.  der  Arzneik.  IM,  V,  p.  1">. 


Systematiker  des  18.  Jahrhunderts.  321 

Ohrentönen  entstehe,  wenn  von  den  Gefäßen  zu  viel  Feuchtigkeit  abgesondert 
werde,  die  sich  in  Dämpfe  umwandle  und  so  eine  tremulierende  Bewegung  im  Gehör- 
nerven errege. 

Bemerkenswert  ist,  daß  Hoff  mann  den  häufigen  Zusammenhang  der  Gehörs- 
affektionen mit  Störungen  des  Nervensystems  besonders  hervorhebt.  Seine  Kur- 
methode verfolgt  den  Zweck ,  die  Materia  peccans  zu  temperieren ,  zu  korrigieren 
und  durch  die  Auswurfsgänge  fortzuleiten ,  die  Spannung  der  Fasern  zu  beseitigen, 
das  Einströmen  des  Nervensaftes  zu  begünstigen  und  auf  diese  Weise  wieder  den 
alten,  normalen  Tonus  herzustellen. 

Die  Therapie  war  teils  allgemein:  Venäsektion,  Laxantia,  Fußbäder,  Blasen- 
pflaster, Diaphoretika,  interne  Reizmittel  (Bals.  vit.  Hoffin.,  Spir.  Minderen  etc.),  Kau- 
und  Niesemittel  (Verstopfung  der  Tuben),  teils  lokal,  Dämpfe  (Tabakrauch),  Einträufe- 
lungen (Skorpionenöl ,  Kellerasselöl.  Kantharidenöl),  Pflaster  (Mastix,  Galbanum,  Sa- 
fran, Muskatöl,  Bibergeil,  Opium  etc.),  Räucherungen  mit  aromatischen  und  harzigen 
Stoffen.  Bei  Reizzuständen  (Otalgie)  empfahl  er  Salpeteremulsionen,  Liquor  anodynus, 
Opium  etc. 

')  Medicina  consultatoria.  Halae  1721—1739,  T.  XI,  p.  269.  Medicina  rational, 
systematica.  Halae  1726,  T.  I,  p.  29  u.  289.  Med.  rat,  syst.  Halae  1732—1737, 
T.  IV,  P.  IV,  Cap.  VI,  p.  149—174;  P.  II,  Sect.  II.  Cap.  10.  p.  489—500. 

Bei  Gerhard  vanSwieten  (1700—1772)*)  finden  wir  die  Erkrankungen  des 
Gehörorgans  nicht  mehr  als  ein  abgeschlossenes  Gebiet  behandelt.  Nur  hie  und 
da  kommt  er  bei  Besprechung  anderer  Erkrankungen  auch  auf  eine  Ohraffektion  zu 
sprechen.  So  führt  er  als  Symptom  der  „angina  inflammatoria"  heftigen  Schmerz 
im  inneren  Ohre  und  in  der  Tube  an.  Wenn  sich  nämlich  die  Schleimhaut  des 
weichen  Gaumens  und  des  Zäpfchens  entzünde,  pflanze  sich  diese  Entzündung  leicht 
auf  die  Schleimhaut  der  Tube  und  der  Trommelhöhle  fort.  Da  ferner  die  Hammer- 
muskeln, welche  das  Trommelfell  nach  innen  ziehen  und  den  Trommelhöhlenraum 
verkleinern,  sich  an  den  Tuben  inserieren  und  diese  zu  gleicher  Zeit  erweitern, 
damit  die  in  der  Trommelhöhle  komprimierte  Luft  auf  diesem  Wege  nach  außen 
gelangen  könne,  so  lasse  sich  leicht  einsehen,  warum  eine  Krepitation  im  Ohre  ver- 
nommen werde,  sobald  jene  entzündeten  Teile  durch  den  Schluckakt  in  Bewegung 
versetzt  werden.  Wenn  nun  die  angeschwollene  Tubenschleimhaut  das  Lumen  der 
Tube  verschließt,  kann  die  Luft  nicht  heraus  und  vollständige  Taubheit  ist  häufig 
die  Folge  ')■  Nach  Aufhören  der  Entzündung  stellt  sich  das  Gehör  wieder  ein. 
van  Swieten  erwähnt  ferner  Verwachsung  und  Ulzeration  der  Tuben  bei  Lues. 

Obwohl  Cleland  den  Katheterismus  durch  die  Nase  bereits  propagiert  hatte, 
empfiehlt  van  Swieten  noch  die  von  Guyot  erfundene  Methode,  die  Einführung 
einer  Röhrensonde  vom  Munde  aus,  und  zwar  in  dem  Momente,  wenn  der  Patient 
kräftig  exs2>iriert. 

!)  Ubi  ergo  velum  pendulum  palatinum  et  uvula,  harum  tubarum  aperturis 
adeo  vicina,  inflammantur,  facile  patet  ratio,  quare  et  malum  ad  has  partes  pertingat, 
et  dolor  acutus  in  aure  interna  et  toto  tractu  tubae  Eustachianae  percipiatur.  Cum 
autem  et  musculi  mallei,  quorum  ope  membrana  tympani  introvsum  trahitur,  et 
cavum  tympani  minuit,  his  tubis  inserantur,  illasque  eodem  tempore  dilatent,  ut 
compressus  in  cavo  tympani  ae'r  libere  hac  via  exire  possit,  patet,  quare  crepitatio 


*)  Commentaria  in  Herrn.  Boerhaave  aphorismos  de   cognoscendis  et  curandis 
morbis.     Lugd.  Bat.  1745,  T.  II,  p.  666. 

Politzer,  Geschichte  der  Ohrenheilkunde.    I.  21 


322  Jean  Louis  Petit. 


in  aure  interna  percipiatur,  dum  deglutitionis  actione  moventur  partes  illae  inflam- 
matae.  Ubi  autem  membrana  interna  harum  tubarum  inflamrnata  sie  turnet,  ut 
cavitas  obturetur,  vel  vicinus  tubai-um  orifieiis  tumor  illa  sie  compresserit,  ut  liber 
aeri  transitus  denegetur,  surditas  saepe  perfecta  oritur.    1.  c.  p.  607. 

Noch  weniger  Interesse  bieten  für  uns  die  Arbeiten  des  Wiener  Klinikers 
Anton  de  Haen  (1704 — 1776).  Die  in  seinen  von  Maximilian  Stoll  heraus- 
gegebenen „Opuscula  quaedam  inedita"*)  enthaltenen  Krankheitsgeschichten  über 
Ohrerkrankungen  sind  gänzlich  wertlos,  da  die  Schilderung  der  Symptome  ober- 
flächlich ist,  über  eine  objektive  Untersuchung  des  Gehörorganes  nichts  berichtet 
wird  und  Obduktionsbefunde  vollkommen  fehlen. 

Wichtiger  für  den  Fortschritt  innerhalb  unseres  Faches  sind  Ver- 
treter der  Chirurgie,  so  vor  allem  Jean  Louis  Petit,  Lorenz 
Heister  und  der  Däne  Georg  Heu  ermann.  Vorher  noch  einiges  über 
den  Chirurgen  Stephan  Biancaard,  dessen  Wirken  wohl  dem  17.  Jahr- 
hundert angehört,  der  sich  aber  mit  seinem  aus  dem  18.  Jahrhundert 
datierenden  Werke  hier  anreibt. 

Stephan  Biancaard  (1650 — 1702)  aus  Amsterdam  trat  mit  seinen  „Opera 
medica,  theoretica,  practica  et  chirurgica"  Traj.  ad  Rhen.  1714  in  die  Fußstapfen 
seiner  Vorgänger.  Neue  Erfahrungen  über  Operationen  am  Ohre  enthält  sein  Werk 
nicht.  Zu  erwähnen  wäre  vielleicht  bloß,  daß  er  bei  Angina  und  anderen  Er- 
krankungen, welche  die  Respiration  erschweren,  beobachtete,  daß  die  Exspirationsluft 
mit  einer  solchen  Gewalt  in  die  Tube  gepreßt  werde,  daß  hierdurch  das  Trommelfell 
leicht  zerreiße.  Biancaard  fand  ferner  oft  die  Trommelhöhle,  den  Vorhof,  die 
Bogengänge  und  die  Schnecke  „sordibus  spissis  et  incrassatis"  angefüllt,  was  nach 
seiner  Ansicht  vielleicht  „ab  abscessu"  der  diese  Hohlräume  auskleidenden  Mem- 
branen herrührt.  Da  die  „materia  peecans"  keinen  Ausweg  hat,  sei  Taubheit  die  Folge. 

J)  Quodque  etiam  in  sternutatione  observatur,  ubi  sentimus  aerem,  per  meatum 
subito  redeuntem,  membrana  tympani  extrorsum  expellere  et  tensionem  efficere  non 
sine  dolore:  quod  et  in  Angina  aliisque  respirandi  difficultatibus  facile  fit,  in  quibus 
fundus  palati  et  nasi  intumeseunt,  vel  per  inflammationem  per  alias:  quando  enim 
aer  ex  pulmonibus  propulsus  libere  non  egrediatur,  tanto  impetu  fertur  in  meatum 
ab  aure  ad  palatum  tendentem,  ut  membrana  tympani  facile  rumpatur.  1.  c.  p.  274. 

Jean  Louis  Petit  (1674 — 1750)  zählt  zu  den  bedeutendsten  fran- 
zösischen Chirurgen  des  18.  Jahrhunderts,  dessen  Ruhm  von  seinen 
besonders  als  Feldärzte  sehr  geschätzten  Schülern  durch  ganz  Europa 
getragen  wurde.  Seine  Leistungen  auf  dem  Gebiete  der  Anatomie  und 
Chirurgie  zeichnen  sich  durch  Gründlichkeit  und  scharfe  klinische  Beob- 
achtung aus. 

In    seinem    dreibändigen    posthumen,    mit   zahlreichen  Tafeln    aus- 


*)  Accedunt  Historiae  morborum  a  Stollio  in  Collegio  clinico  Haenii  annis 
1770—1772  consignatae.  Vindobonae  1795,  P.  II.  S.  I:  Historia  morbi  XXVII. 
Surditas.   XXXV.  Otalgie.    XLV.  Otalgie.    S.  II :    Historia  morbi  VII.  Auditus  gravis. 


Jean  Louis  Petit.  323 


gestatteten  Werke  „Traite  des  maladies  chirurgicales  et  des  Operations 
qui  leur  conviennent",  Paris  1774,  werden  in  dem  IV.  Kapitel:  ..Des 
tumeurs",  die  entzündlichen  Erkrankungen  des  Warzenfortsatzes 
eingehend  erörtert. 

Dieser  Abschnitt  des  Werkes  nimmt  unser  Interesse  besonders  des- 
halb in  Anspruch ,  weil  hier  zuerst  die  chirurgische  Behandlung  der 
kariös-nekrotischen  Prozesse  im  Warzenfortsatze  nach  durchaus  rationellen 
Prinzipien   besprochen  wird. 

Gestützt  auf  reiche  Erfahrung  spricht  sich  Petit  am  Eingang  des 
Abschnittes  dahin  aus,  daß  Abszesse  im  Warzenfortsatze,  die  zu  ihrer 
Reifung  lange  Zeit  brauchen,  viel  langsamer  heilen,  als  rasch  reifende. 
Man  dürfe  jedoch  die  spontane  Reifung  nicht  abwarten,  sondern  müsse 
den  Abszeß  eröffnen,  sobald  Fluktuation  fühlbar  werde.  Wenn  auch  vor 
der  Operation  nicht  immer  Karies  nachweisbar  sei,  so  finde  man  doch 
öfters  beim  Freilegen  des  Warzenfortsatzes  den  Knochen  vom  Periost  ent- 
blößt. Die  Karies  zeigt  hier  nach  der  Dauer  des  Abszesses  verschiedene 
Stadien.  Sie  kann  auf  die  Diploe  allein  beschränkt  sein  oder  schon  auf 
die  mediale  Lamelle  des  Warzenfortsatzes  („seconde  table" )  übergegriffen 
haben  x). 

Die  Konstatierung  der  Fluktuation  ist  oft  sehr  schwierig.  Täu- 
schungen in  dieser  Richtung  können  nur  durch  große  Uebung  vermieden 
werden.  Petit  illustriert  dies  durch  einen  Fall  seiner  Praxis,  bei  dem 
von  den  Aerzten  die  Eröffnung  des  Abszesses  beschlossen,  dann  aber 
verschoben  wurde,  weil  die  früher  nachweisbare  Fluktuation  wieder  ver- 
schwunden war.  Petit  riet  trotzdem  zur  Eröffnung,  ließ  aber  vorher 
den  Valsalvaschen  Versuch  ausfuhren,  wodurch  der  Abszeß  über  dem 
Warzenfortsatze  sofort  zu  seiner  früheren  Größe  anschwoll.  Bei  der 
Eröffnung  fand  sich  fast  doppelt  soviel  Eiter  in  der  Abszeßhöhle,  als 
nach  der  Größe  der  Geschwulst  zu  erwarten  war, 

Dieser  Fall  ist  auch  insoferne  von  Interesse,  als  vor  der  Bildung' 
des  Periostalabszesses  der  Eiter  das  dünne  Tegmen  der  mittleren  Schädel- 
grube („table  interne")  durchbrochen  und  zu  einer  Eiteransammlung 
zwischen  Dura  und  Tegmen  (Extraduralabszeß)  geführt  hat.  Auf  letztere 
führt  Petit  die  monatelang  bestehenden  Kopfschmerzen  zurück. 

Bei  der  Eröffnung  des  Abszesses  ging  Petit  in  der  Weise  vor, 
daß  er  mit  einer  myrthenblattförmigen  Pinzette  die  Knochenränder  der 
kleinen  Fistel  in  der  Corticalis  stückweise  abbrach,  bis  diese  Oeffnung 
dem  Knochendefekt  im  Tegmen  gleich  war.  Hierauf  legte  er  wie  nach 
der  Trepanation  einen  regelrechten  Verband  an.  Nach  Abstoßung  des 
kariösen  Knochens  erfolgte  in  einem  Monate  vollständige  Heilung 2). 

Die  Epikrise  dieser  Krankengeschichte  zeigt,  daß  Petit  nicht  nur 
ein  glänzender  Chirurg,    sondern  auch  ein  scharfer  Beobachter  und  aus- 


324  Jean  Louis  Petit. 


gezeichneter  Patholog  war.  Solche  Eiterungen  führen,  wie  er  richtig 
bemerkt,  zum  Tode  entweder  durch  Zerstörung  lebenswichtiger  Organe 
oder  durch  Pyämie,  deren  Symptome  er  ausgezeichnet  schildert3). 

Dringt  der  Eiter  durch  Zerstörung  des  Knochens  bis  an  die  Dura, 
so  bestehen  dumpfe  Kopfschmerzen,  die  an  Heftigkeit  zunehmen,  wenn 
sich  der  Eiter  nach  dem  Durchbruch  der  Tabula  externa  unter  das  Periost 
des  Warzenfortsatzes  ergießt.  Petit  hält  das  Periost  für  viel  empfind- 
licher als  die  Dura. 

Treten  Entzündungserscheinungen  auf,  die  auf  Eiteransammlung  im 
Warzenfortsatze  schließen  lassen,  so  dürfe  man  den  Durchbruch  der 
„Tabula  externa"  nicht  abwarten,  sondern  müsse  sogleich  zur  Eröffnung 
des  Warzenfortsatzes  mittels  Exfoliativtrepans  schreiten.  Die  Eröffnung  sei 
selbst  dann  gerechtfertigt,  wenn  man  keinen  Eiter  finde,  denn  in  diesem 
Falle  kürze  man  die  Krankheit  wenigstens  um  soviel  ab,  als  der  Eiter 
zum  Durchbruch  der  Tabula  externa  brauche 4). 

In  der  Epikrise  bespricht  er  ferner  das  oben  erwähnte  Symptom, 
daß  die  Fluktuation  oft  nur  zeitweilig  tastbar  sei,  zeitweilig  wieder  ver- 
schwinde. Er  führt  diese  Erscheinung  darauf  zurück,  daß  der  Eiter 
durch  den  Verband  oder  das  Liegen  auf  der  kranken  Körperseite  gegen 
die  Schädelbasis  gedrängt  werde 5).  Als  diagnostisches  Hilfsmittel  ver- 
wendet er  in  solchen  Fällen,    wie  gesagt,    den  Valsalvaschen  Versuch. 

Einer  eingehenden  Erörterung  unterzieht  er  auch  die  Frage,  wes- 
halb nach  Eröffnung  des  Warzenfortsatzes  oft  schon  nach  kurzer  Zeit 
die  Exfoliation  des  erkrankten  Knochens  erfolge,  während  die  Abstoßung 
eines  kariösen  Knochens  an  anderen  Körperteilen  sehr  lange  dauere,  ja 
bei  spongiösem  Knochen  erst  dann  vor  sich  gehe,  wenn  man  alles  Kariöse 
bis  zum  Gesunden,  sei  es  durch  Medikamente,  sei  es  durch  Glüheisen, 
Feile,  Trepan  oder  Hammer  und  Meißel  entfernt  habe.  Die  rasche  Ex- 
foliation des  nekrotischen  Knochens  bei  Karies  des  Warzenfortsatzes 
habe  ihren  Grund  darin,  daß  schon  während  der  Abszeßbildung  die 
Demarkation  eingeleitet  wird. 

Bemerkenswert  sind  die  Beobachtungen  Petits  über  eine  Erkran- 
kung, die  wir  heute  als  Peritonsillarabszeß  bezeichnen.  Wenn  der  hintere 
Teil  der  Tonsille,  der  unmittelbar  an  die  Mündung  der  Ohrtrompete 
stößt,  vereitert,  so  erkennt  man  dies  an  dem  Schwinden  der  Entzündungs- 
symptome und  an  dem  Erscheinen  von  Eiter  im  Sputum  und  im  Nasen- 
sekret. Hierbei  wird  nicht  selten  das  Ohr  in  Mitleidenschaft  gezogen, 
entweder  weil  der  Eiter  in  die  Tube  eindringt,  oder  weil  die  Tube  durch 
die  Eiterung  zerstört  wird,  oder  endlich  weil  der  Abszeß  auf  den  äußeren 
Gehörgang  übergreift6).  Nach  dem  Durchbruch  des  Abszesses  erlangt  der 
Kranke  das  Gehör  wieder,  was  Petit  durch  die  Krankengeschichte  eines 
ca.  12jährigen  Knaben  erhärtet.    Bemerkenswert  ist  Petits  Ansicht,  daß 


Heister.  325 

die  Ohreiterung  nie  primär  im  Cavum  tympani  entsteht,  sondern  von  der 
Tube  oder  vom  äußeren  Gehörgang  ausgeht 7). 

')  Si  on  ne  trouve  point  Tos  carie,  il  est  au  moins  denue  de  son  perioste:  s'il 
y  a  carie,  eile  penetre  ordinairment  jusqu'au  diploe,  quelquefois  meme  jusque  ä  la 
second  table,  p.  155.  —  2)  Car  on  trouva  la  table  externe  percee  par  im  trou  qui 
n'avoit  qu'une  ligne  de  diametre  pendant  que  le  diploe  et  la  table  interne  etoient 
uses  de  l'etendue  d'une  piece  de  douze  sols.  p.  157.  —  3)  Les  depots  qui  suppurent 
ne  causent  la  mort  que  par  les  douleurs  qu'ils  causent,  ou  parce  qu'ils  detruissent 
de  parties  necessaires  ä  la  vie,  ou  enfin  parce  que  le  pus  qu'il  renferment,  etant 
abondant,  et  n'etant  pas  evacue  assez  tot,  rentra  dans  la  masse  du  sang  et  cause  des 
frissons,  de  fievres  on  de  depots  dans  quelques  visceres.  p.  158.  —  4)  On  y  decouvrira 
l'os  et  on  appliquera  le  trepan  exfoliatif  jusqu'a  ce  qu'on  ait  detruit  la  premiere 
table  et  qu"on  soit  parvenu  au  diploe.  S'il  y  a  de  la  niatiere  formee  eile  s'evacuera, 
et  s'il  n'v  a  pas  point,  on  aura  beaucoup  fait  d'enlever  la  table  externe ;  on  gagnera 
tout  le  tems  que  le  pus  auroit  ete  ä  la  percer.  p.  159.  —  5)  Ce  qui  vient  de  ce  que 
la  tumeur  a  ete  pressee,  soit  par  le  bandage  et  les  compresses,  soit  parce  que  le 
malade  se  couche  du  cöte  de  sa  tumeur,  et  que  la  compression  dans  Tun  ou  dans 
l'autre  cas  a  fait  rentrer  la  niatiere  sous  le  cräne.  p.  161.  —  6)  Veut-on  encore  s'assurer 
mieux  de  ce  fait,  c'est  que,  lorsqu'on  cesse  de  la  sentir,  on  n'a  qu'ä  faire  souff lei- 
te malade  en  lui  serrant  les  marines,  dans  l'instant  la  tumeur  se  rernplit  de  pus,  et 
la  fluctuation  reparoit.  —  7)  Ils  affectent  l'oreille,  soit  parce  que  le  pus  y  entre  par 
le  canal  d'Eustache,  soit  parce  que  le  canal  meme  se  trouve  detruit,  soit  enfin  parce 
que  le  canal  exterieur  de  l'oreille  se  trouve  compris  dans  l'abces.    p.  139. 

Lorenz  Heister  (1683—1758),  der  nach  Fabricius  Hildanus 
der  Begründer  der  wissenschaftlichen  Chirurgie  in  Deutschland  genannt 
wird,  gibt  in  seinem  Hauptwerke  „Institutiones  chirurgicae,  Leyden  1739"  *) 
eine  zusammenfassende  Darstellung  der  otochirurgischen  Erfahrungen 
seiner  Vorgänger,  die  sich  nur  auf  die  Technik  der  mehr  oder  minder 
groben  operativen  Eingriffe  am  äußeren  Ohre  beschränkt.  Von  den  zu 
dieser  Zeit  noch  wenig  bekannten  Operationen  am  Warzenfortsatze  und 
am  Trommelfelle  ist  in  dem  Werke  Heisters  keine  Rede. 

In  sechs  Kapiteln  (LXIL— LXVII.)  des  fünften  Buches**)  behandelt 
er  die  „Operationes,  an  den  Ohren".  Wenn  eine  widernatürliche  Haut 
im  vordersten  Teile  des  Ohr  ganges  vorhanden  sei,  empfiehlt  er  Kreuz- 
schnitt und  Einlegen  einer  Wieke.  „Ist  dergleichen  Haut  tief  im  Ohr- 
gang, und  also  nahe  bei  dem  Trommelhäutlein, u  so  warnt  er,  nicht  zu  tief 
zu  schneiden,  um  das  Trommelfell  nicht  zu  verletzen,  „welches  sonderlich 
bey  jungen  Kindern  leicht  geschehen  kann,  weil  der  Ohrgang  sehr  kurtz 
ist."  Im  nächsten  Kapitel  bespricht  er  die  Methoden,  „Ins  Ohr  gefallene 
Sachen  heraus  zu  nehmen"  nach  alt  bewährten  Mustern.  Kompilatorischer 
Natur  und  ohne  eigene  Gedanken  sind  auch  die  Kapitel,    die   „Von  den 


*)  Erschien  zuerst  unter  dein  Titel  „Chirurgie",  Nürnberg  1718.    Wir  benutzten 
die  zweite  Ausgabe  vom  Jahre  1724. 
**)  p.  533—539. 


326  Heuermann. 

Gewächsen  im  Ohrgang*,  „Von  Brennung  des  Ohrs  gegen  Zahnschmerzen" 
und  von  ..Löchlein  in  die  Ohren  zu  stechen"  handeln.  ..Von  den  Instru- 
menten zum  schwachen  Gehör  dienlich",  wie  z.  B.  die  Hörrohre  von 
Nuck  und  Dekker,  hält  er  nicht  viel.  Sie  sollen  nach  seiner  eigenen 
Erfahrung  und  der  anderer   „gar  wenig  Effekt  prästieren '*. 

Heister  bringt  bei  einer  43jährigen  Frau  die  Schwerhörigkeit  mit 
dem  Aufhören  der  Menstruation  im  Klimakterium  in  Verbindung*). 
Daß  damals  die  Ansicht,  Taubheit  könne  infolge  der  Unterdrückung  der 
Menses  (a  mensium  suppressione)  entstehen,  allgemein  verbreitet  war, 
beweist  ein  von  Ebersbach**)  mitgeteilter  Fall  von  einem  17jährigen 
Mädchen,  das  bei  dem  Aussetzen  der  Menstruation  beinahe  nichts  hörte, 
bei  deren  Rückkehr  aber  wieder  in  den  Besitz  ihres  Gehörs  kam. 

Im  Anschlüsse  an  seine  Bemerkungen  über  Ohrerkrankungen  erwähnt  Heister 
ein  von  ihm  noch  nicht  versuchtes  Instrument,  das  von  einem  gewissen  Reusner 
gegen  Schwerhörigkeit,  subjektive  Geräusche  und  Ohrenschmerzen  warm  empfohlen 
wurde***).  Es  bestand  aus  einem  vergoldeten  Silberröhrchen  von  einer  Spanne  Länge, 
das  täglich  zwei-  bis  dreimal  in  den  Gehörgang  angesetzt  wurde,  „um  die  Lufft  oder 
Wind,  welche  in  selbem  enthalten,  und  das  Klingen  verursachen  soll,  herauszusaugen ". 
Merkwürdigerweise  hat  sich  diese  Methode  der  Luftverdünnung  im  äußeren  Gehör- 
gange, die  schon  früher  einigemal  propagiert  wurde,  trotz  ihres  sicherlich  vorzüg- 
lichen therapeutischen  Wertes,  nie  recht  in  die  Therapie  der  Ohrerkrankungen  ein- 
bürgern   können.     Erst   in  den  letzten  Dezennien  ist  sie  zur  vollen  Geltung  gelangt. 

Der  dänische  Chirurg  Heuermann  f)  will  die  Schwerhörigkeit 
alter  Leute  von  einer  Verwachsung  des  Hammermuskels  mit  seiner 
Knochenrinne  herleiten:  „weil  bei  ihnen  die  Rinne  in  der  wenig  ver- 
tieften Höligkeit,  wodurch  das  eine  Mäußlein  des  Hammers  gehet,  ge- 
meiniglich verwachset,  und  den  Muscul  zu  seiner  Würckung  ungeschickt 
machet".  Eine  anatomische  Begründung  dieses  Befundes  vermissen  wir  in 
dem  Werke.  Um  Medikamente  in  die  Ohrtrompete  einzutreiben,  bedient 
sich  Heuermann  einer  hohlen  Sonde,  ,.die  fast  wie  die  Sonde  ,en  femme' 
beschaffen,  allein  nur  nach  vorne  mit  einer  Oeff'nung  und  kleinen  Biegung 


*)  Med.  u.  Chir.  Wahrnehmg.  2.  Bd.  n.  381. 
**)  Annal.  Wratisl.  1725. 
***)  Ueber  Luftverdünnung  im  äußeren  Gehörgange  findet  sich  in  den  Ephe- 
meriden  der  Act.  nat.  curios.  Acad.  Caesareo-Leopold  vom  Jahre  1717  unter  Observat.  VI 
folgende  Mitteilung  von  Christ.  G.  Reusner:  Instrumentum  acusticum  novum  in 
tinnitu  aurium  et  otalgia  proficuum.  Est  tubulus  quidain  argenteus  deauratus  spithamae 
longitudine,  iste  tubulus  bis  vel  ter  de  die  applicatur  auri  dolenti  et  sugendo  aer 
extrahitur,  vel  si  mavis  .  .  .  novum  appello  instrumentum  quoniam  nemo  autorum 
(quantum  ego  scio)  huius  mentionem  fecit.  (Vergl.  die  im  Mittelalter  von  Simeon 
angegebene  Saugmethode  bei  Schwerhörigkeit,  S.  61.) 

t)  Georg  Heuermanns  Abhandlungen  der  vornehmsten  chirurgischen  Opera- 
tionen am  menschlichen  Körper.  3.  Bd.  Kopenhagen  und  Leipzig  1757.  Cap.  48. 
„Von  den  Ohrenkrankheiten,  wobei  zu  Zeiten  ein  Wundarzt  erfordert  wird." 


Die  Perforation  des  Processus  mastoideus.  327 

versehen"  ist.  Diesen  Katheter  führte  er  durch  den  Mund  hinter  dem 
weichen  Gaumen  ein,  drehte  ihn  dann  ein  wenig  zur  Seite  und  konnte 
so  angeblich  leicht  die  Mündung  der  Tube  erreichen.  Um  die  ent- 
sprechende Uebung  in  dieser  Operation  zu  erlangen,  müsse  man  sie  vorher 
an  Kadavern  üben.  Er  berichtet  ferner  von  einer  Fistel  hinter  dem 
Ohre,  „die  weder  durch  die  Speichelkur  noch  reinigende  Einspritzungen 
oder  das  akkurateste  Verbinden"  geheilt  werden  konnte.  In  die  Fistel 
eingespritzte  Flüssigkeit  floß  teils  durch  die  Tube  zum  Munde,  teils 
durch  den  äußeren  Gehörgang  aus  dem  Ohre  heraus.  Heuermann  hält 
diese  Art  von  „Ohrengeschwüren"  für  die  „allerschlechtesten" ;  bei  ihnen 
lasse  sich  keine  vollkommene  Heilung  nach  innen  erwarten,  da  der 
Warzenfortsatz  zu  locker  und  schwammig  sei,  und  der  Eiter  sich  deshalb 
zu  leicht  dort  aufhalten  könne.  Als  einzige  Therapie  empfiehlt  er  Er- 
weiterung der  Fistel,  um  den  Ausfluß  des  Eiters  zu  befördern,  ferner 
kleine  Einbohrungen  mit  dem  Perforativtrepan ,  damit  aus  den  Gefäßen 
der  Warzenfortsatzzellen  und  ihrer  Membranen  eine  Verwachsung  der 
äußeren  Oeffnung  umso  eher  stattfinden  könne. 

Im  Anschlüsse  an  die  hier  mitgeteilten  Ergebnisse  chirurgischer 
Eingriffe  am  Warzenfortsatze  soll  im  folgenden  in  einer  übersichtlichen 
Skizze  die  Geschichte  dieser  Operation  mit  ihren  wechselnden  Phasen 
geschildert  werden. 

Die  Perforation  des  Processus  mastoideus. 

Im  letzten  Dezennium  des  18.  Jahrhunders  erregte  eine  Operation, 
die  jetzt  nur  unter  bestimmten  Indikationen  ausgeführt  wird,  allgemeines 
Interesse.  Verleitet  durch  einseitige  Berücksichtigung  einzelner  mit  gün- 
stigem Erfolge  operierter  Fälle  glaubte  man  ein  Heilmittel  gefunden  zu 
haben,  das  auch  bei  nichteitrigen  Prozessen  jede  Art  von  Taubheit 
zu  beseitigen  vermöchte.  Es  handelte  sich  um  die  Durchbohrung 
des  Warzenfortsatzes,  in  der  Absicht,  die  Kommunikation  der 
Trommelhöhle  mit  der  äußeren  Luft  herzustellen.  Sie  wurde  von  dem 
preußischen  Regimentschirurgen  J asser  unternommen,  der  die  schon 
100  Jahre  früher  empfohlene,  dann  aber  in  Vergessenheit  geratene 
Operation  als  ein  völlig  neues  Heilverfahren  hinstellte. 

Die  Geschichte  der  Operation  reicht  bekanntlich  bis  auf  Riolan 
den  Jüngeren  zurück,  der,  wie  wir  bereits  früher  (S.  216)  erwähnten,  in 
seinem  „Encheiridium",  und  anderweitig1)  in  Fällen  von  Taubheit  und 
Ohrensausen,  die  durch  Verstopfung  der  Tuben  bedingt  sind,  die  Durch- 
bohrung des  Warzenfortsatzes  und  Einspritzung  durch  denselben  vor- 
schlug. Riolan  sagte  im  Opusc.  anat. :  Ideoque  defectu  hujus  canali- 
culi,   tubae   scilicet,   pervii   ad    evacuationem  flatuum   quid    ni    conferret, 


328  Die  Perforation  des  Processus  mastoideus. 

stylo  tenuissimo  pertusa  apophysis  mastoideae  cavernosa  substantia,  quae 
communicationem  habet  cum  concha  (p.  318)*). 

Dies  blieb  zunächst  nur  ein  Vorschlag,  den  allerdings  bald  auch 
Rolfin ck2)  unterstützte. 

Anders  sind  die  Fälle  zu  beurteilen,  bei  denen  wegen  Karies 
und  Fistelbildung  operative  Eingriffe  am  Warzenfortsatze  vor- 
genommen wurden3).  Die  ersten  Chirurgen,  die  rationell  vorgingen, 
waren  J.  L.  Petit  und  Heuermann,  ersterer  führte  die  Trepanation  bei 
fluktuierendem  Periostalabszeß  aus,  letzterer  bei  Fistelbildung  hinter  dem 
Ohre.  —  Aehnliche  auf  Karies  bezügliche  Fälle  teilten  noch  Morand4), 
Martin,  Bourienne  und  Bertrand-')  mit.  Aber  keiner  kam  auf  die 
Idee,  die  bei  Karies  so  wirksame  Operation  auch  zur  Behebung  der  Taub- 
heit auszuführen.  Diesen  unglücklichen  Gedanken  faßte  zuerst  der  schon 
erwähnte  Jas s er,  der,  veranlaßt  durch  einen  glücklich  operierten  Fall 
von  Karies  des  Warzenfortsatzes  (1776)  6),  die  Frage  aufwarf:  ..Könnte 
durch  diese  Operation  nicht  manche,  bis  jetzt  für  unheilbar 
gehaltene  Taubheit  geheilt  werden?"  7)  Dieser  Satz  gab  durch 
seine  unklare,  allgemein  gehaltene  Formulierung  des  Begriffs  „Taubheit" 
den  Anlaß,  die  Trepanation  des  Warzenfortsatzes  bei  allen  möglichen 
Formen  der  Taubheit  ohne  Indikationsstellung  zu  versuchen.  Der  Vor- 
schlag Jassers  fand  bald  nach  seinem  Bekanntwerden  Bestätigung  im 
günstigen  Sinne.  J.  G.  H.  Fielitz8)  berichtete  über  5  glückliche  Fälle, 
ohne  aber  die  Aetiologie,  Symptomatologie  und  selbst  die  Operation 
genauer  zu  beschreiben.  Weitere  günstige  Berichte  folgten  von  A.  F. 
Löffler9),  die  zeigten,  daß  schon  die  bloße  Perforation  ohne  Einspritzung 
durch  die  hergestellte  Passage  für  die  Trommelhöhlenluft  manche  Taub- 
heit heilen  könne.  Weniger  ermutigend  mußte  eine  Krankengeschichte 
A.  J.  Hagströms  10)  wirken,  der  die  Operation  beiluetischer  Taubheit  ohne 
jeden  Erfolg  vollzog.  Hagström  selbst  fühlte  sich  durch  die  schlechte  Er- 
fahrung, die  er  gemacht  hatte,  dazu  gedrängt,  Indikationen  aufzustellen,  was 
seine  Vorgänger  unterlassen  hatten.  Auch  beschrieb  er  genau  die  Operations- 


*)  Nach  einer  Mitteilung  von  Haller  (Bibl.  med.  pract.  I,  II,  Bas.  1777,  p.  39) 
könnte  es  zwar  scheinen,  als  ob  Alois  Mundella  diese  Operation  bereits  1556 
empfohlen  hätte,  da  Hall  er  berichtet,  daß  Mundella  bei  Schwerhörigkeit  zu  einer 
Perforation  des  Schädels  riete.  Doch  ist  diese  Stelle  Mundellas  nicht  richtig  ausgelegt 
worden.  Bei  ihm  heißt  es  nämlich:  „ut  forata  media  auris  funiculo  aliquo  ita  trajecta 
longo  tempore  servetur."  (Epistolae  medic.  divers,  autorum.  Lugd.  1556.  In  epistolis 
Aloisii  Mundellae.  p.  357.)  Hieraus  geht  deutlich  hervor,  daß  Mundella  nicht  die 
Absicht  haben  konnte ,  eine  Schnur  durch  das  durchbohrte  Mittelohr  zu  stecken, 
sondern  daß  mit  , media  auris"  zweifellos  der  mittlere  Teil  der  Ohrmuschel  gemeint 
ist,  eine  Interpretation,  die  noch  dadurch  gestützt  wird,  daß  Munde  IIa  an  derselben 
Stelle  außer  dem  Durchstecken  einer  Schnur  durch  die  Mitte  des  Ohres  das  An- 
legen einer  Fontanelle  hinter  dem  Ohre  empfiehlt. 


Die  Perforation  des  Processus  mastoideus.  329 

technik.  Einen  sehr  ungünstigen  Fall  teilte  Proet11)  mit,  und  bald 
schien  die  große  Begeisterung  einer  völligen  Verwerfung  zu  weichen,  als 
der  sensationelle  Todesfall  des  dänischen  Leibarztes  Johann  Gust. 
v.  Berger  12),  der  sich  der  Operation  behufs  Behebung  eines  langwierigen 
Ohrenleidens  unterzogen  hatte,  bekannt  wurde.  Berger  litt  seit  Jahren 
an  heftigem  Schwindel,  Kopfschmerz  und  Sausen  in  beiden  Ohren,  wobei 
das  Gehör  allmählich  abnahm.  Er  ließ  sich  von  Kölpin  und  Callisen 
operieren  und  starb  unter  meningitischen  Erscheinungen  nach  12  Tagen. 
Aber  auch  dieses  Ereignis,  das  allerdings  auf  die  mangelnde  Asepsis 
zurückzuführen  ist,  damals  aber  der  Operation  als  solcher  zugeschrieben 
wurde,  schien  noch  nicht  als  abschreckendes  Beispiel  zu  wirken,  da  noch 
nachher  von  manchen  die  Operation  gegen  Taubheit  angepriesen  wurde. 

Der  Nutzen  aber,  der  der  Wissenschaft  hieraus  erwuchs,  war  der, 
daß  man  einerseits  dazu  gedrängt  wurde,  die  Anatomie  des  Warzen- 
fortsatzes genauer  zu  studieren,  und  daß  man  andererseits  darauf  be- 
dacht war,  durch  schärfere  Indikationsstellung  die  für  die  Operation 
geeigneten  Fälle  auszuwählen. 

Die  Anatomie  des  Warzenfortsatzes  wurde  um  diese  Zeit  vornehm- 
lich von  Murray  1;i),  Arnemann14)  und  Hagström  gefördert.  Ihr 
Verdienst  bestand  darin,  daß  sie  nicht  bloß  die  Zellen  des  Warzenfort- 
satzes, sondern  die  Kommunikation  der  Zellen  untereinander  und  mit  der 
Trommelhöhle  und  die  vielfachen  Varietäten  der  pneumatischen  Warzen- 
fortsätze genauer  beschrieben.  Nähere  Angaben  über  das  häufige  Vor- 
kommen zellenloser,  diploetischer  Warzenfortsätze  im  normalen  Zustande 
(von  Zuckerkandl  in  20°/o)  vermissen  wir  in  diesen  Arbeiten.  Nur 
Murray  erwähnt  einen  Fall,  in  dem  sämtliche  Warzenzellen  fehlten  und 
das  Gehör  dennoch  in  keiner  Weise  gestört  war. 

Während  J.  Arne  mann  in  weitgehendster  Weise  bei  jeder  „gänz- 
lichen Taubheit  überhaupt,  oder  einer  Harthörigkeit,  die  immer  zunimmt 
und  wogegen  alle  anderen  Mittel  vergebens  gebraucht  sind",  die  Operation 
anwenden  wollte,  ja  sogar  bei  „lange  anhaltenden  Ohrenschmerzen  und 
Brausen  in  den  Ohren"  oder  „wenn  die  Eustachische  Trompete  durch 
Schleim  oder  andere  stockende  Feuchtigkeiten  verstopft  ist",  die  Trepa- 
nation des  Warzenfortsatzes  empfahl,  beschränkten  andere  Autoren,  wie 
Herholdt1"')  und  Callisen16),  ihre  Anwendung  auf  ein  kleineres  Gebiet. 
Herholdt,  durch  einen  ungünstig  verlaufenen  Fall  gewarnt,  schied  mehrere 
Formen  von  Taubheit,  wie  die  durch  Akustikusaffektionen  bedingten  aus, 
wobei  er  sich  diagnostisch  besonders  auf  die  Prüfung  der  Schallperzeption 
durch  die  Zähne  stützte,  und  ferner  die  ätiologischen  Momente  und 
gewisse  Symptome  wie  Schwindel,  Kopfschmerz,  Blindheit  und  andere 
Cerebralerscheinungen  berücksichtigte.  Kontraindiziert  war  die  Trepa- 
nation des  Proc.  mast.  außerdem  bei  Taubheit  infolge  von  Erkrankungen 


330  Die  Perforation  des  Processus  mastoideus. 

des  äußeren  Gehörgangs  und  endlich  bei  Schwerhörigkeit,  die  durch  dia- 
gnostizierbare Affektionen  des  Trommelfells,  der  Trommelhöhle,  des 
Rachens,  der  Tubenöffnungen  veranlaßt  wird.  Als  Hauptindikation  der 
Jasserschen  Operation  stellt  Herholdt  in  erster  Reihe  die  Karies  des 
Warzenfortsatzes  auf. 

Ebenso  vorsichtig  bestimmt  H.  Callisen  die  Indikation  der  Operation ; 
er  kommt  in  Erwägung  der  anatomischen  und  praktischen  Schwierig- 
keiten zum  Schlüsse,  daß  sie  lediglich  bei  Karies  und  Eiteransamm- 
lungen im  Warzenfortsatz  e  und  in  der  Trommelhöhle,  vielleicht 
auch  bei  Verstopfungen  der  Tube  behufs  Zufuhr  der  Luft  von  außen  von 
Nutzen  sein  kann.  Diese  Bemerkungen  stehen  im  Gegensatz  zu  Hag- 
ströms  Abhandlung17),  der,  obwohl  er  einen  selbstoperierten,  un- 
günstig verlaufenen  Fall  mitteilt,  die  Operation  auch  bei  Affektionen  der 
Trommelhöhle  anriet,  sie  sogar  den  Injektionen  durch  die  Eustachische 
Röhre  vorzieht. 

Ausführliche  Schilderungen  der  Jasserschen  Operation  finden  sich 
ferner  bei  Bernstein  und  Weber18),  durch  einige  eigene  Beobachtungen 
vervollständigt. 

Unter  dem  Einfluß  der  französischen  Otiatrie,  namentlich  durch  die 
weitere  Ausbildung  des  Katheterismus  tubae  und  der  Luftdousche,  deren 
Geschichte  wir  hier  folgen  lassen,  wurde  die  Eröffnung  des  Warzenfort- 
satzes später  ausschließlich  bei  Karies  unternommen. 

l)  Opusc.  anat.  Lond.  1649,  p.  218;  Anthropologia  Lib.  IV,  cap.  5.  —  2)  Diss. 
anat.,  Jenae  1656,  Lib.  II,  cap.  15,  p.  279.  —  3)  Vergl.  die  Beobachtung  Valsalvas 
S.  240.  Daß  manchmal  durch  Warzenfortsatzkaries  bedingte  Kopfschmerzen  und 
Hörstörungen  durch  spontane  Ausstoßung  nekrotischer  Knochenstücke  heilen  können, 
wußten  bereits  Duverney  (1.  c.  p.  183),  Cassebohm  (1.  c.  Tract.  IV).  —  4)  Verm. 
chirurg.  Schriften.  Aus  d.  Franz.  Leipzig  1774,  p.  4  sq.  —  5)  Journal  de  medeeine 
et  Chirurgie  T.  XXX,  T.  XLI,  T.  XLII.  —  6)  Krankengesch.,  zit.  bei  Lincke  II,  82. 
oder  in  Hagströms  Abhdlg.,  Lincke,  Sammig.  IV,  p.  20,  vide  Lincke  Sammig.  IV, 
p.  195  (wo  die  Krankengesch.  von  Jasser,  Fielitz  und  Löffler  enthalten  sind).  — 
7)  Schmuckers  Verm.  chirurg.  Sehr.  Berlin  1782,  III,  p.  113—125.  —  8)  Richters 
chir.  Bibl.  VIII,  S.  324,  IX,  S.  355,  Göttingen  1785—1790.  —  9)  Richters  chir. 
Bibl.  X,  S.  613.  —  10)  Neue  Abbandlungen  der  Königl.  Schwed.  Akad.  1789,  Bd.  X, 
184—194,  vide  Lincke  Bd.  IV,  S.  20  ff.  —  »')  Todes  Arzneikundige  Annalen  XII. 
—  12)  Quellen  zu  Bergers  Krankengeschichte;  Todes  Arzneikundige  Annalen  XII, 
S.  52,  Kopenh.  1792;  Salzburg,  med.  chir.  Ztg.  1791.  II,  S.  366.  —  Conferenceraad 
von  Bergers  siste  Sygdom  of  Hr.  Institsraad  Kölpin  .  .  .  Copenhag.  1792.  —  13)  Neue 
Abh.  der  K.  Schwed.  Acad.  d.  Wissensch.  Bd.  X,  1789,  S.  197,  in  Linckes  S.  IV, 
p.  33.  —  14)  Bemerkungen  über  die  Durchbohrung  des  Proc.  mast.  in  gewissen  Fällen 
der  Taubheit.  Göttingen  1792.  —  15)  J.  C.  Todes  Arzneikundige  Annalen  XII, 
S.  18 — 51,  vd.  Lincke  S.  IV,  p.  44  S.  —  I6)  Commentatio  de  fatis  atque  cautelis 
injeetionis  cavitatis  tympani  per  processum  mastoideum  ossis  temporum  Act.  reg. 
societ.  med.  Hafniens  III.  Hauniae  1792,  p.  435-456,  Lincke  S.  IV,  p.  59  ff.  — 
]7)  Andr.  Job.   H.  über  die  Durchbohrung   des  Warzenfortsatzes  etc.  in  Linckes 


Der  Katheterismus  der  Eustachischen  Ohrtrompete.  331 

S.  IV,  p.  20  ff.  aus  Königl.  Schwed.  Acad.  d.  Wiss.  1789.  —  18)  Gesch.  einer  durch 
Perforation  des  Warzenfortsatzes  bewerkstelligten  Entleerung  einer  Eiterablagerung  etc. 
Lincke  S.  IV,  p.  96  ff. 

Der  Katheterisinus  der  Eustachischen  Ohrtrompete. 

Der  Katheterismus  der  Ohrtrompete,  die  erste  reelle  Bereicherung 
der  Otiatrie,  wurde  im  Jahre  1724  von  dem  Postmeister  Guyot  in  Ver- 
sailles zur  allgemeinen  Kenntnis  gebracht.  Er  hatte  gegen  sein  Gehör- 
leiden bei  Aerzten  vergeblich  Hilfe  gesucht  und  wurde,  wie  Sabatier 
berichtet,  durch  seine  Not  getrieben  *)  der  Erfinder  eines  Heilverfahrens, 
das  bei  den  reichen  anatomischen  Erfahrungen  seines  Zeitalters  schon 
längst  aus  theoretischen  Erwägungen  hätte  abgeleitet  werden  müssen. 

Guyot  teilte  seine  Methode  der  Pariser  Akademie  mit2),  fand  hier 
jedoch  wenig  Glauben,  da  man  der  Ansicht  war,  daß  lediglich  die 
Schlundmündung  der  Trompete,  nicht  aber  sie  selbst  instrumenteil  zu- 
gänglich sei.  Er  bediente  sich  einer  zinnernen,  knieförmig  gebogenen 
Röhre,  die  er  durch  den  Mund  hinter  dem  Gaumensegel  nach  oben 
schob  und  in  die  Tubenmündung  einführte.  Das  äußere  Ende  der  Röhre 
war  mit  einem  für  die  Injektion  dienenden  Apparat  verbunden,  der  aus 
einer  Doppelpumpe  mit  einem  gemeinschaftlichen  Reservoir  bestand,  die 
durch  zwei  entgegengesetzte  Kurbeln  in  Bewegung  gesetzt  wurde.  Ein 
mit  dem  Reservoir  zusammenhängender  Lederschlauch  stand  mit  dem 
äußeren  Katheterende  in  Verbindung. 

Die  Schwierigkeit  der  Prozedur  hätte  die  ganze  Frage  des  Ka- 
theterismus wieder  von  der  Tagesordnung  verschwinden  lassen,  hätte 
nicht  nach  Guyot,  wahrscheinlich  unabhängig  von  ihm,  der  englische 
Militärarzt  Archibald  Clelancl  empfohlen,  den  Katheter  durch  die 
Nase  einzuführen.  Cleland3)  veröffentlichte  sein  Verfahren  im  Jahre 
1741,  ohne  Guyot  zu  nennen.  Nach  Cleland  ist  in  allen  Fällen  von 
Schwerhörigkeit,  die  von  einer  Verstopfung  der  Ohrtrompete  herrühren, 
das  Ausspülen  mit  lauem  Wasser  angezeigt.  Zu  diesem  Zwecke  führe 
man  eine  dünne,  biegsame  silberne  Röhre  durch  die  Nase  in  die, 
in  der  Nähe  der  hinteren  Nasenöffnung  (Choane)  und  des  Gaumenbogens 
befindliche  Tubenmündung  ein.  An  dem  vorderen  Ende  überziehe  man 
sie  vorher  mit  einer  Harnröhre  vom  Schafe,  während  das  hintere  Ende 
mit  einem  elfenbeinernen  Ansätze  zur  Aufnahme  einer  Spritze  versehen 
sein  müsse,  um  laues  Wasser  oder  Luft  in  die  Eustachische  Röhre 
eintreiben  zu  können.  Presse  man  nun  Luft  forciert  in  die  Trommelhöhle 
ein,  so  werde  der  Tubenkanal  hinlänglich  erweitert  und  die  verstopfende 
..Materie"    entleert. 

Cleland s  Abhandlung  entging  der  Aufmerksamkeit  seiner  Zeit- 
genossen   beinahe  gänzlich,    was  in  Anbetracht    der   mangelhaften  Kom- 


332 


Der  Katheterismus  der  Eustachischen  Ohrtrompete. 


munikationsmittel  jener  Zeit  nicht  befremden  kann.  Wie  er  selbst 
Guyots  nicht  gedacht,  so  schrieben  Antoine  Petit  und  Jonathan 
Wathen  sich  die  Erfindung  des  Katheterismus  durch  die  Nase  zu,  ohne 
Cleland  zu  nennen. 

Petit,  der  in  seiner  Ausgabe  der  Palfyn sehen  Anatomie  Guyots 
Verfahren  kritisiert,  behauptet  als  erster  den  Katheterismus  tubae  durch 
die  Nase  empfohlen  zu  haben1). 

Wathen  zitiert  wohl  Guyot  und  Petit,  nicht  aber  Cleland;  er 
gibt  vielmehr  an,  sein  Lehrer  J.  Douglas,  der  in  seinen  anatomischen 


Fig.  15.  Erste  Abbildung  des  Katheterismus  tubae  von  Jonathan  Wathen.  Ver- 
kleinerte photogr.  Reproduktion  aus  dem  49.  Bande  der  Philosophical  Transactions  1756. 

Vorlesungen  die  Möglichkeit  der  Ausführung  des  Katheterismus  durch 
die  Nase  demonstrierte,  habe  ihn  auf  den  Gedanken  gebracht,  dieses 
Verfahren  am  Lebenden  zu  versuchen5).  Die  Methode  Guj^ots  hält 
Wathen  für  unausführbar6).  Nachdem  er  sich  an  Leichen  hinläng- 
lich eingeübt,  erzielte  er  eine  wesentliche  Hörverbesserung  durch  Ein- 
spritzungen in  den  Tubenkanal.  Wathen  beschreibt  sein  Verfahren 
folgendermaßen7):  „Die  Röhre  von  Silber  hat  ungefähr  die  Länge  und 
Dicke  einer  gewöhnlichen  Sonde  und  ist  an  ihrem  Ende  ein  wenig  ge- 
bogen. Man  füllt  eine  elfenbeinerne  Spritze  mit  einer  Flüssigkeit,  z.  B. 
einer  Mischung  von  warmem  Wasser  und  etwas  Rosenhonig,  fügt  die 
Spritze  an  das  äußere  Ende  der  Röhre  und  führt  sie  zwischen  Nasen- 
flügel und  Nasenscheidewand   so  ein,    daß    die  Krümmung  anfangs  nach 


Der  Katheterismus  der  Eustachischen  Ohrtrompete.  333 

oben,  in  der  Tiefe  jedoch  etwas  nach  unten  gekehrt  ist,  bis  sie  in  die 
Nähe  der  Mündung  der  Eustachischen  Röhre  kommt.  Hierauf  schiebt 
man  die  Röhre,  die  Konvexität  gegen  die  Nasenscheidewand  hin  ge- 
richtet, in  die  Eustachische  Röhre  vor.  Ist  dies  geschehen,  spritzt 
man  die  Flüssigkeit  durch  sie  in  die  Tube  ein,  wodurch  Unreinlichkeiten 
verdünnt  und  ausgespült  werden  und  die  injizierte  Flüssigkeit  durch  Mund 
oder  Nase  oder  durch  beide  ausfließt." 

Bevor  wir  die  Fortschritte  schildern,  die  Cleland- Wathens  Ver- 
fahren namentlich  durch  französische  Otologen  machte,  müssen  wir  noch 
einer  in  der  Zeit  zwischen  Clelands  und  Wathens  Publikation  er- 
schienenen Dissertationsschrift  Jul.  Bussons  gedenken,  deren  Titel 
lautet:  Quaestio  medico-chirurgica :  An  absque  membranae  T^mpani 
apertura  topica  injici  in  concham  possunt?  (Paris  1748).  In  dieser  Schrift 
findet  sich  der  beachtenswerte  Vorschlag,  bei  eitrigen  Prozessen  in  der 
Trommelhöhle  Dämpfe  in  die  Eustachische  Röhre  zu  bringen.  Das 
Mittel,  wodurch  dies  gelingen  soll,  bestehe  darin,  daß  man  erweichende 
Dämpfe  einatmen,  Mund  und  Nase  verschließen  und  dann  starke  Ver- 
suche zum  Ausatmen  anstellen  lasse  (Valsalva scher  Versuch),  wo- 
durch die  Dämpfe  in  die  Tube  gelangen,  ein  Verfahren,  das  heute  in 
England  zum  Einbringen  von  Salmiakdämpfen  mehrfach  Verwendung 
findet. 

Obzwar  die  Methode  des  Katheterismus  durch  die  Nase  bald 
die  allein  herrschende  wurde  und  der  größte  Teil  der  Aerzte  den  Ka- 
theterismus durch  den  Mund  als  unausführbar  verwarf,  bemühten  sich 
anfangs  doch  manche,  die  Methode  Guvots  auszubilden.  Zu  diesen 
zählt  besonders  van  Swieten,    Gisbert   ten    Haaf8)    u.  a. 

Die  beste  Ausbildung  erfuhr  die  Cleland  sehe  Methode  zunächst 
in  Frankreich,  wo  Sabatier1')  einen  geeigneteren  Katheter  konstruierte 
und  dadurch  die  Applikation  wesentlich  erleichterte.  Er  war  aus  Silber 
gefertigt,  besaß  eine  Krümmung  von  130  °,  war  4"  lang,  1'"  dick.  An 
seinem  Ende  befand  sich  ein  Schraubengang  zum  Aufschrauben  einer 
Spritze.  Um  die  Lage  des  in  die  Nase  eingeführten  Instruments  sofort 
zu  erkennen,  trug  der  Katheter  am  hinteren  Ende  eine  kleine  Platte, 
die  mit  der  Biegung  des  Rohres  korrespondierte. 

In  Deutschland  erschien  1786  eine  Uebersetzung  der  Abhandlung 
Wathens  unter  dem  Titel:  „Wiederherstellung  des  Gehörs  durch 
eine  leichte  chirurgische  Operation"  (Altenburg  1786).  Obwohl 
der  Verfasser,  gestützt  auf  mehrere  höchst  instruktive  Fälle,  den  Ka- 
theterismus eindringlichst  empfahl,  kam  das  Verfahren  doch  nur  sehr 
langsam  in  Aufnahme,  da  der  größte  Teil  der  Aerzte  infolge  anatomi- 
scher Unkenntnis  und  abgeschreckt  durch  die  Abneigung  der  Patienten, 
es  vorzog,  bei  dem  alten  Schlendrian  zu  bleiben,  d.  h.  bei  therapeutischen 


334  Der  Katheterismus  der  Eustachischen  Ohrtrompete. 

Maßnahmen,  die  sich  lediglich  auf  rohe  Empirie,  nicht  aber  auf  rationelle 
anatomisch-physiologische  Grundlagen  stützten.  So  kam  es,  daß  man  zu 
einer  Zeit,  als  der  Katheterismus  längst  bekannt  war,  noch  immer  wahl- 
los zu  den  eingreifendsten  Operationen,  zur  Trommelfellperforation  oder 
zur  Durchbohrung  des  Warzenfortsatzes  griff.  Selbst  in  England  empfahl 
Sims,  der  manche  interessante  Beobachtung  über  die  durch  Erkran- 
kungen der  Ohrtrompete  verursachten  Hörstörungen  machte,  alles  eher  als 
den  Katheterismus.  Die  wichtigsten  Heilmittel  waren  ihm  Gurgelwässer, 
Blasenpflaster,  Schröpfen,  Purgiermittel,  Fontanellen  oder  der  einfache 
Valsalvasche  Versuch.  In  seiner  Abhandlung  .,Observations  on  deaf- 
ness  from  Affections  of  the  Eustachian  tube"10)  sagt  er  über  den  Ka- 
theterismus: „Durch  den  Mund  scheinen  die  Einspritzungen  beinahe  gar 
nicht  möglich  zu  sein,  durch  die  Nase  hingegen  sind  sie  bisweilen  ge- 
glückt. Die  zu  den  Einspritzungen  verwendete  Flüssigkeit  kann  in  die 
Luftröhre  fallen  und  einen  heftigen  Husten  erregen,  oder,  Avas  von 
größerer  Wichtigkeit  ist,  es  kann  selbst  der  geschickteste  Wundarzt  nie 
gewiß  sein,  ob  er  die  Spitze  der  Spritze  wirklich  in  die  OefFnung  der 
Eustachischen  Röhre  eingebracht  hat."  Viele  andere  bedeutende 
Männer  hielten  die  Ausführung  des  Tubenkatheterismus  für  undurch- 
führbar oder  für  unsicher  in  der  Ausführung,  so  der  berühmte  Chirurg 
Benjamin  Bell  aus  Edinburg11)  und  der  Franzose  Portal12). 

Solche  absprechende  Urteile  sonst  trefflicher  Autoren  können  umso 
weniger  befremden,  wenn  man  erwägt,  daß  der  Katheterismus  der  Ohr- 
trompete infolge  der  unvollkommenen  Instrumente  jener  Zeit  nur  den  ge- 
schicktesten Händen  zugänglich  war.  Es  bedurfte  erst  der  Erkenntnis, 
daß  der  Tubenkanal  die  Haupteingangspforte  für  therapeutische  Agenzien 
in  das  Mittelohr  bilde,  um  der  Ohrtherapie  einen  wissenschaftlichen  Hinter- 
errund zu  verleihen.  Diese  Erkenntnis  war  das  Verdienst  der  französischen 
Otologen  aus  dem  Anfange  des  19.  Jahrhunderts,  eines  Saissy,  Itard, 
Deleau.  Der  letztgenannte  namentlich  bahnte  durch  die  Einführung  der 
elastischen  Katheter  und  der  Luftdusche  die  weitere  Vervollkommnung 
dieses  wichtigen  therapeutischen  Eingriffes  an.  —  In  Deutschland  hat  sich 
später  W.  Kr  am  er  um  die  Ausbildung  der  Technik  des  Katheterismus 
verdient  gemacht. 

')  Dictionnaire  des  sciences  mddicales  1819.  38.  p.  102.  —  2)  Histoire  de 
l'Academie  Royale  des  sciences  1724.  p.  37.  Les  Anatomistes  ne  croyoient  point  que 
cette  Trompe  put  etre  seringuee  par  la  bouche;  cependant  M.  Guyot  Maitre  de  la 
Poste  ä  Versailles  a  trouve  pour  cet  usage  un  Instrument  que  l'Academie  a  juge 
tres  ingenieux.  La  piece  principale  en  est  un  Tuyau  recourbe,  que  Ton  insinue  au 
fond  de  la  bouche,  derriere  et  au  dessus  du  Palais,  ä  dessein  de  l'appliquer  au 
Pavillon  de  la  Trompe  qu'on  veut-injecter.  On  en  lave  au  moins  l'embouchure  ce 
qui  peut  Stre  utile  en  certains  cas!  —  3)  Phil.  Transact.  Vol.  41,  P.  2,  for  the  years 
1740,    1741,    erschienen    1744.     The   following   Instruments   are   made   to   open   the 


Der  Katheterismus  der  Eustachischen  Ohrtrompete.  335 

Eustachian  Tube:  If,  upon  Trial.  it  should  be  found  to  be  obstructed,  the  Passage 
is  to  be  lubricated  by  throwing  a  little  warm  water  into  it  by  a  Syringe  to  a 
flexible  silver  Tube,  which  is  introduced  through  the  Nose  into  the  oval  opening  of 
the  Duct  at  the  posterior  opening  of  the  Nares,  towards  the  Arch  of  the  Palate.  The 
Pipes  of  the  Syringe  are  made  small,  of  Silver,  to  admit  of  bending  them,  as  occasion 
offers ;  and  for  the  most  part  remsemble  small  Catheters :  they  are  mounted  with  a 
Sheep's  Ureter ;  the  other  End  of  which  is  fixed  to  an  Ivory  Pipe ;  which  is  fitted  to 
a  Syringe,  whereby  warm  Water  may  be  injected :  or  they  will  admit  to  blow  into 
the  Eustachian  Tube,  and  so  force  the  Air  into  the  Barrel  of  the  Ear,  and  dilate 
the  Tube  sufficientely  for  the  Discharge  of  the  excrementitious  Matter  that  may  be 
logded  there;  the  Probes  which  are  of  the  same  Shape  with  the  Pipes,  have  small 
Notches  near  the  Points,  which  take  in  some  of  the  hardened  and  glutinous  Matter, 
that  is  contained  in  those  Tubes,  which  is  distingueshed  by  the  fetid  Smell,  when  the 
Probes  are  withdrawn.  There  is  another  Kind  of  Deafness,  which  proceeds  from  a 
violent  Clap  of  Thunder,  Noise  of  Cannon,  or  the  like.  In  this  case,  it  is  probable,  that 
the  Position  of  the  Membrana  Tympani  is  altered,  being  forced  inwards  upon  the 
small  Bones,  and  so  becomes  concave  outward ly.  In  this  case  no  Vibration  of  Sounds 
will  be  communicated  to  the  Drum,  until  the  Membrane  has  recovered  the  normal 
Position.  The  Means,  proposed  to  remedy  this  Disorder,  are  first  (if  the  Person  heard 
very  well  before;  and  it  be  not  too  long  after  the  Accident  has  happened)  to  oblige 
the  Patient  to  stop  his  Mouth  and  Nose,  and  force  the  Air  through  the  Eustachian 
Tube  into  the  Barrel  of  the  Ear,  by  several  strong  Impulses.  But  if,  by  any  Accident, 
the  Excrement  is  hardened  in  the  Tube,  or  the  Orifice  of  it,  which  opens  into  the 
Barrel  of  the  Ear,  should  be  stopped  up,  so  as  that  no  Air  can  be  forced  that  Way, 
the  second  method  proposed,  is  to  introduce  into  the  meatus  auditorius  externus  an 
Ivory  Tube,  as  near  to  the  Drum  can  be  done,  and  so  exactly  fitted,  that  no  Air 
can  go  in  or  out,  between  the  Skin  of  the  external  Meatus  and  the  Tube.  When  it 
is  thus  fixed,  I  take  the  further  small  End  in  my  Mouth,  and  by  degrees,  draw  out 
what  Air  is  contained;  and  I  believe  it  will  act  like  a  Sucker  upon  the  Membrane, 
and  draw  it  back  to  its  natural  State ;  and  then  the  Person  will  hear  as  before. 
(Phil.  Trans.  Vol.  41,  Pt.  2,  p.  848  ff.)  —  4)  Anatomie  chirurgicale,  Paris  1753,  Tome  II, 
p.  472.  —  5)  A  Method  proposed  to  restore  the  Hearing,  when  injured  from  an  Ob- 
struction  of  the  Tuba  Eustachiana,  Phil.  Trans,  read  (May  1755)  for  the  year  1755, 
Vol.  49,  Lond.  1756.  —  6)  Convinced  of  this  Monsieur  Petit  proposed,  and  that 
learned  and  skilful  Mr.  John  Douglas  first  demonstrated  the  possibility  of  passing 
the  probe  etc.,  through  the  nose  into  the  Eustachian  tube :  and  this  he  has  constantly 
shown  to  those  who  have  attended  his  public  lectures;  and  to  him  I  freely  aeknow- 
ledge  myself  indebted  for  the  hint,  by  which  I  was  incited  to  make  trial  on  the 
living  of  an  Operation  of  so  much  importance  to  mankind.  —  7)  The  pipe  is  made 
of  silver,  about  the  size  and  length  of  a  common  probe,  and  a  little  bent  a  the 
end:  this  being  fixed  to  an  ivory  syringe.  füll  of  liquor  (a  little  mel  rosarum  in 
warm  water)  must  be  introduced  between  the  ala  and  septum  of  the  nose,  with  its 
convexity  towards  the  upper  part  of  the  aperture  of  the  nares;  and  thus  continued 
backwards,  and  a  little  downwards,  tili  it  comes  near  the  elliptic  orifice;  then  its 
convexity  is  turned  toward  the  septum,  by  which  the  inflected  extremity  enters  the 
tuba  Eustachiana  with  ease;  the  liquor  is  then  impelled  through  it  into  the  tube, 
by  which  the  sordes,  if  any,  being  diluted,  is  washed  out,  and  regurgitates  through 
the  nose,  or  mouth,  or  both  with  the  injection.  —  8)  Verhandelten  van  het  Cataafsch 
Tenootschap  der  proefenden  vindelyke  Wysbeg  eerte  te  Rotterdam.  Deel  V.  p.  216,  1780. 
—  9)  Diction.  des  sciences  medicales.     T.  38,  p.  106.  —  10)  Memoirs  of  the  Medical 


336  Die  künstliche  Perforation  des  Trommelfells. 

Society  of  London  1787.  Vol.  I,  p.  94—117.  —  n)  A  System  of  Surgery,  7<*  ed. 
Edinb.  1801.  Vol.  V,  p.  105  u.  106.  —  12)  Precis  de  Chirurgie  pratique.  Paris  1768, 
Vol.  II.  p.  481. 

Die  künstliche  Perforation  des  Trommelfells. 

Um  die  Wende  des  18.  Jahrhunderts  wurde  die  praktische  Ohren- 
heilkunde durch  ein  Verfahren  bereichert,  das  ursprünglich  ganz  rationell 
ersonnen,  infolge  planloser,  mißbräuchlicher  Anwendung  bald  wieder  in 
Mißkredit  kam.  Wir  meinen  die  zuerst  von  Astley  Cooper  in  größerem 
Maßstabe  ausgeführte  Durchbohrung  des  Trommelfells. 

Bevor  wir  auf  die  Geschichte  dieser  Operation  eingehen,  müssen 
wir  auf  mehrere  Vorläufer  Coopers,  vor  allem  auf  den  bereits  ge- 
nannten Riolan  den  Jüngeren  hinweisen. 

Zunächst  sei  auf  die  Experimente  verwiesen,  die  Valsalva  in  Nach- 
prüfung der  Versuche  des  Th.  Willis  an  Hunden  anstellte,  um  zu  er- 
forschen, ob  sie  infolge  der  Perforation  des  Trommelfells  das  Gehör  ver- 
lören. Solche  auch  von  anderen  Anatomen  und  Physiologen  wiederholte 
Experimente  brachten  Cheselden  (1688 — 1793)  ]),  den  Vater  der  eng- 
lischen Chirurgie,  auf  den  Gedanken,  hierüber  auch  am  Menschen  zu 
experimentieren.  Die  sich  einmal  bietende  Gelegenheit,  die  Operation  an 
einem  zum  Tode  Verurteilten  vorzunehmen,  konnte  jedoch  aus  äußeren 
Gründen  nicht  ausgeführt  werden.  Cheselden  vermochte  daher,  nur  auf 
theoretische  Argumente  gestützt,  den  Rat  zu  erteilen,  die  Perforation  in 
Fällen  zu  machen,  wo  die  Schallfortpflanzung  durch  eine  Affektion  des 
Trommelfells  behindert  ist. 

Den  Einschnitt  in  das  Trommelfell  bei  Eiterungsprozessen 
der  Trommelhöhle  riet  schon  Julius  Busson  im  Jahre  17482)  an*).  Im 
Jahre  1760  soll  bereits  ein  in  Frankreich  herumziehender  Kurpfuscher, 
namens  Eli,  wie  in  Hallers  (junior)  Briefen3)  zu  lesen  ist,  die  Operation 
mit  Erfolg  an  tauben  Menschen  vorgenommen  haben.  In  England  war 
es  der  Edinburger  Professor  Peter  Degravers  (1788),  der  in  roher 
Weise  die  Operation  versuchte,  indem  er  in  einem  Falle  von  Schwer- 
hörigkeit zweimal  das  Trommelfell   einschnitt   und  wieder   zuheilen  ließ. 

Portal4)  warf  die  Frage  auf,  ob  es  nicht  vorteilhaft  sei,  bei 
starker,  unheilbarer  Verdickung  des  Trommelfells  eine  Oeffnung  in  das- 
selbe zu  machen,  im  Gegensatze  zu  Sabatier,  der  vorschlägt,  bei  Er- 
schlaffung dieser  Membran  das  gleiche  zu  tun.  Der  Italiener  Monteggio5) 
brannte  mit  Höllenstein  ein  Loch  ins   Trommelfell,  welches  jedoch  nach 


*)  Dieselbe  Indikation,  nämlich  bei  eitrigen  Mittelohrerkrankungen  die  Para- 
centese  auszuführen,  stellten  auch  später  Alard  (Essai  sur  le  catarrhe  de  l'oreille, 
I.  ed.  1803.  —  II.  ed.  1807.  Paris)  und  Yearsley. 


Die  künstliche  Perforation  des  Trommelfells.  337 

wenigen  Tagen  zuheilte,  ohne  daß  eine  Besserung  der  Schwerhörigkeit 
eintrat. 

In  Deutschland  war  es  der  berühmte  Göttinger  Okulist  K.  HirnlyG), 
der  auf  Grund  von  Experimenten  an  Hunden  und  gestützt  auf  Versuche 
am  Trommelfelle  von  Leichen,  schon  1797 — 99  die  Operation  bei  Ver- 
schließung  der  Tuba  empfahl,  wenn  der  Tubenverschluß  durch  andere 
Mittel  nicht  behoben  werden  könne. 

Astley  Cooper7),  der  in  den  Phil.  Trans,  der  Jahre  1800,  1801  von 
Erfolgen  berichtete,  die  er  mittels  der  Trommelfelldurchbohrung  erzielt 
hatte,  begründete  sein  Verfahren  durch  die  Annahme,  es  könnte  hiedurch 
eine  Art  von  Substitution  für  die  undurchgängige,  verstopfte  Eustachische 
Röhre  geschaffen  werden.  Da  die  Perforation  an  sich  das  Gehörvermögen 
nicht  beeinträchtige,  so  werde  sie  in  allen  Fällen,  wo  die  Wegsamkeit 
der  Ohrtrompete  aufgehoben  sei,  von  Nutzen  sein.  In  der  Tat  konnte  er 
von  einer  völligen  Restitution  des  Gehörs  in  drei  Fällen  berichten,  in 
denen  die  Perforation  vorgenommen  worden  war.  Sehr  bald  jedoch 
schwand  seine  Siegesgewißheit;  denn  nachdem  er  das  Verfahren  bei- 
läufig 50mal  versucht  hatte,  mußte  er  infolge  ungünstiger  Erfahrungen  den 
optimistischen  Erwartungen  des  Publikums  und  der  Aerzte  offen  ent- 
gegentreten und  erklären ,  daß  die  Operation  nutzlos  sei ,  da  es  kein 
Mittel  gebe,  die  künstliche  Oeffnung  offen  zu  erhalten,  und  nach  der 
Verwachsung  der  Lücke  die  Schwerhörigkeit  meist  noch  hochgradiger 
sei  als  vor  der  Operation. 

Trotz  der  Resignation  ihres  Erfinders  wurde  die  Operation  noch 
lange  übt  und  alle  Mühe  daran  gesetzt,  das  Instrumentarium  zu  ver- 
bessern*). In  Frankreich  waren  es  vornehmlich  Trucy8),  Ribes,  Du- 
bois,  Celliez9),  Alard,  Parois  und  Maunoir  10),  die  die  Perforation 
meist  mit  ungünstigem  Erfolge  ausführten.  Auch  die  Resultate  Itards 
und  Deleaus,  die  auf  die  schon  fast  vergessene  Operation  die  Auf- 
merksamkeit lenkten,  waren  nichts  weniger  als  ermunternd.  Itard  hat 
die  Paracentese  bloß  zweimal  mit  günstigem  Erfolg  ausgeführt,  einmal 
bei  Verschluß  der  Tube,  das  andere  Mal  bei  einem  Taubstummen, 
bei  dem  die  Trommelhöhle  mit  Schleim  erfüllt  war,  den  er  durch 
wiederholte  Einspritzungen  entfernte.  In  England  wendeten  u.  a.  Saun- 
ders  und  Yearsley  die  Operation  an,  letzterer  nur  in  Fällen  von  eitriger 
Otitis.  Saunders  hält  die  Operation  auch  bei  Empyem  der  Trommel- 
höhle indiziert.  Bei  den  vielen  Operationen  konnte  er  nur  von  einem 
glücklichen  Fall  Mitteilung  machen,  in  dem  es  sich  um  Tubenverschluß 


*)  Verbesserungen  des  Perforationsinstruments  nahmen  vor:  Himly,  Saissy, 
Asbury,   Lang,   Rust,   Celliez,    Paroisse,    Fuchs,    Travers,    Itard, 
Maunoir,  Arnemann,  Richerand.  Deleau,    Graefe,  Fabrizi,  Lincke. 
Politzer,  Geschichte  der  Ohrenheilkunde.    I.  22 


338  Die  künstliche  Perforation  des  Trommelfells. 

infolge  eines  syphilitischen  Rachengeschwüres  handelte.  In  den  Niederlanden 
handhabten  der  Utrechter  Nieu  wenhuis  ir)  und  die  beiden  Brüsseler 
Aerzte  Andre  und  Neuburg12)  das  Verfahren  und  berichteten  ins- 
besondere bei  Taubstummen  über  glänzende  Erfolge.  Hendriksz  13),  Vor- 
stand der  Taubstummenanstalt  in  Groningen,  sah  sich  sogar  veranlaßt,  nach 
Brüssel  zu  gehen,  um  sich  von  den  Resultaten  zu  überzeugen,  teilte  aber 
durchaus  nicht  den  Enthusiasmus  der  beiden  Genannten.  In  Deutschland 
wurde  die  Perforation  bei  den  verschiedenartigsten  Fällen  mit  vorwiegend 
ungünstigem  Ausgange  ausgeführt.  Wir  verweisen  auf  die  einschlägigen 
Schriften  von  Himly,  Neuß11),  Michaelis15),  Hunold16),  Rust17), 
Trosiener 18),  Lang,  de  Graefe,  J.  S.  Beck19),  Kaverz20), 
Nasse21)  etc. 

Fabrizi-Lincke22)  erklären  die  Operation  auch  zu  lediglich  dia- 
gnostischen Zwecken  zulässig,  eine  Ansicht,  der  eine  gewisse  Berechtigung 
nicht  abgesprochen  werden  kann.  In  dem  Maße,  als  die  Technik  des 
Katheterismus  Fortschritte  machte,  wurde  die  Trommelfellperforation  in 
ihren  Indikationen  eingeschränkt. 

Die  Indikationen,  wie  sie  anfangs  gestellt  wurden,  waren  in  der  überwiegenden 
Mehrzahl  der  Fälle  vollkommen  verfehlt;  die  verschiedensten  Arten  von  Hörstörungen, 
Taubheit,  Taubstummheit,  Verdickung  des  Trommelfells  und  vor  allem  Tubenver- 
schluß galten  als  Anlaß,  die  Trommelfellparacentese  durchzuführen.  Nur  wenige 
(wie  Alard,  ßusson  und  Yearsley)  wollten  die  Operation  auf  eitrige  Mittelohr- 
erkrankungen beschränken. 

Was  die  Technik  der  Operation  anlangt,  so  machten  Astley  Cooper  u.  a.  die 
einfache  Perforation  im  unteren  Abschnitte  des  Trommelfells  mittels  Troikart  (der 
nicht  über  l'/2  Linien  vordringen  sollte,  um  Verletzungen  zu  vermeiden).  Himly  u.  a. 
nahmen  mit  einem  Hohl-  oder  Locheisen  ein  Stückchen  der  Membran  heraus  (Trepa- 
nationsmethode). Richerand  empfahl  die  Kauterisation  (Aetzmittel).  Behufs  Ver- 
meidung der  Wiederverwachsung  legte  man  Darmsaiten  oder  Metallröhrchen  ein. 

Im  Jahre  1843  tauchten  wieder  Mitteilungen  über  die  einst  so  häufig 
ausgeführte  Operation  auf.  Hubert-Valleroux  erklärt  sich  in  diesem 
Jahre  als  ihr  entschiedenster  Gegner,  indem  er  auf  zwei  Todesfälle  hin- 
weist, die  angeblich  nach  der  Paracentese  eingetreten  sein  sollen.  Einige 
Zeit  später  wurden  auch  von  einem  englischen  Arzte  zwei  tödlich  ver- 
laufene Operationen  mitgeteilt.  Die  Berichte  Valleroux'  und  des  eng- 
lischen Arztes  sind  jedoch  so  ungenau,  daß  ihren  Angaben  wenig  Wert 
beigemessen  werden  kann. 

Obwohl  von  den  verschiedensten  Seiten  über  Mißerfolge  berichtet 
worden  war,  sehen  wir  auch  hier  das  traurige  Schauspiel  in  der  Otologie 
sich  wiederholen,  daß  nutzlose  und  aufgegebene  Methoden  nach  Ablauf 
einer  Reihe  von  Jahren  wieder  als  neu  auftauchen,  daß  die  Menge,  ohne 
Kenntnis  der  früheren  Mißerfolge,  durch  angeblich  glänzende  Resultate 
verblüfft    wird,    bis   sich    nach   abermaligen   Enttäuschungen    wieder   die 


Die  künstliche  Perforation  des  Trommelfells.  339 

Wertlosigkeit  der  Methode  herausstellt.  Wir  meinen  die  bis  über  die 
Mitte  des  19.  Jahrhunderts  reichenden  fruchtlosen  Versuche  Deleaus, 
Bonnafonts,  Philippeaux'  und  Joseph  Grubers,  die  Operation 
wieder  in  die  Praxis  einzuführen. 

])  Anatomy  of  human  body.  Lond.  1756,  p.  306;  übers,  von  Wolf,  Götting. 
1790,  p.  296.  —  2)  Quaestio  an  absque  membranae  tympani  apertura  topica  in 
concham  injici  possint.  Parisiis  1748.  —  3)  Epist.  ad  Hall,  script.  1760,  Vol.  IV, 
p.  320.  —  4)  Precis  de  Chirurgie  pratique.  Paris  1768,  Vol.  II,  p.  480.  —  5)  Instit. 
chir.  Ticinenses  1798,  T.  VII.  —  6)  Com.  societ.  Götting.  1809,  Vol.  XVI.  —  7)  Ob- 
servation on  the  Effects  which  take  place  from  the  Destruction,  of  the  Membrana 
Tympani  of  the  Ear.  Phil.  Trans.  1800,  P.  I,  p.  151.  —  Further  Obs.  on  the  Effects 
which  take  Place  from  the  Destruction  of  the  Membr.  Tymp.  of  the  Ear,  with  an 
Account  of  an  Operation  for  the  Removal  of  a  particular  Species  of  Deafness. 
Ibid.  1801,  Vol.  XIX,  p.  435—450.  —  Dictionary  of  practical  surgery.  Lond.  1825.  — 
8)  Considerations  sur  la  Perforation  de  la  membr.  du  tymp.  Paris  1802.  —  9)  Obser- 
vation sur  une  maladie  de  l'organe  de  l'ouie  guerie  radicalement  par  la  Perforation 
de  la  membran  du  tympan.  Im  Journal  de  med.  chir.  pharm,  etc.  par  Corvisart, 
Leroux  et  Reyer.    T.  IX,   p.  106.  —   1P)  Ibid.  —  u)  Diss.  med.  inaug.  sist.  momenta 

quaedam  de  surditate  per  puncturam  membr.  tymp.  curanda.    Traj.  ad.  Rh.  1807. 

12)  Memoirea  et  observations  sur  la  perfor.  de   la  membr.  du  tymp.    Bruxelles  1827. 

—  l3)  Diss.  de  perfor.  membr.  tymp.  Groening.  1825.  —  14)  Diss.  de  perf.  membr. 
tymp.  Goett.  1802.  Gott.  Anz.  1802,  p.  2085.  —  15)  Michaelis  und  Himly,  Weitere 
Untersuchungen  u.  Verh.  über  den  Paukenfellstich  (Bibl.  f.  Ophth.  T.  I).  —  16)  Ueber 
die  Durchl.  d.  Trommelf.    Rudolst.  1810.  —  l7)  Salzb.  med.-chir.  Ztg.  1813,   Bd.  III. 

—  1S)  Ueber  d.  Taubh.  u.  ihre  Heilung  mitt.  der  Durchstech,  d.  Trommelf.  Ber- 
lin 1806.  —  29)  Diss.  de  tymp.  perf.  in  surditatis  cura  cautius  rariusque  adhibenda. 
Erlang.  1806.  Salzb.  med.-chir.  Ztg.  1807,  II,  p.  218.  —  20)  Diss.  de  perf.  tymp. 
Argentorati  1807.  —  21)  Bern,  über  A.  Coopers  Durchb.  des  Trommelf.  Hufelands 
Journ.  der  prakt.  Heilkunde.  Berlin  1807.  —  22)  Ueber  die  am  Ohre  vorkommenden 
Operationen.     Leipz.  1842,  p.  115. 


Dissertationen  über  Pathologie  und  Therapie  des  Gehörorgans 

im  18.  Jahrhundert. 

Es  würde  zu  weit  führen,  hier  auf  die  zahlreichen  die  Pathologie 
des  Ohres  behandelnden  Schriften  und  Dissertationen  dieser  Periode  näher 
einzugehen.  Wir  beschränken  uns  deshalb  auf  die  Inhaltsangabe  einiger 
Publikationen,  die  ein  anschauliches  Bild  der  Ansichten  zeitgenössischer 
Aerzte  über  die  Erkrankungen  des  Ohres  liefern. 

Martin  Naboth.  De  auditu  difficili,  Halle  1703.  In  den  ersten  Kapiteln 
dieser  Dissertationsschrift,  die  ein  Jahr  vor  Valsalvas  Tractatus  de  aure  humana 
erschien,  beschäftigt  sich  der  Autor  eingehend  mit  den  Ursachen  der  Schwerhörigkeit. 
Er  führt  als  Grund  von  Hörstörungen  an:  Veränderte  Form  der  Ohrmuschel,  voll- 
kommener Mangel  derselben,  Zeruminalpfropf  im  äußeren  Gehörgange;  Verengerung 
desselben  durch  Tumoren  der  Parotis;  Excreszenzen,  die  vom  Trommelfelle  aus- 
gehen.  Fremdkörper  im   äußeren   Gehörgange,   ferner  Spannung,   Schlaffheit,   Ver- 


340  Rivinus. 

Inirtung,  Verdickung,  Perforation  und  Abschürfung  des  Trommelfells.  Wie  irr- 
tümlich die  Krankheitssymptome  damals  gedeutet  wurden,  beweist  die  Annahme 
Naboths,  daß  infolge  übermäßiger  Sekretion  seröser  Flüssigkeit  durch  die  Zeruminal- 
drüsen  das  Trommelfell  erschlaffe  ').  Als  Beweis  hierfür  werden  Fälle  angeführt,  bei 
denen  nach  einem  heftigen  Schlag  auf  den  Kopf  eine  reichliche  Ausscheidung  seröser 
Flüssigkeit  aus  dem  Ohre  eintrat,  ein  Symptom,  welches  annehmen  läßt,  daß  es  sich 
in  den  zitierten  Fällen  um  Austritt  von  Zerebrospinalflüssigkeit  durch  den  äußeren 
Gehörgang  nach  vorangegangener  Basisfraktur  des  Schädels  gehandelt  haben  dürfte. 
Was  die  Therapie  der  Ohrerkrankungen  anlangt,  so  steht  Naboth  noch  ganz  im 
Banne  des  17.  Jahrhunderts. 

J)  §  VI:  quam  laxitatem  inferunt  glandulae  aurium  cerumen  separantes,  si 
loco  ceruminis  humorem  limpidiorem  eumque  satis  copiose  secernunt,  non  minus 
miseri  damnum  experiuntur. 

Joh.  Aug.  Rivinus.  Von  größerem  Interesse  ist  die  Dissertations- 
schrift „De  auditus  vitiis"  (Lipsiae  1717)  von  Joh.  Aug.  Rivinus 
hauptsächlich  deshalb,  weil  Rivinus  im  Korollarium  den  Nachweis  zu 
erbringen  sucht,  daß  das  normale  Trommelfell  am  vorderen  oberen  Pole 
eine  Oeffnung  besitzt,  eine  Behauptung,  die  keineswegs  neu  war,  hier 
aber  wieder  von  neuem  als  These  aufgestellt  wurde  und  noch  lange 
nachher  ein  Streitobjekt  der  Anatomen  bildete.  Des  historischen  In- 
teresses halber  soll  die  zusammenfassende  Darstellung  des  langen  Streites 
über  das  Foramen  Rivini  später  ihren  Platz  finden. 

Was  den  sonstigen  Inhalt  dieser  Dissertationsschrift  anlangt,  so  gilt  im  großen 
und  ganzen  von  ihr  dasselbe  wie  von  der  Naboths,  wie  überhaupt  alle  Dissertations- 
schriften über  das  Gehörorgan  in  diesem  Zeiträume  nur  eine  Kompilation  dessen 
darstellen,  was  in  vergangener  Zeit  von  älteren  Autoren  über  die  Krankheiten  des 
Ohres  mitgeteilt  wurde.  Dessenungeachtet  wollen  wir  einiges  herausgreifen ,  dem 
vielleicht  historisches  Interesse  innewohnt.  Rivinus  weiß  bereits,  daß  Ansammlung 
von  Schleim  in  der  Trommelhöhle  die  Ursache  von  Schwerhörigkeit  sein  kann,  und 
zwar,  wie  er  meint,  aus  demselben  Grunde,  aus  dem  bei  Schnupfen,  wo  Schleim  die 
Nasenhöhle  erfüllt ,  der  Geruchsinn  verloren  geht ').  Das  Symptom  der  Parakusis 
Willisii  versucht  Rivinus  dadurch  zu  erklären,  daß  ein  schlaffes  Trommelfell  durch 
eine  heftige  Erschütterung  der  Luft  stärker  gespannt  wird ,  wodurch  ein  leiserer 
Ton  wahrgenommen  werden  kann2).  Das  Ohrenklingen  führt  er  auf  eine  kon- 
vulsivische Bewegung  der  Muskeln  der  Gehörknöchelchen  und  des  Trommelfells  zurück. 

')  §  XXIX.  Profecto  in  subjectis  pituitosis  necessum  est  perire  auscultandi 
facultatem,  si  tota  cavitas  repleatur  muco  viscido,  quemadmodum  observamus  ol- 
factum  extingui ,  si  talis  pituita  nares  obstruat.  —  2)  §  XLI.  Quorum  ratio  procul 
dubio  fuit,  quod  vis  laxior  tympani  membrana  validiore  aeris  motu  et  soni  vehemen- 
tioris  impulsu  aliquantum  et  eo  usque  tendebatur,  quo  lenioris  soni  vibrationem 
suscipere  potuerit. 

Der  Streit  über  das  Foramen  Rivini. 

Vom  Ende  des  17.  bis  tief  hinein  ins  18.  Jahrhundert  war  die  Frage,  ob  das 
Trommelfell  überall  geschlossen  sei  oder  im  normalen  Zustande  eine  Oeffnung  besitze, 


Foramen  Rivini.  341 


Gegenstand  einer  scharfen  Kontroverse.  Veranlassung  hierzu  gab  eine  1689  gemachte 
vermeintliche  Entdeckung  des  Quir.  Rivinus,  die  er  1691  dem  holländischen  Anatomen 
Anton  Nuck  brieflich  mitteilte.  Rivinus  glaubte  nämlich  im  Trommelfell  des 
Schafes  und  Kalbes  nahe  dem  Kopf  des  Hammers  einen  Hiatus  mit  fibrösem  Sphinkter 
aufgefunden  zu  haben,  der  in  der  Dissertation  seines  Sohnes  Joh.  Aug.  Rivinus 
ausführlich  beschrieben  ist. 

Quirinus  Rivinus  forderte  Nuck  auf,  den  erwähnten  Hiatus  auch  beim  Men- 
schen aufzusuchen  und  bekannt  zu  machen,  weil  man  in  Deutschland  den  Entdeckungen 
größere  Anerkennung  zolle,  die  von  ausländischen  Forschern  publiziert  würden. 

Schon  vor  Rivinus  hatten  Colle,  Marchetti  und  Valsalva  ähnliche 
Befunde  konstatiert,  doch  verschieden  gedeutet.  Diese,  sowie  die  von  Schel- 
hammer.  Vesling,  Riolan,  Cheselden  u.  a.  gemachte  Beobachtung,  daß 
es  Individuen  gebe,  die  im  stände  sind  Tabakrauch  durch  das  Ohr  zu  pressen,  trugen 
dazu  bei,  eine  normale  Oeffnung  im  Trommelfelle  anzunehmen.  Der  erste,  der  das 
Foramen  schon  vor  Rivinus  beim  Menschen  gefunden  und  als  solches  erkannt  haben 
soll,  war  Joh.  Munniks.     (De  re  anatom-     Utrecht  1697,  p.  195.) 

Die  Anhänger  des  Foramen  Rivini  differieren  aber  nicht  unwesentlich  in  ihren 
Angaben.  Munniks  hielt  es  für  eine  Art  Duplikatur,  Rivinus  beschrieb  einen 
Spalt,  Valsalva  wollte  das  Foramen  stets  offen,  Rivinus  der  Jüngere  stets  ge- 
schlossen gefunden  haben,  Cheselden  und  andere  Autoren  nahmen  an,  es  sei  durch 
eine  Klappe  verschließbar. 

Auch  über  die  Lage  des  Foramen  gehen  die  Ansichten  der  Autoren  weit  aus- 
einander. So  sucht  es  Rivinus  „prope  mallei  caput",  Munniks  „sub  chorda", 
Cheselden  „ubi  circulus  osseus  est",  Teich mey er  „ubi  manubrium  mallei  desinit 
et  cervix  incipit". 

Zu  den  eifrigsten  Verteidigern  gehörten  unter  den  Deutschen  0.  P.  Schott 
(Diss.  de  aure  humana,  Straßburg  1719),  J.  A.  Kulm  (De  auditu,  Danzig  1724,  Exer- 
citatio  physica  de  auditu,  Sedani  1724—1728),  Teichmeyer  1.  c,  Hofmann  u.  a., 
unter  den  Engländern  Drake  und  Cheselden,  unter  den  Franzosen  Maloet. 
Win  slow  und  Valsalva  drücken  sich  skeptisch  aus  und  insbesondere  Valsalva 
hält  es  für  nicht  ausgeschlossen,  daß  es  sich  um  ein  Artefakt  handle,  womit  er  dem 
wahren  Sachverhalte  nahe  kam. 

Widerspruch  gegen  die  Annahme  des  Foramen  erhoben  zunächst  Schneider, 
der  die  Erscheinung  des  Tabakblasens  aus  dem  Ohre  ganz  richtig  auf  das  nicht 
seltene  Vorkommen  pathologischer  Perforationen  im  Trommelfelle  zurückführte. 
Schließlich  erklärten  auch  die  größten  Anatomen  der  damaligen  Zeit,  Morgagni, 
Ruysch,  Cassebohra,  Heister,  Walther  und  schließlich  Haller  das  Foramen 
für  einen  pathologischen  Befund.  Morgagni  bezweifelt  auf  Grund  eigener  Unter- 
suchungen die  Existenz  des  Foramen.  Seine  Versuche,  die  Oeffnung  im  normalen 
Trommelfelle  durch  hohen  Quecksilberdruck  vom  äußeren  Gehörgang  oder  von  der 
Trommelhöhle  aus  nachzuweisen,  ergaben  stets  ein  negatives  Resultat.  Durch 
ähnliche  Versuche  kam  Walther  (1.  c.)  zu  demselben  negativen  Ergebnisse.  Erst 
Haller  brachte  durch  seine  gewichtige  Stimme  den  Streit  für  einige  Zeit  zum  Ver- 
stummen, doch  gab  er  zu,  daß  eine  unvollkommene  Bildung  des  Trommelfells  (Collo- 
boma)  eine  Spalte  bedingen  könne. 

Um  die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  entbrannte  der  Streit  abermals,  als  Boch- 
dalek die  Existenz  eines  Rivini  sehen  Loches  in  der  Nähe  des  kurzen  Hammer- 
fortsatzes verfocht.  Doch  gelang  es  Schmiegelow  (Z.  f.  0.  Bd.  21)  durch  mikro- 
skopische Serienschnitte  nachzuweisen ,  daß  im  normalen  Trommelfelle  weder  ein 
Rivinisches  Loch,  noch  ein  mit  Epithel  ausgekleideter  Kanal  bestehe. 


342  Hofmeister.     Gniditsch. 


Joh.  Heinr.  Hofmeister  befaßt  sich  im  ersten  Teile  seiner  Dissertationsschrift 
„De  organo  auditus  et  eius  vitiis"  (Lugduni  Batavorum  1741)  mit  der  Ana- 
tomie und  Physiologie  des  Gehörorgans  (De  structura  organi  auditus  et  eius  usu), 
•wobei  ihm  die  einschlägigen  Arbeiten  Valsalvas,  Duverneys  und  Cassebohms 
als  Vorlage  dienen.  Er  hält  noch  an  der  alten  Hypothese  vom  „Aer  innatus"  fest. 
Was  den  zweiten  Teil  seiner  Arbeit,  „De  niorbis  auditum  adficientibus",  be- 
trifft, so  wollen  wir  daraus  bloß  hervorheben,  daß  ihm  die  Ankylose  der  Gehör- 
knöchelchen als  Ursache  von  Taubheit  bereits  bekannt  war.  Ebenso  wußte  er 
auch,  daß  große  Tumoren  des  Gaumens  und  der  Uvula,  sowie  große  Polypen  der 
Nasenhöhle  das  Gehör  beeinflussen  können,  und  bezog  dies  richtig  darauf,  daß  diese 
Geschwülste  den  Zugang  zur  Ohrtrompete  verlegen  und  den  Eintritt  von  Luft  in  die 
Trommelhöhle  verhindern.  Hofmeister  nimmt  nun  an,  daß  die  hier  eingeschlossene 
Luft  sich  infolge  der  Wärme  ausdehne,  eine  Auffassung,  die  unserer  heutigen  ent- 
gegengesetzt ist.  Ferner  ist  er  noch  in  dem  Glauben,  daß  in  der  Trommelhöhle 
normalerweise  fortwährend  Flüssigkeit  sezerniert  werde.  Die  Tatsache,  daß  bei 
Zahnschmerzen  oft  der  Schmerz  in  das  innere  Ohr  lokalisiert  wird,  erklärt  er  aus 
der  Anastomose  des  V.  mit  dem  VII.  Hirnnerven  in  der  Chorda  tympani.  Von  In- 
teresse ist  die  von  ihm  vertretene  Ansicht  über  die  Entstehung  einer  Labyrinth- 
eiterung, die  er  darauf  zurückführt,  daß  der  in  der  Trommelhöhle  sich  stauende  Eiter 
nach  Arrodierung  des  ovalen  und  runden  Fensters  über  die  beiden  Treppen  in  die 
Schnecke ')  gelange. 

Zum  Schlüsse  wollen  wir  noch  erwähnen,  daß  Hofmeister  eigene  von  ihm 
ersonnene  Instrumente  in  Vorschlag  bringt  und  zwar  das  eine  zur  Exstirpation  von 
Polypen  des  Ohres 2)  und  ein  anderes  (eine  gekrümmte  Pinzette)  zur  Entfernung  von 
Fremdkörpern  aus  dem  äußeren  Gehörgange  3). 

In  der  kurzen  Schrift  „Casum  aegroti  auditu  difficili  ex  colluvie 
serosa  laborantis  sponte  sanato"  (Argentorati  1768)  erörtert  der  Verfasser 
Georg  Daniel  W  i  b  e  1  im  Anschlüsse  an  eine  uninteressante  Krankengeschichte 
einige  anatomisch-physiologische  und  pathologisch-therapeutische  Details  des  Gehör- 
organs und  zitiert  hierbei  ausführlich  Valsalva,  Duverney,  Schelhammer, 
Willis,  Hai ler   u.  a.,  ohne  aus  Eigenem  Beobachtungen  hinzuzufügen. 

Bei  Besprechung  der  Therapie  erwähnt  er  zum  ersten  Male  als  Heilagens  die 
Elektrizität,  welche,  wie  zahlreiche  von  ihm  erzielte  Erfolge  beweisen,  bei  der 
Heilung  von  Schwerhörigkeit  und  Ohrensausen  eine  große  Rolle  spiele  (s.  Actis 
Suecicis  1752,  Vol.  XIII,  p.  305;  Vol.  XV,  p.  141;  Vol.  XXVII,  p.  207.  Philosoph. 
Transact.  L.  697.  Comm.  Bonon.  Tom.  III.  p.  460).  Demgegenüber  behauptet  Linnäus 
in  den  „Consectariis  electricomedicis  Upsaliae  1754",  daß  die  Elektrizität  bei  durch 
Katarrh  des  Mittelohrs  bedingter  Schwerhörigkeit  unwirksam  sei. 

')  §  LXI.  Puri  in  tympano  stagnanti,  consumpta  vel  ovalis  vel  rotunda  fenestrae 
membrana,    facilis  datur  per  scalas  ad  cochleam  via.  —  2)  §  LXXII.  —  3)  §  LXX\. 

Auf  etwas  höherem  Niveau  steht  die  Dissertation  „De  morbis  membranae 
tympani"  (Lipsiae  1780)  des  Peter  Gniditsch,  aus  der  wir  als  erwähnenswert 
hervorheben,  daß  der  Autor  für  die  Unbeweglichkeit  des  Trommelfells  zwei  Um- 
stände verantwortlich  macht:  1.  Fremdkörper,  die  längere  Zeit  im  äußeren  Gehör- 
gange verweilt  haben,  und  2.  Verschluß  der  Ohrtrompete.  Da  hiebei  der  Ein-  und 
Austritt  von  Luft  verhindert  sei,  so  verbleibe  das  Trommelfell,  fortwährend  in  der- 
selben Stellung,  wodurch  die  Gehörknöchelchen  fixiert  werden  J).  Bei  Retraktion  des 
Trommelfells  empfiehlt  Gniditsch,  wohl  nicht  als  erster,  vom  Patienten  auszu- 
führende kräftige  Respirationsbewegungen  bei  Verschluß  von  Mund  und  Nase  (Val- 


Trampel.  343 

s alva 'scher  Versuch)  und  ferner  das  Ansaugen  von  Luft  aus  dem  äußeren  Gehörgange 
mittels  eines  Rohres 2)   (s.  Simeon,  Reusner). 

*)  §  IX.  —  2)  §  X.  Ad  membranam  autem,  quae  ad  inferiorem  cavitatem 
recessit,  in  suam  planitieni  restituendam,  proficit  interdum  exspiratio  violentius  acta, 
quam  dum  aeger  intendit,  oportet  eum  ceteras  vias  per  quas  aer  egredi  solet,  claudere; 
id  quod  praestatur  immisso  in  aeris  meatum  tubo,  cuius  alterum  ostium  ad  mem- 
branam adplicatur,  alterum  ore  firmiter  continetur  aeris  attrahendi  et  exsugendi  causa. 

Erwähnung  verdient  hier  ferner  Wildberg,  der  im  dritten  Bande  seines  oben 
besprochenen  Werkes  die  Pathologie  des  Ohres  behandelt  und  sich  außer  durch  die 
Ueberlieferung  der  Leistungen  seiner  Vorgänger  nur  durch  die  Aufstellung  einer 
schärfer  charakterisierten  Einteilung  der  Ohraffektionen  verdient  machte.  Für  die 
Hyperästhesie,  Hypästhesie  schlägt  er  die  Benennungen  Oxycoia  und  Dysecoia  vor, 
während  Parakusis  die  Gehörstäuschungen  bezeichnen  soll. 

Trampels  umfassende  populäre  Abhandlung*),  an  der  Wende  des  Jahr- 
hunderts publiziert,  ist  noch  ganz  vom  alten  Geiste  durchweht.  Sie  enthielt  kaum 
etwas  Neues,  obwohl  ihr  ein  praktischer  Wert  für  ihre  Zeit  nicht  abgesprochen 
werden  kann.  Das  Verdienst  ihres  Verfassers  liegt  lediglich  darin,  daß  er  gegen  die 
unvernünftige  planlose  Empirie  auftrat,  die  vorschnelle  Anwendung  der  Durchbohrung 
des  Warzenfortsatzes  widerriet,  resp.  lediglich  auf  die  Karies  beschränkte  und  daß 
er  einige  allerdings  höchst  verfehlte  Versuche  machte ,  die  Diagnostik  zu  erweitern. 
Trampel  meinte,  aus  dem  Verhalten  des  Kranken  auf  den  Sitz  des  Leidens 
schließen  zu  können.  Bei  denen,  die  durch  Hörrohre  deutlicher  hören,  liege  die 
Ursache  der  Schwerhörigkeit  entweder  im  Trommelfell  allein  oder  in  den  Hammer- 
muskeln  oder  in  beiden  zugleich.  Helfe  das  Hörrohr  nichts  und  höre  der  Kranke 
nur  bei  geöffnetem  Munde,  dann  liege  die  Ursache  im  Trommelfell  und  allen  mit 
ihm  in  Verbindung  stehenden  Werkzeugen.  Zur  Behandlung  nervöser  Taubheit 
empfahl  er  eine  Art  von  Luftdusche  durch  den  Gehörgang,  da  er  sich  vorstellte,  daß 
das  Trommelfell  und  die  mit  ibm  in  Konnex  stehenden  Teile  durch  abwechselnde 
An-  und  Abspannung  an  Tonus  gewännen. 

Besonders  ausführlich  verbreitet  sich  Trampel  über  die  Folgen,  welche  die 
übermäßige  Ansammlung  des  Ohrschmalzes  mit  sich  bringt.  Zur  Beseitigung  be- 
diente er  sich  der  Einspritzung  von  wässeriger  Kochsalzlösung. 

In  gleichem  Geiste  wie  die  Schriften  der  genannten  Autoren  sind  auch  die 
mit  großem  Fleiße  und  oft  mit  scharfsinniger  Kritik  zusammengestellten,  das  ganze 
Gebiet  der  Otiatrie  umfassenden  Abhandlungen  gehalten,  deren  Literatur  wir  im 
Anschluß  an  diesen  Abschnitt  folgen  lassen.  In  keiner  findet  sich  eine  auch  nur 
geringfügige  Erweiterung  des  Wissensgebietes. 

Nicht  unbeträchtlich  ist  auch  die  Zahl  der  Schriften,  die  nur  einzelne 
Kapitel  der  Ohrenheilkunde  zum  Gegenstand  ihrer  Darstellung  haben.  Unter 
diesen  ragen  die  Arbeiten  von  Adolf  Murr ay1),  Joh.  Fr.  Cartheuser2)  und 
Job.  Gottl.  Leidenfrost3)  hervor.  Murray  beschrieb  einen  Fall  von  Karies 
des  Felsenbeins  und  Warzenfortsatzes  mit  Sektionsbericht.  Die  beiden  anderen 
Autoren  bemühten  sich ,  die  Ursachen  der  subjektiven  Gehörsempfindungen  zu  er- 
gründen. Nach  Cartheuser  wird  das  Ohrenbrausen  durch  Bewegung  der  Trommel- 
höhlenluft  bei   verstopfter   Tuba  Eustach.,    das   pfeifende  Ohrpochen   durch  erhöhte 


)  Wie  erhält  man  sein  Gehör  gut  und  was  fängt  man  damit  an ,  wenn  es 
fehlerhaft  geworden  ist?  Hannover  1800 ,  1808.  1821,  1822.  Als  zweite  Ausgabe 
mit  Zusätzen  von  Chr.  J.  Menke .  Hannover  1824  u.  1832.     Mit  2  Abb.     Wien  1832. 


344  Leschevin.     Lentin. 


Pulsation  der  dem  Ohre  naheliegenden  Gefäße,  sowie  der  Trommelf'ellarterien  bedingt. 
Die  Pulsation  der  Arterienzweige  in  der  Schnecke  und  den  Bogengängen  soll  das 
Ohrklingen  veranlassen.  Leidenfrost  gab  eine  andere  Erklärung.  Nach  ihm  be- 
ruht das  Ohrenpfeifen  auf  einem  Fehler  der  Ohrtrompete,  das  Ohrenklingen  auf 
Nervenreiz  oder  abnormer  Pulsation  der  Arterien  des  Gehörorgans;  das  Ohrenbrausen 
werde  am  häufigsten  durch  Gleichgewichtsstörungen  der  Gehörgangs  und  Trommel- 
höhlenluft, Venenpulsation  oder  bisweilen  durch  Atrophie  des  Kinnbackengelenks 
hervorgerufen. 

')  Abscessus  auris  intern,  observatio.  Upsal.  1796.  Anatomische  Bemerkungen 
über  die  Durchbohrung  der  Apophysis  mastoidea  als  Heilmittel  gegen  verschiedene 
Arten  von  Taubheit.  In  der  K.  Schwed.  Akad.  d.  Wissenschaft,  neuen  Abhandlungen 
aus  der  Naturlehre.  1789.  —  2)  Diss.  d.  susurratione  et  tinnitu  aurium.  Francof.  ad 
Viadr.  1770.  —  3)  Diss.  de  tinnitu  aurium.  Duisb.  1787.  Diss.  de  susurru  aurium. 
Duisb.  1785. 

Leschevin  und  Lentin.  Von  größerem  Werte  sind  die  Abhand- 
lungen Leschevins  und  Lentins,  obwohl  sie  auch  an  dem  großen 
Fehler  laborieren,  daß  die  mangelnde  diagnostische  Kenntnis  durch  theo- 
retische Erörterungen  verdeckt  wird.  Am  besten  sind  noch  die  Krank- 
heiten des  äußeren  Gehörgangs  dargestellt. 

Leschevin  (1732  — 1788),  der  eine  anatomische  Einteilung  der 
Ohraffektionen  gibt,  empfahl  in  seiner  von  der  französischen  Akademie 
der  Chirurgie  im  Jahre  1763  preisgekrönten  Abhandlung  *)  zur  Beseitigung 
der  häutigen  Atresie  an  der  äußeren  Mündung  des  Gehörgangs  kreuzweise 
Durchschneidung  mit  einer  Lanzette  und  Offenhalten  mittels  einer  Wieke. 
Sein  Troikart  zur  Operation  des  häutigen  Verschlusses  des  Gehörgangs 
wurde  noch  von  Velpeau  empfohlen  und  verwendet*).  Tieferliegende 
Verschließungen,  die  sich  durch  Taubheit  und  Stummheit  (!)  manifestieren, 
sollen  aufgeschnitten  und  durch  eingebrachte  Körper  offen  gehalten 
werden.  In  anderen  Fällen  wandte  er  Aetzungen  mit  Höllenstein,  Ein- 
lagen von  Darmsaiten  etc.  an;  zur  Entfernung  der  Polypen  verwendete 
er  die  Ligatur,  das  Messer,  das  Glüheisen  und  Aetzmittel. 

Leschevin  sieht  als  Ursache  der  Parakusis  Willisii  die  Er- 
schlaffung des  Trommelfells  infolge  einer  Lähmung  des  Hammermuskels  an, 
sei  es  durch  Zerreißung  der  Sehne  bei  heftiger  Erschütterung  des  Trommel- 
fells, wie  z.  B.  beim  Niesen  mit  verschlossenem  Mund  und  Nase,  sei  es 
durch  Zerstörung  dieses  Muskels  infolge  Trommelhöhleneiterung.  Ein 
Beweis  für  diese  Annahme  fehlt. 

Charakteristisch  für  diese  Zeit  ist  seine  Behauptung,  daß  Zer- 
reißungen des  Trommelfells  unheilbar  seien  und  unheilbare  Taubheit  be- 
wirkten. Daß  er  zum  ersten  Male  ein  künstliches  Trommelfell  in  Vor- 
schlag gebracht  hat,  wie  Meyer**)  behauptet,  läßt  sich  aus  seiner  Arbeit 

*)  Bonnafont,  Traite  des  malad,  d,  l'oreille.     Paris  1860,  p.  150. 
**)  Wilh.  Meyer  in  Schwartzes  Handbuch  d.  Ohrenheilk.  II.  Bd. 


Leschevin.     Lentin.  345 


nicht  entnehmen.  Leschevin  meint  nur,  daß  das  Trommelfell,  falls  es 
bloß  zur  Abhaltung  der  äußeren  Schädlichkeiten  dienen  würde,  durch 
eine  künstliche  Membran  ersetzt  werden  könnte.  Da  aber  das  Trommel- 
fell auch  anderen  wichtigen  Zwecken  diene,  so  wären  diese  Bemühungen 
fruchtlos. 

Die  subjektiven  Geräusche  bei  Tubenverschluß  erklärt  Leschevin 
aus  der  Verdünnung  der  Trommelhöhlenluft,  nimmt  jedoch  merkwürdiger- 
weise an ,  daß  hierdurch  das  Trommelfell  in  den  Gehörgang  hinein- 
getrieben werde.  Die  Behauptung  Meyers,  Leschevin  hätte  das  Ein- 
sinken des  Trommelfells  bei  Tubenverschluß  schon  gekannt,  ist  somit 
unrichtig.  Er  wußte,  daß  venerische  Geschwüre  des  Rachens  und  der 
Nasenhöhle  durch  die  Tube  die  Trommelhöhle  infizieren  können.  Die 
damals  schon  längst  bekannten  Einspritzungen  durch  den  Tubenkanal 
machte  er  mit  einem  gekrümmten  anatomischen  Tubulus  bloß  an  Leichen. 
Die  größte  Schwierigkeit  bei  Trommelhöhlenerkrankungen  besteht  nach 
ihm  darin,  eine  bestimmte  Diagnose  aufzustellen  und  überhaupt  zu  er- 
kennen, ob  die  Trommelhöhle  affiziert  sei.  Interessant  ist,  daß  Lesche- 
vin die  Vermutung  ausspricht,  bei  Ausfall  der  tiefen  Töne  sei  die  Basis 
der  Spiralplatte,  bei  Ausfall  der  hohen  Töne  die  Spitze  erkrankt.  Wenn 
wir  auch  heute  gerade  das  Umgekehrte  annehmen,  so  hatte  doch  Lesche- 
vin als  erster  die  Idee,  diesen  Ausfall  der  Töne  verschiedener  Höhe  für 
die  Diagnose  von  Labyrintherkrankungen  zu  verwerten.  Uebrigens  hielt 
sie  Leschevin  für  eine  Hypothese,  die  durch  keine  auch  noch  so  genaue 
Beobachtung  bewiesen  werden  könne. 

Akute  Ohrenkrankheiten  konnten  noch  symptomatisch  durch  all- 
gemeine oder  lokale  antiphlogistische  Prozeduren  behandelt  werden.  Der 
Mangel  rationeller  Diagnostik  verriet  sich  aber  sofort,  wenn  es  sich  um 
chronische  Ohraffektionen  handelte.  Recht  deutlich  zeigt  sich  dies  in 
der  preisgekrönten  Abhandlung2)  Lentins,  der  sich  sogar  zu  Hypothesen 
über  die  krankhaften  Veränderungen  der  Aquula  Cotunni  und  deren 
Heilung  verstieg.  Gurlt  zählt  Lentin  zu  den  ersten  Förderern  der 
wissenschaftlichen  Ohrenheilkunde  in  Deutschland,  weil  er  in  richtiger 
Einsicht  eine  enge  Anlehnung  an  die  Errungenschaften  der  Anatomie  und 
Physiologie  inaugurierte.  Doch  verdient  Lentin  dieses  Lob  in  keiner 
Weise.  Seine  Theorien  galten  ihm  als  Grundlage  für  die  Verwendung 
der  schon  von  Fonseca  (Consult  58,  Tom.  II)  und  Laz.  Rivieri  (Prax. 
med.  Lib.  III,  c.)  empfohlenen  Merkurialsalbe.  —  Als  ein  Kuriosuni  unter 
den  von  Lentin  aufgestellten  Hypothesen  sei  seine  Erklärung  der  Para- 
kusis  Willisii  erwähnt,  nach  der  die  Ampullen  durch  die  Erschütterung 
mit  der  knöchernen  Labyrinthwand  in  Berührung  kommen  und  den  vom 
Knochen  zugeleiteten  Schall  besser  aufnehmen. 

In  der  Benützung  der  Methoden  und  Operationen  Wathens,  Cle- 


346  ^ur  Literatur  des  18.  Jahrhunderts. 

lands,  Jaspers  u.  a.  zeigt  Lentin  sich  sehr  zaghaft;  zur  Reinigung 
der  verstopften  Tube  verwendete  er  eine  silberne  Sonde ,  die  in  eine 
kleine,  mehrfach  durchlöcherte  Platte  auslief.  Sie  wurde  mit  einem 
Stück  Schwamm  oder  magerem  Kalbfleisch  armiert  und  an  die  Mün- 
dung der  Tube  gebracht.  Indem  er  das  Schwammstückchen  mit  Seifen- 
tinktur, Spießglanzwein  oder  Quecksilberauflösung  durchtränkte,  konnte 
er  die  Tubenöffnung  reizen  und  von  angesammeltem  Schleim  befreien. 
Er  benützte  ferner  den  Ohrkatheter  zum  Eintreiben  von  erwärmter  Luft, 
was  immerhin  hervorgehoben  zu  werden  verdient,  weil  seine  Vorgänger 
und  unmittelbaren  Nachfolger,  Cleland  ausgenommen,  ausschließlich 
Flüssigkeiten  zu  ihren  Injektionen  verwendeten. 

Schließlich  sei  mitgeteilt,  daß  Lentin  durch  folgende  Experimente, 
den  Verschluß  der  Tube  festzustellen  suchte.  Er  füllte  den  äußeren  Gehör- 
gang mit  lauwarmem  Wasser,  ohne  daß  etwas  überlief.  War  eine  Per- 
foration im  Trommelfell  vorhanden,  so  sickerte  das  Wasser  nach  einiger 
Zeit  durch.  War  ein  Loch  im  Trommelfell  und  die  Tube  nicht  ver- 
stopft, so  sah  er  Luftblasen  aufsteigen,  wenn  der  Patient  bei  Verschluß 
von  Mund  und  Nase  kräftig  ausatmete.  War  das  Trommelfell  unverletzt 
und  die  Tube  durchgängig,  so  lief  durch  die  in  die  Trommelhöhle  ein- 
gepreßte  Luft  ebensoviel  von  dem  eingefüllten  Wasser  aus  dem  Gehör- 
gange über,  als  das  Trommelfell  nach  außen  getrieben  wurde.  War  aber 
die  Tube  verschlossen,  so  blieb  das  eingefüllte  Wasser  unbeweglich  stehen. 

*)  Memoire  sur  la  theorie  des  nialadies  d.  l'oreille,  et  sur  les  ruoyens,  que  la 
Chirurgie  peut  employer  pour  leur  curation  Memoires  sur  les  sujets  proposes  pour 
les  prix  de  l'Academie  Royale  de  Chirurgie.  Nouv.  edit.  Tome  IV,  p.  67  sqq.  (1776). 
—  2)  Tentamen   vitiis  auditus  medendi   etc.     Gott.  Com.  XL  1793,  übers,  v.  Nicens. 

Mich.  Alberti,  Diss.  de  causis  vitiorum  auditus.  Halae  1752.  —  Arne- 
mann. Magazin  für  die  Wundarzneiwissenschaft,  Bd.  11,  St.  3.  Bd.  III,  St.  1, 
S.  143 — 150.  —  Andrieu,  Avis  sur  les  causes  de  l'aveuglement,  de  la  surdite  etc. 
Paris  1780.  —  J.  Baumer,  Diss.  Prodromus  methodi,  surdos  a  nativitate  reddendi 
audientes.  Erfurt  1749.  —  Benjamin  Bell,  A  System  of  Surgery.  2.  edit.  Edinb. 
1787.  Vol.  IV,  Chap.  31,  p.  343— 865.  —  R.  A.  de  Bergen,  Diss.  de  morbis  auris 
externae.  Frcf.  ad  Viadr.  1754.  —  Derselbe,  Disp.  de  morbis  auris  internae.  Ibid. 
1754.  —  Böhm,  Art.  Hörröhrchen.  In  der  deutschen  Enzyklopädie  oder  Allg.  Real- 
wörterbuch aller  Künste  und  Wissensch.  Bd.  XV.  Frankf.  a.  M.  1790.  —  Borsieri, 
Institutiones  medicinae  practicae.  8.  Tom.  III.  p.  318.  Lips.  1787.  —  A.  E.  Buechner, 
Diss.  sistens  novae  methodi  surdos  reddendi  audientes  physicas  et  medicas  rationes. 
Halae  1757.  —  Derselbe,  Diss.  de  auditus  difficultate,  circa  febrium  acutarum 
decrementum.  Halae  1767.  —  Heinr.  Callisen,  System  der  neuen  AVundarznei- 
kunst.  A.  d.  Latein,  v.  Kühn.  4.  Aufl.  Kopenh.  1823.  Tl.  I,  §  365—375,  S.  175—180; 
§  1209,  S.  807.  Tl.  II,  §  266,  S.  208;  §  359-375,  S.  271—281;  §  551—553,  S.  411-413 
und  §  1053—1059.  S.  767—768.  —  Chopart  und  Desault,  Anleitung  zur  Kenntnis 
aller  chirurgischen  Krankheiten  und  der  dabei  erforderlichen  Operationen.  A.  d. 
Franz.    Pesth    1797.    Bd.  I.   S.  157—176.    —   Jöh.   Gottl.  Dennewitz,   Diss.  de 


Zur  Literatur  des  18.  Jahrhunderts.  347 

indiciis  aurium  in  morbis.  Halae  1754.  —  Desmonceaux,  Traite  des  nialadies 
des  yeux  et  des  oreilles.  Paris  1786.  —  Dionis,  Cours  d'operations  de  Chirurgie. 
4.  edit.  revue  par  G.  de  la  Faye.  Paris  1740.  8°.  p.  638—685.  —  Joh.  H.  Ferber. 
Diss.  sistens  aegrum  ulcere  auris  laborantern.  Erford.  1719.  —  Jakob  Fin.ckenau, 
Diss.  de  tinnitu  aurium.  Regiomont.  1706.  —  Fischer,  Diss.  de  dysoecoia  seu 
auditu  difficili.  Erford.  1720.  —  Peter  Frank,  De  curandis  hominum  morbis  epi- 
tome.  Mannheim  1792.  8°.  Tom.  II.  §  156—162.  —  Fr.  W.  Fritze,  Diss.  inaug. 
med.  sistens  praecipuos  aurium  morbos.  Francof.  ad  Viadr.  1789.  —  Karl  Fried r. 
Giebelhausen,  De  dignoscendis  auditus  vitiis.  Halae  1799.  —  Joh.  de  Gorter, 
Praxis  medicae  systema.  Lips.  1755.  Tom.  II,  Lib.  I,  §  294,  p.  12;  §  20.  —  Der- 
selbe, Chirurgia  repurgata.    Viennae  et  Lips.  1762.  4.  Lib.  V,  Cap.  8,  p.  220 — 227. 

—  James  Graham,  Gedanken  über  den  gegenwärtigen  Zustand  der  Arzneikunst 
bei  Krankheiten  des  Auges  und  Ohres.  London  1775.  —  Joh.  Jak.  Haas,  De 
auditus  vitiis ,  surditatem  et  difficilem  auditum  producentibus.  Lipsiae  1782.  — 
Christ.  Wilh.  Haase,  De  auditu  difficili  et  surditate.  Jenae  1771.  —  Hase,  De 
tubis  stentoreis.  Lips.  1717  —  Helbich,  Diss.de  sonitu  et  tinnitu  aurium.  Altdorf  1699. 

—  Helmont,  Diss.  de  auditu  difficili.  Halae  1703.  —  Horlacher,  Diss.  de  prae- 
cipuis  aurium  morbis.  Gotting.  1792.  —  Hunzovsky,  Anweisung  zu  chirurgischen 
Operationen.  2.  Aufl.  Wien  1787.  S.  112 — 157.  —  Joann.  Jacob  Jantke,  Diss.  de 
tinnitu  aurium  eiusque  speciebus.  Altdorfii  1746.  —  Fr.  Ch.  Jensen,  Diss.  inaug.  med. 
de  auditu  difficili.  Kiliae  Holsat.  1799.  —  Fr.  JolyotdeNurettein,  Observations 
nouvelles  sur  la  Surdite  etc.  Paris  1796.  —  Jo.  Junckerus,  Conspectus  Medicinae 
theoretico-practicae,  tab.  26,  de  Otalgia,  et  reliquis  Aurium  adfectibus.  Venetiis  1744. 

—  Kaltschmid,  Diss.  de  otalgia.  Jen.  1749.  —  J.  F.  Kritter,  De  auditu  difficili. 
Gotting.  1793.  —  J.  G.  Krünitz,  Art.  Gehörmaschinen.  In  dessen  Ökonom.  Ency- 
klopädie.  Berlin  1779.  —  Lambert,  Abhandlung  über  einige  akustische  Instru- 
mente. Berlin  1796.  —  Lenzius.  De  hominibus  ad  cataractas  Nili  obsurdescentibus. 
Vittb.  1699.  —  Wilhelm  Daniel  Lillie,  De  auditu.  Leid.  1743.  —  Fr.  Löffler, 
Von  den  Krankheiten  des  Ohres.  Aus  „J.  Ch.  Starks  neues  Archiv  für  die  Geburts- 
hilfe" u.  s.  w.  Jena  1800.  Bd.  I,  St.  4,  S.  396—420.  —  B.  S.  Mauchard,  De  setaceo 
nuchae  auricularum  ipsiusque  oculorum.  Tübingen  1742.  —  Milloradovics,  Diss. 
de  surditate,  ex  retropulsa  crusta  lactea  orta.  Halae  1796.  —  Georg  Philipp 
N  e  n  t  e  r ,  Fundamenta  Medicinae  theoretico-practica,  tom.  2,  praxis  specialis,  tab.  23, 
p.  115,  de  Otalgia,  seu  Aurium  dolore.  Argentorati  1718.  —  Nessi,  Unterricht  in 
der  Wundarzneikunst.     A.  d.  Ital.    Leipzig  1790.     Tl.  I,  S.  240.    Tl.  II,  S.  546—551. 

—  Noguez,  Anatomie  du  corps  humain.  Paris  1723.  —  Giuseppe  del  Papa, 
Consulti  Medici.  Tom.  1.  Consult.  36,  p.  191.  Impedimento  di  udito  contumace  con 
dolore  e  debolezza  nella  spina  e  nell'  osso  sacro.  Roma  1753.  —  Jean  J.  Perret, 
Des  Instruments  ä  percer  les  oreilles.  Paris  1772.  —  Ch.  Fr.  Pistorius,  Diss.  de 
causis  vitiorum  auditus.  Halae  1752.  —  Zacharias  Platner,  Institutiones  chirurgiae 
rationalis.  Edit.  II.  Lipsiae  1758.  §  596,  p.  329.  —  Portal,  Lehrbegriff  der  prakt. 
Wundarzneikunst.  A.  d.  Franz.  Leipzig  1793.  Bd.  II,  S.  160—191.  —  S.  Th.  Quel- 
malz,  Programina  de  haemorrhagia  auris  sinistrae.  Lips.  1750.  —  Derselbe,  Pro- 
gramma  de  obturatione  meatus  auditorius  inprimis  a  polypo.  Lips.  1752.  —  Konr. 
Quensel,  Abscessus  auris  intemae  observ.  Upsaliae  1796.  —  Sabatier,  Lehrbuch 
für  praktische  Wundärzte.  A.  d.  Franz.  von  W.  H.  L.  Borges.  Wien  1800.  Bd.  III, 
S.  404— 411.  —  Sauvages,  Nosologia  methodica.  Amstelod.  1768.  4.  Tom.  I.  p.  182, 
751—763.  Tom.  II,  p.  71—73,  193—198,  413.  —  J.  H.  Sehe  del,  Diss.  de  tinnitu 
aurium.    Duisb.  1784.  —  J.  J.  Scheuchzer,  Disp.  de  surdo  audiente.  Ultraject.  1694. 

—  Schmid,  Diss.  surdus  de  sono  judicans.  Jen.  1690.  —  Phil.  Wilh.  F.  Schröter, 


348  Die  Ohrenheilkunde  bei  den  Chinesen  und  Japanern. 

De  auditu  difficili.  Halae  1741.  —  J.  H.  Schultze,  Diss.  de  auribus  manantibus  et 
ulceratis.  Halae  1743.  —  Joh.  Chr.  Spillbiller,  Diss.  de  otalgia.  Jenae  1749.  — 
Trnka  de  Krzowitz,  Historia  cophoseos  et  baryecoiae.  Vindob.  1778.  —  Jo.  Christ. 
Tschudius,  Diss.  de  aurium  medicina.  Argentorat.  1710.  —  Derselbe,  Otoiatria 
8.  aurium  medicinae.  Pars  altera  inauguraleui  morborum  auris  theoriam  et  praxim 
continens.  Basil.  1715.  —  J.  B.  Verduc,  Traite  des  Operations  de  Chirurgie.  Amstelod. 
1739.  8°.  Tom.  1.  Chap.  XIII,  Art.  1—8,  p.  134—157.  —  Rud.  Aug.  Vogel,  Aca- 
demicae  praelectiones  de  cognosc.  et  curand.  praecipuis  corp.  hum.  affectibus.  Göt- 
tingen 1772.  8°.  §  170,  p.  125,  §  424,  p.  326,  §  583,  p.  483,  §  625,  p.  519.  —  Sam. 
Gottl.  Vogel,  Handbuch  der  praktischen  Arzneiwissenschaft.  Stendal  1795.  Tl.  IV, 
Cap.  4,  S.  95 — 105.  —  Mich.  Georg  Volckamer,  Diss.  de  otalgia.  Altdorf  1733. — 
Derselbe,  Diss.  de  organo  auditus  eiusque  vitiis.  Lugd.  Batav.  1741.  —  G.  Ad. 
Wedel,  Diss.  de  auditus  vitiis.  Jenae  1705.  —  Jo.  Ad.  Wedel,  Diss.  de  auditus 
vitiis.  Jenae  1720.  —  Wesener,  Diss.  de  susurru  aurium.  Duisburg  1785.  —  Winkler, 
Prodrom,  de  ratione  audiendi  per  dentes.  Lips.  1760.  —  Wepfer,  Diss.  de  vitiis 
tympani.    Traj.  ad.  Rf.  1715. 


Anhang. 
Die  Ohrenheilkunde  bei  den  Chinesen  und  Japanern. 

China. 

Der  Versuch,  eine  Geschichte  der  Ohrenheilkunde  der  Chinesen  zu  schreiben, 
stößt  schon  deshalb  auf  nicht  geringe ,  man  könnte  sagen ,  fast  unüberwindliche 
Schwierigkeiten,  weil  uns  nur  spärliche  Quellen  (vor  allem  keine  chinesisch  ge- 
schriebenen) zur  Verfügung  stehen.  So  ist  uns  weder  das  noch  erhaltene  älteste 
medizinische  Werk  Nuy-kim  (Neiszin,  Heidsin)  zugänglich,  das  dem  chinesischen 
Kaiser  Huang-Ti  (2637  v.  Chr.?)  zugeschrieben  wird,  wahrscheinlich  aber  Jahrtausende 
später  entstanden  sein  dürfte,  noch  die  pharmakologische  Arbeit  des  Kaisers  Chin- 
nong  (2699  v.  Chr.?),  noch  sind  es  die  unter  der  D-zuwidynastie  (610  n.  Chr.)  er- 
schienenen medizinischen  Lehrbücher. 

Die  bloß  auf  Ueberlieferung  beruhende  Anatomie  des  menschlichen  Körpers 
ist  verworren  und  unrichtig,  da  die  Chinesen  eine  unüberwindliche  Scheu  vor  der 
Leicheneröffnung  hatten.  Allgemein  war  die  Annahme  verbreitet,  daß  das  Ohr  zum 
Blutgefäßsystem ,  den  Brust-  und  Baucheingeweiden ,  vor  allem  dem  Urogenital- 
system in  näherer  Beziehung  stehe,  eine  Annahme,  die  sich  nur  dadurch  erklären 
läßt,  daß  die  Chinesen  nicht  einmal  von  den  grobanatomischen  Organen  und  ihren 
Funktionen  richtige  Vorstellungen  besaßen.  Aus  dem  Wust  der  Mitteilungen  jener 
europäischen  Autoren,  die  über  China  und  seine  Medizin  schrieben,  lassen  sich 
nur  spärliche  Stellen  herausfinden ,  die  für  den  Otologen  von  Interesse  wären. 
Kinige  absonderliche  Notizen  finden  sich  zerstreut  in  dem  von  Cleyer  (1862)  ver- 
öffentlichten Traktat*),  dem  wir  folgendes  entnehmen.  Wenn  bei  lebensgefährlichen 
Erkrankungen  in  Ohren,  Augen,  Mund  und  Nase  eine  schwarze  Färbung  (?)  ge- 
funden wird,  so  entrinnt  dem  Tode  keiner  von  zehn.  Ferner:  „Ist  das  untere 
Augenlid  bläulich  gefärbt  und  werden  es  auch  Ohren  und  Nase,  so  zeigt  dies  den 


*)  Andr.  Cleyer.  Specimen  medicinae  Sinicae,  sive  opuscula  medica  ad 
mentem  Sinensium,  Francof.  1682  in  dem  Abschnitte  „Ex  examine  colorum  apparentium 
de  morbis  vitae  et  mortis  indiciis  Carmen",    p.  46. 


Die  Ohrenheilkunde  bei  den  Chinesen. 


349 


Tod  an,"  und  an  anderer  Stelle:  „Aegroti  aures,  oculi,  nares,  os  si  sint  nigra  et 
nigredo  linguani  inficiat,  omnino  moritur"  (p.  56),  oder  eine  Stelle  in  dem  oben 
zitierten  Kodex  Nuy-kim,  wo  eine  Beziehung  der  fünf  Hauptorgane  (Leber,  Herz, 
Milz,  Lunge,  Niere)  mit  den  fünf  Elementen  (Wind,  Wärme,  Feuchtigkeit,  Trockenheit, 
Kälte)  hergestellt  wird,  in  der  es  heißt,  daß  die  Nieren  über  die 
Ohren  herrschen  (renes  dominantur  auribus,  Cleyer,  1.  c.  p.  87) 
und  daß  die  Ohren  die  Fenster  der  Nieren  sind  (fenestrae  sunt  aures, 
1.  c.  p.  87).  Ebenso  dunkel  ist  folgende  Stelle  in  der  Beschreibung  der 
Zirkulation  des  Blutes  und  „Spirituum  devehentium  humidum  radicale 
et  calorem  primigenium" :  „Ramus  hujus  a  pericardio  sursum  pergit, 
ad  colli  juncturam  cum  humeris  et  inde  ad  aurium  posteriorem 
partem  et  genus  et  caput.  At  alter  ramus  ex  loco  aurium  posteriori 
jam  dicto  intrat  ipsam  aurem  et  prodit  ad  partem  aurium  an- 
teriorem etc."  oder  „Fellis  via  diminuti  caloris  initium  ducit  ab 
oculis  sursum  ad  caput  ascendens,  inde  descendens  post  aures  ad 
guttur  et  humeros".  (Nach  den  latein.  Uebersetzungen  Cleyers  aus 
dem  Chinesischen,  1.  c.  p.  97.)  Diese  Ansicht  von  einer  Beziehung  der 
Galle  zum  Ohre*),  wie  sie  im  letzten  Satze  ausgesprochen  wird,  ist 
auch  im  Altertum  bei  den  indogermanischen  Yölkerrassen  zu  finden  und 
hat  sich  im  ganzen  Mittelalter  bis  in  den  Beginn  der  Neuzeit  erhalten. 

Die  Behandlung  der  Ohraffektionen  erhebt  sich  nicht  über  die 
bei  den  Naturvölkern  übliche  (S.  10).  In  den  „Medicamenta  sim- 
plicia,  quae  a  C'hinensibus  ad  usum  Medicinae  adhibentur"  (Cleyer, 
1.  c.)  wird  das  Mittel  „M-äm"  oder  „Muon  kirn  cü"  zur  Schärfung 
des  Gehörs  empfohlen.  Dasselbe  gilt  von  der  Pflanze  Kin-the-Goil 
(saxifraga  sarmentosa) ,  deren  Saft  nach  Mitteilung  des  Missionärs 
Abbe  Hui  als  Einträufelung  angewendet  wird. 

Einen  interessanten  ethnographischen  Beitrag  zur  Geschichte 
der  Ohrenheilkunde  in  China  liefert  H.  Sloane  in  den  „Philo- 
sophical  Transactions,  Vol.  XX,  p.  389—392",  indem  er  an  der  Hand 
einer  beigegebenen  Tafel  eine  Reihe  von  in  China  gebrauchten  In- 
strumenten beschreibt. 

Sloane  bemerkt  einleitend,  daß  diese  Instrumente  teils  zur 
Entfernung  einer  „Substance"  (Cerumen?)  aus  dem  Ohre,  teils  zum 
Kitzeln  und  Kratzen,  einem  bei  den  Chinesen  sehr  beliebten  Ver- 
gnügen, dienen  '). 

Die  abgebildeten  Instrumente  sind :  Eine  Perle  an  einer 
Schweinsborste  befestigt;  eine  kleine  Schlinge  aus  gewundenem  Silber- 
drabt,  ein  abgeplatteter  Silberdraht,  alle  an  zierlichen  Handgriffen 
aus  Schildkrot  befestigt.  Ferner  Pinsel  aus  Schweinsborsten  oder 
Eiderdunen,  endlich  die  beiden  abgebildeten  scharfen  Häkchen  aus 
Silber  (Fig.  16),  an  Griffen  aus  Schildkrot  befestigt,  von  denen 
Sloane  sagt,  daß  sie  den  in  Europa  gebrauchten  Ohrhäkchen  sehr 
nahe  kämen2).  Auf  der  beigegebenen  Tafel  befindet  sich  auch  die 
Abbildung  eines  Chinesen,  der  sich  mit  einem  solchen  Instrument  im 
Ohre  kitzelt  und  dessen  Wohlbehagen  sich  in  seiner  Miene  aus- 
drückt (Fig.  17). 


*)  Vielleicht   ist   diese   Relation   dadurch   entstanden,   daß   so- 
wohl Gallen-  und  Ceruminalsekret  einen  bitteren  Geschmack  besitzen. 


Fig.  16. 


350  Die  Ohrenheilkunde  bei  den  Japanern. 

Sloane  fügt  hinzu,  daß  diese  Gewohnheit  sehr  schädlich  sei  und  die  Disposition 
zu  Ulzerationen  und  Exsudationen  gebe. 

')  Those  contrived  for  the  taking  any  Substance  out  of  the  Ears,  or  for  the 
skratching  or  tickling  them ,  which  the  Chinese  do  account  one  of  the  greatest 
pleasures.  1.  c.  p.  391.  —  2)  Very  much  resembling  our  common  European  Ear-pickers, 
being  of  Silver  set  in  Tortois-Shell.    ibid. 

Japan. 

Viel  besser  unterrichtet  sind  wir  über  die  Ohrenheilkunde  bei  den  Japanern,  was 
wir  vor  allem  dem  Professor  der  Ohrenheilkunde  an  der  Universität  in  Fukuoka 
(Japan),  Dr.  Ino  Kubo,  verdanken,  der  eingehende  Studien  über  die  alte  Ohren- 
heilkunde in  Japan  unternommen  hat.  Nachstehende  Mitteilungen  stützen  sich 
vornehmlich  auf  Kubos  einschlägige  Arbeit,  die  er  mir  in  liebenswürdigster  Weise 
zur  Verfügung  stellte.  Sie  beziehen  sich  auf  einen  Zeitraum,  der  bis  an  das  Ende  des 
17.  Jahrhunderts  hineinreicht.  Die  älteste  japanische  Medizin,  somit  auch  die  Otiatrie, 
war  unleugbar  von  den  chinesischen  medizinischen  Lehren  abhängig.  Europäischer 
Einfluß  machte  sich  erst  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  geltend. 

Mangels  jeder  anatomischen  Zergliederung  menschlicher  Leichen  war  die 
Kenntnis  vom  Bau  des  Gehörorganes  recht  dürftig.  Die  Japaner  unterschieden  ein 
„ äußeres  Ohr",  ein  „Ohrloch"  (äußerer  Gehörgang)  und  einen  „Ohrgrund",  worunter 
sie  die  im  Schädel  verborgenen  Partien  des  Gehörorgans  verstanden.  Am  äußeren 
Ohre,  das  sie  am  besten  kannten,  wendeten  sie  dem  Tragus  (Kornimi  =  Oehrchen), 
der  als  Austrittsstelle  des  Gesichtsnerven  angesehen  wurde,  und  dem  Ohrläppchen 
(Mimitabu),  das  ebenso  wie  der  Tragus  eine  große  Rolle  in  der  Phrenologie  spielte, 
ihr  besonderes  Interesse  zu.  Später  lernten  sie  auch  das  Trommelfell  (Jji-shogen) 
kennen ,  das  sie  als  eine  dünne,  einem  Bambushäutchen  ähnliche ,  bloß  beim  Hören 
gespannte,  sonst  aber  erschlaffte  Membran  beschrieben. 

Als  ätiologische  Momente  der  Ohrenkrankheiten  galten  den  alten  Japanern 
die  Affektionen  des  Urogenitaltraktes  (an  dessen  Zusammenhang  mit  dem 
Ohre  sie  glaubten,  „Jinkyo"theorie),  ferner  allgemeine  Erschöpfungszustände,  hervor- 
gerufen durch  Exzesse  in  venere ,  alle  akuten  fieberhaften  Erkrankungen ,  und  Er- 
kältungen, bei  denen  die  Kälte  den  Gefäßen  entlang  ins  Ohr  eindringen  soll.  (Ohren- 
sausen entsteht  dadurch,  daß  diese  eingedrungene  Kälte  mit  dem  „Lebenssäfte"  in 
Kampf  gerät.)  Itasaka*)  hielt  auch  noch  Blutstauung  im  Kopfe  für  ein  ursäch- 
liches Moment  und  betrachtete  als  Ursache  mancher  Otorrhöen  bei  Säuglingen  das 
Zurückbleiben  schmutzigen  Bade wassers  im  Ohre**).  Sö-ke-tei  erwähnte  in  seinem 
um  das  Jahr  1700  n.  Chr.  erschienenen  Lehrbuche  „Jji  sho-gen"  auch  die  habituelle 
Obstipation  in  der  Aetiologie  der  Ohrerkrankungen. 

Als  Hauptsymptom  der  Ohrenleiden  galt  die  Schwerhörigkeit  oder  Taubheit, 
die  man  mit  dem  Namen  „Mirni-shii"  oder  „Tsumbo"  (wörtlich  Gehörlosigkeit)  be- 
zeichnete. Dazu  gesellten  sich  als  weitere  Symptome:  Ohrenschmerzen,  Ohren- 
sausen, Sekretausfluß,  Fieber,  Kopfschmerzen,  Schweiß,  Polypenbildung,  Funkensehen, 
Schwindel  etc. 

Das  Symptomenbild  des  Schwindels  war  schon  frühzeitig  (Kushi-moto  in  seinem 
Buche  Okugi-shu  1534)  genau  beschrieben  worden  und  man  unterschied  zwei  Arten: 
1.  „Fu-gen"    (Luftschwindel),   bei   welchem   ein  Gefühl   der  Schwere   im  Kopfe   und 


*)  Eine  Kinderheilkunde  vom  Jahre  1700. 
**)  Vergl.  Pins,  Jahrb.  f.  Kinderheilk.  Bd.  26. 


Die  Ohrenheilkunde  bei  den  Japanern. 


351 


Schwindelerseheinungen,   wie  bei  Schiff-  und  Wagenfahrten  und  2.  „Kikyogen"  (Er- 
schöpfungsschwindel), bei  dem  Bewußtseinsverlust  eintrat. 

Seisen*)  unterschied  zwischen  klarer  und  eitriger  Sekretion.  Es  scheint 
jedoch,  daß  man  damals  die  wirklichen  Mittelohreiterungen  mit  der  Furunkulose 
des  Gehörgangs  und  mit  der  Ohrenschmalzsekretion  zusammenwarf.  Allerdings  hatte 
man  schon  im  Jahre  1300  nach 
Chr.  die  Ohrenschmalzsekretion, 
so  lange  sie  keine  Gehörsstörung 
hervorrief,  als  einen  physiologi- 
schen Vorgang  erklärt. 

Die  pathologische  Eiter- 
sekretion wurde  als  „Grund- 
eiter"  bezeichnet,  indem  man  an- 
nahm, daß  der  Eiter  vom  Ohr- 
grunde komme.  Auch  der  blutige 
Eiter  war  bereits  bekannt.  Ueber- 
haupt  wurde  die  Farbe  (weiß,  rot 
und  gelb)  und  der  Geruch  des 
Sekrets  genau  beobachtet.  Ebenso 
waren  Fälle  von  Mastoiditis  mit 
Fistel bildung  hinter  dem  Ohre, 
speziell  bei  Säuglingen,  beschrie- 
ben. Der  berühmte  Manasse 
Dos  an  hatte  ferner  in  seinem 
Buche  „Ten-sho-ki"  (erschienen  in 
Jedo  1583)  das  Retentionsfieber 
bei  eitrigen  Otitiden  genau  ge- 
schildert**). 

Gut  beobachtet  waren  die 
verschiedenen  Abarten  des  Ohren- 
sausens, das  man  mit  dem 
Rauschen  fließenden  Wassers,  mit 
dem  Zirpen  der  Zikaden  oder  mit 
Glockenschlägen  verglich.  Auch 
kannte  man  die  Polypenbildung 
im  Ohre  und  nannte  die  Polypen 
„Ohrenpilze''  („Mimitake  ")***) 
oder      „Ohrenhärnorrhoid"      („Ji- 

ji")t>. 

Obgleich  in  der  alten  Zeit  die  einzelnen  Symptome  vielfach  als  Krank- 
heiten sui  generis  betrachtet  wurden ,  so  begann  man  schon  damals  verschiedene 
Krankheitsbilder   auf  Grund   ihres  Symptomenkomplexes   mehr   oder   weniger  scharf 


*)  „Man-an-po"   (1315  n.  Chr.  erschienen). 

**)  Der   betreffende  Passus   lautet:   Ein  12jähriger  Page  litt  an  Ohrenschmalz- 

und   eitrigem  Ausfluß.     Wenn   der  Eiter   auszufließen   aufhörte,   so  stieg  das  Fieber 

gegen  Abend   und   der  Patient  bekam  heftige  Kopfschmerzen  und  Schweißsekretion. 

***)  In  „Kaminei-Ikoku". 

f)  Zur    Entfernang    von    Nasenpolypen    wurden    Schnurschlingen    verwendet 

(„Kato-oka"). 


osj2  Die  Ohrenheilkunde  bei  den  Japanern. 


zu  sondern;  so  z.  B.  brachte  Tamba  Jasuori*)  mit  Berufung  auf  einen  alten 
chinesischen  Arzt  namens  „Kato"  die  Taubheit  (besser  gesagt  die  Ohrerkrankungen) 
in  5  verschiedene  Kategorien  und  unterschied:  1.  „Fu-ro"  (Erkältungstaubheit)  mit 
heftigen  Schmerzen,  2.  „Ro-ro"  (Erschöpfungstaubheit)  mit  gelbem  Eitersekret  und 
hochgradiger  Erschöpfung,  3.  „Kan-rou  (trockene  Taubheit)  mit  Ohrenschmalzpropfen, 
4.  „Kyo-ro"  (leere  Taubheit)  mit  Ohrensausen  („Shu-shu"),  5.  „Te-ro"  (eitrige  Taubheit) 
mit  Eitersekretion.  Diese  verschiedenen  Kategorien  lassen  sich  annähernd  mit  ver- 
schiedenen heute  gut  charakterisierten  Krankheitsbildern  in  eine  Parallele  bringen. 
So  darf  man  vermuten,  daß  „Fu-ro"  die  Otitis  media  acuta  bezeichnet,  „Ro-ro*  die 
Otitis  media  tuberculosa,  „Kan-ro"  Ceruminalpfropfen ,  „Kyo-ro"  vielleicht  die  Oto- 
sklerose  oder  auch  verschiedene  primäre  Erkrankungen  des  schallperzipierenden 
Apparates,  und  „Te-ro"  die  chronischen  eitrigen  Mittelohrentzündungen,  möglicher- 
weise auch  die  Otitis  externa  circumscripta. 

Die  Furunkulose  des  Ohres  wurde  damals  mit  den  Eiterungen  des  Mittelohres 
zusammengeworfen ;  doch  wußten  die  alten  japanischen  Aerzte,  daß  manche  mittels 
Tamponade  behandelten  Ohreiterungen  dann  eine  günstige  Prognose  geben ,  wenn 
ein  „weißer  Wurm"  (der  Eiterpfropf  des  Gehörgangsfurunkels)  abgehe.  Das  Krank- 
heitsbild der  chronischen  polypösen  Mittelohreiterung  scheint  damals  bereits  bekannt 
o-ewesen  zu  sein,  wie  sich  aus  der  Schilderung  eines  Symptomenkomplexes  im  Buche 
„Sen-kin-po"  (1315  n.  Chr.)  ergibt.  Es  handelt  sich  dort  um  hohes  Fieber,  heftige 
Schmerzen,  blutig-eitrigen  Ausfluß,  Schwerhörigkeit  und  Polypenbildung. 

Als  prognostisch  günstig  betrachtete  man  die  Ceruminalansammlungen, 
Fremdkörper,  Hörstörungen  bei  wahrscheinlich  hysterischer  Ohrerkrankung  und  Ge- 
hörgangsfurunkulose, als  prognostisch  ungünstig  die  durch  Körpergifte  (Lues?)  hervor- 
gerufenen Ohraffektionen. 

Die  große  Menge  der  therapeutischen  Methoden  beruhte  auf  bloßer  Empirie. 
Daneben  existierte  eine  Art  kausaler  Behandlung,  die  aus  der  oben  erwähnten 
„Jinkyo"theorie  hervorgegangen  war.  Man  bekämpfte  nämlich  die  Erkrankungen 
des  Urogenitaltraktes,  durch  die  man  sich  die  Hörstörungen  hervorgerufen  dachte. 
Außerdem  wurden  zahlreiche  innere  Mittel  angewendet,  wie  Abführmittel,  Eisen- 
präparate, Magnesiumnitrat,  verschiedene  Pflanzendroguen  wie  Zwiebel,  Pfingstrose, 
Datteln,  Glycyrrhiza  glabra  (Linne) ,  Ingwer  (Zingiber  officinale),  Dioscorea  japonica 
(Thumb.),  Acorus  calamus,  Aralia  quinquefolia,  Rhabarber,  Bambusblätter  etc.,  ferner 
Schafnieren  und  Karpfenhirn. 

Bei  eitrigen  Erkrankungen  des  Ohres  wurde  das  Sekret  mit  dem  weichen 
japanischen  Papier  abgetupft  und  sodann  das  kranke  Ohr  entweder  mit  Tampons 
oder  mit  Instillationen  oder  endlich  durch  Einblasen  verschiedener  Pulver  und  durch 
Anwendung  von  Dämpfen  (Vaporisation)  behandelt.  Zur  Tamponbehandlung  wurden 
kleine,  nach  Art  von  Suppositorien  geformte  Einlagen  verwendet,  die  aus  einer 
teigigen  Masse  verfertigt  waren.  Sie  bestanden  gewöhnlich  aus  Wachs,  Kieferharz, 
Wildschweinspeck,  Hanföl,  Krotonöl  und  Essig**).  Diesem  Teige  wurden  verschiedene 
gepulverte  Substanzen  beigemischt,  z.  B.  Mandelkerne,  Pfirsichkerne,  Kochsalz,  Magnet- 
eisen, Brassica  cernua  Thumb.,  Acorus  calamus,  Haarasche,  Rhus  etc.  Die  so  be- 
reiteten Suppositorien  wurden  dann  mit  Watte  umwickelt  und  in  den  Gehörgang 
eingeführt.  War  die  Masse  zu  hart  geworden,  so  wurde  sie  vor  dem  Gebrauche 
erwärmt.     Außer    den    beschriebenen    Suppositorien    wurden    auch    einfache    Watte- 


i   „I-shein-po"  (erschienen  982  n.  Chr.). 
**)  „Senkinpo" :  Hier  wird  eine  Teigmasse  angegeben,  die  aus  gleichen  Teilen 
Acorus  calamus  und  Brassica  cernua  oder  aus  Brassica  cernua  mit  Milch  besteht. 


Die  Ohrenheilkunde  bei  den  Japanern.  353 

tampons  verwendet,  die  entweder  in  drei  Jahre  altern  Essig  oder  in  öligen  Lösungen 
verschiedener  Medikamente  getränkt  waren.  Diese  Methode  ähnelt  sehr  der  auch 
heute  noch  bei  der  Furunkulose  geübten. 

Zu  Instillationen  wurden  verschiedene  flüssige  Substanzen  verwendet,  so  z.  B. 
Lösungen  von  Moschus  in  Hanföl,  der  Preßsaft  von  Radix  acori  gravinei  mit  Moschus- 
zusatz, reines  Hanföl  und  warmer  Essig.  Bei  eitrigen  Erkrankungen  wurden  auch 
vielfach  Pulvereinblasungen  nach  dem  Abtupfen  des  Sekretes  gemacht,  eine  Methode, 
die  man  etwa  mit  der  heute  üblichen  Trockenbehandlung  der  Mittelohreiterungen 
vergleichen  darf.  Von  derartigen  Pulvern  sind  zu  erwähnen:  Alaunpulver,  eine 
Mischung  von  Schwefel  und  Alaun  („Kwa-ta-ho"),  Knochenasche  (besonders  von  Fischen), 
eine  Mischung  von  Steinsalz,  Alaun  und  Blütenstaub.  Diese  Pulver  wurden  mit  dem 
Munde  durch  ein  Bambusröhrchen  eingeblasen. 

Umschläge  scheint  man  damals  nicht  gekannt  zu  haben.  Dagegen  hat  man 
die  Behandlung  des  Ohres  mit  Wasserdämpfen  vielfach  geübt  und  merkwürdiger- 
weise wurde  dem  kochenden  Wasser  Karpfenhirn  zugesetzt.  In  dem  Buche  „Sen- 
kin-ho"  wird  auch  eine  besondere  Behandlung  mit  Schlammkuchen  angegeben,  die 
etwa  der  heutigen  Fangotherapie  vergleichbar  ist.  Man  bereitete  aus  einem 
Schlammteig  eine  kleine  Scheibe  mit  einem  Loch  in  der  Mitte.  Diese  Scheibe  wurde 
in  feuchtem  Zustande  auf  das  kranke  Ohr  gelegt  und  über  dem  Loche  100  Stück 
Moxen  abgebrannt.  Sobald  die  Schlammscheibe  trocken  war.  wurde  sie  durch  eine 
frische  ersetzt. 

Ueber  Kältebehandlung  findet  sich  in  der  alten  japanischen  Literatur  keine 
Angabe.  In  fast  allen  alten  Handbüchern  wird  eine  spezifische  Methode  für  die 
Beseitigung  von  verhärteten  Ceruminalpfröpfen  erwähnt.  Es  wurde  nämlich  zu 
deren  Erweichung  der  Preßsaft  von  Regenwürmern  oder  eine  mittels  eines  besonderen 
Verfahrens  aus  Regenwürmern  extrahierte  Flüssigkeit  in  das  Ohr  eingeträufelt. 

Im  „Sen-kin-ho"  wird  eine  interessante  Magnettherapie  mitgeteilt,  die  ebenso 
wie  die  heutige  Metallotherapie  bei  hysterischer  Taubheit  nur  suggestiv  gewirkt  zu 
haben  scheint.  Ueber  eine  sogenannte  magnetische  Durchleitungsmethode  („Tsu-ji-ho") 
berichtet  auch  der  berühmt»'   Manasse  Dosan*), 

Vor  der  Einführung  der  Elektrizität  in  die  Therapie  kam  der  Moxen- 
behandlung  eine  sehr  große  praktische  Bedeutung  zu.  Sie  wurde  in  Japan  vor- 
züglich bei  funktionellen  Ohrerkrankungen  angewendet  und  hat,  wie  es  scheint,  in 
vielen  Fällen  gute  Erfolge  erzielt.  Die  Moxen  waren  kleine  Kegel,  oder  Zylinder 
aus  leicht  brennbaren  Pflanzenfasern,  die  auf  der  Haut  abgebrannt  wurden.  Als 
Wirkung  dachte  man  sich  eine  Ableitung  von  den  tiefer  gelegenen  Organen  nach 
der  Oberfläche.  Mit  großer  Sorgfalt  berücksichtigte  man  bei  der  Indikationsstellung 
für  die  Moxenbehandlung  den  Ort  der  Applikation  der  Moxe.  der  für  die  ver- 
schiedenen Formen  der  subjektiven  Geräusche  und  der  Schwerhörigkeit  ein  ver- 
schiedener war 

Zur  Entfernung  in  das  Ohr  eingedrungener  Insekten,  wie  Mücken,  Ameisen, 
Schnecken,  wurden  verschiedene  Mittel  angewendet,  die  den  Zweck  hatten,  die  In- 
sekten herauszutreiben  oder  anzulocken.  Die  beliebtesten  derartigen  Medikamente 
waren  neben  warmem  Wasser,  der  Preßsaft  verschiedener  Pflanzen,  wie  Allium  odorum 
(„Mira"),    Ingwer.   Lactuca  Thumbergiana   maxima    („Migana").   Zwiebelsaft,   ferner 


)  .Manasse  Dosan:  „Kei  te-ki-shu"   1573. 
Larrey  (Recuil  de  mein,  de  Chir.  1821)  will  durch  Anwendung  japanischer 
Moxen  in  der  Umgebung   des  Ohres    bei   rheumatischen  Fazialislähmungen   gute  Er- 
folge erzielt  haben. 

Politzer,  (M'sehidilr  der  ( ihrenhcilkuinle.     1.  23 


354  Die  Ohrenheilkunde  bei  den  Japanern. 

warmer  Essig,  Hanföl,  Quecksilber,   Menschenharn.    Eselsmilch,   Kuhmilch,   das  Blut 
aus  Hahnenkämmen  etc.  .  .  . 

Zum  Anlocken  der  in  den  Gehörgang  eingedrungenen  Tiere  wendete  man 
allerhand  sonderbare  Methoden  an,  wie  z.  B.  das  Vorhalten  eines  Lichtes  vor  das 
Qhr,  das  Aneinanderschlagen  von  Messerklingen  oder  die  Einführung  verschiedener 
Riechstoffe  (Sesamium  indicum  L.).  Zur  Entfernung  unbelebter  Fremdkörper  übte  man 
einen  Kunstgriff,  den  schon  die  Araber  kannten  und  auch  heute  noch  in  manchen 
Fällen  benützt  wird  (L.).  Es  ist  dies  das  Ankleben  des  Fremdkörpers  mittels  eines 
Klebestoffes  und  das  nachträgliche  vorsichtige  Extrahieren,  nachdem  der  Klebestoff 
trocken  geworden  ist.  Auch  wurden  mitunter  die  Fremdkörper  mittels  eines  Bambus- 
rohres herausgeblasen,  ein  Verfahren,  das  sich  etwa  der  heute  geübten  Ausspritzungs- 
methode  vergleichen  läßt. 


Die  Otiatrie  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts. 


Das  19.  Jahrhundert  eröffnet  der  medizinischen  Wissenschaft  eine 
neue  Aera,  die  sie  der  induktiven  Forschungsmethode  verdankt,  die 
auf  allen  Gebieten  der  Naturwissenschaft  zum  Durchbruch  gelangt.  Zu- 
nächst sind  es  die  medizinischen  Hilfswissenschaften,  die  im  Anschluß 
an  die  Fortschritte  der  technischen  Untersuchungsmethoden  eine  rapide 
Entwicklung  erkennen  lassen.  Dank  der  verbesserten  mikroskopischen 
Technik  wird  die  Anatomie  den  Anregungen  Bichats  folgend  durch  die 
Histologie  bereichert.  Die  Zellenlehre,  die  Embryologie  und  vergleichende 
Anatomie  nehmen  einen  ungeahnten  Aufschwung.  Die  Lehre  von  den 
Lebensvorgängen,  die  biologische  Forschung,  wird  von  hervorragenden 
Forschern  durch  das  Experiment  begründet.  Magen  die,  Flourens, 
Ch.  Bell,  Marshall  Hall,  den  Brüdern  Weber  und  vor  allem  Johannes 
Müller  gebührt  der  Ruhm,  die  Physiologie  auf  experimenteller  Grund- 
lage neu  aufgebaut  zu  haben. 

Die  Medizin  im  engeren  Sinne  erhebt  sich  erst  im  vierten  Dezennium 
des  Jahrhunderts  auf  ein  streng  naturwissenschaftliches  Niveau ,  nach- 
dem durch  die  pathologisch-anatomischen  Leistungen  Cruveilhiers, 
Rokitanskys  und  Virchows  das  Fundament  für  die,  durch  Corvisart, 
Laännec  und  vor  allem  durch  Skoda  inaugurierte  physikalische  Dia- 
gnostik geschaffen  worden  war. 

Die  Otiatrie  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  zeigt  be- 
dauerlicherweise nicht  gleichen  Fortschritt  mit  den  übrigen  Disziplinen 
der  Medizin.  Wohl  eröffnen  auch  hier  die  anatomischen  und  physiologi- 
schen Leistungen  Soemmerrings,  Breschets,  Huschkes,  Flourens' 
und  Johannes  Müllers  neue  Perspektiven,  allein  mangels  einer  grund- 
legenden pathologischen  Anatomie  verharrt  die  Otiatrie  noch  lange  auf 
dem  Standpunkte  der  empirischen  Symptomatologie.  Man  würde  aber 
zu  weit  gehen,  wollte  man  jeden  Fortschritt  in  der  Otiatrie  in  dieser 
Periode  in  Abrede  stellen.  In  erster  Linie  ist  es  Frankreich,  wo  sich 
die  Ohrenheilkunde  zuerst  zum  Spezialfach  entwickelte,  welches  durch 
den  verdienstvollen  Itard,  durch  Saissy,  Deleau  u.  a.  Autoren 
vertreten  wird.  Die  französischen  Ohrenärzte  pflegen  die 
klinische  Beobachtung,  bilden  den'  Katheterismus  und  die  Luftdusche 
weiter    aus    und   bereichern    durch    die  Auskultation   die  Untersuchungs- 


356  Soemmeri-ing. 

methoden.  Die  Engländer  widmen  sich  vorzugsweise  der  klinischen 
Symptomatologie  und  Praxis.  In  Deutschland  verwertet  wohl  Kramer 
die  neuen  physikalischen  Untersuchungsniethoden  für  das  Spezialgebiet, 
aber  er  haftet  in  Ermanglung  pathologisch-anatomischer  Studien  an  der 
empirischen  Symptomatologie,  ohne  bis  zu  einer  rationellen  Begründung 
der  Pathologie  und  Therapie  vorzudringen.  Diese  große  Lücke  auszu- 
füllen, die  Otiatrie  auf  Grundlage  der  pathologischen  Anatomie  zu  einem 
den  übrigen  Spezialfächern  der  Medizin  ebenbürtigen  Wissenszweige  aus- 
zubilden, war  erst  den  Forschern  der  zweiten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts 
vorbehalten. 


Stand  der  Ohranatomie  in  der  ersten  Hälfte  des 
19.  Jahrhunderts. 

Durch  Cotugnos  und  Scarpas  epochale  Leistungen  waren  der 
Ohranatomie  neue  Wege  gewiesen  worden.  Man  erkannte,  daß  ein 
Aveiterer  Fortschritt  auf  diesem  Gebiete  nur  durch  eingehende  For- 
schungen in  der  vergleichenden  Anatomie,  Embryologie  und 
Histologie  des  Gehörorgans  zu  erzielen  sei.  In  der  Tat  sehen 
wir  gegen  Ende  des  18.  und  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts 
zahlreiche  Forscher  bemüht,  diese  bisher  vernachlässigten  Gebiete  zu 
bearbeiten  und  namentlich  die  embryologischen  und  vergleichend- anato- 
mischen Kenntnisse  über  das  Gehörorgan  Avesentlich  zu  erweitern.  Eine 
festere  Grundlage  erhielt  dieses  Forschungsgebiet  durch  die  Arbeiten 
Soemmer rings,  der  es  verstand,  die  bisherigen  Leistungen  in  der  Ohr- 
anatomie mit  einer  Reihe  eigener  Befunde  zu  einer  übersichtlichen, 
klaren  und  formvollendeten  bildlichen  Darstellung  der  Anatomie  des  Ge- 
hörorgans  auszugestalten. 

Samuel  Thomas  Soemmerring,  eine  der  interessantesten  Gestalten 
am  Eingange  des  19.  Jahrhunderts,  wurde  am  25.  Januar  1755  zu  Thorn 
in  Westpreußen  als  der  Sohn  eines  Arztes  geboren.  Nach  4 1  j jährigem 
Hochschulstudium  zu  Göttingen  wurde  er  im  Jahre  1778  auf  Grund 
seiner  Dissertation:  De  basi  encephali  et  originibus  nervorum  cranio 
egredentium  libri  V,  Avelche  die  Aufmerksamkeit  der  Fachkreise  auf  den 
jungen  Gelehrten  lenkte,  zum  Doktor  promoviert.  Durch  Vermittlung 
seines  Landsmannes  Georg  Forster,  den  er  auf  seiner  1779  unter- 
nommenen wissenschaftlichen  Reise  durch  Norddeutschland,  Holland  und 
England  in  London  traf,  erhielt  er  eine  Lehramtsstelle  für  Anatomie  und 
Chirurgie  am  Carolineum  in  Kassel,  von  avo  er  nach  fünfjähriger  Lehr- 
tätigkeit als  Professor  der  Anatomie  und  Physiologie  an  die  Mainzer  Hoch- 
schule berufen  Avurde.    Hier  war  er  mit  einigen  Unterbrechungen  12  Jahre 


Tafel  XVIII 


SAMUEL  THOMAS  SOEMMERRING 


Soemmerring.  357 

hindurch  tätig.  Nach  seiner  Entlassung  im  Jahre  1797  unterbrach  ei- 
serne akademische  Laufbahn,  um  in  Frankfurt  als  vielgesuchter  praktischer 
Arzt  zu  wirken.  Erst  nach  dem  Tode  seiner  Frau  folgte  er  einem  Rufe 
nach  München  (1804),  wo  er  Mitglied  der  Akademie  der  Wissenschaften 
wurde.  Hier  beschäftigte  er  sich  viel  mit  physikalischen  Studien  und 
erfand  den  elektrischen  Telegraphen,  dessen  allerdings  primitiven  Apparat 
er  am  27.  August  1809  der  Akademie  demonstrierte.  Historisch  ist  dem- 
nach Soemmerring  als  der  Erfinder  des  elektrischen  Telegraphen  anzu- 
sehen. Im  Jahre  1820  verließ  er  München  und  suchte  Frankfurt  wieder 
auf,  wo  er  den  Rest  seines  Lebens  in  ununterbrochener  Avissenschaft- 
licher  Tätigkeit  verbrachte.  Zwei  Jahre  nach  seinem  50jährigen  Doktor- 
jubiläum,  das  unter  anderem  durch  Stiftung  eines  Soemmerringschen 
Preises  für  die  besten  Leistungen  in  der  Physiologie  gefeiert  wurde,  starb 
er  am   2.  März   1830. 

Zu  den  hervorragendsten  Werken  Soemmer rings  zählt  der  unter 
dem  Titel  „Icones  organi  auditus  humani"  1806  in  Frankfurt  erschienene 
Atlas  zur  Anatomie  des  Gehörorgans*),  mit  vortrefflichen,  auch  noch  heute 
mustergültigen  Abbildungen.  Den  Anstoß  zu  diesem  Werke  gab  ihm  die 
Aufforderung  seines  Freundes,  des  Hofrates  Lichtenberg  zu  Göttingen, 
für  dessen  Vorlesungen  über  die  Naturlehre  die  menschlichen  Hörwerkzeuge 
vergrößert  nachzubilden.  Von  dem  Grundsatze  ausgehend,  daß  man  bei 
anatomischen  Abbildungen  nicht  genug  genau  und  gründlich  sein  könne, 
um  sie  möglichst  der  Natur  nahezu  bringen,  stellte  Soe  mm  erring  die 
eingehendsten  Untersuchungen  über  den  Bau  des  Gehörorgans  an  und 
wählte  nach  Vergleichung  der  eigenen  Präparate  mit  den  vorzüglichsten 
Abbildungen  anderer  Autoren  wie  Valsalva,  Duverney,  Brendel, 
Cassebohm,  Albinus,  Cotunni,  Meckel,  Monro,  Comparetti, 
Scarpa,  Wildberg  diejenige  Form  für  seine  Abbildungen,  die  ihm 
für  das  Studium  der  Ohranatomie  und  den  Lehrzweck  als  die  geeignetste 
erschien.  Nicht  zum  geringsten  unterstützten  ihn  bei  seinen  schwierigen 
Arbeiten  das  reichhaltige  anatomische  Theater  in  Mainz  und  die  Beihilfe 
des  von  ihm  geschulten  vortrefflichen  Künstlers,  des  Professors  Christian 
Koeck,  der  die  Modelle  und  Abbildungen  unter  der  unausgesetzten  Auf- 
sicht und  Leitung  Soemmerrings  verfertigte.  Als  endlich  nach  13jährigem 
rastlosen  Fleiß  die  Abbildungen  bei  Var rentrapp  und  Wenner  in 
Frankfurt  a.  M.  1806  erschienen,  fand  das  Meisterwerk  die  ungeteilt«' 
Bewunderung  aller  Fachkreise. 

Sämtliche  Abbildungen,  für  die  Soemmerring  ausschließlich  das 


*)  Das  Werk  erschien  auch  deutsch:  Abbildungen  des  menschlichen  Hör- 
organes,  Frankfurt  a.  M.  1806.  —  Ferner  gab  J.  F.  Schröter  nach  dem  Vorbilde 
Soemmerrings  „Das  menschliche  Ohr  nach  Abbildungen  des  Herrn  Geheimen  Rates 
Soemmerring.  mehr  vergrößert  dargestellt  und  beschrieben"  (Weimar  1*11)  heraus. 


358  Huscbke. 

linke  Ohr  benützte,  sind  auf  5  Tafeln  in  anatomischer  Reihenfolge  ver- 
teilt. Die  erste  Tafel  enthält  die  Abbildung  des  äußeren  Ohres, 
der  Muskeln  und  des  Zusammenhanges  des  äußeren  Ohres  mit  dem  Ge- 
hörgang, den  Gehörknöchelchen  und  dem  Labyrinthe.  Auf  der  zweiten 
Tafel  findet  sich  die  Darstellung  der  in  der  Trommelhöhle  enthal- 
tenen Gebilde,  sowohl  in  ihrer  natürlichen  Verbindung  als  auch  einzeln 
außerhalb  derselben.  Auf  Figur  21  dieser  Tafel  erscheint  das  Liga- 
mentum incudis  posterius  gut  abgebildet.  Ferner  ist  hier  zum  ersten 
Male  das  obere  Hammerband  beschrieben  (Fig.  20  a  und  b  und  S.  14). 
Auf  der  dritten  Tafel  folgen  dann  vorzügliche  Abbildungen  des  Laby- 
rinthes. Die  vierte  Tafel  liefert  die  minder  wesentlichen  Teile,  die 
Arterien  des  Gehörorgans,  die  Hautnerven  des  äußeren  Ohres,  Profil- 
durchschnitte der  Schnecke  etc.  Fig.  4  dieser  Tafel  zeigt  bereits  einen 
wertvollen  Abguß  des  äußeren  Gehörgangs  und  seiner  spiraligen  Form, 
wie  sie  später  in  ausführlicher  Weise  von  Hyrtl  und  Bezold  beschrieben 
wurde.  Hervorzuheben  ist  auch  noch  Fig.  3,  welche  die  Krümmung  des 
äußeren  Gehörgangs  im  horizontalen  Durchschnitt  in  einer  Richtigkeit 
demonstriert,  wie  man  es  auch  in  den  Werken  jüngeren  Datums  nicht 
besser  findet.  Hier  sieht  man  ferner  bereits  die  später  von  Troeltsch 
hervorgehobene  Tatsache,  daß  sich  die  Ceruminal-  und  Balgdrüsen  des 
Gehörgangs  vom  Knorpelteile  gegen  die  hintere  obere  Wand  des  knöcher- 
nen Gehörgangs  in  Form  eines  dreieckigen  Zwickels  fortsetzen.  Endlich 
ist  in  Fig.  14  der  später  von  Rosenthal  beschriebene  Schraubenkanal 
der  Spindel  (Can.  spir.  s.  ganglionaris)  in  seiner  unteren  Hälfte  dar- 
gestellt. Die  fünfte  Tafel  zeigt  die  festen  knöchernen  Hauptteile  des 
Gehörorgans  so,  wie  sie  sich  nach  vollkommener  Ausbildung  des  Schädels 
am  Erwachsenen  hinsichtlich  ihrer  Lage  und  Größe  zum  ganzen  Schädel 
verhalten. 

In  Soemm  er  rings  „De  corporis  huniani  fabrica"*)  vermissen  wir  eine  zu- 
sammenfassende Bebandlung  der  Ohranatomie.  Das  Werk  enthält  in  den  verschie- 
denen Abschnitten  nur  eine  kurze  Beschreibung  einzelner  Teile  des  Gehörorgans.  So 
finden  wir  im  ersten  Bande  die  „Organa  auditus  ossea",  im  zweiten  die  „Ligamenta 
ossiculorum  auditus",  im  dritten  die  Muskeln  des  Ohres,  im  vierten  den  Hörnerv  und 
im  fünften  die  Gefäße  des  Gehörorgans  beschrieben.  Interessant  ist  sein  Verfahren 
zur  anatomischen  Darstellung  der  Verzweigung  des  Schneckennerven  in  der  Schnecke. 
Nach  roher  Präparation  der  Knochen  und  des  Nerven  wird  das  Präparat  in  verdünnte 
Salpetersäure  gelegt,  wodurch  die  Knochensubstanz  erweicht  und  abgelöst  wird  und 
der  Nervenverlauf  im  Modiolus  und  in  der  Lamina  spiralis  klar  zu  Tage  tritt.  Es 
isi  dies  unseres  Wissens  der  erste  Kall  einer  chemischen  Vorbehandlung  des  Gehör- 
organs behufs  anatomischer  Untersuchung. 

Emil  Huschke.  Einen  würdigen  Nachfolger  in  der  Erforschung 
des   Gehörorgans   fand  Soemmerring    in    dem  Jenaer    Professor  Emil 

*)  Traj.  ad.  Moen.  1794. 


Tafel  XIX 


EMIL  HUSCHKE 


Huschke.  359 

Husclike  (1797 — 1858).  Wir  verdanken  ihm  nicht  nur  die  Entdeckung 
der  nach  ihm  benannten  Zona  dentata  in  der  Schnecke  und  anderer 
anatomischer  Details,  sondern  auch  eine  vorzügliche,  durchwegs  origi- 
nelle Beschreibung  des  menschlichen  Gehörorgans.  Wir  lernen  in 
Huschke  einen  feinen,  selbständigen  Beobachter  kennen,  dessen  Neu- 
bearbeitung des  Soemmerringschen  Handbuches  als  eine  ganz  mo- 
derne Arbeit  bezeichnet  werden  kann*).  Diesem  Werke  entnehmen  wir 
die  folgenden  uns  interessierenden  Daten :  Der  Winkel,  den  das  Trommel- 
fell mit  der  Axe  des  Gehörgangs  bildet,  beträgt  55  °.  Die  Fasern  der 
Substantia  propria  des  Trommelfells  sind  weder  elastischer  noch  mus- 
kulöser Natur  (E.  Home  und  J.  Fr.  Meckel),  sondern  sehnig.  Die 
konzentrischen  (zirkulären)  Fasern  sind  an  der  Peripherie  am  zahl- 
reichsten, die  radiären  überschreiten  den  Hammergriff,  sich  unter  spitzem 
Winkel  kreuzend.  Außerdem  gibt  es  noch  schräge  Fasern.  Nicht  nur 
die  Epidermis,  sondern  auch  die  übrigen  Schichten  der  Haut  gehen  in 
die  äußere  Lamelle  des  Trommelfells  über,  die  frei  von  Drüsen  ist;  die 
innere  Schichte  ist  von  einem  Plattenepithel  überzogen  und  enthält  Blut- 
gefäßnetze und  Nervenschlingen. 

Am  vorderen,  spitzeren,  etwas  nach  abwärts  geneigten  Ende  des 
ovalen  Fensters  fand  er  eine  kleine  Furche,  die  gegen  den  Zwischen- 
raum der  ersten  und  zweiten  Schneckenwindung  und  dem  Halbkanal 
des  Trommelfellspanners  gerichtet  ist;  ein  Befund,  den  er  durch  die  von 
ihm  angenommene  Entstehung  des  Fensters  als  fontanellenartiger  Rest 
der  Intervertebralspalte  des  vorderen  und  hinteren  Felsenbeinteiles  zu 
deuten  versucht.  Der  obere  und  hintere  Rand  des  ovalen  Fensters  ist  am 
breitesten.  Da  sich  die  Steigbügelplatte  bei  der  Kontraktion  des  Stapes- 
muskels  auf  den  hinteren  und  unteren  Rand  des  Fensters  stützt,  wird 
die  Stapesplatte  oben  und  vorn  am  stärksten  nach  außen  gezogen.  Die 
innere,  dem  Vorhof  zugewandte  Fläche  der  Stapesplatte  ist  leicht  ge- 
wölbt. 

Die  Ohrtrompete  fand  Huschke  doppelt  gekrümmt.  Von  oben 
betrachtet,  bildet  sie  ein  flaches  S.  Die  Konkavität  des  knorpeligen 
Teiles  richtet  sich  nach  innen  und  hinten,  während  die  der  knöchernen 
Tube  sich  nach  außen,  vorn  und  unten  kehrt.  Gleichzeitig  erscheint  die 
Tube  dadurch  um  ihre  Achse  gedreht,  daß  die  untere  Fläche  des  knöchernen 
Teiles  beim  Uebergange  in  den  knorpeligen  zur  vorderen  äußeren  und  die 
obere  zur  hinteren  inneren  wird.  Diese  Formverhältnisse  lassen  sich  nur 
durch  Korrosion  der  Tube  mit  Wachs  oder  leichtflüssigem  Metall,  nicht  aber 
am  Mazerationspräparate  feststellen.    Die  Oberfläche  der  Tube  ist  an  der 


*)  S.  Th.  Soemmerring,  Lehre  von  den  Eingeweiden  und  Sinnesorganen  des 
menschlichen  Körpers.    Umgearbeitet  und  beendigt  von  E.  Huschke,  Leipzig  1844. 


360  Huschke. 

Mündung  von  Flimmerepithel  überzogen,  im  knöchernen  Teile  von  Pflaster- 
epithel. 

Huschke  leugnet  das  von  Pappenheim  beschriebene  elastische 
Kapselbändchen  zwischen  Amboß  und  Linsenbein  und  hält  letzteres  bloß 
für  einen  Fortsatz  des  Amboßes.  Die  drei  Hammerbänder,  die  richtig 
beschrieben  werden,  bewirken,  daß  der  Hammer  weder  nach  vorwärts, 
noch  mit  seinem  Kopf  nach  abwärts,  sondern  bloß  an  seinem  Griffe 
gleichmäßig  gegen  die  innere  Trommelhöhlenwand  gezogen  werden  kann. 

Der  Muse,  tensor  tympani  spannt  einerseits  durch  Zug  am 
Manubrium  das  Trommelfell  an,  andererseits  drückt  er  den  Hammerkopf 
auf  den  Amboß  und  somit  den  Steigbügel  in  das  ovale  Fenster,  wodurch 
eine  Spannung  der  Vorhofsteile  eintritt.  Durch  die  Kontraktion 
des  M.  stapedius  wird  nicht  nur  die  Stapesplatte  nach  außen  bewegt, 
sondern  auch  gleichzeitig  der  absteigende  Amboßschenkel  nach  rückwärts 
gezogen ;  wodurch  der  Amboßkörper  und  mit  ihm  der  Hammer  ebenfalls 
nach  außen  rücken  und  das  Trommelfell  erschlafft  wird*). 

Die  muskulöse  Beschaffenheit  des  sogenannten  M.  laxator  tym- 
pani major  (vorderes  Hammerband)  stellt  er  in  Frage,  für  noch  proble- 
matischer hält  er  den  kleinen  Trommelfellerschlaffer.  Er  hat  an  seiner 
Stelle  bloß  Bindegewebsfasern  und  gegen  den  Hammergriff  absteigende 
Blutgefäße  gefunden,  nie  aber  quergestreifte  Muskelfasern. 

An  den  Bogengängen,  die  er  in  einen  oberen,  einen  hinteren 
und  einen  äußeren  teilt,  beschreibt  Huschke  eine  dreifache  Krümmung, 
eine  Randkrümmung  und  eine  doppelte  Flächenkrümmung.  Sie  wenden 
sich  teils  mit  einer  Fläche  beider  Schenkel  nach  derselben  Seite  hin 
(C-förmige  Flächenkrümmung),  teils  mit  jedem  Schenkel  nach  entgegen- 
gesetzter Richtung  (spiral-  oder  S-förmige  Schenkelkrümmung),  wo- 
durch eine  nach  zwei  entgegengesetzten  Richtungen  spirale  oder  viel- 
mehr windschiefe  Stellung  der  beiden  Schenkel  gegeneinander  entsteht. 
Außerdem  wird  jeder  Bogengang  für  sich  in  ausführlichster  Weise  be- 
schrieben und  die  Maße  nach  gelungenen  Korrosionspräparaten  mitgeteilt. 
Auch  die  beiden  Aquädukte  werden  nicht  übergangen. 

An  der  Schnecke  beschreibt  Huschke  unter  anderem  ein  Neben- 
spiralblatt     (Lamina    spiralis    accessoria)    als    sehr    schmale    Leiste, 


*)  Schon  Bonnafont  beschrieb  im  Jahre  1834  im  Journal  de  Montpellier 
(s.  Schmidts  Jahrbücher  Bd.  8,  S.  276)  den  Trommelfellspanner  und  den  Steigbügel- 
muskel  als  Antagonisten.  Der  Musculus  stapedius  zieht  den  Steigbügel  nach 
hinten  und  etwas  nach  außen.  Dabei  werden  Amboß  und  Hammer  mitbewegt  und 
zwar  der  Kopf  des  Hammers  nach  vorn,  der  Griff  nach  hinten  und  außen.  Es  ent- 
spricht dies  vollständig  unserer  heutigen  Anschauung  über  die  Mechanik  der  Binnen- 
muskeln des  Ohres.  Huschke  scheint  aber  von  Bonnafonts  Mitteilung  keine 
Kenntnis  gehabt  zu  haben. 


Huschke.  361 

die  in  der  ersten  Hälfte  von  der  äußeren  Wand  der  ersten  Windung 
dem  knöchernen  Spiralblatt  entgegenkommt.  Genaue  Messungen  der 
Höhe  und  Breite  beider  Schneckentreppen  vervollständigen  die  deskriptive 
Anatomie  der  Schnecke. 

Nach  Huschke  ist  das  ganze  knöcherne  Labyrinth  an  seiner 
inneren  Oberfläche  von  einem  zarten  Häutchen  überzogen,  das  aus  zwei 
Lagen  besteht,  einem  äußeren  periost-  und  einem  inneren  serosaähnlichen 
Blatte,  welch  letzteres,  von  einem  Pflasterepithel  bedeckt,  die  Labyrinth- 
flüssigkeit absondert.  Die  häutigen  Bogengänge  schweben  frei  in  der 
Rohre  des  knöchernen  und  werden  an  diese  bloß  durch  zarte  Fäden  aus- 
gespannt und  festgehalten.  Er  weiß,  daß  die  Vorhofsäckchen  und  Bogen- 
gänge (Ampullen?)  bloß  zum  Teil  aus  Nervensubstanz  bestehen  und 
meint,  daß  sie  als  ektodermatische  Bildungen  anzusehen  sind,  keineswegs 
aber  als  seröse  Häute,  für  die  man  sie  früher  gehalten  hat.  Die  an  der 
Eintrittsstelle  der  Nerven  gegenüber  den  Siebflecken  befindlichen  Oto- 
lithen  hält  er  für  eine  Metamorphosierung  der  Oberhaut  an  dieser 
Stelle.  Sehr  ausführlich  ergeht  er  sich  in  der  Beschreibung  der  Ohr- 
kristalle. Am  weichen  Spiralblatt  der  Schnecke  unterschied 
Huschke  eine  knorpelige  und  eine  häutige  Zone.  Die  der  Vorhofstreppe 
zugewendete  Fläche  der  knorpeligen  Zone  besitzt  in  der  Nähe  ihres 
äußeren  Randes  eine  hakenförmig  nach  außen  gekrümmte  Spiralleiste 
(Crista  spiralis  acustica).  An  einem  feinen  Durchschnitt  des  knorpeligen 
Spiralblattes  sieht  man  demnach  am  äußeren  Rande  zwei  Lippen  und 
zwischen  beiden  eine  tiefe  Furche  (Sulcus  s.  Semicanalis  spiralis),  die 
der  Vorhofstreppe  angehört.  Von  der  Paukenlippe  (Labium  tympanicum) 
geht  die  häutige  Zone  ab.  Die  nicht  so  weit  vorspringende  Vorhofs- 
lippe, die  frei  in  der  Vorhofstreppe  endigt,  zeigt  parallel  nebeneinander- 
stehende Zähne  oder  Warzen  (Huschke sehen  Zähne),  die  mit  ihren 
stumpfen  Enden  vorragen  und  von  Treviranus  irrtümlich  für  die  als 
Papillen  endenden  Nerven  angesehen  wurden.  Huschke  ist  der  An- 
sicht ,  daß  in  der  Vorhofslippe  die  eigentliche  Tätigkeit  der  Schnecke 
und  des  Spiralblattes  ihren  Hauptsitz  hat. 

Die  häutige  Spiralmembran  zerfällt  nach  Huschke  in  einen 
inneren,  glatten,  ungefalteten  und  einen  äußeren,  gefalteten  oder  ge- 
faserten  Teil.  An  der  äußeren  Grenze  des  ungefalteten  Teils  läuft 
ein  Streifen  (Vas  spirale)  der  Länge  nach  fort  vom  Anfang  des  Spiral- 
blatts bis  zum  Trichter,  weiter  nach  außen  parallel  mit  ihm  eine  oder 
mehrere  Reihen  gelblicher,  unregelmäßiger  Körperchen  (C  ortisches 
Organ?)*).    Der  gefaserte  Teil  besteht  aus  durchsichtigen,  von  innen  nach 


*)  Corti  und  Reisner  weisen  darauf  hin,    daß  die  Arbeiten  Huschkes  als 
Vorstufe  ihrer  späteren  Entdeckungen  anzusehen  sind. 


362  Ev.  Home. 

außen  ziemlich  parallel  nebeneinander  nacli  der  Schneckenwand  ver- 
laufenden Fasern,  die  Huschke  an  die  Fasern  eines  Zahnschliffs  er- 
innerten. Das  membranöse  Spiralblatt  hat  nach  Huschke  drei  Lagen, 
von  denen  die  zwei  oberflächlichen  Fortsetzungen  des  Epithels,  die 
mittlere  fibröse  eine  Fortsetzung  des  Periosts  der  Sckneckenwindung  ist. 

Die  Membra n  a  t y  m  p  a n i  s  e  c  u  n  d  a  r  i  a  setzt  sich  aus  drei 
Schichten  zusammen,  von  denen  die  äußere  eine  Fortsetzung  der  Trommel- 
höhlenschleimhaut,  die  innere  eine  Fortsetzung  der  Trommelhöhlentreppen- 
bekleidung  und  die  mittlere  fibrösen  Charakters  ist,  eine  Schilderung,  die 
mit  der  früheren  von  Ri'oes  und  und  unserer  heutigen  Auffassung  voll- 
kommen übereinstimmt. 

Huschke  lokalisiert  die  Endolymphe  bloß  in  die  beiden  Vor- 
hofsäckchen  und  in  die  Bogengänge  mit  ihren  Ampullen.  Die  Endo- 
lymphe enthält  nach  seinen  Untersuchungen  mehr  feste  Bestandteile  als 
die  Perilymphe.  Merkwürdigerweise  fand  Huschke  im  Schnecken wasser 
einzelne  Kristalle,  Würfel  mit  vierflächiger  Zuspitzung. 

Den  Schluß  der  trefflichen  Schilderung  der  Ohranatomie  bildet  die 
Beschreibung  der  Blutversorgung  des  Labyrinths.  Huschkes  ent- 
wicklungsgeschichtliche und  vergleichend-anatomische  Arbeiten  werden 
später  berücksichtigt  werden. 

Besonderes  Interesse  erwecken  jene  Arbeiten  dieses  Zeitraums, 
die  nur  einzelne  Abschnitte  des  Gehörorgans  und  dessen  feinere 
Strukturverhältnisse  betreffen.  Aus  der  großen  Anzahl  der  Spezial- 
Schriften sollen  im  folgenden  nur  die  wichtigeren  erwähnt  werden. 

Ein  spezielles  Studium  Avurde  der  Erforschung  des  Trommelfells  ge- 
widmet. Wir  verweisen  auf  die  Arbeiten  von  Home,  Shrapnell,  Cor- 
nelius, Pappenheim  u.  a.,  die  die  Kenntnis  von  dem  Baue  dieser  Mem- 
bran wesentlich  erweiterten. 

Everard  Home  ( 1763- — 1832),  entdeckte  bei  der  Zergliederung  von 
Elefantenschädeln  an  der  Innenseite  des  Trommelfells  eine  schon  mit 
freiem  Auge  sichtbare  Anordnung  radiärer  Fasern.  Denselben  Befund 
ergab  die  Untersuchung  am  menschlichen  Trommelfelle  mit  Hilfe  einer 
-Stächen  Vergrößerung.  Von  der  fast  gleichzeitigen  Entdeckung  der 
radiären  und  zirkulären  Faserschichte  des  Trommelfells  durch  Leop. 
Caldani  (p.  274)  hatte  Home  offenbar  keine  Kenntnis.  Home  hielt 
irrtümlich  die  radiären  Fasern  für  einen  Muskel  des  Trommelfells  *).  Der 
mikroskopische  Befund  dürfte  wohl  kaum  überzeugend  gewesen  sein,  sonst 
hätte  Home  nicht  die  folgende  Hypothese  zur  Stütze  seiner  Ansicht 
herangezogen.  An  einem  gelungenen  Injektionspräparate  Dr.  Bailles 
fand  Home,  daß  die  Verlaufsrichtung  der  Blutgefäße  am  Trommelfelle 
mit  der  der  Iris  übereinstimmt.  Daraus  schließt  er,  daß  das  Trommel- 
fell  gleich  der  Iris  einen  Muskel  (Iiadiärfasern)  besitzen  müsse  2).     Seine 


Shrapnell.  363 

genaue  Beschreibung  der  Anordnung  der  radiären  Faserschichte  und  der 
Blutgefäße  am  Trommelfelle  ist  nicht  neu,  da  wir  sie  in  gleicher  Ausführ- 
lichkeit schon  beim  jüngeren  Caldani  (1.  c.)  und  bei  Ruysch  (1.  c.)  finden. 
Home  verrät  überhaupt  eine  erstaunliche  Unkenntnis  der  Leistungen 
seiner  Vorgänger.  So  führte  er  —  ohne  Cotugno  zu  erwähnen  —  zum 
Beweise,  daß  das  Labyrinth  mit  Flüssigkeit  gefüllt  sei,  in  Gemeinschaft 
mit  einem  Mr.  Clift  einen  Versuch  aus,  den  schon  lange  vor  ihm  Meckel 
angegeben  hatte,  und  es  ist  als  verwunderlich  zu  bezeichnen,  wenn  er  am 
Anfang  des  19.  Jahrhunderts,  als  die  Ansicht,  daß  eine  Kommunikation 
zwischen  Labyrinth  und  äußerer  Luft  bestehe,  längst  als  irrtümlich  ab- 
getan war,  sich  noch  zu  folgender  Aeußerung  veranlaßt  sieht:  ..These 
cavities  (das  Labyrinth)  are  filled  with  a  watery  liquor,  and  have  no 
communication  (as  the  tympanum  has)  with  the  external  air". 

')  When  viewed  in  a  microscope  rnagnifying  23  times,  the  muscular  fibres  are 
beautifully  conspicuous,  and  appear  unifornily  the  saine  throughout  the  whole  surface, 
there  being  no  central  tendons,  as  in  the  diaphragm ;  the  muscular  fibres  appear 
only  to  form  the  internal  layer  of  the  membrane,  and  are  niost  distinctly  seen  when 
viewed  on  that  side.  Lecture  on  the  structure  and  uses  of  the  membrana  tympani 
of  the  ear.  Philosophical  Transact.,  London  1800,  Part.  I,  p.  5.  —  2)  This  corre- 
spondence,  in  the  number  and  distribution  of  bloodvessels,  between  the  membrana 
tympani  and  the  iris,  is  a  strong  circumstance  in  confirmation  of  that  membrane 
being  endowed  with  muscular  action.     1.  c.  p.  6. 

Henry  John  Shrapnell.  Fast  gleichzeitig  mit  der  Arbeit  Home s 
erschien  in  den  ..Philosophical  Transactions''  eine  wertvollere  Unter- 
suchung des  Trommelfells  von  Henry  Jones  Shrapnell*).  Er  ver- 
gleicht die  Form  des  Trommelfells,  wie  sie  sich  nach  sorgfältiger  Ent- 
fernung der  Knochenrinne  präsentiert,  mit  der  Gestalt  eines  Hufeisens. 
Drei  Viertel  des  Umfanges  bilden  ein  richtiges  Oval,  von  dem  das  letzte 
Viertel  gleichsam  abgeschnitten  ist.  Am  Umrisse  der  Membran  unter- 
scheidet er  einen  vorderen  oberen  Winkel  in  gleicher  Höhe  mit  der  Basis 
des  Jochbeinfortsatzes  und  einen  hinteren  mehr  nach  auswärts  geneigten 
Winkel  unter  dem  Niveau  des  vorderen.  Shrapnell  war  der  erste,  der 
auf  die  Verschiedenheit  in  der  Struktur  der  Membrana  tympani  hinwies. 
Er  unterschied  einen  zur  Schallfortpflanzung  geeigneten  Teil  von  ge- 
spannter Elastizität,  der  aus  elastischen,  strahlen  artig  angeordneten 
Fasern,  die  sich  einerseits  in  der  Knochenrinne,  andererseits  in  der  Mitte 
des  Hammerstieles  befestigen,  besteht  (Membrana  tensa),  und  einen  zur 
Schallfortpflanzung  ungeeigneten  Teil  von  schlaffer  Elastizität,  der  den 
über  dem  kurzen  Hammerfortsatze  befindlichen  li  i  vi  ni  sehen  Ausschnitt 


|   Geber  die  Form  und  Struktur  der  Membrana  tympani  in  Frorieps  Notizen, 

Bd.  34,  1882,  S.  18,  übers,  aus  The  London  Medical  Gazette  Vol.  X,   183'2:    On  the 
form  and  structure  of  the  membrana  tympani  of  the  ear.     Phil.  Trans.   1800. 


3G4  Shrapnell. 

ausfüllt  (Membrana  flaccida,  auch  Membrana  Shrapnelli  genannt).  Shrap- 
nell beobachtete,  daß  beim  Einblasen  von  Luft  in  die  Trommelhöhle 
durch  die  Eustachische  Röhre  die  Membrana  flaccida  sich  ausbaucht, 
während  die  Membrana  tensa  des  Trommelfells  verhältnismäßig  unver- 
ändert bleibt.  Die  einzelnen  Details  der  Membrana  tensa  werden  in  ein- 
gehendster Weise  mitgeteilt. 

Aus  der  eigentümlichen  Konstruktion  folgert  Shrapnell,  daß  die 
Fasern  der  Membrana  tensa,  deren  muskulöse  Beschaffenheit  er  in  Ab- 
rede stellt,  krummlinige  Formen  in  jeder  Richtung  darbieten,  die  nach 
seiner  Ansicht  gerade  am  besten  geeignet  zu  sein  scheinen,  eine  Mannig- 
faltigkeit feiner  Bewegungen  je  nach  der  Schwingungskraft  der  Töne 
hervorzubringen.  Die  Arterien  des  Trommelfells  stammen  vom 
Ramus  stylomastoideus  der  Arteria  facialis  und  verlaufen  von  der  Peri- 
pherie und  längs  des  Hammerstieles  konvergierend  gegen  die  Mitte  der 
Membran. 

Die  Membrana  flaccida  unterscheidet  sich  von  der  M.  tensa 
außer  durch  ihren  schlaffen  Zustand  auch  noch  dadurch,  daß  sie  nicht 
in  einer  Knochenrinne  befestigt  ist,  und  daß  die  Fasern  und  Blutgefäße 
in  ihr  unregelmäßig  verteilt  sind,  daß  sie  selbst  eine  veränderliche  Gestalt 
besitzt,  daß  ihre  innere  Oberfläche  durch  Schleim  schlüpfrig  erhalten 
wird,  endlich  dadurch,  daß  die  Fläche  der  Membrana  flaccida  eben  ist, 
während  die  der  Membrana  tensa  mehr  nach  auswärts  in  der  Richtung 
der  oberen  Wandung  des  äußeren  Gehörganges  geneigt  ist. 

Shrapnell  spricht  den  Gedanken  aus,  daß  die  große  Ausdehnungs- 
fähigkeit der  Membrana  flaccida  die  gespannteren  Fasern  der  M.  tensa 
vor  den  Wirkungen  plötzlicher  und  lauter  Töne,  des  Hustens  und 
Schneuzens  schütze.  Er  hält  sie  auch  für  die  zweckmäßigste  Stelle  zur 
Punktion  des  Trommelfells,  weil  dieser  Teil  am  leichtesten  gesehen  werde 
und  weil  die  perforierte  Stelle  die  Funktion  der  schall- 
leitenden  Membrana   tensa  nicht   störe. 

Von  geringem  Weite  ist  die  ebenfalls  im  Beginne  des  19.  Jahrhunderts  er- 
schienene Arbeit  Brugnones*)  über  das  Trommelfell,  in  der  er  abweichend  von 
Caldani,  Cuvier  u.  a.  die  äußere  und  mittlere  Schichte  der  Membran  der  Aus- 
kleidung des  äußeren  Gehörgangs,  die  innere  der  Ohrtrompete  und  der  Trommel- 
höhle zuschreibt. 

Vest  und  Wittmann  regten  die  seit  Haller  schon  erloschene  Streitfrage 
über  das  Foramen  Rivini  neuerdings  an**),  indem  sie  behaupteten,  daß  im  mensch- 
lichen Trommelfelle  eine  ovale,  von  zwei  Fältchen  begrenzte  Oeffnung  (Kanal)  vor- 
komme,   die   schräg   durch    die  Trommelhaut    verlaufe   und   durch   den  Tensor  oder 


*)  Möm.  de  Facad.  de  Turin  pour  les  ann.  X  et  XI.    Observation  anatomiques 
sur  l'origine  de  la  membrane  du  tympan  et  celle  de  la  caisse  1805—08. 

**)  „Ueber   die   Wittmannsche   Trommelfellklappe''    in   den  „Mediz.  Jahrb. 
Oest.  1819",  Bd.  V,  p.  123—133. 


F.  Cornelius. 


36; 


Laxator  tympani  geöffnet  oder  geschlossen  werden  könne.  Sie  sei  jedoch  bloß  von 
oben  zu  sehen  und  fehle  in  vielen  Fällen.  Anhänger  fand  diese  Anschauung  nament- 
lich in  Berres*).  der  die  Oeffnung  bei  100  Köpfen  6— 7rnal  gefunden  haben  will, 
und  in  Vests  Sohn**).  —  Fleischmann***)  will  das  Foramen  Rivini  nur  be> 
gewissen  Tieren  (Maulwurf,  Vespertilio  murinus  etc.)  gefunden  haben. 

Friedrich  Cornelius.  Einen  wertvollen  Beitrag  zum  Baue  des 
Trommelfells  lieferte  der  russische  Arzt  Fr.  Cornelius  (1799 — 1848). 
Unter  den  zahlreichen,  meist  uninteressanten  Inauguraldissertationen  dieser 
Periode  verdient  seine  unter  dem  Titel  ..De  memhranae  tympani  usu", 
Dorpat  1825,  erschienene  Arbeit  deshalb  Beachtung,  weil  sich  in  ihr 
zum  ersten  Male  die  Beschreibung  und  Abbildung  der  ,, inneren  Trommel- 
fellfalte" und  der  durch  sie  gebildeten  ..hinteren  Trommelfelltasche"  findet, 
v.    Tröltsch,    dem    diese    Dissertation    gewiß    nicht    bekannt    war,    hat 


Fig.  18.  Innere  Trommelfellfalte. 
Reproduktion  aus  der  Disser- 
tationsschrift des  Fr.  Cornelius. 


Fig.  19.  Innere  Trommelfellfalte 
nach  Wegnahme  des  Amboßes, 
vom  Hammer  abgetrennt  und 
zurückgeschlagen.  Aus  derselben 
Dissertationsschrift. 


35  Jahre  später  diese  Tasche    als  neu  beschrieben.     Sie  wird   nach    ihm 
„Tröltschsche  Tasche"   benannt. 

Gelegentlich  einer  zur  Lösung  der  Frage  über  die  Existenz  des 
Foramen  Rivini  unternommenen  anatomischen  Untersuchung  fand  Cor- 
nelius an  der  Innenseite  des  Trommelfelles  eine  Falte  (Fig.  18),  die  er 
nach  Form  und  Begrenzung  genau  schildert:  „membranulam  triangulärem, 
quae  a  tergo  antrorsum  ad  malleum  protensa  huic  est  affixa".  Wird 
unter  diese  Falte  eine  Borste  nach  oben  eingeschoben,  so  sieht  man  sie 
an  der  äußeren  Fläche  des  Trommelfells  in  der  Foveola  des  Trommel- 
fells (jetzt  Membrana  flaccida)  durchschimmern.  Hierdurch  wird  die 
Kommunikation  des  Prussakschen  Raumes  mit  der  hinteren  Trommel- 
felltasche erwiesen. 


*)  Grundriß  der  Physiologie. 
**)  Ueber  die  Natur  des  Schallstrahles  nebst  einem  Anhange  über  die  Trommel- 
fellklappe.    Wien  1833- 

)  Ueber   die  Muskeln    des   inneren   Ohres.     Berliner  mediz.   Zentralztg.  1836. 


366  Tn-  Buchanan. 


Cornelius  hält  die  beschriebene  Falte  für  eine  Duplikatur  des 
Trominelln'iblenperiosts,  das  auf  die  innere  Trommelfellfläcbe  übergebt1). 
Er  erläutert  diese  Verbältnisse  an  sehr  guten  Abbildungen  (Fig.  18 
und  Fig.  10),  die  noch  durch  einen  vollkommen  richtigen  Frontaldurch- 
schnitt ergänzt  werden. 

An  der  Außenfläche  des  Trommelfells  beschreibt  Cornelius  die 
später  auch  von  Prussak*)  erwähnten  und  nach  ihm  benannten  Streifen, 
welche  sich  vom  kurzen  Hammerfortsatze  zu  der  winkelig  vorspringenden 
Grenze  des  Rivinischen  Ausschnittes  hinziehen  und  die  Grenze  zwischen 
Membrana  tensa  und  flaccida  des  Trommelfells  bilden.  Nach  Ablösung 
der  Membrana  flaccida  entdeckte  er  in  dem  zwischen  dieser  und  dem 
Hammerhals  befindlichen  Räume  (jetzt  Prussakscher  Raum)  eine  kleine 
dreieckige  Falte  ausgespannt 2).  Das  Trommelfell  ließ  er  aus  vier  Schichten 
bestehen,  wie  dies  schon  Winslow,  Haller,  Cassebohm  vorher,  später 
auch  Autenrieth  annahmen.  Die  beiden  innersten  Schichten  sollten 
eine  Duplikatur  des  Trommelhöhlen-  und  Gehörgangsperiosts  darstellen, 
während  die  äußerste  der  Haut  des  Gehörgangs,  die  innerste  der  Schleim- 
haut der  Trommelhöhle  angehören.  Das  Foramen  Rivini  weist  Cor- 
nelius auf  Grund  zahlreicher  Untersuchungen  zurück. 

')  Membrana  haec  valvuliforrnis  nihil  aliud  est,  nisi  plica  periostei  cavum 
tyinpani  obducentis  in  longum  deducta.  quae  a  periosteo ,  antequam  in  tympani 
laminam  internam  abit,  demittitur,  quod  ipse  perspicue  vidi.  1.  c.  p.  29.  —  2)  Ut 
internam  tympani  faciem  eo  loco  diligentius  investigarem,  ubi  externe  plicae  repeii- 
untur  supra  memoratae,  a  malleo  membranam  illam  dissolvi,  quam  replicans  intra 
illam  atque  tympanum  aliam  conspexi  membranulam  pariter  triangulärem,  proxime 
tympano,  in  extremo  inter  annulum  tympanicum  malleumque  recessu.     1.  c.  p.  28. 

Thomas  Buchanan  (1782 — 1853).  Zu  den  Werken,  die  anatomisch- 
physiologisch mehrere  Abschnitte  des  Gehörgangs  behandeln,  zählt  die 
Arbeit  des  Praktikers  und  Surgeon  am  Dispensary  für  Augen-  und 
Ohrenkrankheiten,  Thomas  Buchanan,  betitelt:  „ Physiological  illu- 
strations  of  the  organ  of  hearing  etc."  (London  1828).  In  dieser  werden 
insbesondere  die  Ohrmuschel,  der  äußere  Gehör  gang  und  dessen 
Drüsen  einer  sorgfältigen  Untersuchung  unterzogen. 

Nach  Buchanan  verläuft  der  Gehörgang,  dessen  Länge  l1/4  bis 
1^2  Zoll  beträgt,  zuerst  nach  vorne  oben,  dann  nach  hinten  und  innen 
und  zuletzt  nach  unten,  vorn  und  innen,  verengert  sich  allmählich  bis 
etwa  eine  Linie  vor  dem  Trommelfell,  in  dessen  Nähe  er  sich  wieder 
erweitert. 

Die  untere  längere  Wand  bildet  am  inneren  Ende  eine  ovale  Ver- 
tiefung, die  von  Buchanan  als  „Depressionalkurve"  (ausgehöhlte  Ver- 
tiefung) bezeichnet  wird   (unser  jetziger  Sinus  meat.  aud.  ext.).    Auf  die 

*)  A.  f.  0.  Bd.  III. 


Th.  Buchanan.  367 


Resultate  seiner  eingehenden  Messungen  der  Dimensionen  des  äußeren  Ge- 
hörgangs und  des  Trommelfells  kann  hier  nicht  näher  eingegangen  werden. 

So  bizarr  auch  die  Ansichten  Buchanans  über  den  Bau  des  Trommelfells 
und  über  die  Schallübertragung  durch  dasselbe  sein  mögen,  so  sind  sie  historisch 
insofern  interessant,  als  sie  in  dieser  Periode  den  Stand  der  Ohranatomie  und 
Physiologie  in  England  illustrieren.  Die  konische  Form  (Trichterform)  des  Trommel- 
fells, die  bei  jugendlichen  Individuen  noch  nicht  vorbanden  sei,  entsteht  nach 
Buchanan  dadurch,  daß  die  Gehörknöchelchen  und  auch  der  Hammergriff,  mit  dem 
das  Trommelfell  verbunden  ist,  verhältnismäßig  rascher  wachsen  als  die  Trommel- 
höhle (?) ;  befördert  wird  ferner  die  Konkavität  durch  die  große  Menge  der  ein- 
fallenden Schallwellen,  die  das  Trommelfell  nach  innen  drängen,  durch  das  Wachs- 
tum des  Sulcus  tympanicus  und  durch  die  Wirkung  des  Trommelfellspanners  und 
des  Steigbügelmuskels  (?).  Der  wichtigste  Vorteil  der  Schräglage  des  Trommelfells, 
dessen  Radiärfasern  nach  Home  er  für  muskulös  hält,  sei  der,  daß  dadurch  die  von 
ihm  reflektierten  Schallwellen  in  die  ausgeschweifte  Grube  des  äußeren  Gehörgangs 
gelangen  und  dort  von  dem  sich  bis  dorthin  erstreckenden  röhrenförmigen  Ueberzuge 
des  Ohrenschmalzes  absorbiert  werden ,  wodurch  angeblich  die  Entstehung  eines 
Widerhalls  im  Ohre  verhindert  werde.  Buchanans  Angabe,  daß  die  Ohrschmalz- 
drüsen eine  Linie  innerhalb  der  Oeffnung  des  Gehörganges  anfangen  und  sich  bis 
auf  eine  oder  eine  halbe  Linie  vor  dem  Trommelfell  erstrecken,  ist  längst  als  un- 
richtig erwiesen  worden.  Auf  die  Pathologie  und  Therapie  Buchanans  werden  wir 
später  noch  zu  sprechen  kommen. 

Wesentlich  abweichende  Angaben  über  den  Bau  des  äußeren  Gehörgangs  und 
des  Trommelfells  finden  sich  bei  den  zeitgenössischen  Forschern.  So  behauptete 
Krause*),  daß  die  häutigen  Lamellen  des  Trommelfells  nach  oben  zu  auseinander- 
weichen, weshalb  die  Membran  an  dieser  Stelle  schlaffer  sei  als  deren  untere  Hälfte. 

Pappenheini**)  nimmt  fünf  Schichten  am  Trommelfell  an:  Epidermis, 
Beinhaut  des  äußeren  Gehörgangs,  eigentliche  Haut  des  Trommelfells,  Beinhaut  der 
Trommelhöhle  und  Schleimhaut.  Die  konzentrischen  Fasern  hören  in  einiger  Ent- 
fernung vom  Hammergriffe  auf. 

Lincke***)  zerlegte  durch  Mazeration  das  Trommelfell  in  ein  inneres  und 
ein  äußeres  zartes  Blatt,  von  denen  das  eine  nach  seiner  Ansicht  vom  Trommel- 
höhlen-, das  andere  vom  Gehörgangsperiost  seinen  Ursprung  herleitet.  Die  am 
Hammergriff  dichter  zusammentretenden  und  stärker  entwickelten  radiären  Fasern 
verleihen  dem  Trommelfelle  an  dieser  Stelle  besondere  Festigkeit. 

Schließlich  sei  noch  die  Dissertation  des  Schweizer  Arztes  Alexius  Theodor 
Aeplif)  erwähnt,  die  eingehend  die  Gefäße  und  Nerven  des  Trommelfells  behandelt, 
vorzugsweise  aber  auf  den  Arbeiten  von  Caldani,  Home  und  Shrapnell  fußt. 

Außer  den  genannten  Publikationen  findet  sieh  in  fast  allen  anatomischen, 
physiologischen  und  otiatrischen  Werken  dieses  Zeitraumes  manches  Bemerkenswerte 
über  die  Anatomie  des  äußeren  Gehörgangs  und  des  Trommelfells,  so  bei  Auten- 
rieth  und  Magendie  (s.  später),  ferner  bei  J.  F.  Meckel1).  Rosenthal2),  Tram- 
pel3), Berres4),  Lauth5),  BockG).  Hempel7),  Rudolphi8),  E.  H.  Weber9), 
Seiler10),   Tod11),   Lenhossek 12),   Jung13)   u.a. 


*j  Handb.  d.  menschl.  Anatomie.     Hannover  1836. 
**)  Frorieps  Notizen  1838. 
***)  Handb.  d.  Ohrenheilk.  Bd.  I,  1837. 
f)  De  membrana  tympani.     Gynopedii  1837. 


3(38  Blumenbaih.     Antli.  Carlisle. 


')  Handb.  d.  raenschl.  Anatomie  Bd.  IV.  Halle  1815—1820.  —  2)  Handb.  d. 
Chirurg.  Anatomie.  Berlin  1817.  —  3)  Wie  erhält  man  sein  Gehör  gut  etc.  Han- 
nover 1822.  —  4)  Anthropotomie  oder  Lehre  vom  Baue  des  menschlichen  Körpers. 
Wien  1835 .  Bd.  I.  —  5)  Neues  Handb.  d.  prakt.  Anatomie.  Stuttgart  und  Leipzig 
1835.  1836,  Bd.  I.  —  c)  Handb.  d.  prakt.  Anat.  Meißen  1x19—22.  —  7)  Anfangs- 
gründe d.  Anat.  d.  menschl.  Körpers.  Göttingen  1801 — 33.  —  8)  Grundriß  der  Physio- 
logie Bd.  IL  Berlin  1821—28.  —  9)  Meckels  Archiv  1827.  p.  233.  —  10)  Im  Med. 
Realwörterbuch  von  J.  F.  Pierer,  Altenburg  1816 — 29,  Bd.  V.  —  u)  Anatomy  and 
physiology  of  the  organ  of  hearing.  London  1832.  —  12)  Physiologia  medicinalis. 
Pest  1816 — 18,  Vol.  IV.  —  13)  Vom  äußeren  Ohre  und  seinen  Muskeln  beim  Menschen. 
Verhandlungen  der  naturforschenden  Gesellschaft  in  Basel  1849. 

Die  Ohrenschmalzdrüsen  beschrieben  am  Anfange  dieses  Jahrhunderts 
R.  Wagner1).  Krause2),  Henle3),  Kohlrausch,  Valentin,  Pappenheim  u.a. 
und  stellten  durch  mikroskopische  Untersuchung  ihre  tubulöse  Beschaffenheit  fest. 

Ueber  die  Chemie  des  Ohrenschmalzes  stellten  Foucroy,  Vauquelin 
und  Berzelius4)  gründliche  Untersuchungen  an.  Ferner  schrieben  über  diesen 
Gegenstand  Th.  Schreyer5)  und  C.  Fromherz  6).*) 

l)  Icones  physiologicae.    Leipzig  1839,  Tab.  XVI.  —  2)  In  Müllers  Archiv  1839. 

—  3)  Allgem.  Anatomie  S.  915.    —    4)  Lehrbuch  der  Tierchemie.     Dresden  1831.   — 
3)  Allg.  Enzykl.  d.  Wissenseh.  u.  Künste.    Leipzig  1832,  Sekt.  III.  Bd.  III,  p.  332—333. 

—  G)  Lehrb.  d.  med.  Chemie,  2  Bde.     Freiburg  1834,  Bd.  II,  p.  226. 

Um  die  Erweiterung  der  anatomischen  Kenntnisse  vom  Bau  der 
Trommelhöhle,  der  Gehörknöchelchen,  ihrer  Muskeln  und 
Bänder  machten  sich  in  diesem  Zeiträume  zahlreiche  Forscher  verdient. 

Blumenbach  wies  zuerst  nach,  daß  das  Linsenbein  nicht  ein 
eigenes  Knöchelchen,  sondern  eine  Apophyse  des  langen  Amboßschenkels 
sei,  eine  Ansicht,  der  später  auch  Shrapnell1)  beitrat.  Blumenbach 
fand  ferner  an  der  hinteren  Fläche  des  Stapesköpfchens  zwei  Grübchen, 
die  dem  Ansätze  der  Sehne  des  M.  stapedius  dienen. 

Saunders2)  gab  genauere  Maßangaben  der  Trommelhöhle.  Nach 
ihm  ist  ihr  Tiefendurchmesser  in  der  Gegend  des  ovalen  Fensters  am 
größten,  der  Schneckenspitze  gegenüber  am  kleinsten. 

Anthony.  Carlisle  gibt  in  seiner  Arbeit 3)  eine  eingehende  Schil- 
derung der  anatomischen  Verhältnisse  des  Stapes  beim  Menschen,  der 
eine  vergleichende  Anatomie  des  Stapes  bei  den  verschiedenen  Säuge- 
tieren und  der  Columella  bei  Vögeln  und  Amphibien  angefügt  ist.  Dem 
Texte  ist  eine  mit  vorzüglichen  Abbildungen  ausgestattete  Tafel,  ent- 
haltend die  bildliche  Darstellung  des  Stapes  und  seiner  Homologen  in 
der  Tierreihe  beigegeben. 

Weniger  glücklich  ist  Carlisle  in  seinen  physiologischen  Reflexionen. 
So  nimmt  er  irrtümlich  an,  daß  der  Musculus  stapedius  bei  seiner  Aktion 


*)  Nach  Schwartze  (A.  f.  0.  VII)  fanden  Wedel  und  Haygart,  daß 
Cerumen  am  besten  im  Wasser  löslich  sei,  was  später  auch  von  Petrequin  be- 
stätigt wunlr. 


Die  Ohrenheilkunde  bei  den  Japanern.  353 


tampons  verwendet,  die  entweder  in  drei  Jahre  altern  Essig  oder  in  öligen  Lösungen 
verschiedener  Medikamente  getränkt  waren.  Diese  Methode  ähnelt  sehr  der  auch 
heute  noch  bei  der  Furunkulose  geübten. 

Zu  Instillationen  wurden  verschiedene  flüssige  Substanzen  verwendet,  so  z.  B. 
Lösungen  von  Moschus  in  Hanföl,  der  Preßsaft  von  Radis  acori  gravinei  mit  Moschus- 
zusatz, reines  Hanföl  und  warmer  Essig.  Bei  eitrigen  Erkrankungen  wurden  auch 
vielfach  Pulvereinblasungen  nach  dem  Abtupfen  des  Sekretes  gemacht,  eine  Methode, 
die  man  etwa  mit  der  heute  üblichen  Trockenbehandlung  der  Mittelohreiterungen 
vergleichen  darf.  Von  derartigen  Pulvern  sind  zu  erwähnen:  Alaunpulver,  eine 
Mischung  von  Schwefel  und  Alaun  („Kwa-ta-ho"),  Knochenasche  (besonders  von  Fischen), 
eine  Mischung  von  Steinsalz,  Alaun  und  Blütenstaub.  Diese  Pulver  wurden  mit  dem 
Munde  durch  ein  Bambusröhrchen  eingeblasen. 

Umschläge  scheint  man  damals  nicht  gekannt  zu  haben.  Dagegen  hat  man 
die  Behandlung  des  Ohres  mit  Wasserdämpfen  vielfach  geübt  und  merkwürdiger- 
weise wurde  dem  kochenden  Wasser  Karpfenhirn  zugesetzt.  In  dem  Buche  „Sen- 
kin-ho"  wird  auch  eine  besondere  Behandlung  mit  Schlammkuchen  angegeben,  die 
etwa  der  heutigen  Fangotherapie  vergleichbar  ist.  Man  bereitete  aus  einem 
Schlammteig  eine  kleine  Scheibe  mit  einem  Loch  in  der  Mitte.  Diese  Scheibe  wurde 
in  feuchtem  Zustande  auf  das  kranke  Ohr  gelegt  und  über  dem  Loche  100  Stück 
Moxen  abgebrannt.  Sobald  die  Schlammscheibe  trocken  war,  wurde  sie  durch  eine 
frische  ersetzt. 

Ueber  Kältebehandlung  findet  sich  in  der  alten  japanischen  Literatur  keine 
Angabe.  In  fast  allen  alten  Handbüchern  wird  eine  spezifische  Methode  für  die 
Beseitigung  von  verhärteten  Ceruminalpfröpfen  erwähnt.  Es  wurde  nämlich  zu 
deren  Erweichung  der  Preßsaft  von  Regenwürmern  oder  eine  mittels  eines  besonderen 
Verfahrens  aus  Regenwürmern  extrahierte  Flüssigkeit  in  das  Ohr  eingeträufelt. 

Im  „Sen-kin-hou  wird  eine  interessante  Magnettherapie  mitgeteilt,  die  ebenso 
wie  die  heutige  Metallotherapie  bei  hysterischer  Taubheit  nur  suggestiv  gewirkt  zu 
haben  scheint.  Ueber  eine  sogenannte  magnetische  Durchleitungsmethode  („Tsu-ji-ho") 
berichtet  auch  der  berühmte  Manasse  Dosan*). 

Vor  der  Einführung  der  Elektrizität  in  die  Therapie  kam  der  Moxen- 
behandlung  eine  sehr  große  praktische  Bedeutung  zu.  Sie  wurde  in  Japan  vor- 
züglich bei  funktionellen  Ohrerkrankungen  angewendet  und  hat,  wie  es  scheint,  in 
vielen  Fällen  gute  Erfolge  erzielt.  Die  Moxen  waren  kleine  Kegel  oder  Zylinder 
aus  leicht  brennbaren  Pflanzenfasern,  die  auf  der  Haut  abgebrannt  wurden.  Als 
Wirkung  dachte  man  sich  eine  Ableitung  von  den  tiefer  gelegenen  Organen  nach 
der  Oberfläche.  Mit  großer  Sorgfalt  berücksichtigte  man  bei  der  Indikationsstellung 
für  die  Moxenbehandlung  den  Ort  der  Applikation  der  Moxe.  der  für  die  ver- 
schiedenen Formen  der  subjektiven  Geräusche  und  der  Schwerhörigkeit  ein  ver- 
schiedener war     ■). 

Zur  Entfernung  in  das  Ohr  eingedrungener  Insekten,  wie  Mücken,  Ameisen, 
Schnecken,  wurden  verschiedene  Mittel  angewendet,  die  den  Zweck  hatten,  die  In- 
sekten herauszutreiben  oder  anzulocken.  Die  beliebtesten  derartigen  Medikamente 
waren  neben  warmem  Wasser,  der  Preßsaft  verschiedener  Pflanzen,  wie  Allium  odorum 
(„Mira"),    Ingwer,    Lactuca  Thumbergiana   maxima    („Migana"),    Zwiebelsaft,    ferner 


*)  Manasse  Dosan:  „Kei  te-ki-shuu   1573. 
i  Larrey  (Recuil  de  mem.  de  Chir.  1821)  will  durch  Anwendung  japanischer 
Moxen  in  der  Umgebung   des  Ohres   bei  rheumatischen  Fazialislähmungen  gute  Er- 
folge erzielt  haben. 

Politzer,  Geschichte  der  Ohrenheilkunde.    I.  23 


354  Die  Ohrenheilkunde  bei  den  Japanein. 

warmer  Essig,  Hanföl,  Quecksilber,   Menschenharn.    Eselsmilch,   Kuhmilch,   das  Blut 
aus  Hahnenkämmen  etc.  .  .  . 

Zum  Anlocken  der  in  den  Gehörgang  eingedrungenen  Tiere  wendete  man 
allerhand  sonderbare  Methoden  an,  wie  z.  B.  das  Vorhalten  eines  Lichtes  vor  das 
Ohr,  das  Aneinanderschlagen  von  Messerklingen  oder  die  Einführung  verschiedener 
Riechstoffe  (Sesamium  indicum  L.).  Zur  Entfernung  unbelebter  Fremdkörper  übte  man 
einen  Kunstgriff,  den  schon  die  Araber  kannten  und  auch  heute  noch  in  manchen 
Fällen  benützt  wird  (L.).  Es  ist  dies  das  Ankleben  des  Fremdkörpers  mittels  eines 
Klebestoffes  und  das  nachträgliche  vorsichtige  Extrahieren,  nachdem  der  Klebestoff 
trocken  geworden  ist.  Auch  wurden  mitunter  die  Fremdkörper  mittels  eines  Bambus- 
rohres herausgeblasen,  ein  Verfahren,  das  sich  etwa  der  heute  geübten  Ausspritzungs- 
methode vergleichen  läßt. 


Die  Otiatrie  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts. 


Das  19.  Jahrhundert  eröffnet  der  medizinischen  Wissenschaft  eine 
neue  Aera,  die  sie  der  induktiven  Forschungsmethode  verdankt,  die 
auf  allen  Gebieten  der  Naturwissenschaft  zum  Durchbruch  gelangt.  Zu- 
nächst sind  es  die  medizinischen  Hilfswissenschaften,  die  im  Anschluß 
an  die  Fortschritte  der  technischen  Untersuchungsmethoden  eine  rapide 
Entwicklung  erkennen  lassen.  Dank  der  verbesserten  mikroskopischen 
Technik  wird  die  Anatomie  den  Anregungen  Bichats  folgend  durch  die 
Histologie  bereichert.  Die  Zellenlehre,  die  Embryologie  und  vergleichende 
Anatomie  nehmen  einen  ungeahnten  Aufschwung.  Die  Lehre  von  den 
Lebensvorgängen,  die  biologische  Forschung,  wird  von  hervorragenden 
Forschern  durch  das  Experiment  begründet.  Magendie,  Flourens, 
Ch.  Bell,  Marshall  Hall,  den  Brüdern  Weber  und  vor  allem  Johannes 
Müller  gebührt  der  Ruhm,  die  Physiologie  auf  experimenteller  Grund- 
lage neu  aufgebaut  zu  haben. 

Die  Medizin  im  engeren  Sinne  erhebt  sich  erst  im  vierten  Dezennium 
des  Jahrhunderts  auf  ein  streng  naturwissenschaftliches  Niveau ,  nach- 
dem durch  die  pathologisch-anatomischen  Leistungen  Cruveilhiers, 
Rokitanskys  und  Virchows  das  Fundament  für  die,  durch  Corvisart, 
Laännec  und  vor  allem  durch  Skoda  inaugurierte  physikalische  Dia- 
gnostik geschaffen  worden  war. 

Die  Otiatrie  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  zeigt  be- 
dauerlicherweise nicht  gleichen  Fortschritt  mit  den  übrigen  Disziplinen 
der  Medizin.  Wohl  eröffnen  auch  hier  die  anatomischen  und  physiologi- 
schen Leistungen  Soemmerrings,  Breschets,  Huschkes,  Flourens' 
und  Johannes  Müllers  neue  Perspektiven,  allein  mangels  einer  grund- 
legenden pathologischen  Anatomie  verharrt  die  Otiatrie  noch  lange  auf 
dem  Standpunkte  der  empirischen  Symptomatologie.  Man  würde  aber 
zu  weit  gehen,  wollte  man  jeden  Fortschritt  in  der  Otiatrie  in  dieser 
Periode  in  Abrede  stellen.  In  erster  Linie  ist  es  Frankreich,  wo  sich 
die  Ohrenheilkunde  zuerst  zum  Spezialfach  entwickelte,  welches  durch 
den  verdienstvollen  Itard,  durch  Saissy,  Deleau  u.  a.  Autoren 
vertreten  wird.  Die  französischen  Ohrenärzte  pflegen  die 
klinische  Beobachtung,  bilden  den  Katheterismus  und  die  Luftdusche 
weiter    aus    und   bereichern    durch    die  Auskultation   die  Untersuchungs- 


356  Soemmerring. 


methoden.  Die  Engländer  widmen  sich  vorzugsweise  der  klinischen 
Symptomatologie  und  Praxis.  In  Deutschland  verwertet  wohl  Kramer 
die  neuen  physikalischen  Untersuchungsmethoden  für  das  Spezialgebiet, 
aber  er  haftet  in  Ermanglung  pathologisch-anatomischer  Studien  an  der 
empirischen  Symptomatologie,  ohne  bis  zu  einer  rationellen  Begründung 
der  Pathologie  und  Therapie  vorzudringen.  Diese  große  Lücke  auszu- 
füllen, die  Otiatrie  auf  Grundlage  der  pathologischen  Anatomie  zu  einem 
den  übrigen  Spezialfächern  der  Medizin  ebenbürtigen  Wissenszweige  aus- 
zubilden, war  erst  den  Forschern  der  zweiten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts 
vorbehalten. 


Stand  der  Ohranatomie  in  der  ersten  Hälfte  des 
19.  Jahrhunderts. 

Durch  Cotugnos  und  Scarpas  epochale  Leistungen  waren  der 
Ohranatomie  neue  Wege  gewiesen  worden.  Man  erkannte,  daß  ein 
weiterer  Fortschritt  auf  diesem  Gebiete  nur  durch  eingehende  For- 
schungen in  der  vergleichenden  Anatomie,  Embryologie  und 
Histologie  des  Gehörorgans  zu  erzielen  sei.  In  der  Tat  sehen 
wir  gegen  Ende  des  18.  und  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts 
zahlreiche  Forscher  bemüht,  diese  bisher  vernachlässigten  Gebiete  zu 
bearbeiten  und  namentlich  die  embryologischen  und  vergleichend- anato- 
mischen Kenntnisse  über  das  Gehörorgan  wesentlich  zu  erweitern.  Eine 
festere  Grundlage  erhielt  dieses  Forschungsgebiet  durch  die  Arbeiten 
Soemmerrings,  der  es  verstand,  die  bisherigen  Leistungen  in  der  Ohr- 
anatomie mit  einer  Reihe  eigener  Befunde  zu  einer  übersichtlichen, 
klaren  und  formvollendeten  bildlichen  Darstellung  der  Anatomie  des  Ge- 
hörorgans auszugestalten. 

Samuel  Thomas  Soemmerring,  eine  der  interessantesten  Gestalten 
am  Eingange  des  19.  Jahrhunderts,  wurde  am  25.  Januar  1755  zu  Thorn 
in  Westpreußen  als  der  Sohn  eines  Arztes  geboren.  Nach  4  x/:>  jährigem 
Hochschulstudium  zu  Göttingen  wurde  er  im  Jahre  1778  auf  Grund 
seiner  Dissertation :  De  basi  encephali  et  originibus  nervorum  cranio 
egredentium  libri  V,  welche  die  Aufmerksamkeit  der  Fachkreise  auf  den 
jungen  Gelehrten  lenkte,  zum  Doktor  promoviert.  Durch  Vermittlung 
seines  Landsmannes  Georg  Forster,  den  er  auf  seiner  1779  unter- 
nommenen wissenschaftlichen  Reise  durch  Norddeutschland,  Holland  und 
England  in  London  traf,  erhielt  er  eine  Lehramtsstelle  für  Anatomie  und 
Chirurgie  am  Carolineum  in  Kassel,  von  wo  er  nach  fünfjähriger  Lehr- 
tätigkeit als  Professor  der  Anatomie  und  Physiologie  an  die  Mainzer  Hoch- 
schule berufen  wurde.    Hier  war  er  mit  einigen  Unterbrechungen  12  Jahre 


Tafel  XVI II 


SAMUEL  THOMAS  SOEMMERRING 


Soemmerring.  357 

hindurch  tätig.  Nach  seiner  Entlassung  im  Jahre  1797  unterbrach  ei- 
serne akademische  Laufbahn,  um  in  Frankfurt  als  vielgesuchter  praktischer 
Arzt  zu  wirken.  Erst  nach  dem  Tode  seiner  Frau  folgte  er  einem  Rufe 
nach  München  (1804),  wo  er  Mitglied  der  Akademie  der  Wissenschaften 
wurde.  Hier  beschäftigte  er  sich  viel  mit  physikalischen  Studien  und 
erfand  den  elektrischen  Telegraphen,  dessen  allerdings  primitiven  Apparat 
er  am  27.  August  1809  der  Akademie  demonstrierte.  Historisch  ist  dem- 
nach Soemmerring  als  der  Erfinder  des  elektrischen  Telegraphen  anzu- 
sehen. Im  Jahre  1820  verließ  er  München  und  suchte  Frankfurt  wieder 
auf,  wo  er  den  Rest  seines  Lebens  in  ununterbrochener  wissenschaft- 
licher Tätigkeit  verbrachte.  Zwei  Jahre  nach  seinem  50jährigen  Doktor- 
jubiläum, das  unter  anderem  durch  Stiftung  eines  Soemmerringschen 
Preises  für  die  besten  Leistungen  in  der  Physiologie  gefeiert  wurde,  starb 
er  am  2.  März  1830. 

Zu  den  hervorragendsten  Werken  Soemm  er  rings  zählt  der  unter 
dem  Titel  „Icones  organi  auditus  humani"  1806  in  Frankfurt  erschienene 
Atlas  zur  Anatomie  des  Gehörorgans*),  mit  vortrefflichen,  auch  noch  heute 
mustergültigen  Abbildungen.  Den  Anstoß  zu  diesem  Werke  gab  ihm  die 
Aufforderung  seines  Freundes,  des  Hofrates  Lichtenberg  zu  Göttingen, 
für  dessen  Vorlesungen  über  die  Naturlehre  die  menschlichen  Hörwerkzeuge 
vergrößert  nachzubilden.  Von  dem  Grundsätze  ausgehend,  daß  man  bei 
anatomischen  Abbildungen  nicht  genug  genau  und  gründlich  sein  könne, 
um  sie  möglichst  der  Natur  nahezu  bringen,  stellte  Soemmerring  die 
eingehendsten  Untersuchungen  über  den  Bau  des  Gehörorgans  an  und 
wühlte  nach  Vergleichung  der  eigenen  Präparate  mit  den  vorzüglichsten 
Abbildungen  anderer  Autoren  wie  Valsalva,  Duverney,  Brendel, 
Cassebohm,  Albinus,  Cotunni,  Meckel,  Monro,  Comparetti, 
Scarpa,  Wildberg  diejenige  Form  für  seine  Abbildungen,  die  ihm 
für  das  Studium  der  Ohranatomie  und  den  Lehrzweck  als  die  geeignetste 
erschien.  Nicht  zum  geringsten  unterstützten  ihn  bei  seinen  schwierigen 
Arbeiten  das  reichhaltige  anatomische  Theater  in  Mainz  und  die  Beihilfe 
des  von  ihm  geschulten  vortrefflichen  Künstlers,  des  Professors  Christian 
Koeck,  der  die  Modelle  und  Abbildungen  unter  der  unausgesetzten  Auf- 
sicht und  Leitung  Soemm errings  verfertigte.  Als  endlich  nach  13 jährigem 
rastlosen  Fleiß  die  Abbildungen  bei  Varrentrapp  und  Wenner  in 
Frankfurt  a.  M.  1806  erschienen,  fand  das  Meisterwerk  die  ungeteilte 
Bewunderung  aller  Fachkreise. 

Sämtliche  Abbildungen,  für  die  Soemmerring  ausschließlich  das 


*)  Das  Werk  erschien  auch  deutsch:  Abbildungen  des  menschlichen  Hör- 
organes,  Frankfurt  a.  M.  1806.  —  Ferner  gab  J.  F.  Schröter  nach  dem  Vorbilde 
Soemmerrings  „Das  menschliche  Ohr  nach  Abbildungen  des  Herrn  Geheimen  bah-; 
Soemmerring.  mehr  vergrößert  dargestellt  und  beschrieben"  (Weimar  1811)  heraus. 


Huschke. 

linke  Ohr  benutzte,  sind  auf  5  Tafeln  in  anatomischer  Reihenfolge  ver- 
teilt. Die  erste  Tafel  enthält  die  Abbildung  des  äußeren  Ohres, 
der  Muskeln  und  des  Zusammenhanges  des  äußeren  Ohres  mit  dem  Ge- 
hörgang, den  Gehörknöchelchen  und  dem  Labyrinthe.  Auf  der  zweiten 
Tafel  findet  sich  die  Darstellung  der  in  der  Trommelhöhle  enthal- 
tenen Gebilde,  sowohl  in  ihrer  natürlichen  Verbindung  als  auch  einzeln 
außerhalb  derselben.  Auf  Figur  21  dieser  Tafel  erscheint  das  Liga- 
mentum incudis  posterius  gut  abgebildet.  Ferner  ist  hier  zum  ersten 
Male  das  obere  Hammerband  beschrieben  (Fig.  20  a  und  b  und  S.  14). 
Auf  der  dritten  Tafel  folgen  dann  vorzügliche  Abbildungen  des  Laby- 
rinthes. Die  vierte  Tafel  liefert  die  minder  wesentlichen  Teile,  die 
Arterien  des  Gehörorgans,  die  Hautnerven  des  äußeren  Ohres,  Profil- 
durchschnitte der  Schnecke  etc.  Fig.  4  dieser  Tafel  zeigt  bereits  einen 
weitvollen  Abguß  des  äußeren  Gehörgangs  und  seiner  spiraligen  Form, 
wie  sie  später  in  ausführlicher  Weise  von  Hyrtl  und  Bezold  beschrieben 
wurde.  Hervorzuheben  ist  auch  noch  Fig.  3,  welche  die  Krümmung  des 
äußeren  Gehörgangs  im  horizontalen  Durchschnitt  in  einer  Richtigkeit 
demonstriert,  wie  man  es  auch  in  den  Werken  jüngeren  Datums  nicht 
besser  findet.  Hier  sieht  man  ferner  bereits  die  später  von  Troeltsch 
hervorgehobene  Tatsache,  daß  sich  die  Ceruminal-  und  Balgdrüsen  des 
Gehörgangs  vom  Knorpelteile  gegen  die  hintere  obere  Wand  des  knöcher- 
nen Gehörgangs  in  Form  eines  dreieckigen  Zwickels  fortsetzen.  Endlich 
ist  in  Fig.  14  der  später  von  Rosenthal  beschriebene  Schraubenkanal 
der  Spindel  (Can.  spir.  s.  ganglionaris)  in  seiner  unteren  Hälfte  dar- 
gestellt. Die  fünfte  Tafel  zeigt  die  festen  knöchernen  Hauptteile  des 
Gehörorgans  so,  wie  sie  sich  nach  vollkommener  Ausbildung  des  Schädels 
am  Erwachsenen  hinsichtlich  ihrer  Lage  und  Größe  zum  ganzen  Schädel 
verhalten. 

In  Soemmerrings  „De  corporis  humani  fabrica"*)  vermissen  wir  eine  zu- 
sammenfassende Behandlung  der  Ohranatomie.  Das  Werk  enthält  in  den  verschie- 
denen Abschnitten  nur  eine  kurze  Beschreibung  einzelner  Teile  des  Gehörorgans.  So 
finden  wir  im  ersten  Bande  die  „Organa  auditus  ossea".  im  zweiten  die  „Ligamenta 
ossiculorum  auditus",  im  dritten  die  Muskeln  des  Ohres,  im  vierten  den  Hörnerv  und 
im  fünften  die  Gefäße  des  Gehörorgans  beschrieben.  Interessant  ist  sein  Verfahren 
zur  anatomischen  Darstellung  der  Verzweigung  des  Schneckennerven  in  der  Schnecke. 
Nach  roher  Präparation  der  Knochen  und  des  Nerven  wird  das  Präparat  in  verdünnte 
Salpetersäure  gelegt,  wodurch  die  Knochensubstanz  erweicht  und  abgelöst  wird  und 
der  Nervenverlauf  im  Modiolus  und  in  der  Lamina  spiralis  klar  zu  Tage  tritt.  Es 
ist  dies  unseres  Wissens  der  erste  Fall  einer  chemischen  Vorbehandlung  des  Gehör- 
organs behufs  anatomischer  Untersuchung. 

Emil  Huschke.  Einen  würdigen  Nachfolger  in  der  Erforschung 
des    Gehörorgans    fand  Soemmerrinsf    in    dem  Jenaer    Professor  Emil 


*)  Traj.  ad.  Moen.  1794. 


Tafel  XIX 


EMIL  HUSCHKE 


Huschke.  359 

Husch ke  (1797 — 1858).  Wir  verdanken  ihm  nicht  nur  die  Entdeckung 
der  nach  ihm  benannten  Zona  dentata  in  der  Schnecke  und  anderer 
anatomischer  Details,    sondern    auch  eine  vorzügliche,    durchwesfs  orign- 

CT  *  CT  O 

nelle  Beschreibung  des  _  menschlichen  Gehörorgans.  Wir  lernen  in 
Huschke  einen  feinen,  selbständigen  Beobachter  kennen,  dessen  Neu- 
bearbeitung des  Soemmerringschen  Handbuches  als  eine  ganz  mo- 
derne Arbeit  bezeichnet  werden  kann*).  Diesem  Werke  entnehmen  wir 
die  folgenden  uns  interessierenden  Daten :  Der  Winkel,  den  das  Trommel- 
fell mit  der  Axe  des  Gehörgangs  bildet,  beträgt  55  °.  Die  Fasern  der 
Substantia  propria  des  Trommelfells  sind  weder  elastischer  noch  mus- 
kulöser Natur  (E.  Home  und  J.  Fr.  Meckel),  sondern  sehnig.  Die 
konzentrischen  (zirkulären)  Fasern  sind  an  der  Peripherie  am  zahl- 
reichsten, die  radiären  überschreiten  den  Hammergriff,  sich  unter  spitzem 
Winkel  kreuzend.  Außerdem  gibt  es  noch  schräge  Fasern.  Nicht  nur 
die  Epidermis,  sondern  auch  die  übrigen  Schichten  der  Haut  gehen  in 
die  äußere  Lamelle  des  Trommelfells  über,  die  frei  von  Drüsen  ist;  die 
innere  Schichte  ist  von  einem  Plattenepithel  überzogen  und  enthält  Blut- 
gefäßnetze und  Nervenschlingen. 

Am  vorderen,  spitzeren,  etwas  nach  abwärts  geneigten  Ende  des 
ovalen  Fensters  fand  er  eine  kleine  Furche,  die  gegen  den  Zwischen- 
raum der  ersten  und  zweiten  Schneckenwindung  und  dem  Halbkanal 
des  Trommelfellspanners  gerichtet  ist;  ein  Befund,  den  er  durch  die  von 
ihm  angenommene  Entstehung  des  Fensters  als  fontanellenartiger  Rest 
der  Intervertebralspalte  des  vorderen  und  hinteren  Felsenbeinteiles  zu 
deuten  versucht.  Der  obere  und  hintere  Rand  des  ovalen  Fensters  ist  am 
breitesten.  Da  sich  die  Steigbügelplatte  bei  der  Kontraktion  des  Stapes- 
muskels  auf  den  hinteren  und  unteren  Rand  des  Fensters  stützt,  wird 
die  Stapesplatte  oben  und  vorn  am  stärksten  nach  außen  gezogen.  Die 
innere,  dem  Vorhof  zugewandte  Fläche  der  Stapesplatte  ist  leicht  ge- 
wölbt. 

Die  Ohrtrompete  fand  Huschke  doppelt  gekrümmt.  Von  oben 
betrachtet,  bildet  sie  ein  flaches  S.  Die  Konkavität  des  knorpeligen 
Teiles  richtet  sich  nach  innen  und  hinten,  während  die  der  knöchernen 
Tube  sich  nach  außen,  vorn  und  unten  kehrt.  Gleichzeitig  erscheint  die 
Tube  dadurch  um  ihre  Achse  gedreht,  daß  die  untere  Fläche  des  knöchernen 
Teiles  beim  Uebergange  in  den  knorpeligen  zur  vorderen  äußeren  und  die 
obere  zur  hinteren  inneren  wird.  Diese  Formverhältnisse  lassen  sich  nur 
durch  Korrosion  der  Tube  mit  Wachs  oder  leichtflüssigem  Metall,  nicht  aber 
am  Mazerationspräparate  feststellen.    Die  Oberfläche  der  Tube  ist  an  der 


*)  S.  Th.  Soemmerring,  Lehre  von  den  Eingeweiclen  und  Sinnesoi-ganen  des 
menschlichen  Körpers.    Umgearbeitet  und  beendigt  von  E.  Huschke,  Leipzig  1844- 


360  Huschke. 

Mündung  von  Flimmerepithel  überzogen,  im  knöchernen  Teile  von  Pflaster- 
epithel. 

Huschke  leugnet  das  von  Pappenheini  l)eschriebene  elastische 
Kapselbändchen  zwischen  Amboß  und  Linsenbein  und  hält  letzteres  bloß 
für  einen  Fortsatz  des  Amboßes.  Die  drei  Hammerbänder,  die  richtig 
beschrieben  werden,  bewirken,  daß  der  Hammer  weder  nach  vorwärts, 
noch  mit  seinem  Kopf  nach  abwärts,  sondern  bloß  an  seinem  Griffe 
gleichmäßig  gegen  die  innere  Trommelhöhleirwand  gezogen  werden  kann. 

Der  Muse,  tensor  tympani  spannt  einerseits  durch  Zug  am 
Manubrium  das  Trommelfell  an,  andererseits  drückt  er  den  Hammerkopf 
auf  den  Amboß  und  somit  den  Steigbügel  in  das  ovale  Fenster,  wodurch 
eine  Spannung  der  Vor  hofsteile  eintritt.  Durch  die  Kontraktion 
des  M.  stapedius  wird  nicht  nur  die  Stapesplatte  nach  außen  bewegt, 
sondern  auch  gleichzeitig  der  absteigende  Amboßschenkel  nach  rückwärts 
gezogen ;  wodurch  der  Arnboßkörper  und  mit  ihm  der  Hammer  ebenfalls 
nach  außen  rücken  und  das  Trommelfell  erschlafft  wird*). 

Die  muskulöse  Beschaffenheit  des  sogenannten  M.  laxator  tym- 
pani major  (vorderes  Hammerband)  stellt  er  in  Frage,  für  noch  proble- 
matischer hält  er  den  kleinen  Trommelfellerschlaffer.  Er  hat  an  seiner 
Stelle  bloß  BindegeAvebsfasern  und  gegen  den  Hammergriff  absteigende 
Blutgefäße  gefunden,  nie  aber  quergestreifte  Muskelfasern. 

An  den  Bogengängen,  die  er  in  einen  oberen,  einen  hinteren 
und  einen  äußeren  teilt,  beschreibt  Huschke  eine  dreifache  Krümmung, 
eine  Randkrümmung  und  eine  doppelte  Flächenkrümmung.  Sie  wenden 
sich  teils  mit  einer  Fläche  beider  Schenkel  nach  derselben  Seite  hin 
(C-förmige  Flächenkrümmung),  teils  mit  jedem  Schenkel  nach  entgegen- 
gesetzter Richtung  (spiral-  oder  S-förmige  Schenkelkrümmung),  wo- 
durch eine  nach  zwei  entgegengesetzten  Richtungen  spirale  oder  viel- 
mehr windschiefe  Stellung  der  beiden  Schenkel  gegeneinander  entsteht. 
Außerdem  wird  jeder  Bogengang  für  sich  in  ausführlichster  Weise  be- 
schrieben und  die  Maße  nach  gelungenen  Korrosionspräparaten  mitgeteilt. 
Auch  die  beiden  Aquädukte  werden  nicht  übergangen. 

An  der  Schnecke  beschreibt  Huschke  unter  anderem  ein  Neben- 
spiralblatt     (Lamina    spiralis    accessoria)    als    sehr    schmale    Leiste, 


*)  Schon  Bon  na  fönt  beschrieb  im  Jahre  1834  im  Journal  de  Montpellier 
(s.  Schmidts  Jahrbücher  Bd.  8,  S.  276)  den  Trommelfellspanner  und  den  Steigbügel- 
muskel als  Antagonisten.  Der  Musculus  stapedius  zieht  den  Steigbügel  nach 
hinten  und  etwas  nach  außen.  Dabei  werden  Amboß  und  Hammer  mitbewegt  und 
zwar  der  Kopf  des  Hammers  nach  vorn,  der  Griff  nach  hinten  und  außen.  Es  ent- 
spricht dies  vollständig  unserer  heutigen  Anschauung  über  die  Mechanik  der  Binnen- 
muskeln des  Ohres.  Huschke  scheint  aber  von  Bonnafonts  Mitteilung  keine 
Kenntnis  gehabt  zu  haben. 


Buschke.  361 

die  in  der  ersten  Hälfte  von  der  äußeren  Wand  der  ersten  Windung 
dem  knöchernen  Spiralblatt  entgegenkommt.  Genaue  Messungen  der 
Höhe  und  Breite  beider  Schneckentreppen  vervollständigen  die-  deskriptive 
Anatomie  der  Schnecke. 

Nach  H  u  s  c  h  k  e  ist  das  ganze  knöcherne  Labyrinth  an  seiner 
inneren  Oberfläche  von  einem  zarten  Häutchen  überzogen,  das  aus  zwei 
Lagen  besteht,  einem  äußeren  periost-  und  einem  inneren  serosaähnlichen 
Blatte,  welch  letzteres,  von  einem  Pflasterepithel  bedeckt,  die  Labyrinth- 
flüssigkeit absondert.  Die  häutigen  Bogengänge  schweben  frei  in  der 
Röhre  des  knöchernen  und  werden  an  diese  bloß  durch  zarte  Fäden  aus- 
gespannt und  festgehalten.  Er  weiß,  daß  die  Yorhofsäckchen  und  Bogen- 
gänge (Ampullen?)  bloß  zum  Teil  aus  Nervensubstanz  bestehen  und 
meint,  daß  sie  als  ektodermatische  Bildungen  anzusehen  sind,  keineswegs 
aber  als  seröse  Häute,  für  die  man  sie  früher  gehalten  hat.  Die  an  der 
Eintrittsstelle  der  Nerven  gegenüber  den  Siebflecken  befindlichen  Oto- 
lithen  hält  er  für  eine  Metamorphosierung  der  Oberhaut  an  dieser 
Stelle.  Sehr  ausführlich  ergeht  er  sich  in  der  Beschreibung  der  Ohr- 
kristalle. Am  weichen  Spiralblatt  der  Schnecke  unterschied 
Huschke  eine  knorpelige  und  eine  häutige  Zone.  Die  der  Vorhofstreppe 
zugewendete  Fläche  der  knorpeligen  Zone  besitzt  in  der  Nähe  ihres 
äußeren  Randes  eine  hakenförmig  nach  außen  gekrümmte  Spiralleiste 
(Crista  spiralis  acustica).  An  einem  feinen  Durchschnitt  des  knorpeligen 
Spiralblattes  sieht  man  demnach  am  äußeren  Rande  zwei  Lippen  und 
zwischen  beiden  eine  tiefe  Furche  (Sulcus  s.  Semicanalis  spiralis),  die 
der  Vorhofstreppe  angehört.  Von  der  Paukenlippe  (Labium  tympanicum) 
geht  die  häutige  Zone  ab.  Die  nicht  so  weit  vorspringende  Vorhofs- 
lippe, die  frei  in  der  Vorhofstreppe  endigt,  zeigt  parallel  nebeneinander- 
stehende Zähne  oder  Warzen  (Huschke sehen  Zähne),  die  mit  ihren 
stumpfen  Enden  vorragen  und  von  Treviranus  irrtümlich  für  die  als 
Papillen  endenden  Nerven  angesehen  wurden.  Huschke  ist  der  An- 
sicht, daß  in  der  Vorhofslippe  die  eigentliche  Tätigkeit  der  Schnecke 
und  des  Spiralblattes  ihren  Hauptsitz  hat. 

Die  häutige  Spiralmembran  zerfällt  nach  Huschke  in  einen 
inneren,  glatten,  ungefalteten  und  einen  äußeren,  gefalteten  oder  ge- 
faserten Teil.  An  der  äußeren  Grenze  des  ungefalteten  Teils  läuft 
ein  Streifen  (Vas  spirale)  der  Länge  nach  fort  vom  Anfang  des  Spiral- 
blatts bis  zum  Trichter,  weiter  nach  außen  parallel  mit  ihm  eine  oder 
mehrere  Reihen  gelblicher,  unregelmäßiger  Körperchen  (C ortisches 
Organ?)*).    Der  gefaserte  Teil  besteht  aus  durchsichtigen,  von  innen  nach 


*)  Corti  und  Reisner  weisen  darauf  hin,    daß  die  Arbeiten  Huschkes  als 
Vorstufe  ihrer  späteren  Entdeckungen  anzusehen  sind. 


362  Ev.  Home. 

außen  ziemlich  parallel  nebeneinander  nach  der  Schneckenwand  ver- 
laufenden Fasern,  die  Huschke  an  die  Fasern  eines  Zabnschliffs  er- 
innerten. Das  membranöse  Spiralblatt  hat  nach  Husch ke  drei  Lagen, 
vmi  denen  die  zwei  oberflächlichen  Fortsetzungen  des  Epithels,  die 
mittlere  fibröse  eine  Fortsetzung  des  Periosts  der  Schneckenwindung  ist. 

Die  M  e  m  b  r  a  n  a  t  y  m  p  an  i  secundaria  setzt  sich  aus  drei 
Schichten  zusammen,  von  denen  die  äußere  eine  Fortsetzung  der  Trommel- 
höhlenschleimhaut, die  innere  eine  Fortsetzung  der  Trommelhöhlentreppen- 
bekleidung  und  die  mittlere  fibrösen  Charakters  ist,  eine  Schilderung,  die 
mit  der  früheren  von  Rio  es  und  im  1  unserer  heutigen  Auffassung  voll- 
kommen übereinstimmt. 

Huschke  lokalisiert  die  Endolymphe  bloß  in  die  beiden  Vor- 
hofsäckchen  und  in  die  Bogengänge  mit  ihren  Ampullen.  Die  Endo- 
lymphe enthält  nach  seinen  Untersuchungen  mehr  feste  Bestandteile  als 
die  Perilymphe.  Merkwürdigerweise  fand  Huschke  im  Schneckenwasser 
einzelne  Kristalle,  Würfel  mit  vierflächiger  Zuspitzung. 

Den  Schluß  der  trefflichen  Schilderung  der  Ohranatomie  bildet  die 
Beschreibung  der  Blutversorgung  des  Labyrinths.  Huschkes  ent- 
wicklungsgeschichtliche und  vergleichend-anatomische  Arbeiten  werden 
später  berücksichtigt  werden. 

Besonderes  Interesse  erwecken  jene  Arbeiten  dieses  Zeitraums, 
die  nur  einzelne  Abschnitte  des  Gehörorgans  und  dessen  feinere 
Strukturverhältnisse  betreffen.  Aus  der  großen  Anzahl  der  Spezial- 
schriften  sollen  im  folgenden  nur  die  wichtigeren  erwähnt  werden. 

Ein  spezielles  Studium  wurde  der  Erforschung  des  Trommelfells  ge- 
widmet. Wir  verweisen  auf  die  Arbeiten  von  Home,  Shrapnell,  Cor- 
nelius, Pappenheim  u.  a.,  die  die  Kenntnis  von  dem  Baue  dieser  Mem- 
bran wesentlich  erweiterten. 

Everard  Home  (1763—1832),  entdeckte  bei  der  Zergliederung  von 
Elefantenschädeln  an  der  Innenseite  des  Trommelfells  eine  schon  mit 
freiem  Auge  sichtbare  Anordnung  radiärer  Fasern.  Denselben  Befund 
ergab  die  Untersuchung  am  menschlichen  Trommelfelle  mit  Hilfe  einer 
23fachen  Vergrößerung.  Von  der  fast  gleichzeitigen  Entdeckung  der 
radiären  und  zirkulären  Faserschichte  des  Trommelfells  durch  Leop. 
Caldani  (p.  274)  hatte  Home  offenbar  keine  Kenntnis.  Home  hielt 
irrtümlich  die  radiären  Fasern  für  einen  Muskel  des  Trommelfells  1).  Der 
mikroskopische  Befund  dürfte  wohl  kaum  überzeugend  gewesen  sein,  sonst 
hätte  Home  nicht  die  folgende  Hypothese  zur  Stütze  seiner  Ansicht 
herangezogen.  An  einem  gelungenen  Injektionspräparate  Dr.  Bailies 
fand  Home,  daß  die  Verlaufsrichtung  der  Blutgefäße  am  Trommelfelle 
mit  der  der  Iris  übereinstimmt.  Daraus  schließt  er,  daß  das  Trommel- 
fell  gleich  der  Iris  einen  Muskel  (Radiärfasern)  besitzen  müsse  2).     Seine 


Shrapnell.  363 

genaue  Beschreibung  der  Anordnung  der  radiären  Faserschichte  und  der 
Blutgefäße  am  Trommelfelle  ist  nicht  neu,  da  wir  sie  in  gleicher  Ausführ- 
lichkeit schon  beim  jüngeren  Caldani  (1.  c.)  und  bei  Ruysch  (1.  c.)  finden. 
Home  verrät  überhaupt  eine  erstaunliche  Unkenntnis  der  Leistungen 
seiner  Vorgänger.  So  führte  er  —  ohne  Cotugno  zu  erwähnen  —  zum 
Beweise,  daß  das  Labyrinth  mit  Flüssigkeit  gefüllt  sei,  in  Gemeinschaft 
mit  einem  Mr.  Clift  einen  Versuch  aus,  den  schon  lange  vor  ihm  Meckel 
angegeben  hatte,  und  es  ist  als  verwunderlich  zu  bezeichnen,  wenn  er  am 
Anfang  des  19.  Jahrhunderts,  als  die  Ansicht,  daß  eine  Kommunikation 
zwischen  Labyrinth  und  äußerer  Luft  bestehe,  längst  als  irrtümlich  ab- 
getan war,  sich  noch  zu  folgender  Aeußerung  veranlaßt  sieht:  „These 
cavities  (das  Labyrinth)  are  filled  with  a  watery  liqnor,  and  have  no 
communication  (as  the  tympanum  has)  with  the  external  air". 

')  When  viewed  in  a  microscope  rnagnifying  23  fcimes,  the  muscular  fibres  are 
beautifully  conspicuous,  and  appear  uniformly  the  same  throughout  the  whole  surface, 
there  being  no  central  tendons,  as  in  the  diaphragrn ;  the  muscular  fibres  appear 
only  to  form  the  internal  layer  of  the  membrane,  and  are  most  distinctly  seen  when 
viewed  on  that  side.  Lecture  on  the  structure  and  uses  of  the  membrana  tympani 
of  the  ear.  Philosophical  Transact.,  London  1800,  Part.  I,  p.  5.  —  2)  This  corre- 
spondence,  in  the  number  and  distribution  of  bloodvessels,  between  the  membrana 
tympani  and  the  iris.  is  a  strong  circumstance  in  confirmation  of  that  membx-ane 
being  endowed  with  muscular  action.     1.  c.  p.  6. 

Henry  John  Shrapnell.  Fast  gleichzeitig  mit  der  Arbeit  Homes 
erschien  in  den  ..Philosophical  Transactions"  eine  wertvollere  Unter- 
suchung des  Trommelfells  von  Henry  Jones  Shrapnell*).  Er  ver- 
gleicht die  Form  des  Trommelfells,  wie  sie  sich  nach  sorgfältiger  Ent- 
fernung der  Knochenrinne  präsentiert,  mit  der  Gestalt  eines  Hufeisens. 
Drei  Viertel  des  Umfanges  bilden  ein  richtiges  Oval,  von  dem  das  letzte 
Viertel  gleichsam  abgeschnitten  ist.  Am  Umrisse  der  Membran  unter- 
scheidet er  einen  vorderen  oberen  Winkel  in  gleicher  Höhe  mit  der  Basis 
des  Jochbeinfortsatzes  und  einen  hinteren  mehr  nach  auswärts  geneigten 
Winkel  unter  dem  Niveau  des  vorderen.  Shrapnell  war  der  erste,  der 
auf  die  Verschiedenheit  in  der  Struktur  der  Membrana  tympani  hinwies. 
Er  unterschied  einen  zur  Schallfortpflanzung  geeigneten  Teil  von  ge- 
spannter Elastizität,  der  aus  elastischen,  strahlenartig  angeordneten 
Fasern,  die  sich  einerseits  in  der  Knochenrinne,  andererseits  in  der  Mitte 
des  Hammerstieles  befestigen,  besteht  (Membrana  tensa),  und  einen  zur 
Schallfortpflanzung  ungeeigneten  Teil  von  schlaffer  Elastizität,  der  den 
über  dem  kurzen  Hammerfortsatze  befindlichen   I»  i  v  i  n  i  sehen  Ausschnitt 


*)  Ueber  die  Form  und  Struktur  der  Membrana  tympani  in  Frorieps  Notizen. 
Bd.  34,  1832,  S.  18,  übers,  aus  The  London  Medical  Gazette  Vol.  X,  1832:  On  the 
form  and  structure  of  the  membrana  tympani  of  the  ear.     Phil.  Trans.   1800. 


36  |  Shrapnell. 

ausfüllt  (Membrana  flaccida,  auch  Membrana  Shrapnelli  genannt).  Shrap- 
nell beobachtete,  daß  beim  Einblasen  von  Luft  in  die  Trommelhöhle 
durch  die  Eustachische  Röhre  die  Membrana  flaccida  sich  ausbaucht, 
während  die  Membrana  tensa  des  Trommelfells  verhältnismäßig  unver- 
ändert bleibt.  Die  einzelnen  Details  der  Membrana  tensa  werden  in  ein- 
gehendster Weise  mitgeteilt. 

Aus  der  eigentümlichen  Konstruktion  folgert  Shrapnell,  daß  die 
Fasern  der  Membrana  tensa,  deren  muskulöse  Beschaffenheit  er  in  Ab- 
rede stellt,  krummlinige  Formen  in  jeder  Richtung  darbieten,  die  nach 
seiner  Ansicht  gerade  am  besten  geeignet  zu  sein  scheinen,  eine  Mannig- 
faltigkeit feiner  Bewegungen  je  nach  der  Schwingungskraft  der  Töne 
hervorzubringen.  Die  Arterien  des  Trommelfells  stammen  vom 
Ramus  stylomastoideus  der  Arteria  facialis  und  verlaufen  von  der  Peri- 
pherie und  längs  des  Hammerstieles  konvergierend  gegen  die  Mitte  der 
Membran. 

Die  Membrana  flaccida  unterscheidet  sich  von  der  M.  tensa 
außer  durch  ihren  schlaffen  Zustand  auch  noch  dadurch,  daß  sie  nicht 
in  einer  Knochenrinne  befestigt  ist,  und  daß  die  Fasern  und  Blutgefäße 
in  ihr  unregelmäßig  verteilt  sind,  daß  sie  selbst  eine  veränderliche  Gestalt 
besitzt,  daß  ihre  innere  Oberfläche  durch  Schleim  schlüpfrig  erhalten 
wird,  endlich  dadurch,  daß  die  Fläche  der  Membrana  flaccida  eben  ist, 
während  die  der  Membrana  tensa  mehr  nach  auswärts  in  der  Richtung 
der  oberen  Wandung  des  äußeren  Gehörganges  geneigt  ist. 

Shrapnell  spricht  den  Gedanken  aus,  daß  die  große  Ausdehnungs- 
fähigkeit der  Membrana  flaccida  die  gespannteren  Fasern  der  M.  tensa 
vor  den  Wirkungen  plötzlicher  und  lauter  Töne,  des  Hustens  und 
Schneuzens  schütze.  Er  hält  sie  auch  für  die  zweckmäßigste  Stelle  zur 
Punktion  des  Trommelfells,  weil  dieser  Teil  am  leichtesten  gesehen  werde 
und  weil  die  perforierte  Stelle  die  Funktion  der  schall- 
leitenden  Membrana   tensa  nicht  störe. 

Von  geringem  Weite  ist  die  ebenfalls  im  Beginne  des  19.  Jahrhunderts  er- 
schienene Arbeit  Brugnones*)  über  das  Trommelfell,  in  der  er  abweichend  von 
Caldani,  Cuvier  u.  a.  die  äußere  und  mittlere  Schichte  der  Membran  der  Aus- 
kleidung des  äußeren  Gehörgangs,  die  innere  der  Ohrtrompete  und  der  Trommel- 
höhle zuschreibt. 

Vest  und  Wittmann  regten  die  seit  Haller  schon  erloschene  Streitfrage 
über  das  Foramen  Rivini  neuerdings  an**),  indem  sie  behaupteten,  daß  im  mensch- 
lichen Trommelfelle  eine  ovale,  von  zwei  Fältchen  begrenzte  OefFnung  (Kanal)  vor- 
komme,   die    schräg   durch    die  Trommelhaut    verlaufe   und   durch   den  Tensor  oder 


*)  Mem.  de  l'acad.  de  Turin  pour  les  arm.  X  et  XI.    Observation  anatomiqucs 
sur  l'origine  de  la  membrane  du  tympan  et  celle  de  la  caisse  1805—08. 

i  „lieber   die   Witt  mann  sehe   Trommelfellklappe "    in   den  „Mediz.  Jahrb. 
Oest,  1819',  Bd.  V,  p.  123—133. 


F.  Cornelius. 


36^ 


Laxator  tympani  geöffnet  oder  geschlossen  werden  könne.  Sie  sei  jedoch  bloß  von 
oben  zu  sehen  und  fehle  in  vielen  Fällen.  Anbänger  fand  diese  Anschauung  nament- 
lich in  Berres*),  der  die  Oeffnung  bei  100  Köpfen  6— 7nial  gefunden  haben  will, 
und  in  Vests  Sohn**).  —  Fleischrnann***)  will  das  Foramen  Rivini  nur  be 
gewissen  Tieren  (Maulwurf,  Yespertilio  murinus  etc.)  gefunden  haben. 

Friedrich  Cornelius.  Einen  wertvollen  Beitrag  zum  Baue  des 
Trommelfells  lieferte  der  russische  Arzt  Fr.  Cornelius  (1799 — 1848). 
Unter  den  zahlreichen,  meist  uninteressanten  Inauguraldissertationen  dieser 
Periode  verdient  seine  unter  dem  Titel  ..De  membranae  tympani  usu", 
Dorpat  1825,  erschienene  Arbeit  deshalb  Beachtung,  weil  sich  in  ihr 
zum  ersten  Male  die  Beschreibung  und  Abbildung  der  „inneren  Trommel- 
fellfalte'" und  der  durch  sie  gebildeten  „hinteren  Trommelfelltasche'-  findet, 
v.    Tröltsch,    dem    diese    Dissertation    gewiß    nicht    bekannt    war,    hat 


■ 


Fig.  18.  Innere  Trommelfellfalte. 
Reproduktion  aus  der  Disser- 
tationsschrift des  Fr.  Cornelius. 


Fig.  19.  Innere  Trommelfellfalte 
nach  Wegnahme  des  Amboßes. 
vom  Hammer  abgetrennt  und 
zurückgeschlagen.  Aus  derselben 
Dissertationsschrift. 


35  Jahre  später  diese  Tasche    als  neu  beschrieben.     Sie  wird  nach    ihm 
„Tröltsch sehe  Tasche"   benannt. 

Gelegentlich  einer  zur  Lösung  der  Frage  über  die  Existenz  des 
Foramen  Rivini  unternommenen  anatomischen  Untersuchung  fand  Cor- 
nelius an  der  Innenseite  des  Trommelfelles  eine  Falte  (Fig.  18),  die  er 
nach  Form  und  Begrenzung  genau  schildert:  „membranulam  triangulärem, 
quae  a  tergo  antrorsum  ad  malleum  protensa  huic  est  affixa".  Wird 
unter  diese  Falte  eine  Borste  nach  oben  eingeschoben,  so  sieht  man  sie 
an  der  äußeren  Fläche  des  Trommelfells  in  der  Foveola  des  Trommel- 
fells (jetzt  Membrana  flaccida)  durchschimmern.  Hierdurch  wird  die 
Kommunikation  des  Prussakschen  Raumes  mit  der  hinteren  Trommel- 
felltasche erwiesen. 


*)  Grundriß  der  Physiologie. 
**)  Ueber  die  Natur  des  Schallstrahles  nebst  einem  Anhange  über  die  Trommel- 
fellklappe.    Wien  1833- 

***)  Ueber   die  Muskeln    des   inneren   Ohres.     Berliner   mediz.  Zentralztg.  1836. 


3(36  Th.  Buchanan. 


Cornelius  hält  die  beschriebene  Falte  für  eine  Duplikatur  des 
Trommelhühlenperiosts,  das  auf  die  innere  Trommelfellfläche  übergeht1). 
Er  erläutert  diese  Verhältnisse  an  sehr  guten  Abbildungen  (Fig.  18 
und  Fig.  10),  die  noch  durch  einen  vollkommen  richtigen  Frontaldurch- 
schnitt ergänzt  werden. 

An  der  Außenfläche  des  Trommelfells  beschreibt  Cornelius  die 
später  auch  von  Prussak*)  erwähnten  und  nach  ihm  benannten  Streifen, 
welche  sich  vom  kurzen  Hammerfortsatze  zu  der  winkelig  vorspringenden 
Grenze  des  Rivinischen  Ausschnittes  hinziehen  und  die  Grenze  zwischen 
Membrana  tensa  und  flaccida  des  Trommelfells  bilden.  Nach  Ablösung 
der  Membrana  flaccida  entdeckte  er  in  dem  zwischen  dieser  und  dem 
Hammerhals  befindlichen  Räume  (jetzt  Prussakscher  Raum)  eine  kleine 
dreieckige  Falte  ausgespannt 2).  Das  Trommelfell  ließ  er  aus  vier  Schichten 
bestehen,  wie  dies  schon  Winslow,  Haller,  Cassebohm  vorher,  später 
auch  Autenrieth  annahmen.  Die  beiden  innersten  Schichten  sollten 
eine  Duplikatur  des  Trommelhöhlen-  und  Gehörgangsperiosts  darstellen, 
während  die  äußerste  der  Haut  des  Gehörgangs,  die  innerste  der  Schleim- 
haut der  Trommelhöhle  angehören.  Das  Foramen  Rivini  weist  Cor- 
nelius auf  Grund  zahlreicher  Untersuchungen  zurück. 

')  Membrana  haec  valvuliforaiis  nihil  aliud  est,  nisi  plica  periostei  cavnm 
tympani  obducentis  in  longum  dedueta,  quae  a  periosteo,  antequam  in  tympani 
laminam  internam  abit,  demittitur,  quod  ipse  perspicue  vidi.  1.  c.  p.  29.  —  2)  Ut 
internam  tympani  faciem  eo  loco  diligentius  investigarem,  ubi  externe  plicae  reperi- 
untur  supra  memoratae,  a  malleo  membranam  illam  dissolvi,  quam  replicans  intra 
illam  atque  tympanum  aliam  conspexi  membranulam  pariter  triangulärem,  proxime 
tympano,  in  extremo  inter  annulum  tympanicum  malleumque  recessu.     1.  c.  p.  28. 

Thomas  Buchanan  (1782—1853).  Zu  den  Werken,  die  anatomisch- 
physiologisch mehrere  Abschnitte  des  Gehörgangs  behandeln,  zählt  die 
Arbeit  des  Praktikers  und  Surgeon  am  Dispensary  für  Augen-  und 
Ohrenkrankheiten,  Thomas  Buchanan,  betitelt:  „Physiological  illu- 
strations  of  the  organ  of  hearing  etc."  (London  1828).  In  dieser  werden 
insbesondere  die  Ohrmuschel,  der  äußere  Gehör  gang  und  dessen 
Drüsen  einer  sorgfältigen  Untersuchung  unterzogen. 

Nach  Buchanan  verläuft  der  Gehörgang,  dessen  Länge  l1/*  bis 
lx/2  Zoll  beträgt,  zuerst  nach  vorne  oben,  dann  nach  hinten  und  innen 
und  zuletzt  nach  unten,  vorn  und  innen,  verengert  sich  allmählich  bis 
etwa  eine  Linie  vor  dem  Trommelfell,  in  dessen  Nähe  er  sich  wieder 
erweitert. 

Die  untere  längere  Wand  bildet  am  inneren  Ende  eine  ovale  Ver- 
tiefung, die  von  Buchanan  als  ..Depressionalkurve"  (ausgehöhlte  Ver- 
tiefung) bezeichnet  wird   (unser  jetziger  Sinus  meat.  aud.  ext.).    Auf  die 


")  A.  f.  0.  Bd.  III. 


Th.  Buchanan.  367 


Resultate  seiner  eingehenden  Messungen  der  Dimensionen  des  äußeren  Ge- 
hörgangs und  des  Trommelfells  kann  hier  nicht  näher  eingegangen  werden. 

So  bizarr  auch  die  Ansichten  Buch  an  ans  über  den  Bau  des  Trominelfells 
und  über  die  Schallübertragung  durch  dasselbe  sein  mögen,  so  sind  sie  historisch 
insofern  interessant ,  als  sie  in  dieser  Periode  den  Stand  der  Ohranatomie  und 
Physiologie  in  England  illustrieren.  Die  konische  Form  (Trichterform)  des  Trommel- 
fells, die  bei  jugendlichen  Individuen  noch  nicht  vorhanden  sei,  entsteht  nach 
Buchanan  dadurch,  daß  die  Gehörknöchelchen  und  auch  der  Hammergriff,  mit  dem 
das  Trommelfell  verbunden  ist,  verhältnismäßig  rascher  wachsen  als  die  Trommel- 
höhle (?) ;  befördert  wird  ferner  die  Konkavität  durch  die  große  Menge  der  ein- 
fallenden Schallwellen,  die  das  Trommelfell  nach  innen  drängen,  durch  das  Wachs- 
tum des  Sulcus  tympanicus  und  durch  die  Wirkung  des  Trommelfellspanners  und 
des  Steigbügelmuskels  (?).  Der  wichtigste  Vorteil  der  Schräglage  des  Trommelfells, 
dessen  Radiärfasern  nach  Home  er  für  muskulös  hält,  sei  der,  daß  dadurch  die  von 
ihm  reflektierten  Schallwellen  in  die  ausgeschweifte  Grube  des  äußeren  Gehörgangs 
gelangen  und  dort  von  dem  sich  bis  dorthin  erstreckenden  röhrenförmigen  Ueberzuge 
des  Ohrenschmalzes  absorbiert  werden ,  wodurch  angeblich  die  Entstehung  eines 
Widerhalls  im  Ohre  verhindert  werde.  Buchanans  Angabe,  daß  die  Ohrschmalz- 
drüsen eine  Linie  innerhalb  der  Oeffnung  des  Gehörganges  anfangen  und  sich  bis 
auf  eine  oder  eine  halbe  Linie  vor  dem  Trommelfell  erstrecken,  ist  längst  als  un- 
richtig erwiesen  worden.  Auf  die  Pathologie  und  Therapie  Buchanans  werden  wir 
später  noch  zu  sprechen  kommen. 

Wesentlich  abweichende  Angaben  über  den  Bau  des  äußeren  Gehörgangs  und 
des  Trommelfells  finden  sich  bei  den  zeitgenössischen  Forschern.  So  behauptete 
Krause*),  daß  die  häutigen  Lamellen  des  Trommelfells  nach  oben  zu  auseinander- 
weichen, weshalb  die  Membran  an  dieser  Stelle  schlaffer  sei  als  deren  untere  Hälfte. 

Pappenheim**)  nimmt  fünf  Schichten  am  Trommelfell  an:  Epidermis, 
Beinhaut  des  äußeren  Gehörgangs,  eigentliche  Haut  des  Trommelfells,  Beinhaut  der 
Trommelhöhle  und  Schleimhaut.  Die  konzentrischen  Fasern  hören  in  einiger  Ent- 
fernung vom  Hammergriffe  auf. 

Lincke***)  zerlegte  durch  Mazeration  das  Trommelfell  in  ein  inneres  und 
ein  äußeres  zartes  Blatt,  von  denen  das  eine  nach  seiner  Ansicht  vom  Trommel- 
höhlen-, das  andere  vom  Gehörgangsperiost  seinen  Ursprung  herleitet.  Die  am 
Hammergriff  dichter  zusammentretenden  und  stärker  entwickelten  radiären  Fasern 
verleihen  dem  Trommelfelle  an  dieser  Stelle  besondere  Festigkeit. 

Schließlich  sei  noch  die  Dissertation  des  Schweizer  Arztes  Alexius  Theodor 
Aeplif)  erwähnt,  die  eingehend  die  Gefäße  und  Nerven  des  Trommelfells  behandelt, 
vorzugsweise  aber  auf  den  Arbeiten  von  Caldani,  Home  und  Shrapnell  fußt. 

Außer  den  genannten  Publikationen  findet  sich  in  fast  allen  anatomischen, 
physiologischen  und  otiatrischen  Werken  dieses  Zeitraumes  manches  Bemerkenswerte 
über  die  Anatomie  des  äußeren  Gehörgangs  und  des  Trommelfells,  so  bei  Auten- 
rieth  und  Magendie  (s.  später),  ferner  bei  J.  F.  Meckel1).  Rosenthal2),  Tram- 
pel3), Berres4),  Lauth5),  Bock6),  Hempel7),  Rudolphi8),  E.  H.  Weber9), 
Seiler10),   Tod11),   Lenhossek 12),   Jung13)   u.a. 


*)  Handb.  d.  menschl.  Anatomie.     Hannover  1836. 
**)  Frorieps  Notizen  1838. 
|;**)  Handb.  d.  Ohrenheilk.  Bd.  I,  1837. 

f)  De  membrana  tympani.     Gynopedii  1837. 


368  Blumenbach.     Anth.  Carlisle. 


])  Handb.  d.  menschl.  Anatomie  Bd.  IV.  Halle  1815—1820.  —  2)  Handb.  d. 
chirurg.  Anatomie.  Berlin  1817.  —  3)  Wie  erhält  man  sein  Gehör  gut  etc.  Han- 
nover 1822.  —  4)  Anthropotomie  oder  Lehre  vom  Baue  des  menschlichen  Körpers. 
Wien  1835.  Bd.  I.  —  5)  Neues  Handb.  d.  prakt.  Anatomie.  Stuttgart  und  Leipzig 
1835.  1836.  Bd.  T.  —  G)  Handb.  d.  prakt.  Anat.  Meißen  1819—22.  —  7)  Anfangs- 
gründe d.  Anat.  d.  menschl.  Körpers.  Göttingen  1801—33.  —  8)  Grundriß  der  Physio- 
logie  Bd.  II.  Berlin  1821—28.  —  9)  Meckels  Archiv  1827.  p.  233.  —  10)  Im  Med. 
Realwörterbuch  von  J.  F.  Pierer,  Altenburg  181(>— 29,  Bd.  V.  —  n)  Anatomy  and 
physiology  of  the  organ  of  hearing.  London  1832.  —  '-)  Physiologia  medicinali*. 
Pest  1816 — 18,  Vol.  IV.  —  13)  Vom  äußeren  Ohre  und  seinen  Muskeln  beim  Menschen. 
Verhandlungen  der  naturforschenden  Gesellschaft  in  Basel  1849. 

Die  Ohrenschmalzdrüsen  beschrieben  am  Anfange  dieses  Jahrhunderts 
R.  Wagner1).  Krause2),  Henle3),  Kohlrausch,  Valentin,  Pappenheim  u.a. 
und  stellten  durch  mikroskopische  Untersuchung  ihre  tubulöse  Beschaffenheit  fest. 

Ueber  die  Chemie  des  Ohrenschmalzes  stellten  Foucroy,  Vauquelin 
und  Berzelius4)  gründliche  Untersuchungen  an.  Ferner  schrieben  über  diesen 
Gegenstand  Th.  Schreyerr')  und  C.  Fromherz  6).*) 

])  Icones  pbysiologicae.    Leipzig  1839,  Tab.  XVI.  —  2)  In  Müllers  Archiv  1839. 

—  3)  Allgem.  Anatomie  S.  915.    —    ')  Lehrbuch  der  Tierchemie.     Dresden  1831.    — 
5)  Allg.  Enzykl.  d.  Wissensch.  u.  Künste.    Leipzig  1832,  Sekt.  III,  Bd.  III,  p.  332—333. 

—  6)  Lehrb.  d.  med.  Chemie,  2  Bde.     Freiburg  1834,  Bd.  II,  p.  226. 

Um  die  Erweiterung  der  anatomischen  Kenntnisse  vom  Bau  der 
Trommelhöhle,  der  Gehörknöchelchen,  ihrer  Muskeln  und 
Bänder  machten  sich  in  diesem  Zeiträume  zahlreiche  Forscher  verdient. 

Blumenbach  wies  zuerst  nach,  daß  das  Linsenbein  nicht  ein 
eigenes  Knöchelchen,  sondern  eine  Apophyse  des  langen  Amboßschenkels 
sei,  eine  Ansicht,  der  später  auch  Shrapnell1)  beitrat.  Blumenbach 
fand  ferner  an  der  hinteren  Fläche  des  Stapesköpfchens  zwei  Grübchen, 
die  dem  Ansätze  der  Sehne  des  M.  stapedius  dienen. 

Saunders2)  gab  genauere  Maßangaben  der  Trommelhöhle.  Nach 
ihm  ist  ihr  Tiefendurchmesser  in  der  Gegend  des  ovalen  Fensters  am 
größten,  der  Schneckenspitze  gegenüber  am  kleinsten. 

Anthony  Carlisle  gibt  in  seiner  Arbeit 3)  eine  eingehende  Schil- 
derung der  anatomischen  Verhältnisse  des  Stapes  beim  Menschen,  der 
eine  vergleichende  Anatomie  des  Stapes  bei  den  verschiedenen  Säuge- 
tieren und  der  Columella  bei  Vögeln  und  Amphibien  angefügt  ist.  Dem 
Texte  ist  eine  mit  vorzüglichen  Abbildungen  ausgestattete  Tafel,  ent- 
haltend die  bildliche  Darstellung  des  Stapes  und  seiner  Homologen  in 
der  Tierreihe  beigegeben. 

Weniger  glücklich  ist  Carlisle  in  seinen  physiologischen  Reflexionen. 
So  nimmt  er  irrtümlich  an,  daß  der  Musculus  stapedius  bei  seiner  Aktion 

*)  Nach  Schwartze  (A.  f.  0.  VII)  fanden  Wedel  und  Haygart,  daß 
Ceruinen  am  besten  im  Wasser  löslich  sei,  was  später  auch  von  Petrequin  be- 
stätigt wurilr. 


Ansichten  über  Endignng  des  Vorhofsnerven.  385 

Abschnitt  des  Spiralblattes,  wo  sie  sich  in  Fibrillen  teilen,  die  sich  ihrerseits  in  sehr 
feinen  Endschlingen  vereinigen,  sich  aber  nicht  in  den  äußeren  durchsichtigeren, 
bloß  aus  Bindegewebsfasern  bestehenden  Teil  der  häutigen  Zone  (Zonula  pectinata) 
fortsetzen.  Nach  seiner  Beschreibung  ist  das  ganze  Spiralblatt  von  Gangli'enkugeln 
bedeckt. 

Pappenheim  glaubt,  daß  der  Stamm  des  Schneckennerven  ganz  von  einer 
breiten  rötlichgrauen  Schicht  bedeckt  sei,  die  nur  aus  Ganglienzellen  bestehe;  der 
N.  modioli  enthalte  Ganglien  und  der  N.  vestibuli  habe  hinten  und  außen  eine  röt- 
liche gangliöse  Schicht. 

Hannover  fand  ein  Epithel  in  der  Schnecke  vor.  Er  bestritt  die  An- 
sicht Breschets,  daß  das  Neurilem  direkt  in  die  membranöse  Zone  übergehe. 
Todd  und  Bowman  unterschieden  au  der  Spiralplatte  eine  „laruina  denticulata" 
und  eine  „Zona  membranacea",  welch  letztere  sie  wieder  in  zwei  Abschnitte  teilten, 
in  eine  „inner  clear  belt"  (Zylinderkörperchen  mit  einem  dickeren  Ende),  in  eine 
„pectinate  portion"  und  eine  „other  clear  beif.  Die  verdickte  Periostalpartie  an 
der  äußeren  Schneckenwand  bezeichneten  sie  als  „Zona  muscularis  laminae  spiralis", 
die  einen  „Musculus  cochlearis"  einschließt.  Kölliker  fand  jedoch  hier  keine 
glatten  Muskelfasern  und  nannte  diese  Partie  wegen  ihrer  bindegewebigen  Natur 
„Ligamentum  spirale"  22).  Ebenso  verschieden  waren  die  Angaben  Wharton 
Jones23),  Hilde  brandt-Webers  24),  Mand  1  s  25)  und  Arnolds  über  die  Nerven- 
endigungen in  der  Schnecke.  Am  meisten  kam  noch  Husch  kes  Beschreibung  der 
Wirklichkeit  nahe. 

Reichert26)  äußert  sich  überHuschkes  (siehe  S.  361)  Untersuchungen  über 
die  Nervenendigungen  des  Acusticus  in  der  Schnecke  ungefähr  folgendermaßen:  „Auch 
das  Cortische  Organ  istHuschke  nicht  unbekannt  geblieben;  er  hat  aber  dasselbe 
gleichfalls  nur  beim  Säugetierfötus  wahrgenommen.  Er  beobachtete,  daß  an  jener, 
der  späteren  Vorhofstreppe  zugewendeten  Wand  des  plattgedrückten  Schneckenkanals 
eine  feine  Leiste  sich  erhebe  und  als  spiraler  Längsstreifen  an  der  Windung  hin- 
ziehe. Huschke  ist  der  Ansicht,  die  auch  von  späteren  Anatomen  vertreten  wird, 
daß  in  derselben  die  Schneckennerven  sich  verästeln  und  enden,  und  gibt  ihr  des- 
halb den  Namen  ,Nervenwarze'  (Papilla  spiralis);  er  hält  es  ferner  für  wahrschein- 
lich, daß  sie  sich  bei  Erwachsenen  zur  Crista  spiralis  acustica  (Spiralleiste)  um- 
wandeln. Daß  Huschke  in  Wirklichkeit  die  Gegend  des  häutigen  Schneckenkanals 
vor  sich  hatte,  geht  aus  seiner  Schilderung  der  mikroskopischen  Beschaffenheit  seiner 
sog.  ,Spiralnervenwarze'  hervor.  Huschke  spricht  hier  von  einer  aus  perlartig 
aneinander  gereihten  Kügelchen  zusammengesetzten  Spiralen  Linie.  In  der  Tat  ge- 
währen namentlich  die  oberhalb  der  äußeren  Cor  tischen  Fasern  gelegenen  größeren 
Epithelzellen  (Corti sehen  Zellen)  bei  reiferen  Fötus  ein  solches  mikroskopisches 
Bild.  Ebenso  erwähnt  Huschke  eine  Lage  von  Kegeln,  die  den  erwähnten  Kügel- 
chen ansitzen,  das  Aussehen  von  Zellen  des  Zylinderepithels  haben  und  die  wohl  nur 
auf  die  Fasern  des  C ortischen  Organs  bezogen  werden  können."  Hinzuzufügen 
wäre  noch,  daß  nach  Huschke  die  Fasern,  sich  fortwährend  verästelnd,  in  die 
Gegend  der  Spiralleiste  gelangen,  wo  sie  als  Schlingen  endigen27). 

Die  Endigungen  des  Vorhofsnerven  hat  vor  allem  Breschet 
ausführlich  beschrieben. 

Nach  ihm  verteilen  sich  die  drei  Bündel  des  N.  vestibularis  in  der  Weise,  daß 
ihre  Nervenfäden  nach  ihrem  Eindringen    in  die  Vorhofssäckchen  von  einer  Scheide 
umgeben   werden,    welche    die  Fasern    bis   zu  ihrer  Entfaltung  umgibt  und  bewirkt, 
Politzer,  Geschichte  der  Ohrenheilkunde.    1.  25 


386  Zur  Literatur  des  -19.  Jahrhunderts. 


daß  sie  einen  kleinen  Vorsprung  in  den  Sack  hilden.  Im  Niveau  dieses  Vorsprungs 
anastomosieren  die  Fäden  und  bilden  miteinander  Bogen.  Wo  die  Nervenendigungen 
von  ihrem  Neurilem  verlassen  werden,  sind  sie  in  unmittelbarer  Berührung  mit  dem 
Ohrsande.  Aehnlich  ist  es  um  die  Nervenendigung  in  den  Ampullen  bestellt.  Der 
Nerv  durchbohrt  die  Membran  der  Ampulle  und  wird  von  ihr  mit  einer  Scheide 
versehen,  die  ihn  bis  zu  seiner  Auflösung  in  ein  maschenförmiges  Netz  begleitet.  Im 
Innern  der  Ampulle  bildet  der  Nerv  eine  unvollkommene  Scheidewand  von  halbmond- 
resp.  krückenförmiger  Gestalt.  Von  dieser  Scheidewand  an  verteilt  sich  der  Nerv 
in  eine  Menge  Fäden,  die  miteinander  anastomosieren  und  ähnlich  wie  auf  der 
Spiralplatte  endigen.  Ueber  Steif ens an ds  Verdienste  um  die  Beschreibung  der 
Nervenendigungen  in  den  Ampullen  haben  wir  schon  gesprochen  (siehe  S.  377). 
Wie  aus  obigem  hervorgeht,  ist  Breschet  in  mancher  Beziehung  der  Schilderung 
Steifensands  ohne  Angabe  der  Quelle  gefolgt. 

J)  Beiträge  zur  Otiatrie.  Erster  Beitrag.  Ueber  eine  neue  im  Ohre  entdeckte 
Nervenverbindung.  Acta  regia  societ.  Med.  Haf.  Hafniae  Vol.  V.  p.  292  ff.  1816. 
In  M eckeis  Arch.  Bd.  V,  p.  252,  1819.  —  2)  Diss.  inaug.  med.  sist.  observationes 
nonnullas  neurologicas  de  parte  cephalica  nervi  sympathici  in  nomine.  Heidelberg 
1826.  Beschreibung  des  Kopfteils  des  sympath.  Nerv,  nebst  einigen  Beobachtungen 
über  diesen  Teil  beim  Menschen.  Tiedemanns  u.  Treviranus'  Zeitschr.  für 
Physiologie  1827.  Bd.  II.  p.  125—172,  Tab.  VIII.  Ueber  den  Ohrknoten,  eine 
anatomisch-physiol.  Abhandl.  Heidelb.  1828.  Einige  neurologische  Beobachtungen. 
Tiedemanns  u.  Treviranus'  Untersuchungen  etc.  Bd.  III,  p.  147.  1*29.  Der 
Kopfteil  des  vegetat.  Nervensyst.  beim  Menschen  in  anat.  u.  physiol.  Hinsicht.  Mit 
Kupferstich.  Heidelb.  u.  Leipz.  1831.  Einige  Worte  zu  den  Bemerkungen  des  Hrn. 
Prof.  Dr.  Schlemm  in  Berlin  über  den  angeblichen  Ohrknoten.  Frorieps  Notizen 
Bd.  31,  Jahrg.  1831.  Ueber  den  Canalis  tympanicus  u.  mastoideus.  Tiedemanns 
u.  Treviranus'  Untersuchungen  etc.  Bd.  IV,  p.  283;  1832.  Icones  nervorum  capitis. 
Heidelb.  1834,  1860.  Bemerkungen  über  einige  Entdeck,  u.  Ans.  in  d.  Anat.  u. 
Physiol.  Ueber  den  Ohrknoten,  Bd.  IV,  S.  184,  1834.  Physiologie.  Zürich  1836  bis 
1838.  —  3)  Beschreibung  des  fünften  Nervenpaares  und  seiner  Verbindungen  mit  an- 
deren Nerven  vorzüglich  mit  dem  Gangliensystem.  Meißen  1817,  1821.  —  4)  Ueber 
das  Ganglion  oticum  Arnoldi.  In  M eckeis  Arch.  Bd.  VI,  p.  G7,  1832.  —  5)  Note 
sur  la  veritable  origine  du  nerf  propre  au  muscle  tenseur  de  la  membrane  du  tym- 
pan,  ou  muscle  interne  du  marteau.  Repertoire  generale  d'anatomie  et  de  Phy- 
siologie pathologique  etc.  redige  par  Breschet.  T.  VI,  Part.  I,  p.  92—95.  Paris 
1828.  —  6)  De  nervi  sympathici  humani  fabrica,  usu  et  morbis.  Paris  1823.  Com- 
ment.  anat.  phys.  path.  Tab.  aer.  et  lith.  illust.  §  50,  p.  37.  —  7)  Diss.  inaug.  med. 
sist.  plexus  nervi  sympath.  cum  nervis  cerebralibus.  Cum  tab.  aer.  incis.  p.  31—34. 
Heidelb.  1S24.  Untersuch,  über  die  Verbindungen  des  sympath.  Nerv,  mit  d.  Hirn- 
nerv, p.  23.  Heidelb.  1825.  —  8)  Bemerk,  üb.  d.  angebl.  Ohrknoten  (gangl.  oticum). 
Frorieps  Not.  Bd.  30,  p.  337,  Jahrg.  1831.  Observ.  neurolog.  Berol.  1834.  — 
9)  Ueber  d.  Ohrknoten.  Frorieps  Notizen  Jahrg.  1831.  —  10)  Observ.  anatom.  de 
parte  cephalica  nervi  symp.  eiusque  conjunctionibus  cum  nervis  cerebralibus.  Cum 
tab.  lith.  Francof.  a.  M.  1831.  —  n)  Diss.  inaug.  sist.  prodromorum  observationum 
circa  ganglion  Arnoldi  oticum  in  homine  variisque  animalibus  factarum.  Lips.  1832. 
—  12)  Vom  Ganglion  oticum.  Frorieps  Notizen  Jahrg.  1833.  —  1S)  Nouvelles 
recherches  sur  les  nerfs  de  l'oreille.  Paris  1835.  —  M)  Anat.  u.  Phys.  d.  Ganglion 
oticum.  Lond.  med.  gaz.  Mai  p.  690.  —  15)  Diss.  inaug.  quae  quaedam  de  nervo 
intercostali  notantur.  Praes.  Dr.  Casim.  Schmiedelio.  Erlangen  1754:  Jpsa 
tarnen  haec  propago  (ram.  prof.  n.  V.)  non  semper  tota  in  nervum  intercostalem  im- 


Zur  Literatur  des  19.  Jahrhunderts.  387 

penditur,  sed  interdurn  bifida  est,  et  unus  saltern  ejus  ramus  intercostali  cedit,  alter 
vero  carotidis  flexuram  oblique  emensus,  et  parieti  canalis  carotici  opposito  proprior 
factus.  iterum  in  raraos  discerpitur,  eosque  tres  subinde,  quorum  medicis  maxime 
notabilis  per  propriam  in  canali  dicto  aperturam  ad  cavum  usque  tympani  pertingit, 
et  ibidem  non  solum  sursum  ramulos  aliquos  dimittit,  circa  cellulas,  sub  quibus 
corpus  Cochleae  absconditum  latet,  in  periosteo  distributos,  sed  et  alios  rectiori  magis 
via  versus  foramen  rotundum  Cochleae  delatos:  quin  etiam  denique  adhuc  amplius 
divagatur  et  inter  alia  durum  os  penetrans,  ipsi  tympani  inservit  per  ramum  satis 
insignem,  qui  ad  sulcum  annuli ,  in  quo  tympanum  haeret  amandatur.  — ■  16)  Frag- 
mentum  descriptionis  nervorum  cardiacorum  dextri  lateris  jam  ante  aliquot  decennia 
typis  impressum,  nunc  demum  a.  1791  subjuncta  auctoris  tabula  notulisque  adjectis 
editum  a.  S.  Th.  Soemmerring,  Ludwig  script,  neur.  min.  tom.  II:  Nam  et 
notatu  dignissimum  licet  angustum  canalem  offert  (receptaculum  ganglioli  petrosi), 
qui  ex  ejus  suprema  parte  in  auditus  Organum  internum  retrorsum  continuatus  ner- 
vulum  continet  ex  illius  ganglioli  ventris  suprema  parte  eductum.  —  17)  Salzb.  med. 
chir.  Zeitung  1790,  Bd.  4.  Aus  dem  Felsenknoten  entstehen  gewöhnlich  zwei  Fäd- 
chen,  von  denen  eins  durch  einen  eigens  gebildeten  Knochenkanal  in  die  Pauken- 
höhle verläuft  und  sich  auf  eine  besondere  Weise  verteilt.  —  lh)  Reils  Arch.  f. 
Phys.  Bd.  IV.  p.  105,  1800,  Prüfung  der  Bemerkungen  über  die  Physiol.  d.  Gehörs 
v.  J.  D.  Her  hold.  -  -  ,9)  Med.  chir.  transact.  vol.  IX,  p.  425  und  M  eck  eis  Arch. 
Bd.  V,  p.  257,  Bemerkungen  über  einige  mit  der  Physiologie  u.  Pathol.  des  Gehörs 
in  Beziehung  stehenden  Punkte.  —  20)  Ueber  die  Chorda  tympani.  Anatomiscn- 
physiologische  Beobachtungen.  Omodei  Ann.  univ.  di  Medic.  Maggio  1842.  Vgl. 
ferner  Lond.  Med.  Gaz.  1842  und  Frorieps  Notizen,  Jahrg.  1843.  —  21)  De  rariore 
encephalitidis  casu.  Berol.  1834.  —  22)  Zeitschr.  f.  wissensch.  Zoolog.  1849.  Vgl. 
v.  Stein,  Die  Lehren  von  den  Funktionen  der  einzelnen  Teile  des  Ohrlab.,  übers, 
v.  Krzywicki,  p.  83.  —  23)  Todd  Cyclopaed.  Vol.  II.  p.  259.  —  24)  Anatomie  des 
Menschen,  Bd.  IV,  p.  34.  -  -  25)  Anatomie  microscopique ,  1842 ,  chap.  IV,  p.  357, 
Organe  de  l'ouie.  —  26)  Beitrag  zur  feineren  Anatomie  der  Gehörschnecke  des  Men- 
schen u.  der  Säugetiere.     Berlin  1864,  p.  2.  —  27)  1.  c.  p.  889. 

Auch  die  Anatomie  des  Schläfenbeins  fand  manche  Erweiterung  durch 
Soemmerring1),  Blumenbach2),  Brugnone3),  Ribes4),  Itard5),  Esser'1), 
Breschet7),  Arnold8)  u.  a.  Arnold  entdeckte  den  Canaliculus  mastoideus,  in  dem 
der  R.  auricularis  n.  vagi  verläuft  und  beschrieb  den  schon  von  Andersch  und 
Ehrenritter  gekannten  Canaliculus  tympanicus  (für  den  N.  Jacobsonii)  genauer. 
Brugnone  stellte  genaue  Messungen  an  und  bestimmte  unter  anderem  die  Länge 
der  beiden  Aquädukte. 

i)  ]_  C-  —  2)  i.  c.  —  3^  ]_  e_  —  4)  Memoires  de  la  societe  medicale  d'emulation. 
Paris  1811.  Vol.  VII,  p.  7.  Bulletins  de  la  societe  medicale  d'emulation.  Paris 
1823,  p.  615.  —  5)  Traite  des  maladies  de  l'oreille,  T.  I.  —  6)  Ueber  die  Verrich- 
tungen der  einzelnen  Teile  des  Gehörorgans.  Kastners  Archiv  für  die  gesamte 
Naturlehre.  Bd.  XII,  S.  52—114,  1827.  —  7)  1.  c.  —  8)  Ueber  den  Canalis  tymp.  u. 
mast.     Tiedemanns  Zeitschr.  f.  Physiol.  Bd.  IV. 

Zur  Literatur  der  Anatomie  des  Gehör  Organe  s. 

Pappenheim,  Beiträge  zur  Kenntnis  der  Struktur  des  gesunden  Ohres.  Fro- 
rieps Notizen,  Bd.  VII,  1838.  —  Derselbe,  ATon  dem  Bau  des  häutigen  Labyrinthes. 
Zweiter  Beitrag  zur  Kenntnis  des  gesunden  Ohres.  Frorieps  Notizen,  Bd.  IX,  1839. 
—  A.  Römer,    Ueber    den    Bau   und   die   Endigung    der  Spindel    der  Schnecke    des 


Hyrtl. 

menschlichen  Gehörorgans.  Med.  Jahrb.  d.  k.  k.  Osten*.  Staates.  XVIII.  1839.  — 
Beule,  Allgemeine  Anatomie.  Leipzig  1841.  —  Verga,  lieber  die  Chorda  tympani. 
Cur.  Panizza  Gazzetta  medica.  1842.  —  Munter,  Beiträge  zur  Kenntnis  des  häutigen 
Labyrinths  mit  Rücksicht  auf  die  wichtigsten  Erkrankungen  des  Gehörorgans.  Bd.  I. 
1843.  Ref.  in  Cannstatts  Berichten.  Bd.  III.  —  Mueg,  Betrachtungen  über  die 
Membran  und  Flüssigkeit  des  Labyrinths  in  Beziehung  zur  Taubheit.  1843.  —  Yung, 
Von  dem  äußeren  Ohr  und  seinen  Muskeln  beim  Menschen.  Bericht  über  die  Ver- 
handl.  der  naturforsch.  Gesellsch.  in  Basel  1849.  —  Czermak,  Verästelungen  der 
Primitivfasern  des  N.  acusticus.  Zeitschr.  f.  wiss.  Zool.  Bd.  IL  1850.  —  Bendz,  De 
anastomosi  Jacobsonii  et  Ganglio  Arnoldi.     Hafniae  1833. 

Die  vergleichende  Anatomie  des  Gehörorgans  hat,  wie  die 
zahlreichen  einschlägigen  Spezialarbeiten  dieser  Periode  zeigen ,  seit 
Comparetti  und  Galvani  bedeutend  an  Umfang  gewonnen.  Es  würde 
uns  zu  weit  führen,  auf  die  Geschichte  der  vergleichenden  Anatomie  des 
Ohres  näher  einzugehen.  Es  soll  daher  im  folgenden  dieser  Abschnitt 
nur  in  seinen  Hauptzügen  dargestellt  werden*). 

Der  Arbeiten  Monros  und  Cuviers  wurde  bereits  Erwähnung 
getan.  Hier  nennen  wir  noch:  Schelver1),  Dumeril2),  Jörg3), 
HV.  Home4-7.),  Blair8),  Carus9),  Geoffroy  Saint-Hilaire  10-~14), 
Pohl15),  Bojanus16),  E.  H.  Weber17),  Jan  van  der  Hoeven  18~19), 
Anders  Retzius20),  Ducrotay  de  Blainville  21),  F.  Blumenbach22), 
G.  R.  Treviranus23"25),  Huschke  2,;-29),  Otto  80),  Windischmann31), 
Breschet32),  Hagenbach33),  Mayer31.),  Steifensand  35),  J.Müller 3,i), 
Hyrtl37"46),  E.  Hallmann47),  Bischoff48),  A.  Ecker49),  Ibsen50), 
A.  Hannover51),  Stannius52),  Rathke53),  Owen54),  F.  Platner55), 
W.  Stricker56)  u.  a. 

Zunächst  sei  hier  eines  der  glänzendsten  Repräsentanten  der  ver- 
gleichenden Anatomie  des  Gehörorgaus  gedacht: 

Joseph  Hyrtl.  Zu  den  hervorragendsten  Anatomen  des  19.  Jahr- 
hunderts, die  ihr  besonderes  Augenmerk  der  Anatomie  des  Gehörorgans 
zuwendeten,  zählt  vor  allem  Joseph  Hyrtl.  Am  27.  Dezember  1811 
zu  Eisenstadt  in  Ungarn  geboren,  absolvierte  er  seine  medizinischen 
Studien  in  Wien,  wo  er  bereits  1833  in  der  Anatomie  eine  Prosektur- 
steile erhielt.  Im  Jahre  1837  wurde  er  zum  Professor  der  Anatomie 
an  der  Universität  Prag  ernannt,  und  1845  auf  den  Lehrstuhl  der  Ana- 
tomie an  der  Wiener  Universität  berufen.  Hier  erwarb  er  sich  den  Ruf 
eines  glänzenden  Lehrers  und  entwickelte  eine  an  Ergebnissen  überaus 
reiche  wissenschaftliche  Tätigkeit.  Eine  zunehmende  Augenschwäche 
nötigte   ihn   1874    auf  sein    Lehramt   zu   verzichten   und  sich  auf  seinen 


*)  Eine  ausführliche  historische  Darstellung  der  vergleichenden  Ohranatomie 
enthält  das  klassische  Werk  Gustaf  Retzius:  „Das  Gehörorgan  der  Wirbeltiere". 
Stockholm  1881  u.  1884. 


Tafel  XXII 


WjMBJf 

^C; 

V»      ■ 

JOSEPH   HYRTL 


Hyrtl.  389 

Landsitz  nach  Perchtoldsdorf  bei  Wien  zurückzuziehen,  avo  er  aber  bis  zu 
seinem  1894  erfolgten  Tode  wissenschaftlichen  Arbeiten  oblag. 

Die  umfassende  Tätigkeit,  die  Hyrtl,  ein  Meister  in  der  anatomi- 
schen Technik,  namentlich  der  Gefäßinjektion  und  Korrosion,  ■  auf  ana- 
tomischem Gebiete  entfaltete,  kam  nicht  zum  geringsten  Maße  der 
Anatomie  des  Gehörorgans  zu  gute.  Vor  allem  verdankt  ihm  die  ver- 
gleichende Anatomie  des  Ohres  bedeutende  Förderung. 

Während  die  vergleichende  Morphologie  der  Gehörorgane  der  drei 
unteren  Klassen  der  Vertebraten  schon  vor  Hyrtl  der  Gegenstand  ge- 
nauer und  ergebnisreicher  Untersuchungen  war,  besaß  die  Literatur  der 
vergleichenden  Anatomie  der  Säugetiere  nur  einige  Fragmente 
über  den  Bau  des  inneren  Ohres.  In  der  Arbeit  ., Vergleichend- anatomi- 
sche Untersuchungen  über  das  innere  Gehörorgan  des  Menschen  und  der 
Säugetiere"12)  unternahm  es  nun  Hyrtl,  diese  Lücke  auszufüllen.  Er 
gibt  hier  eine  klassische  Schilderung  der  Varietäten  der  Trommelhöhle, 
der  Gehörknöchelchen  und  des  Labyrinthes  aller  Säugetiergenera ,  wel- 
cher er  die  Resultate  seiner  Messungen  des  Trommelfells,  des  Trommel- 
fellringes ,  der  Gehörknöchelchen ,  der  Bogengänge ,  der  Schnecke ,  des 
runden  und  ovalen  Fensters  bei  den  verschiedenen  Säugetieren  beifügt. 
Alle  aufgefundenen  Typen  sind  auf  neun  wertvollen  Kupfertafeln  erläutert, 
die  Hyrtl  nach  den  von  seiner  Meisterhand  verfertigten  Präparaten  seines 
Privatmuseums  abbilden  ließ*). 

In  dieser  Arbeit  gelangt  Hyrtl  auf  Grund  genauer  Untersuchungen  zu  dem 
Ergebnis,  daß  weder  beim  Menschen  noch  bei  irgend  einem  Säugetier  ein  Foramen 
Rivini  existiert.  Nur  bei  Membranen,  die  mit  dem  Schläfenbein  längere  Zeit  maze- 
riert und  getrocknet  worden  waren,  sah  er  manchmal  hinter  dem  Griff  des  Hammers 
und  knapp  an  ihm  eine  Oeffnung,  die  das  Trommelfell  direkt  durchbohrt,  und  durch 
Abreißen  der  infolge  des  Mazerierens  aufgequollenen  Membran  vom  Hammergriff 
während  des  Trocknens  entstanden  ist. 

Nach  Hyrtls  sorgfältigen  vergleichend-anatomischen  Untersuchungen 3:)  zeigi 
die  durch  das  Steigbügelloch  beim  Menschen  verlaufende  Arterie  zwei  Varietäten: 
Die  eine  ist  die  A.  meningea  media  accessoria  der  Maxillaris  interna,  die  den 
Boden  der  Trommelhöhle  durchbohrt  und  über  das  Promontorium  durch  die  Mem- 
brana obturatoria  des  Steigbügels  und  durch  ein  Loch  des  Tegmen  tympani  zur 
Dura  zieht.  Die  zweite  ist  die  A.  stylomastoidea  oder  ein  Ast  derselben,  die  bis- 
weilen nicht  durch  das  Foramen  stylomastoideum  in  den  Canalis  facialis,  sondern 
durch  eine  eigene  Oeffnung  in  die  Trommelhöhle  eindringt,  mit  der  unteren  Trommel- 
fellarterie anastomosiert  und  die  Jakobsonsche  Nervenfurche  am  Promontorium 
benützend,  durch  den  Steigbügel  zum  Fazialkanal  gelangt.  In  einer  anderen  ver- 
gleichend-anatomischen Arbeit")    hebt  Hyrtl    hervor,    daß    er  nicht  im   stände  war. 


*)  Diese  in  ihrer  Art  einzigen  Präparate  wurden  nach  Hyrtls  Tode  für  das 
Müttermuseum  in  Philadelphia  erworben  und  ich  hatte  bei  meinem  Aufenthalt  in 
Amerika  im  Jahre  1893  die  Freude,  diese  Sammlung,  die  in  einem  eigenen  Saale 
ausgestellt  ist  und  die  Bewunderung  aller  Fachmänner  erregt,  zu  besichtigen. 


390  n.vrti.  ^ 

i  leine  Injektion  der  Aquädukte  Gefäße  in  ihnen  nachzuweisen.  Um  bloße 
Kanäle  für  feine  tiefäße  zu  sein,  dazu  wären  sie  bei  mehreren  Tieren  (Kalb,  Del- 
phin) zu  groß. 

In  den  medizinischen  Jahrbüchern  (1841) 40)  beschrieb  Hyrtl  einen  neuen 
Ohrmuskel,  dem  er  den  Namen  M.  styloauricularis  gab.  Er  setzt  sich  einerseits 
am  Processus  styloideus,  anderseits  an  der  unteren  Fläche  des  knorpeligen  äußeren 
Gehörganges  an.  Er  vermag  nach  Hyrtl  die  Ohrmuschel  nach  unten  zu  ziehen  und 
den  Gehörgang  zu  erweitern.  An  Stelle  des  Muskels  tritt  zuweilen  ein  bindegewebi- 
ger Strang. 

In  einer  kleinen  Arbeit45)  macht  Hyrtl  auf  einen  häufig  vor- 
kommenden, praktisch  nicht  unwichtigen  Befund  aufmerksam.  Bei  Unter- 
suchung von  34  geöffneten  Schädeln  und  62  isolierten  Schläfenbeinen 
fand  er  nämlich,  daß  das  Tegmen  tympani  oft  im  höchsten  Grade 
verdünnt  und  durchscheinend  ist  und  daß  es  auch  einzelne  oder  gruppierte 
Löcher  von  der  Kleinheit  eines  Nadelstiches  bis  zu  Hirse-  und  Hanf- 
korngröße zeigt,  die  man  leicht  mit  Knochenkaries  verwechseln  kann. 
Der  häufigste  Sitz  dieser  Lücken  im  Tegmen  tympani  ist  über  und  etwas 
hinter  dem  Hammer-Amboßgelenke  oder  auch  am  hinteren  Abschnitte  der 
oberen  Trommelhöhlenwand,  nahe  an  der  Sutura  petrosquamosa.  Seltener 
kommen  sie  in  der  Nähe  des  Hiatus  canalis  Fallopiae  vor,  oder  außerhalb 
von  ihm  oder  mit  ihm  zusammenfließend,  oder  längs  der  oberen  Wand 
der  knöchernen  Ohrtrompete.  Dehiszenzen  der  Cellulae  mastoideae 
beobachtete  er  im  Sulcus  petrosus  superior  hinter  seiner  Kreuzung  mit 
der  Prominenz  des  oberen  Bogenganges,  entsprechend  der  Einmündungs- 
stelle  dieser  Furche  in  den  Sulcus  sigmoideus  des  Warzenteils*).  Er  fand 
sie  ferner  im  Sinus  sigmoideus,  am  seltensten  aber  außen  in  der  Rinde 
des  Warzenfortsatzes  und  zwar  an  der  inneren  Wand  der  äußeren  Lefze 
der  Incisura  mastoidea  in  unmittelbarer  Nähe  seiner  Spitze.  Das  ätio- 
logische Moment  dieser  Dehiszenzen  ist  keineswegs  in  Knochenatrophie 
oder  Altersmetamorphose  zu  suchen,  zumal  sie  an  Schädeln  jüngerer 
Individuen  vorkommen,  an  sehr  alten  Schädeln  mit  Knochenschwund  öfters 
fehlen,  hinwiederum  an  auffallend  dicken  und  starken  Schädeln  vorhanden 
sind,  und  Hyrtl  ist  geneigt,  anzunehmen,  daß  in  manchen  Fällen  bei 
dem  in  der  Gravidität  gesteigerten  Bedarf  an  Kalksalzen  diese  dünnen 
Knochenflächen  leicht  durchbrochen  werden.  In  anderen  Fällen  spielt 
vielleicht  dabei  die  üble  GeAvolmheit  des  kräftigen  Schneuzens  eine  Rolle. 
Zu  Gunsten  der  letzteren  Ansicht  spricht  der  Umstand,  daß  es  meist 
aufgeblähte  Trommelhöhlen  sind,  in  denen  Dehiszenzen  beobachtet  werden. 
In  pathologischer  Beziehung  ist  ihr  Vorkommen   deshalb   bedeutungsvoll, 


*)  Sie  ist  nicht  zu  verwechseln  mit  einem  Loche  für  eine  Vena  diploetica,  das 
immer  kreisrund  ist,  während  eine  spontane  Dehiszenz  eine  Oeffnung  „cum  margine 
crenato"  bedingt. 


Hyrtl. 391 

weil  einerseits  Eiteransammlungen  in  der  Trommelhöhle  die  obere  Wand 
leicht  durchsetzen  oder  sich  auf  die  beiden  Sinus  fortpflanzen  können, 
während  anderseits  intrakranielle  Abszesse  sich  in  die  Trommelhöhle 
und  durch  das  zerstörte  Trommelfell  nach  außen  ergießen  können,  ohne 
daß  man  dabei  Caries  des  Tegmen  tympani  voraussetzen  müßte.  Ferner  ist 
durch  geringfügige  Traumen  die  Möglichkeit  zum  Bruche  der  äußeren 
Platte  des  Warzenfortsatzes  und  infolgedessen  zu  emphysematösen  Ge- 
schwülsten hinter  dem  Ohre  gegeben.  (Vergl.  die  neueren  Befunde  bei 
Dehiszenz  des  Tegmen  tymp.  in  Politzer,  Lehrbuch  der  Ohrenheil- 
kunde, 4.  Aufl.  S.  19.) 

In  seiner  Arbeit  über  Korrosionsanatomie46)  hat  Hyrtl  die  Kor- 
rosion, die  bis  dahin  nur  geringe  Anwendung  in  der  anatomischen 
Technik  gefunden  hatte,  auch  für  die  Anatomie  des  Gehörorgans  wissen- 
schaftlich  verwertet.  Nach  einer  eingehenden  Auseinandersetzung  der  Kor- 
rosionsmethoden, Avie  sie  am  Gehörorgan  zur  Anwendung  gelangen,  be- 
richtet er  über  seine  Befunde  bei  Injektion  des  äußeren  Gehörgangs,  der 
Trommelhöhle,  der  Cellulae  mastoideae  und  der  Tuba  Eustachii.  Hier 
wurde  für  die  topographische  Anatomie  dieser  Teile  des  Gehörorgans  das 
richtige  Verständnis  angebahnt.  So  erbrachte  Hyrtl  durch  die  Aus- 
güsse der  Trommelhöhle  den  Nachweis,  daß  über  der  Sehne  des  Tensor 
tympani  genügend  Raum  vorhanden  sei  zur  Handhabung  eines  feinen 
Tenotoms  zur  Trennung  der  genannten  Sehne,  was  Hyrtl  übrigens 
schon  früher  in  seinem  Handbuche  für  topographische  Anatomie  für 
möglich  erklärt  hatte.  —  Hyrtl s  Methode  der  Korrosion  wurde  später 
durch  die  wertvollen  Arbeiten  über  die  Korrosionsanatomie  des  Ohres 
von  Bezold  und  Sieben  mann  wesentlich  erweitert. 

In  den  „Beiträgen  zur  pathologischen  Anatomie  des  Gehörorgans"38) 
beschreibt  Hyrtl  den  Befund  in  den  Gehörorganen  einiger  Taubstummen.  Der  erste 
Fall  betrifft  ein  fünfjähriges  Mädchen,  das  sich  für  intensiv  hohe  und  tiefe  Töne 
empfänglich  zeigte  und  an  Hydrocephalus  starb.  Außer  einigen  unwesentlichen 
Anomalien  im  Schallleitungsapparate  fanden  sich  Defekt  des  Steigbügelinuskels  und 
der  Phninentia  pyramidalis,  es  bestanden  bloß  zwei  Bogengänge  und  die  Schnecke 
fehlte  gänzlich.  Der  zweite  Fall  betrifft  einen  siebenjährigen,  taubstummen  Knaben, 
bei  dem  sich  folgende  Veränderungen  vorfanden:  Das  Trommelfell  war  pergamentartig 
verdickt  und  trocken.  Nebst  Atrophien  verschiedener  Teile  der  Trommelhöhle  ließ 
sich  auch  hier  der  Mangel  der  Eminentia  pyramidalis  und  des  Steigbügelmuskels  nach- 
weisen. Von  den  Bogengängen  war  bloß  der  hintere  vorhanden.  Die  Spiralplatte 
der  Schnecke  lief  bloß  lV2rual  um  die  Spindel  herum.  Die  Hörnerven  schienen 
beiderseits  atrophisch.  An  dem  Schädel  eines  anderen  Taubstummen  fand  Hyrtl 
in  der  Hauptsache  folgende  Veränderungen.  Die  Schneckenwindungen  waren  nur 
bis  gegen  die  zweite  Windung  gebildet,  die  übrigen  flössen  in  eine  gemeinschaftliche 
Kuppel  zusammen,  in  welche  die  rudimentäre  Spindel  zur  Hälfte  hineinragte.  Die 
Lamina  spiralis  fehlte  vollkommen  und  somit  auch  jede  Trennung  des  Schnecken- 
gano-es  in  die  beiden  Treppen.    Die  vierte  Beobachtung  von  Abweichung  im  Bau  der 


392  Zur  Literatur  des  19.  Jahrhunderts. 

Gehörorgane  machte  Hyrtl  an  einem  Fötus,  der  sich  durch  Mangel  des  Ohres  sowie 
andere  Mißbildungen  auszeichnete.  Hier  fehlte  die  ganze  laterale  Wand  der  Trommel- 
höhle, welche  nur  eine  seichte  Vertiefung  des  Felsenteils  bildete.  Außer  Rudimenten 
der  Gehörknöchelchen  fand  sieh  nichts  in  der  Trommelhöhle.  Die  Schnecke  hatte 
1  '/a  Windungen,  war  aber  übrigens  normal  gebildet. 
In  der  zweiten  Abteilung  dieser  Abhandlung  beschreibt  Hyrtl  die  unvoll- 
kommen entwickelten  Gehörorgane  einiger  Anencephalen  und  Hemicephalen.  An  einem 
sechsmonatlichen  Anencephalus,  bei  welchem  Hyrtl  keinen  karotischen  Kanal  vorfand, 
waren  die  drei  Bogengänge  verkrüppelt,  keine  Spur  einer  Schneckenwindung  oder 
einer  Lumina  spiralis.  Ebenda  beschreibt  Hyrtl  einen  Cyklopenschädel,  an  dem  er 
Mangel  der  Trommelhöhle  und  der  rechtseitigen  Ohrtrompete  nachwies. 

')  Versuch  einer  Naturgeschichte  d.  Sinneswerkz.  bei  d.  Insekt,  u.  Wurm. 
Götting.  1798.  —  2>  Memoires  d'anatomie  comparee  1800.  —  s)  Ueber  das  Gehörorg. 
d.  Mensch,  u.  d.  Säuget,  im  schwang,  u.  nichtschwang.  Zust.  Leipz.  1808.  —  *)  Ueber 
einige  Eigentümliche  d.  Gehörorg.  d.  Walfisch.  Phil.  Trans.  1811  in  Meckels 
Arch.  Bd.  IIJ,  1817.  —  5)  On  the  milk  tush  and  organ  of  hearing  of  the  Dugong. 
Philosophical  Transactions,  Part.  II,  p.  144,  1820.  —  6)  On  the  difference  of  structure 
between  the  human  membrana  tympani  and  that  of  the  elephant,  1797.  Philosophical 
Transactions  Part.  I,  p.  23.  1823.  —  ")  Lectures  on  compar.  anatomy.  Vol  III,  p.  262, 
Vol.  IV,  Tab.  C.  London  1823.  Phil,  trans.  part.  I.  p.  23.  —  8)  A  description  of 
the  hearing  in  the  elephant  etc.  Phil,  trans.  Vol  XXX.  p.  885.  —  9)  1.  c.  —  10)  Mein, 
sur  les  glandes  odorantes  des  Musaraignes.  Mein,  du  Museum.  T.  I,  p.  305,  pl.  15, 
Fig.  1  et  3,  1815.  —  ")  Philosophie  anat.  Paris  1S18.  —  12)  Sur  la  nature,  la  for- 
mation  et  les  usages  des  pierres  qu'on  trouve  dans  les  cellules  auditives  des  Poissons. 
Memoire  du  Museum.  T.  XI,  p.  241.  1824.  —  13)  Observations  sur  les  pretendus 
osselets  de  Touie  trouve  par  Ernest  Henry  Weber,  professeur  d'anatomie  com- 
paree ä  Leipsick.  Lu  ä  la  Societe  d'Histoire  naturelle  de  Paris,  seance  du  5  mars. 
Annales  des  Sciences  naturelles.  T.  I ,  p.  436 — 440,  1824.  —  14)  Composition  de  la 
tete  osseuse,  chez  Thomme  et  les  animaux,  trouvee  semblable  en  nombre,  connexions 
et  application  usuelle  de  ses  parties.  Ref.  Okens  Isis.  p.  796,  1824.  —  15)  Diss. 
sistens  expositionem  generalem  anatomicam  organi  auditus  per  classes  animalium. 
Accedunt  quinque  tabulae  lithograph.  Vindob.  1818.  —  16)  Anatome  testudinis  Eu- 
ropeae,  Vilnae  1819 — 1821.  —  I7)  Vergleichende  Anatomie  d.  Gehörwerkzeuge.  Meckels 
Arch.  Bd.  V,  p.  323 — 337.  Leipz.  1819.  De  aure  et  auditu  hominis  et  animalium. 
Pars  I.  De  aure  aniinalium  aquatilium.  Cum  tab.  aeneis  X.  Lips.  1820.  —  18)  Re- 
sponsum  ad  quaestionem  ab  ordine  medicorum  propositam:  Quaeritur  brevis  et  dis- 
tincta  expositio  fabricae  et  functionis  organi  auditus  in  nomine  recentiorum  etiam 
anatomicorum  observationibus,  et  anatome  comparata  ita  illustrata,  ut  ex  hisce 
pateat,  quaenam  sit  huius  organi  pars  ad  audiendum  maxime  neeessaria,  et  qua  in 
re  illud  praestantius  in  nomine ,  quam  in  brutis  sit  censendum?  Quod  praemium 
reportavit.  In  Annal.  Academiae  Rheno-Trajectinae.  Traj.  ad  Rhen.  c.  tab.  aen. 
1820—1821.  —  19)  Disp.  anat.  phys.  de  organo  aud.  in  hoin.  Traj.  ad  Rh.  1822.  — 
20)  Bitrag  tili  Ader-och  Nerfsystemats  Anatomie  hos  Myxine  glutinosa.  Kongl.  Vet. 
Akademiens  Handlingar  för  ar  1822.  Ytterligare  Bidrag  tili  anatomien  of  Mj'xine 
glut.  Stockholm  1824.  —  21)  1.  c.  —  22)  Handb.  d.  vergl.  Anat.  Gott.  1805,  1824, 
1827.  —  23)  Ueber  d.  inneren  Bau  der  Schnecke  d.  Ohrs  d.  Vögel.  Tab.  IX.  Tiede- 
manns  u.  Treviranus'  Unters.  Bd.  I,  1825.  —  24)  Ueber  das  Gehirn  u.  d.  Sinnes- 
werkzeuge des  virginischen  Beuteltieres.  Taf.  X.  Eingesendet  im  Mai  1825.  Tiede- 
manns  u.  Treviranus'  Untersuchungen.  Bd.  III,  S.  45.  Gehörsinn  S.  55,  1829.  — 
25)    Ueber   die   Verbreitung   des    Antlitznerven    im    Labyrinth   des  Ohres    der  Vögel 


Zur  Literatur  des  19.  Jahrhunderts.  393 


Tiedemanns  u.  Treviranus'  Untersuchungen.  Bd.  V,  S.  94.  Fig.  1  u.  2,  1834.  — 
26)  Ueber  Webers  Gehörknöchelchen  d.  Fische.  Okens  Isis,  S.  889,  XVIII.  1825. 
Bemerkungen  zur  Anatomie  der  Sinnesorgane  u.  der  Kinnladen.  Okens  Isis,  Bd.  XVIII, 
S.  1101,  Taf.  XI,  1825.  —  27)  Ueber  die  Kiemenbögen  u.  Kiemengefäße  beim  be- 
brüteten Hühnchen.  Okens  Isis,  Bd.  XX,  S.  401—403.  1827.  —  28)  Ueber  d.  Kiemen- 
bögen am  Vogelembryo,  Taf.  II.  Okens  Isis,  S.  160—164,  1828.  —  29)  Ueber  die 
Gehörzähne,  einen  eigentümlichen  Apparat  in  der  Schnecke  des  Vogelohrs.  Müllers 
Archiv.  S.  335,  Taf.  VII,  1835.  —  30)  De  animalium  quorundam  per  hyemen  dormien- 
tium  vasis  cephalicis  et  aure  interna.  Nova  act.  phys.  med.  XIII,  1826.  —  31)  De 
penitiori  auris  in  amphibüs  structura.  Bonn  1831.  —  32)  1.  c.  und  Rapport  fait  ä 
l'Academie  des  Sciences,  par  M.  Dumeril,  sur  trois  Memoires  d' Anatomie,  relatifs 
ä  Forgane  de  l'ou'ie  dans  les  poissons  par  M.  le  Dr.  Breschet.  Annales  des  Sciences 
naturelles.  T.  XXVII,  1832,  p.  309.  Recherches  anatomiques  et  physiologiques  sur 
l'organ  de  l'audition  chez  les  oiseaux.  Paris  1836.  Apercu  descriptif  de  Forgane 
auditif  du  Marsouin  [Delpbimes  phocaena  L.].  Annales  de  sciences  naturelles.  T.  IX, 
Zoologie  p.  227,  1838.  Recherches  anatomiques  et  physiologiques  sur  Forgane  de 
Fou'ie  des  poissons.  Avec  17  Planches  graveez.  Paris  1838.  —  33)  1.  c  und  die 
Paukenhöhle  der  Säugetiere.  Leipz.  1835.  Ueber  ein  besonderes,  mit  dem  Hammer 
der  Säugetiere  in  Verbindung  stehendes  Knöchelchen.  Müllers  Archiv  1841.  — 
34)  Beitr.  z.  Anatomie  des  Delphins  Bd.  V  (Gehörorgan)  S.  124,  1834.  Tiedemanns 
u.  Treviranus'  Untersuch,  etc.  Ueber  den  eigentümlichen  Bau  des  Gehörorgans 
bei  den  Cyclostomen.  Fortsetzung  der  vergleichenden  Anatomie  der  Myxinoiden, 
1838.  Beobachtungen  über  die  Schwimmblase  der  Fische  mit  Bezug  auf  einige  neue 
Fischgattungen.  Müllers  Archiv  S.  307.  1S42.  —  3ä)  1.  c.  —  3e)  Vergl.  Anat.  der 
Myxinoiden,  der  Cyclostomen  mit  durchbohrt.  Gaumen.  Berlin  1835.  Müllers  Arch. 
1836.  —  37)  Neue  Beobachtungen  aus  dem  Gebiete  der  menschlichen  und  vergleichen- 
den Anatomie  über  mehrere  am  Menschen  vorkommende  Analogien  derjenigen  Arterie, 
welche  Otto  bei  mehreren  Winterschläfern  durch  den  Steigbügel  verlaufend  ent- 
deckte. Medizinische  Jahrbücher  des  k.  k.  öst.  Staates,  Wien  1835,  Bd.  XIX  oder 
neueste  Folge  Bd.  X,  S.  457.  Tab.  II,  Fig.  3,  5.  —  38)  Medizinische  Jahrbücher  d. 
k.  k.  öst.  Staates.  Wien  1836,  Bd.  XX  oder  neueste  Folge  Bd.  XI,  S.  421—453, 
Taf.  II.  —  39)  Bemerkungen  über  einige  Gesichtsmuskeln  und  einen  neuen  Muskel 
des  Ohres.  Mediz.  Jahrb.  d.  k.  k.  öst.  Staates,  Bd.  XXI,  1840.  —  40)  Ein  neuer  Ohr- 
muskel. Mediz.  Jahrb.  d.  k.  k.  öst.  Staates,  Bd.  XXX,  1841.  —  4I)  Vorläufige  Mit- 
teilungen über  das  knöcherne  Labyrinth  der  Säugetiere.  Mediz.  Jahrb.  d.  k.  k.  öst. 
Staates,  1843.  —  42)  Vergleichend-anatomische  Untersuchungen  über  das  innere  Ge- 
hörorgan des  Menschen  und  der  Säugetiere.  Prag  1845.  —  4S)  Zur  vergleichenden 
Anatomie  der  Trommelhöhle.  Wien  1848.  —  44)  Lepidosiren  paradoxa ,  Monogr.  in 
d.  Abh.  d.  k.  böhm.  Ges.  d.  Wiss.  Prag  1845.  —  4:i)  Ueber  spontane  Dehiszenz  des 
Tegmen  tympani  u.  d.  Cellulae  mastoideae.  Wien  1858.  Im  XXX.  Bd.  d.  Sitzungs- 
berichte d.  kais.  Akad.  Nr.  16.  —  46)  Die  Korrosionsanatomie  u.  ihre  Ergebnisse. 
Wien  1873.  —  47)  Die  vergleichende  Anatomie  des  Schläfenbeins.  Hannover  1837. 
—  48)  Lepidosiren  paradoxa,  anatom.  unters,  u.  beschrieb.  Leipz.  1840.  —  49)  Ueber 
Flimmerbewegung  im  Gehörorgan  von  Petromyzon  marinus.  Müllers  Arch.  f.  Anat. 
u.  Phys.  1844.  —  50)  Atlas  anatomicus  auris  internae.  Kjöbenhavn  1846.  —  5I)  Lehrb. 
d.  vergl.  Anat.  der  Wirbelt.  1846.  —  5Z)  Mikroskopiske  Undersögelser  af  Nerve- 
systemet.  Kjöbenhavn  1842.  —  5S)  Ueber  die  Entwicklung  der  Schildkröten.  Braun- 
schweig 1848.  Bern,  über  den  inneren  Bau  der  Pricke.  Danzig  1826.  —  5*)  On  the 
Communications  between  the  Cavity  of  the  Tympanum  and  the  Palate  in  the  Croko- 
dilia.     Phil.  Tr.  1850.     Description  of  the  Lepidosiren  annecteus,  The  Trans,  of  the 


394  J-  Fr.  Meckel. 


Linnean  Society  of  London.  Vol.  XVIII,  1*41.  —  55)  Bemerkungen  über  das  Quadrat- 
bein und  die  Paukenhöhle  der  Vögel.  Dresd.  u.  Leipz.  1839.  —  56)  Evolutionis  auris 
per  animalium  seriem  brevis  historia.     Berl.  1839. 

Einen  ungeahnten  Aufschwung  nahm  in  diesem  Zeiträume  die  Ent- 
wicklungsgeschichte des  Gehörorgans.  Nach  den  klassischen  Vor- 
arbeiten Cassebohms,  der  sein  Augenmerk  auf  die  Entwicklung 
des  knöchernen  Abschnittes  des  Gehörorgans  richtete,  waren  es  Scarpa, 
Meckel  und  Bichat,  die  ihr  Interesse  der  Entwicklungsgeschichte 
der  äußeren  Teile  des  Gehörorgans  zuwendeten.  Erst  v.  Baer  war  es 
vorbehalten,  die  Grundlagen  für  die  Entwicklungsgeschichte  des  inneren 
Ohres  zu  schaffen.  Zunächst  wollen  wir  auf  die  Hauptarbeiten  dieser 
Periode,  die  Arbeiten  J.  Fr.  Meckels  und  Carl  Ernst  v.  Baers,  näher 
eingehen  und  auf  die  ebenfalls  wertvollen  Publikationen  von  Danz1), 
Authenrieth2),  Huschke3),  Burdach4),  v.  Baer5"s),  Rathke9), 
Valentin10),  Reichert11),  Seydel12),  Günther  13~14),  Hagenbach  15), 
Dietrich16),  Hyrtl17)  hinweisen.  Ferner  schrieben  über  Ohrentwicklung 
nach  v.  Stein  noch  Leukart  und  Frey  (1847),  Erichson  (1849)  und 
Dufour  (1850). 

J.  Fr.  Meckel,  der  Jüngere,  teilt  in  seiner  Geschichte  des  Fötus*) 
folgendes  über  die  Entwicklung  des  Gehörorgans  mit: 

Der  äußere  Teil  des  Gehörorgans  wird  zuerst  ungefähr  in  der  Mitte  des 
zweiten  Embryonalmonats  sichtbar.  Er  erscheint  als  eine  längliche  Erhabenheit,  in 
deren  Mitte  ein  Längseinschnitt  verläuft.  Allmählich  differenziert  sich  diese  erste 
Anlage  während  des  dritten  Monats  zum  äußeren  Ohre.  Am  spätesten  erscheint  das 
Ohrläppchen  als  eigener  Vorsprung.  Im  dritten  Monat  entwickelt  sich  der  Knorpel 
im  äußeren  Ohre.  Der  knöcherne  Gehörgang  fängt  sich  einige  Zeit  nach  der  Geburt 
durch  Vergrößerung  des  Paukenfellringes  zu  bilden  an  und  zwar  so,  daß  seine  äußere 
Oeffnung  am  frühesten  verknöchert. 

Die  Paukenhöhle  ist  beim  Fötus  klein  und  eng,  mit  einer  dicken,  gallert- 
ähnlichen Feuchtigkeit  angefüllt.  Die  Tuba  Eustachii  ist  relativ  kurz  und  weit. 
Trommelfellring  und  Paukenfell  sind  in  den  ersten  Monaten  relativ  groß  (bis  zum 
fünften  Monat  größer  als  die  Ohrmuschel)  und  liegen  der  äußeren  Oberfläche  weit 
näher  als  später,  so  daß  die  oberen  Teile  beinahe  freiliegen  (Amphibienähnlichkeit). 
Die  Richtung  beider  ist  ziemlich  horizontal. 

Die  Gehörknöchelchen  zeichnen  sich  durch  außerordentliche  Frühzeitig- 
keit der  Entstehung  und  Ausbildung  aus.  Sie  sind  schon  im  Anfang  des  dritten 
Monats  sichtbar  und  relativ  groß,  wenn  auch  noch  knorpelig.  Die  Verknöcherung 
beginnt  schon  vor  dem  Ende  des  dritten  .Monats. 

Es  verknöchern:  Stapes  und  Amboß  früher  als  Hammer  (nach  Cassebohm), 
Hammer  und  Amboß  vor  dem  Stapes  (nach  Meckel).  Die  Stapesschenkel  scheinen 
in  frühen  Perioden  nicht  voneinander  getrennt  zu  sein.  Die  am  auffallendsten  ver- 
schiedenen Perioden  durchläuft  der  Hammer,  und  kaum  läßt  sich  mit  ihm  ein  an- 
derer Knochen  in  dieser  Hinsicht  vergleichen. 


*)  1.  c.  IM.  IV  u.  Stanislaus  v.  Stein. 


C.  v.  Baer.  395 

Seine  vorzüglichste  Entwicklungsverschiedenheit  besteht  in  einem,  von  dem 
vorderen  Umfange  seines  Kopfes  ausgehenden,  im  Verhältnis  zu  seinen  übrigen 
Teilen  ziemlich  dicken  und  langen,  länglich  kegelförmigen,  geraden  knorpeligen  Fort- 
satze, der  aus  der  Paukenhöhle,  zwischen  dem  Felsenbein  und  dem  Trommelfellringe 
hervortritt,  sich  dicht  an  die  innere  Fläche  des  Unterkiefers  legt,  und  bis  zu  dem 
vorderen  Ende  desselben  verläuft,  wo  er  sich  bisweilen,  vielleicht  immer,  mit  dem  der 
vorderen  Seite  unter  einem  spitzen  Winkel  vereinigt.  Dieser  Knorpel  verknöchert, 
ungeachtet  er  anfänglich  bei  weitem  den  größten  Teil  der  Masse  der  Gehörknöchelchen 
ausmacht,  nie,  sondern  verschwindet  schon  im  achten  Monat.  Der  vordere  Fortsatz 
des  Hammers  entspricht  ihm  zwar  einigermaßen  durch  seine  Stellung,  allein  man  findet 
beim  Embryo  in  der  Tat  beide  deutlich  voneinander  getrennt  und  den  erwähnten 
Knorpel  über  dem  vorderen  Hammerfortsatz  liegend,  so  daß  dieser  nur  einen  unbedeu- 
tenden Teil  des  Knorpels  ausmacht  und  sich  früh  von  ihm  trennt.  Dieser  Knorpel 
ist  insofern  merkwürdig,  als  sich  bei  den  Fischen.  Amphibien  und  Vögeln  ein  völlig 
ähnlicher,  vom  hinteren  Unterkieferstück  in  das  vordere  dringender,  findet.  Er  sitzt 
auf  einem  kleinen,  an  der  inneren  Fläche  des  hinteren  Unterkieferstückes  befindlichen 
Knochen,  und  man  darf  daher  diesen  wohl  nicht  ohne  Grund  für  ein  Rudiment  des 
Hammers  bei  diesen  Tieren  halten. 

Das  häutige  Labyrinth  ist  lange  vor  dem  knöchernen  vorhanden  und  be- 
steht aus  härteren,  festeren  Häuten  als  in  späteren  Lebensperioden.  Es  besteht  aus 
zwei  Häuten,  einer  inneren  und  einer  äußeren.  Die  Schnecke  ist  bereits  im  dritten 
Monat  ebenso  gebildet  wie  in  späteren  Lebensperioden. 

Das  knöcherne  Labyrinth  entsteht  unabhängig  von  der  Knochensubstanz 
des  Felsenbeins,  welch'  letztere  sich  früher  als  die  des  Labyrinths ,  und  zwar  von 
eigenen  Knochenkernen  aus  bildet.  Es  ist  anfangs  völlig  von  der  umgebenden 
Knochenmasse  des  Felsenbeins  getrennt  und  mit  einer  ganz  glatten  Oberfläche  ver- 
sehen, wenn  gleich  beide  dicht  aneinander  liegen.  Gleichzeitig  mit  seiner  Entstehung 
verschwindet  die  äußere  Membran  des  häutigen  Labyrinths.  Vielleicht  entsteht  der 
Knochen  aus  dieser  Membran,  teils  durch  Umbildung,  teils  durch  Sekretion.  Die 
knöcherne  Schnecke  entsteht  größtenteils  vom  knöchernen  Labyrinth  aus*). 

Carl  Ernst  v.  Baer  (1792  —  1876),  einer  der  vielseitigsten  Forscher 
auf  dem  Gebiete  der  Naturwissenschaften,  der  Entdecker  des  eigentlichen 
Säugetiereies,  hat  das  große  Verdienst,  zuerst  die  Beziehungen  des  Ge- 
hörorgans zum  Gehirne  richtig  erkannt  zu  haben.  Nach  ihm  ist  das 
Ohr  eine  „Hervorstülpung  der  Nervenröhre  bis  in  die  Fleischschicht  und 
zwar  bis  in  die  Knochenlage  derselben.  Dieser  Hervorstülpung  wächst 
dann   eine  Einstülpung  der  Hautschicht  entgegen". 

Ueber  die  Entwicklung  des  Gehörorgans  des  Hühnchens  im  Ei 
beobachtete  v.  Baer  folgendes  s): 

In  der  zweiten  Hälfte  des  zweiten  Tages  tritt  das  Ohr  aus  dem  verlängerten 
Marke  hervor,  als  ein  mit  Nervenmärk  ausgekleideter  hohler  Zylinder,  der  die  Rücken- 
platte an   dieser  Stelle   etwas  vortreibt.     Diese  Vortreibung  endigt   mit   einer  außen 

*)  Huschke  nahm  an,  daß  das  Labyrinth  sich  gesondert  entwickelt  und  an- 
derseits äußeres  und  mittleres  Ohr  zusammengehören,  so  daß  es  also  bloß  zwei 
Teile  gebe,  von  denen  der  innere  aus  den  Rückenplatten,  der  äußere  aus  den  Bauch- 
platten des  Embryo  hervorgehe. 


396  C-_*-  Baer-  

konkaven  Fläche;  jedenfalls  steht  der  vordere  Rand  der  Auftreibung  nicht 
mehr  vor  als  der  hintere.  Die  Auskleidung  von  Nervenmark  ist  der  Gehörnerv. 
Am  dritten  Tage  schien  sich  das  Ohr,  außer  daß  es  mit  der  Umgebung  nach  vorne 
gerückt  war.  nicht  verändert  zu  haben.  Am  vierten  Tag  war  der  innere  Teil  noch 
mehr  verdeckt  als  am  dritten.  Im  Boden  der  Rachenhöhle  erkannte  Baer  eine  tiefe 
gegen  das  Ohr  gerichtete  Grube,  die  er  für  den  Anfang  der  Ohrtrompete  hielt. 
Fünfter  Tag:  das  Ohr  wird  durch  einen  runden  erhabenen  Saum  bezeichnet.  Nach 
innen  scheint  das  Ohr  durch  die  Tube  schon  eine  Oeffnung  zu  haben.  Die  äußere 
Oeffnung  bildet  sich  gewöhnlich  erst  am  sechsten  Tage,  so  daß  sie  erscheint,  wenn 
die  Kiemenspalten  geschlossen  sind.  Sie  liegt  über  der  Mundspalte,  gehört  den 
Rückenplatten  an  und  ist  nicht  zu  verwechseln  mit  der  ersten  Kiemenspalte,  die  in 
der  Bauchplatte  liegt.  Die  Ausmündungen  der  Tuben  rücken  einander  näher;  die 
Tubenröhren  selbst  liegen  der  Keilbeinanlage  nur  an,  nicht  in  derselben.  Achter  bis 
zehnter  Tag:  der  äußere  Gehörgang  ist  weit  und  tief,  die  Tube  nicht  ganz  so  weit 
wie  im  früheren  Zustande,  aber  noch  nicht  vom  Keilbeine  umfaßt.  Spaltet  man 
diese  Röhre,  so  gelangt  man  zum  inneren  Ohre,  das  mehrere  Teile  zeigt,  die  Baer 
jedoch  nicht  bestimmen  konnte,  da  er  ihrer  Entwicklung  nicht  stufenweise  gefolgt 
war.  Unter  anderem  sah  er  eine  weißliche  Blase,  noch  von  weicher  Masse  umgeben 
(Vorhof*?).  Die  Bogengänge  sind  am  Ende  dieser  Periode  vom  Schädel  aus  auch  zu 
finden.  Elfter  bis  dreizehnter  Tag:  das  Trommelfell  ist  deutlich  und  liegt  sehr  schief. 
Die  Tube  liegt  in  einer  Furche  des  Keilbeins,  noch  immer  nicht  von  seiner  Masse 
umschlossen.  Vierzehnter  bis  sechzehnter  Tag:  Am  Anfange  dieses  Zeitraumes  ver- 
knöchert schon  das  innere  Ohr. 

In  dem  zweiten  Teile  seiner  Arbeit  fügt  Baer  noch  einiges  dieser  Darstellung 
hinzu:  Das  Ohr  ist  eine  am  Ende  des  zweiten  Tages  hervortretende  Ausstülpung  aus 
dem  hinteren  Teile  des  Gehirnes,  und  zwar  scheint  die  Anlage  an  der  Grenze  zwi- 
schen Hinter-  und  Nachhirn  hervorzukommen.  Man  sieht  einen  hellen  Kreis,  um- 
geben von  einem  dunkleren  Ringe.  Wie  sich  die  herausgestülpte  Blase  in  das  Laby- 
rinth umformt,  war  ihm  nicht  näher  bekamt;  hingegen  wußte  er,  daß  der  Hörnerv 
sich  ebenso  durch  eine  Abschnürung  bildet  wie  der  Sehnerv.  Aus  der  Rachenhöhle 
wächst  dem  Ohre  eine  von  Schleimhaut  umkleidete  Ausstülpung  entgegen  und  bildet 
die  Ohrtrompete  und  Trommelhöhle.  Diese  Ausstülpung  beginnt,  sobald  sich  die 
erste  Kiemenspalte  geschlossen  hat,  an  derselben  Stelle.  Von  der  Verwachsung  der 
ersten  Kiemenspalte  bleibt  einige  Zeit  eine  Querfurche  an  der  inneren  Fläche.  Das 
obere  Ende  dieser  Querfurche  zieht  sich  allmählich  in  die  Länge  aus,  während  der 
übrige  Teil  sich  ausglättet,  und  ist  nun  die  Ohrtrompete.  Das  äußere  Ohr 
bildet  sich  durch  eine  Entwicklung  der  äußeren  Haut,  die  als  wulstiger  Rand  be- 
ginnt. Da  aber  die  Ohrblase  nicht  ganz  bis  an  die  äußere  Fläche  reicht,  bildet  die 
Haut  ihr  entgegen  eine  Einstülpung  =  äußerer  Gehörgang.  Die  Stelle  ist  der 
Raum  zwischen  erstem  und  zweitem  Kiemenbogen;  doch  war  vorher  diese  ehemalige 
erste  Kiemenspalte  vollständig  geschlossen. 

Ueber  die  Entwicklung  des  Gehörorgans  bei  den  Säugetieren  weiß 
Baer  nur  wenig  zu  berichten.  Das  innere  Ohr  tritt  als  kleines  Rohr  aus  dem  hin- 
teren Teile  des  Hirnes  und  drängt  ein  wenig  blasig  endend  gegen  die  Gegend  über 
der  zweiten  Kiemenspalte.  Die  Tube  kommt  aus  der  Rachenhöhle  entgegen.  Auch 
das  äußere  Ohr  hat  dieselbe  Entwicklung  wie  im  Vogel ,  nur  daß  der  Gehörgang 
an  seinem  Rand  enger  und  länger  wird  und  die  Muschel  hervortreibt. 

Eine  zusammenfassende  Uebersicht  der  Leistungen  auf  dem  Ge- 
biete  der  Embryologie    des  Obres   in   der    ersten   Hälfte    des    19.    Jahr- 


Tafel  XXIII 


CARL  ERNST  v.  BAER 


Günther.  397 

hunderts  finden  wir  in  dem  Werkchen  Günthers14),  in  welchem  er 
auch  seine  eigenen  Ansichten  über  die  Entwicklung'  des  Gehörorgans 
mitteilt. 

Nach  ihm  haben  Labyrinth  und  Trommelhöhle  verschiedenen  Ursprung,  indem 
ersteres  aus  dem  Emmertschen  Bläschen,  letzteres  aber  aus  dem  Kiemenapparat 
hervorgeht. 

v.  Baer,  Rathke  und  Reichert  betrachten  das  Ohrbläschen  als  Hervor- 
stülpung  der  Hirnblase,  Huschke  und  Valentin  als  Panstülpung  der  äußeren  Haut. 
Günther  verfolgte  (bei  Schweins-,  Schaf-,  Kaninchenembryonen)  die  Entwicklung 
des  Emmertschen  Bläschens  bis  zu  seiner  Verengerung  der  Kommunikation  mit  der 
Hirnblase.  Die  OefFnung  ändere  sich  in  einen  kurzen  verhältnismäßig  weiten  Gang 
um,  der  sich  mit  Gehirnmasse  (Acusticus)  anfüllt,  während  der  Grund  des  Bläschens 
hohl  und  hell  bleibt,  um  in  die  verschiedenen  Faltungen  überzugehen.  Beim 
Hühnchen  bemerke  man  schon  nach  2'/2  Tagen  eine  dunklere  Linie,  durch  welche 
das  Bläschen  in  eine  vordere  (Hörhof,  Bogengänge)  und  hintere  Hälfte  (Schnecke) 
geteilt  wird. 

Die  halbzirkelförmigen  Kanäle  ließ  Valentin  durch  Ausstülpung  aus 
der  Vorhof'sblase  hervorgehen,  indem  sich  eine  anfangs  kleine  mützenförmige  Aus- 
bauchung verlängert ,  bogenförmig  umbeugt  und  sich  an  einer  bestimmten  Stelle 
wieder  in  den  Vorhof  einsenkt.  Nach  Günther  bilden  sich  von  dem  rundlich-läng- 
lichen Vorhofe  aus  drei  verhältnismäßig  breite,  hohle  Gänge,  die  anfangs  eng,  später 
weiter  werdend,  nach  außen  hin  bogenförmig  verlaufen.  Die  Bogengänge  ent- 
wickeln sich  dadurch,  daß  sich  die  beiden  Platten  der  ausgestülpten  Falten  einander 
nähern  und  in  der  Mitte  verwachsen,  während  um  diese  Verwachsung  herum  von  dem 
Vorhofe  abgewendet,  also  im  äußeren  Teile,  ein  bogenförmiger  Raum  übrig  bleibt, 
welcher  der  halbzirkelförrnige  Kanal  selbst  ist. 

Die  Bildung  des  Vorhofs  und  der  Ampullen  beschreibt  Günther  noch  sehr 
mangelhaft. 

Die  Bildung  der  Schnecke  sollte  nach  Valentin  aus  dem  Vestibulum  dadurch 
zu  stände  kommen,  daß  sich  das  innere  Ende  der  Höhlung  verlängert  und,  indem  es 
im  Kreise  eine  Wendung  macht,  zu  einer  rundlichen  Höhle  wird.  Diese  Höhle 
(Schneckenblase)  wird  von  innen  nach  außen  wie  ausgegraben,  und  zwar  zuerst  in 
der  Richtung  von  dem  Vestibulum  gegen  die  Mitte  der  Schädelbasis  und  dann  weiter 
fort  spiralig  bis  zum  obersten  Ende  der  Perpendikularachse.  Hierdurch  entstehe 
1.  von  außen  die  der  Schneckenschale  ähnliche  Gestalt,  2.  im  Innern  ein  tief  ein- 
gefurchter Halbkanal  (Modiolus). 

Günther  weicht  von  dieser  Darstellung  bedeutend  ab.  Die  Schnecke  oder 
vielmehr  die  Grundlage  für  den  Modiolus  entsteht  nach  ihm  durch  eine  Abschnürung 
des  Ohrbläschens  in  zwei  Teile ,  nachdem  es  sich  nach  vorwärts  verlängert  hat, 
wobei  sich  zugleich  der  Nerv  nach  der  Trennung  des  Bläschens  etwas  spaltet.  Bald 
nach  diesem  Vorgang  trennt  sich  die  das  Schneckensäckchen  bildende  Haut  in  zwei 
Schichten ,  und  indem  zwischen  beiden  einiger  Raum  gewonnen  wird ,  steckt  nun- 
mehr ein  kleines,  längliches,  plattgedrücktes  Säckchen  locker  in  einem  ähnlichen 
größeren.  Das  innere  (Fortsetzung  der  Ohrblase  und  des  Nerven)  wird  Modiolus,  das 
äußere  Schneckengehäuse.  Zur  Bildung  des  letzteren  senkt  sich  in  einer  geringen 
Entfernung  vom  Rande  zunächst  dem  Vorhofe  die  äußere  Haut  zweimal  so  weit  ein, 
daß  sie  das  innere  Säckchen  berührt.  Durch  diese  beiden  Einsenkungen  wird  nun 
das  Schneckenrohr  dargestellt.  Im  weiteren  Verlauf  der  Darstellung  schildert  Günther 
sodann  die  Bildung  des  Schneckenrohrs,  des  Modiolus,  der  Spiralplatte,  die  Zeit  der 


398     F.  G.  Seydel. 

Verknorpelung  und  Verknöcherung  des  Labyrinths,  zum  Teil  gestützt  auf  Meckel 
illandb.  d.  menschl.  Anatomie  IV)  und  Soemmerring  (De  corp.  hum.  fabrica.  1794). 

Um  die  Entwicklungsgeschichte  des  äußeren  Ohres  machte  sich  ganz  besonders 
Fr.  Gust.  Seydel  in  seiner  Spezialschiff!12)  verdient. 

Er  hat  an  acht  Föten  verschiedener  Länge  die  Entwicklung  des  äußeren  Ohres 
beobachtet  An  einem  vierwöchentlichen  fehlte  das  äußere  Ohr  noch  ganz,  bei  einem 
sechs-  bis  siebenwöchentlichen  fanden  sieh  zwei  Wülste,  von  denen  der  vordere  dem 
Tragus,  der  hintere  dem  Helix  und  Antitragus  entspricht.  Ein  2'io'"  langer  Fötus 
hat  schon  ein  ziemlich  ausgebildetes  äußeres  ( Ihr.  Bezüglich  der  neueren  Forschungen 
über  die  Entwicklung  des  äußeren  Ohres  sei  auf  die  grundlegende  Arbeit  des  ver- 
dienstvollen Züricher  Otologen  Dr.  Fritz  Rohrer  verwiesen. 

Um  einen  Einblick  in  die  Entwicklung  des  Mittelohrs  zu  erlangen, 
mußten  zunächst  die  Metamorphosen  der  Kiemenbogen  studiert  werden. 
Rathke  (Isis  1825)  war  der  erste,  der  im  Jahre  1825  an  Schweins- 
embryonen  scheinbar  in  der  Gegend  des  Halses  regelmäßige,  schief, 
fast  querlaufende  Spalten  entdeckte ,  und  wegen  ihrer  Aehnlichkeit  mit 
den  Kiemen  als  Kiemen  spalten  bezeichnete.  Diese  Entdeckung  wurde 
weiterhin  von  Baer,  Burdach,  Joh.  Müller,  Huschke  und  Reichert 
verfolgt.  So  gelang  es,  die  Bildung  der  Tuba  Eust.  und  der  Pauken; 
höhle  (wie  es  schon  Carus  in  seiner  Zootomie  1818  vermutet  hatte) 
aus  der  ersten  Kiemen  spalte  nachzuweisen  (Baer,  Rathke, 
Valentin,  Huschke,  Reichert,  Günther).  Für  die  Entstehung  der 
Gehörknöchelchen  aus  den  Kiemenbogen  traten,  nachdem  Meckel 
durch  die  Beobachtung  des  knorpeligen  Fortsatzes  vom  Hammer  zum 
Unterkiefer  die  Aufmerksamkeit  der  Anatomen  erweckt  hatte,  Rathke, 
Huschke,  Burdach,  Valentin,  Reichert  ein.  Ebenso  wurde  die 
Umwandlung  des  äußeren  Teiles  der  ersten  Kiemenspalte  in  den  äußeren 
Gehörgang  konstatiert  und  das  Trommelfell  für  die  umgewandelte 
Masse,  welche  die  frühere  Kiemenspalte  verschließt,  erklärt. 

J)  Grundriß  der  Zergliederungsk.  des  neugeborenen  Kindes  in  den  verschied. 
Zeit.  d.  Schwangersch.  mit  Anm.  v.  Soemmerring,  Bd.  I  u.  II.  Frankf.  u.  Leipz. 
1792,  1793.  —  '-')  Supplementa  ad  historiam  embryonis  humani.  Tübing.  1797.  — 
3)  Beitr.  z.  Physiol.  u.  Naturgesch.  Bd.  I.  Weimar  1824.  Verbindg.  d.  Amboßes  im 
Ohr  mit  d.  Griffelforts.  Okens  Isis  1833.  Siehe  ferner  M eckeis  Arch.  1832,  p.  40, 
Ockens  Isis  1827,  1828  u.  1831.  —  4)  Die  Physiol.  als  Erfahrungswissensch.  Bd.  IL 
Leipz.  1828.  De  foetu  humano.  Lips.  1828.  —  5)  De  ovi  mammalium  et  hominis 
genesi  Epist.  etc.  Leipz.  1827.  —  6)  Ueber  die  Kiemen  u.  Kiemengefäße  in  den 
Embryonen  der  Wirbeltiere.  Meckels  Arch.  1827.  —  7)  Ueber  die  Kiemenspalten 
der  Säugetierembryonen,  ibid.  1828.  —  8)  Ueber  Entwicklungsgesch.  d.  Tiere.  Bd.  I. 
Königsberg  1828,  Bd.  II,  1837.  —  B)  Anat.-phys.  Untersuchungen  über  den  Kiemen- 
apparaf  u.  d.  Zungenbein  der  Wirbeltiere.  Riga  u.  Dorpat  1832.  Entwicklung  d. 
Natter.  Königsberg  1839.  —  10)  Handb.  d.  Entwicklungsgesch.  d.  Mensch,  mit  ver- 
gleich. Rücksicht  der f Entwicklung  d.  Säuget,  u.  Vög.  Berlin  1835.  —  u)  De  em- 
bryonum  arcubus  sie  dictis  branchialibus.  Berol.  1836.  In  Müllers  Arch.  1837. 
Ueb.  d.  Yiszeralbogen  der  Wirbelt,  im  allg.  u.  deren  Metamorphosen  bei  d.  Säuget. 


Autenrieth.  399 

u.  Vög.  in  Müllers  Arch.  1837.  —  12)  De  genesi  auris  externae  in  hominibus.  Lips. 
1837.  —  13)  De  cavitatis  tympani  et  partium  adhaerentium  genesi  in  hominibus. 
Dresd.  1838.  —  14)  Beobachtungen  über  die  Entwicklung  des  Gehörorgans  bei  Men- 
schen u.  höheren  Säugetieren.  Leipz.  1842.  —  15)  Müllers  Arch.  1841,  p.  46.  — 
16)  ibid.  p.  68.  —  1T)  Jahrb.  d.  öst.  Staates.     Wien  1836,  p.  449  u.  1.  c. 


Stand   der  Physiologie  des  Gehörorgans  in  der  ersten  Hälfte 

des  19.  Jahrhunderts. 

In  diesem  Zeiträume  tritt  die  Physiologie  des  Gehörorgan  es  in 
das  Stadium  der  experimentellen  Forschung.  Wohl  finden  wir  schon  im 
18.  Jahrhundert  vereinzelte  physiologische  Versuche  am  Gehörorgane 
verzeichnet;  doch  macht  sich  erst  jetzt  das  Bestreben  geltend,  auf  dem 
Wege  des  methodischen  Experiments  die  Funktion  der  einzelnen  Teile 
des  Gehörorgans  zu  bestimmen.  Nicht  zum  geringsten  wird  die  experi- 
mentalphysiologische  Richtung  durch  die  technische  Vervollkommnung 
der  Untersuchungsmethoden  und  durch  den  Aufschwung  begünstigt,  den 
die  Physik  und  vor  allem  die  Akustik  durch  die  Arbeiten  Savarts, 
Chladnis,  Laplaces  und  Colladons  nahm. 

Unter  den  Physiologen  dieser  Periode  ragen  besonders  Auten- 
rieth, Magendie,  Joh.  Müller,  Ernst  Heinrich  Weber  und 
Flourens  hervor,  deren  Leistungen  als  grundlegend  für  die  moderne 
Gehörsphysiologie  anerkannt  werden  müssen. 

Joh.  Heinr.  Ferd.  v.  Autenrieth  (1772—1835),  ein  Schüler 
Cuviers,  Scarpas  und  Peter  Franks,  ordentlicher  Professor  an  der 
Tübinger  Universität,  eröffnet  zu  Anfang  des  Jahrhunderts  die  Reihe 
jener  Forscher,  die  sich  der  exakten  naturwissenschaftlichen  Richtung 
zuwandten.  Sein  Werk  „Handbuch  der  empirischen  menschlichen  Physio- 
logie" *),  das,  wie  Gurlt  rühmend  hervorhebt,  bereits  gegen  die  damals 
herrschende  phantastische  Naturphilosophie  die  Rechte  der  echten  Empirie 
und  der  auf  das  Experiment  begründeten  Forschung  mit  Glück  verteidigte, 
galt  bis  Johannes  Müller  als  das  hervorragendste  Handbuch  über 
Physiologie. 

Im  Vereine  mit  dem  Dichter  und  Arzt  Justinus  Kern  er**) 
unternahm  Autenrieth  experimentelle  Untersuchungen  an  Tieren,  um 
über  die  Funktion  der  einzelnen  Teile  des  Gehörorgans  Aufschluß 
zu  erhalten***). 


*)  Zum    Gebrauche   seiner  Vorlesungen   herausgegeben  von   Dr.  Job.   Heinr. 
Ferd.  Autenrieth.     Tübingen  1802.  III.  Teil.  p.  221— 253. 

**)  Vergl.  dessen  Dissertation:    De  functione  singularum  partium  auris.     1808. 
***)  Beobachtungen   über    die  Funktionen    einzelner  Teile  des  Gehörs.     Arch.  f. 
Physiol.  v.  Reil  u.  Autenrieth,  1809,  Bd.  IX. 


{DO  Autenrieth. 

Das  Trommelfell  faßten  beide  als  einen  Komplex  von  Saiten  auf, 
die  vom  Zentrum  gegen  die  Peripherie  laufen.  Je  nach  der  Länge  und 
Spannung  der  Saiten  gerät  nun  bei  einem  bestimmten  Tone  ein  größerer 
oder  kleinerer  Teil  des  Trommelfells  in  Mitschwingung.  Die  Verschieden- 
heit der  Saiten  wird  teils  aus  der  Art  der  Hammerinsertion,  teils  aus 
der  elliptischen  Form  des  Trommelfells  erklärt.  Muncke*)  bestreitet 
diese  Hypothese.  Bonnafont  (siehe  später)  versuchte  zu  zeigen,  daß 
bei  tiefen  Tönen  der  größere  vordere  Trommelfellabschnitt,  bei  hohen 
der  kleinere  hintere  gespannt  wird. 

Die  Trommelhöhle  dient  nach  Autenrieth  als  Resonanzkasten 
für  die  Trommelfellschwingungen.  Die  Funktion  der  Ohrtrompete 
soll  darin  bestehen,  der  Luft  beim  starken  Schall  einen  Ausweg  aus  der 
Trommelhöhle  zu  verschaffen,  da  sonst  „durch  Gegenstoß  an  das  Trommel- 
fell der  Schall  verwirrt"  werden  würde.  Hieraus  will  Autenrieth  die 
Schwerhörigkeit  bei  Tubenverschluß  erklären. 

Nach  den  Untersuchungen  Autenrieths  und  Kerners  ist  die 
Eustachische  Röhre  in  der  Ruhe  geschlossen,  indem  die  Schleimhaut- 
flächen von  beiden  Seiten  mittels  einer  wässerigen  Flüssigkeit  gleichsam 
aneinander  kleben.  Beim  Gähnen  und  Niesen  gelangt  die  Luft  von  der 
Rachenhöhle  in  die  Trommelhöhle,   wobei  die  Luft  in  dieser  erneuert  wird. 

Die  Ansicht  Cesare  Bressas**),  daß  die  Eustachische  Röhre  dazu 
diene,  dem  Sp rechenden  die  eigene  Stimme  hörbar  zu  machen,  wird  schon 
dadurch  widerlegt,  daß  Personen,  die  bei  krankhaftem  Verschluß  der 
Eustachischen  Röhre  die  Stimme  anderer  nicht  verstehen,  ihre  eigene 
ganz  gut  hören.  Bressa  übersah  hierbei,  daß  die  Vibrationen  der 
eigenen  Stimme  vom  Rachen  den  Kopfknochen  mitgeteilt  werden. 

Nach  weitläufigen  theoretischen  Spekulationen  gelangt  Autenrieth 
zur  Hypothese,  daß  die  Funktion  der  Bogengänge  darin  bestehe,  die 
Schallrichtung  wahrzunehmen.  Diese  Annahme,  welche  die  Fähigkeit,  die 
Schallrichtung  zu  bestimmen,  durch  die  anatomische  Anordnung  der 
Bogengänge  nach  den  drei  Richtungen  im  Räume  zu  deuten  versucht, 
wurde  von  den  Physiologen  nach  dem  Bekanntwerden  der  Experimente 
Flourens'  für  irrtümlich  erklärt.  Erst  in  neuester  Zeit  hat  W.  Preyer***) 
diese  Frage  wieder  aufgerollt,  ohne  jedoch  die  Zustimmung  der  Fach- 
kreise zu  finden. 

Im  Anschlüsse  an  die  Versuche  Autenrieths  und  Kerners  sollen  hier  die 
um  diese  Zeit  über  denselben  Gegenstand  angestellten  Untersuchungen  des  Ingenieurs 
und   Professors   der   Physik   zu  Modena   J.  B.  Venturi    ihren  Platz   finden.     Seiner 


*)  Kastners  Arch.  f.  d.  ges.  Naturl.  Bd.  VII.  H.  1. 
**)  Reils  Archiv.  1807  u.  1808.  Bd.  VIII. 

***)  Die  Wahrnehmung   der    Schallrichtung   mittels    der    Bogengänge.     Pflügers 
Archiv  f.  d.  ges.  Physiologie.  1887.  Bd.  XL. 


Autenrieth.  401 

Abhandlung  entnehmen  wir  folgende  Daten*):  Sind  beide  Augen  und  ein  Ohr  ge- 
schlossen und  wird  der  Kopf  nicht  bewegt,  so  scheint  der  Ton  stets  aus  der  Richtung 
zu  kommen ,  nach  der  das  offene  Ohr  gewendet  ist.  Diese  Richtung ,  die  senkrecht 
auf  der  äußeren  Fläche  des  Ohres  steht,  nennt  Venturi  die  Gehörachse.  Dreht 
man  jedoch  den  Kopf,  so  wird  der  Ton  mehr  oder  weniger  stark  vernommen,  je 
nachdem  die  Gehörachse  des  offenen  Ohres  mehr  oder  weniger  von  der  Richtung 
der  tönenden  Schwingungen  entfernt  ist.  Sind  beide  Ohren  offen,  so  erkennt  man 
sofort  die  wahre  Richtung  des  Tones.  Stopft  man  nun  das  linke  Ohr  mit  dem  Finger 
allmählich  zu,  so  scheint  es,  als  ob  der  Ton  von  der  rechten  Seite  käme,  und  um- 
gekehrt von  der  linken,  wenn  man  das  rechte  Ohr  zuhält.  Eine  Erklärung  der  bei 
diesen  Versuchen  festgestellten  Resultate  versuchte  Venturi  nicht  zu  geben1*). 

Bezüglich  der  Funktion  der  Schnecke  ist  Autenrieth  der  An- 
sicht, daß  sie  bestimmt  sei,  den  „Laut"  des  Schalles  und  mit  diesem 
gleichzeitig  die  Höhe  des  Tones  wahrzunehmen.  Auch  ist  er  ein  An- 
hänger der  schon  von  Boerhaave,  Haller  u.  a.  vertretenen  Ansicht 
vom  Mitschwingen  der  Nervenfäden  in  der  Schnecke  je  nach  der  Tonhöhe 
der  Schallquelle.  Autenrieth  ist  sich  der  Schwäche  dieser  Hypothesen 
wohl  bewußt,  wenn  er  sagt:  „So  lange  man  nicht  schwerhörende  Per- 
sonen in  Hinsicht  auf  ihr  besseres  oder  schlechteres  Wahrnehmen  von 
Stärke,  Richtung  und  Laut  eines  Schalles  genau  beobachtet  und  dann 
mit  Sorgfalt  nach  ihrem  Tode  die  einzelnen  Teile  ihres  Labyrinthes  unter- 
sucht hat,  wo  oft  der  Vorhof  und  die  Kanäle  unentwickelt  erscheinen, 
während  es  die  Schnecke  nicht  ist,  und  umgekehrt  etc.,  so  lange  wird 
man  vom  Gehörsinn  nichts  Bestimmtes  wissen."  Auf  Autenrieths 
Leistungen  in  der  Nosologie  des  Gehörorgans  werden  wir  noch  zurück- 
kommen. 

Nach  den  Untersuchungen  Autenrieths  und  Kern  er  s  per- 
zipieren  die  Gebilde  des  Vorhofs  die  Stärke  und  die  Höhe  des  Tones. 
Die  Bogengänge  haben  hauptsächlich  die  Bestimmung,  die  Schall- 
schwingungen, die  durch  die  Kopfknochen  dem  Gehörorgane  zugeleitet 
werden,  wahrzunehmen  und  die  Schallrichtung  zur  Empfindung  zu  bringen. 
Als  Beweis  hierfür  wird  ein  Experiment  am  Maulwurf  angeführt,  dem 
ein  Faden  an  den  Schwanz  gebunden  und  der  in  einem  mit  Erde  ge- 
füllten Gefäß  eingegraben  wurde.  Bei  jedem  Geräusch  bewegte  sich  das 
Tier  in  einer  dem  Geräusche  genau  entgegengesetzten  Richtung.  Ge- 
stützt wurde  diese  Hypothese  durch  die  Tatsache,  daß  beim  Maulwurf 
die  halbzirkelförmigen  Kanäle  besonders  stark  ausgebildet  sind.  Die 
Schnecke  endlich  vermittelt  nach  Autenrieth  und  Kerner  die  Klang- 
farbe des  Tones. 


*)  Betrachtungen  über  die  Erkenntnis  der  Entfernung,  die  wir 
durch  das  Werkzeug  des  Gehörs  erhalten,  von  J.  B.  Venturi.  Reils  Archiv. 
1802.  Bd.  V,  p.  383. 

**)  Vergl.  A.  Politzer,  Ueber  Paracusis  loci.     A.  f.  0.  Bd.  11. 

Politzer,  Geschichte  der  Ohrenheilkunde.    I.  26 


402  Magendie. 

In  ähnlicher  Weise  wie  Autenrieth  und  Kerner  versuchte  der  Engländer 
I.  W,  Chevalier  die  einzelnen  Qualitäten  des  Tones  in  die  verschiedenen  Teile  des 
Labyrinthes  zu  lokalisieren.  In  seiner  Hörtheorie  unterschied  er  drei  Qualitäten  des 
Tones ,  die  Intensität ,  die  Tonhöhe  und  die  Klangfarbe ,  und  meinte ,  daß  das  Ohr 
imstande  sei,  eine  mechanische  Scheidung  dieser  drei  Eigenschaften  zu  bewirken  und 
sie  den  entsprechenden  Teilen  des  Hörorgans  im  Labyrinthe  zuzuteilen,  ohne  jedoch 
ihre  physische  Einheit  zu  beeinflussen.  Den  Teil,  der  im  stände  ist,  die  Intensität  zu 
perzipieren,  nennt  er  „Biameter",  den,  der  die  Tonhöhe  unterscheidet,  „Tonometer" 
und  endlich  jenen,  der  für  die  Klangfarbe  empfänglich  ist,  „Poiometer".  Auf  hypo- 
thetischer Grundlage  vermeint  er  nun  den  „Biameter"  in  der  Schnecke,  den  „Tono- 
meter" in  den  Ampullen  und  den  „Poiometer"  in  einem  Teil  des  Vorhofes,  wo  er 
Marksubstanz  entdeckt  hat,  gefunden  zu  haben*). 

Frangois  Magendie  (1783 — 1855),  Professor  der  Physiologie  und 
allgemeinen  Pathologie  am  College  de  France  in  Paris,  gilt  als  der 
Schöpfer  der  modernen  experimentellen  Richtung  in  der  Physiologie. 
Seine  Leistungen  haben  wesentlich  dazu  beigetragen,  die  bis  dahin 
herrschenden  naturphilosophischen  Methoden  der  Naturforschung  zu 
verdrängen.  Von  diesem  Umschwünge  blieb  die  Gehörsphysiologie  nicht 
unberührt,  indem  auch  hier  „das  Spiel  der  Einbildungskraft",  wie 
Magendie  sich  ausdrückt,  durch  die  nüchterne  Methode  des  Experi- 
ments ersetzt  wurde.  Der  Nutzen  der  neuen  Forschungsmethode  war  zu- 
nächst der,  daß  die  vagen,  bloß  durch  die  Autorität  eines  berühmten 
Schriftstellers  gestützten  Theoreme  über  die  Vorgänge  beim  Hören  voll- 
ständig ausgemerzt  wurden  und  daß  man  sich  vorurteilsfrei  der  experi- 
mentellen Nachprüfung  der  physiologischen  Vorgänge  zuwandte.  Von 
diesem  Gesichtspunkte  aus  betrachtet,  heben  sich  Magen  dies  klare  und 
lichtvolle  Ausführungen  wohltuend  von  den  vielfach  dunklen  und  hypo- 
thetischen Angaben  der  älteren  Physiologen  ab. 

Durch  Versuche  stellte  Magendie  fest,  daß  die  Haut  des  äußeren 
Gehörgangs  sich  durch  große  Empfindlichkeit  auszeichnet,  die  gegen 
das  Ende  dieses  Ganges  zunimmt,  wo  Fremdkörper  und  Entzündungen 
die  heftigsten  Schmerzen  verursachen.  Geringere  Sensibilität  zeigt  die 
Trommelhöhlenschleimhaut.  Experimentelle  Berührungen,  Ver- 
letzung und  Durchschneidung  des  Hör  nerven  bei  Tieren,  den  er  durch 
Entfernung  der  seitlichen  Partien  der  Schädelbasis  freilegte,  erregten  aber 
keinen  Schmerz**). 

Den  Nutzen  des  äußeren  Ohres  sieht  er  in  der  großen  Elastizität 
des  Ohrknorpels,  die  noch  durch  Muskeln  vermehrt  werde,  weshalb  er 
leicht  durch  die  ihm  von  der  Luft  mitgeteilten  Vibrationen  in  Schwingung 
geraten  könne. 


i:)  Medico  Chirurgical  Transact.  Bd.  XIII.  —  Vergl.  Frorieps  Notizen.  Jahrg.  1830. 
")  Magendie,  Journ.  de  physiol.  experim.     T.  IV,  p.  170;  T.  V,  p.  38. 


Magendie.  403 

Der  äußere  Gehörgang  leitet  nach  Magendie  den  Schall  einer- 
seits durch  die  in  ihm  enthaltene  Luft,  andererseits  durch  seine  Wan- 
dung zum  Trommelfelle.  Magendie  hält  die  Annahme  für  irrtümlich, 
wonach  das  kleine  Trommelfell  mit  der  großen  Menge  von  Tönen,  die 
unser  Ohr  treffen,  sich  in  gleiche  Stimmung  setze,  hingegen  nach  den 
S  a  v  a  r  t  sehen  Versuchen  für  sehr  Avahrscheinlich,  daß  es  sich  für  schwache 
Töne  erschlaffe,  für  starke  spanne. 

Das  Trommelfell  überträgt  nach  seiner  Auffassung  einen  Teil  des 
Schalles  auf  die  Luft  der  Trommelhöhle,  einen  anderen  auf  die  Gehör- 
knöchelchenkette. Die  Fortleitung  des  Schalles  zum  inneren  Ohr  ge- 
schieht daher  sowohl  durch  die  Kette  der  Gehörknöchelchen,  als  auch 
durch  die  Trommelhöhlenluft,  welche  den  Schall  den  Knochenwänden  der 
Trommelhöhle,  hauptsächlich  aber  der  Membran  der  Fenestra  rotunda 
mitteilt. 

Die  Eustachische  Röhre  dient  nach  Magendies  Beschreibung 
zur  Erneuerung  der  Trommelhöhlenluft,  die  Warzenzellen  zur  Verstärkung 
des  in  die  Trommelhöhle  gelangenden  Schalles,  was  vornehmlich  durch 
die  Blätterform  der  einzelnen  Zellen  bewirkt  wird. 

Bezüglich  der  Hörperzeption  durch  die  Schnecke  spricht  sich 
Magendie  gegen  das  Mitschwingen  der  Schneckenchorden  aus. 
Die  Funktion  des  Hör  nerven  hängt  nach  Magendie  von  der  des 
Nerv,  trigeminus  ab.  Erkrankt  dieser  Nerv  oder  wird  er  durchschnitten, 
so  werde  das  Gehör  geschwächt  oder  vernichtet  (?).  Er  beobachtete, 
daß  hohe  Töne  das  Ohr  schmerzhaft  affizieren.  Ein  tiefer  Ton  werde 
bei  langer  Einwirkung  manchmal  noch  gehört,  wenn  der  tönende  Körper 
nicht  mehr  schwinge  (Nachempfindung).  Die  Schallrichtung,  welche 
nach  Magendie  zum  Teile  auch  durch  das  Auge  ermittelt  werde, 
könne  mit  einem  Ohre  nicht  beurteilt  werden.  Ueber  die  Entfernung 
des  Schalles  sind  wir  nur  dann  im  klaren,  wenn  wir  über  die  Natur 
des  schallenden  Körpers  unterrichtet  sind.  Irrtümlich  sei  die  Annahme,, 
daß  ein  sehr  starker  Schall  von  einem  nahen,  ein  schwacher  von  einem 
entfernten  Körper  herrühre.  Schlechteres  Hören  mit  zunehmendem  Alter- 
ist nach  Magendie  teils  durch  eine  Verminderung  der  Labyrinth- 
flüssigkeit, teils  durch  eine  progressive  Abnahme  der  Sensibilität  des 
Hörnerven  bedingt. 

Schließlich  sei  hier  folgender  für  die  Hörphysiologie  wichtige  Ver- 
such Magendies  hervorgehoben.  Nach  Durchschneidung  der  Klein- 
hirnschenkel, des  verlängerten  Markes  oder  nach  Verletzung  be- 
stimmter Teile  des  Kleinhirns  konnte  er  unkoordinierte  Bewegungen  der 
Extremitäten,   ferner   auch    ein   ganz    bestimmtes  Schielen  beobachten*). 

*)  Menioires  sur  les  fonetions  de  quelques  parties  du  s}rsteme  nerveux.  Journ. 
d.  Pbysiol.  1825.  T.  IV. 


In4  Johannes  Müller. 

Die  Ergebnisse  dieser  Versuche  wurden  später  von  Flourens  als  Kon- 
trollversuche bei  seinen  Experimentalarbeiten  an  den  Bogengängen  heran- 
gezogen. 

Johannes  Müller.  Die  Physiologie  des  Gehörorgans  hat  durch 
den  genialen  Johannes  Müller,  den  Begründer  der  modernen  Physio- 
logie, bahnbrechende  Förderung  erfahren.  Vor  allem  sind  es  seine  Unter- 
suchungen über  die  Schalleitung  in  der  Trommelhöhle,  die  für  unsere 
jetzigen  Anschauungen  grundlegend  wirkten.  Johannes  Müller, 
1801  zu  Koblenz  geboren,  erhielt  1822  den  Doktorgrad,  habilitierte 
sich  zwei  Jahre  später  in  Bonn  als  Privatdozent  und  wurde  1830  zum 
ordentlichen  Professor  ernannt.  Kaum  32  Jahre  alt,  erhielt  er  den 
ehrenvollen  Ruf  als  ordentlicher  Professor  der  Anatomie  und  Physiologie 
an  die  Berliner  Universität,  wo  sich  Männer  um  ihn  scharten,  die  später 
als  Physiologen  hohen  Ruf  erlangten.  Wir  erwähnen  nur  die  Namen 
Brücke,  Du  Bois-Reymond,  v.  Helmholtz,  Ludwig  u.a.,  die  sich 
mit  Stolz  Schüler  Johannes  Müllers  nannten.  Sein  Tod  erfolgte  plötz- 
lich am  28.  April  1858. 

Der  Hörphysiologie  widmet  Johannes  Müller  im  II.  Bande 
seines  .,Handbuchs  der  Physiologie  des  Menschen,  Koblenz 
1837",  eine  eingehende  Darstellung.  Nachdem  er  die  physikalischen 
Bedingungen  des  Hörens,  die  Wellenbewegung  im  allgemeinen,  die  stehen- 
den und  fortschreitenden  Wellen  tönender  Körper  und  die  Wellenbewegung 
bei  der  Schalleitung  besprochen,  schildert  er  in  Kürze  die  Morphologie 
des  Gehörorgans  der  Fische ,  der  nackten  und  beschuppten  Amphibien, 
der  Vögel  und  Säugetiere,  und  wendet  sich  hierauf  den  akustischen  Eigen- 
schaften der  Gehörwerkzeuge  zu.  Durch  eine  Reihe  geistreicher  Ver- 
suche, die  er  zur  Begründung  seiner  Theorie  über  die  Schalleitung 
mittels  sinnig  erdachter  Apparate  ausführte ,  weist  er  treffend  nach, 
daß  Schallwellen,  die  von  Luft  auf  Wasser  übergehen,  am  wenigsten  an 
Intensität  verlieren,  wenn  sie  durch  Vermittlung  einer  gespannten  Mem- 
bran übertragen  werden.  Dieses  physikalische  Gesetz  gilt  auch  dann, 
wenn  die  Membran,  welche  die  Schallwellen  auf  die  Flüssigkeit  über- 
trägt, mit  dem  größten  Teil  ihrer  Fläche  mit  einem  festen  Körper 
(Stapesplatte)  verbunden  ist,  der  die  Flüssigkeit  (Labyrinthwasser)  be- 
rührt. Aus  diesen  Versuchen  konnte  Müller  ableiten,  daß  sowohl  die 
Stapesplatte,  als  auch  die  Membran  des  runden  Fensters  sehr  gute  Leiter 
für  die  Uebertragung  der  Schallwellen  auf  das  Labyrinthwasser  sind. 
Weiter  fand  Müller,  daß  diese  Leitung  noch  um  ein  Bedeutendes  verstärkt 
werde,  wenn  die  Schallzuleitung  durch  eine  Membran  (Trommelfell)  ver- 
mittelt wird,  die  von  beiden  Seiten  von  Luft  umgeben  ist. 

Wird,  wie  Müller  an  sich  selbst  beobachtete,  das  Trommelfell 
durch  Verdichtung  oder  Verdünnung  der  Luft  in  der  Trommelhöhle  über 


Tafel  XXIV 


JOHANNES  MÜLLER 


Johannes  Müller.  4Q5 


die  Grenze  des  Normalen  gespannt,  so  erleidet  das  Gehör  eine  merkliche 
Abdämpfung.  Die  wenig  glückliche  Formulierung  des  Satzes:  „Eine 
kleine,  stark  gespannte  Membran  leitet  den  Schall  schwächer,  als  im 
schlaffen  Zustand",  bedarf  des  erklärenden  Zusatzes,  daß  hier  nicht  eine 
absolut  schlaffe  Membran,  sondern  bloß  eine  Spannung  geringeren  Grades 
gemeint  ist.  Irrtümlich  ist  die  Ansicht  Müllers,  daß  aus  dem  Verlust 
der  Fähigkeit  zum  Hören  tieferer  Töne  bei  vorhandenem  Gehör  für 
hohe  Töne  auf  eine  erhöhte  Spannung  des  Trommelfells  zu  schließen 
sei,  nachdem  wir  wissen,  daß  diese  Höranomalie  auch  bei  Adhäsiv- 
prozessen  im  Mittelohr  bei  Rigidität  und  Fixierung  der  Gehörknöchel- 
chen und  bei  isolierter  Stapesankylose  beobachtet  wird.  Müller  nimmt 
ferner  an,  daß  bei  sehr  starkem  Schall  durch  den  reflektorisch  sich 
kontrahierenden  Tensor  tympani  das  Trommelfell  gespannt  und  das  Ge- 
hör merklich  gedämpft  wird.  Dem  Trommelfellspanner  schrieb 
Müller  eine  willkürliche  Kontraktion  zu  und  bezog  das  knackende  Ge- 
räusch, das  er  selbst  in  beiden  Ohren  hervorrufen  konnte,  auf  die  Aktion 
dieses  Muskels*).  Was  die  Wirkung  des  Steigbügelmuskels  anlangt, 
so  war  Müller  der  Meinung,  daß  durch  die  Kontraktion  dieses  Muskels 
das  Ligamentum  annulare  stapedis  gespannt  werde,  indem  die  Stapesplatte 
durch  den  Zug  des  Muskels  am  hinteren  Abschnitte  um  so  viel  tiefer  in 
das  ovale  Fenster  hineinrücke,  als  der  vordere  Abschnitt  sich  nach  außen 
zu  schiebe. 

Die  schon  früher  des  öfteren  ventilierte  Frage,  ob  die  Schallwellen 
durch  Vermittlung  der  Gehörknöchelchen  auf  das  ovale  Fenster  oder 
durch  die  Trommelhöhlenluft  auf  das  runde  Fenster  übertragen  werden, 
entschied  Müller  dahin,  daß  ein  ausschließliches  Anerkennen  einer  Art 
von  Leitung  unstatthaft  sei,  da  beide  Teile  nach  physikalischen  Gesetzen 
leitungsfähig  seien.  Doch  lieferten  seine  Versuche  den  Nachweis,  daß 
die  Schalleitung  durch  die  Gehörknöchelchen  ungleich  intensiver  und  von 
größerer  physiologischer  Bedeutung  ist,  als  die  Luftleitung  zur  Membran 
des  runden  Fensters. 

Die  Eustachische  Ohrtrompete  ist  nach  Müller  dazu  bestimmt, 
die  Luft  der  Trommelhöhle  zu  erneuern  und  mit  der  äußeren  Luft  ins 
Gleichgewicht  zu  setzen.  Dadurch  werde  eine  durch  einseitige  Ver- 
dichtung oder  Verdünnung  der  Luft  entstehende  abnorme  Spannung  des 
Trommelfells  und  die  hieraus  entstehende  Hörstörung  verhindert.  Nebst- 
dem  dient  die  Tube  dem  Sekretabflusse  aus  der  Trommelhöhle.  Ob 
durch  den  Tubenkanal,  wie  Müller  meint,  die  Resonanz  der  Töne 
hintangehalten  wird,  muß  dahingestellt  bleiben. 


*)  Von  Luschka  und  mir  wurde  der  Nachweis  erbracht,  daß  dieses  Geräusch 
durch  eine  Bewegung  im  Tubenkanale  erzeugt  wird  (Tubenknacken). 


406  Johannes  Müller. 


Den  äußeren  Gehör  gang  hält  Müller  für  die  Schalleitung 
in  dreifacher  Hinsicht  wichtig,  erstens  weil  er  die  aus  der  Luft  ein- 
fallenden Schallwellen  unmittelbar  auf  das  Trommelfell  leite,  zweitens, 
weil  seine  Wände  die  der  Ohrmuschel  selbst  mitgeteilten  Wellen  auf  dem 
nächsten  Wege  dem  Trommelfell  übermitteln ,  und  endlich,  weil  die  im 
Gehörgang  enthaltene  Luft  der  Resonanz  fähig  ist. 

Die  Ohrmuschel  ist  teils  Reflektor,  teils  Kondensator  und  Leiter 
der  Schallwellen.  Als  Reflektor  kommt  vorzüglich  die  Concha  in  Be- 
tracht, indem  sie  die  Schallwellen  der  Luft  gegen  den  Tragus  wirft,  von 
wo  sie  in  den  Gehörgang  gelangen. 

Müller  hebt  hervor,  daß  jeder  begrenzte  feste  Körper  (Kopf- 
knochen, in  der  Nähe  des  Gehörorgans  liegende  Knorpel,  Membranen) 
und  jede  begrenzte  Luftmasse  in  der  Nähe  des  Labyrinthes  ein  Resonator 
sei.  Von  dieser  Resonanz  der  Lufthöhlen  hängt  zum  Teil  das  starke 
Hören  ab,  wenn  man  sich  durch  eine  Röhre  in  den  Mund  oder  die  Nase 
sprechen  lasse.  Müller  ist  der  Ansicht,  daß  man  bei  vollkommen  ver- 
stopften Gehörgängen  die  eigene  Stimme  deshalb  schwächer  höre,  weil 
die  Resonanz  der  Luft  im  äußeren  Gehörgange  aufgehoben  sei. 

Ueber  den  Unterschied  der  Schalleitung  durch  die  Trommel- 
höhle und  durch  die  Kopfknochen  spricht  sich  Müller  ungefähr 
folgendermaßen  aus: 

Die  Trommelhöhlenleitung  teilt  dem  Labyrinth  einseitige  Stöße  durch 
die  beiden  Fenster  mit,  von  wo  -aus  dann  die  Wellen  sich  im  Labyrinthwasser 
verbreiten.  Die  Kopfknochenleitung  führt  dem  Labyrinthe  von  jeder  Seite 
aus  Schallwellen  zu.  Bei  fest  verstopften  Ohren  leitet  das  Ohr  die  Luftwellen 
immer  noch  stärker  als  die  Kopfknochen.  Müller  übersah  hierbei,  daß  man  auch 
bei  Ausschaltung  der  Luftleitung  durch  den  äußeren  Gehörgang,  durch  die  Tuba 
Eust.  hören  kann.  Die  begrenzten  und  beweglichen  Gehörknöchelchen  wirken  viel 
stärker  auf  das  Labyrinth  als  die  unbeweglichen  (nicht  isolierten)  Kopfknochen. 
Die  Leitung  durch  die  Gehörknöchelchen  ist  auch  dann  vorhanden,  wenn  die  Luftwellen 
zuerst  den  Kopfknochen  zugeführt  werden ,  in  welchem  Falle  die  Schallwellen  auch 
dem  Trommelfell  und  den  Gehörknöchelchen  mittelbar  zugeleitet  werden  und  der 
Trommelhöhlenapparat  resonniert  (cranio-tympanale  Leitung).  Er  stützt  diese  Ansicht 
auf  folgenden  Versuch:  Setzt  man  eine  tönende  Stimmgabel  bei  verstopften  Ohren 
auf  den  Scheitel,  so  wird  der  Ton  viel  schwächer  perzipiert,  als  beim  Ansetzen  der  Gabel 
auf  die  Schläfe.  Je  näher  die  mit  den  Kopfknochen  in  Berührung  stehende  Gabel  dem 
(iehörgange  gebracht  wird,  desto  stärker  wird  der  Ton  empfunden.  Der  Ton  der  Gabel 
wird  auch  umso  stärker  empfunden,  je  näher  sie  dem  Labyrinthe  und  dem  Gehörgange  auf 
den  Schädel  angesetzt  wird.  Die  Bedeutung  des  Labyrinth  was  sers  versucht  Müller 
folgendermaßen  zu  erklären :  „Der  letzte  Endzweck  des  Gehörorgans  ist  vollkommene 
Mitteilung  der  Stoßwellen  an  die  Nervenfasern.  Da  diese,  wie  alle  Nerven,  weich 
und  von  Wasser  durchdrungen  sind ,  so  würde  schon  die  Mitteilung  der  Stoßwellen 
von  festen  Teilen  an  diese  weichen  Nerven  zum  Teil  eine  Reduktion  der  Schwingungen 
des  Wassers  sein.  Außer  der  Weichheit  der  Nerven  durch  Wasser  sind  auch  alle 
Zwischenräume  zwischen  den  Nervenfasern  mit  Gewebsflüssigkeit  ausgefüllt.    Geschieht 


Jobannes  Müller.  407 


die  Mitteilung  der  Stoßwellen  vom  Labyrinthwasser  aus  auf  die  Fasern  des  Hör- 
nerven, so  ist  das  Medium  der  nächsten  Mitteilung  gleichartig  mit  dem,  welches  die 
Interstitien  der  Nerven  selbst  einnimmt.  In  diesem  Fall  mag  die  Schwingung  der 
Teilchen  in  dem  Nerven  selbst  viel  gleichartiger  sein,  als  wenn  bloß  die  Oberflächen 
des  Nerven  feste  Teile  berührten.  Im  letzteren  Falle  würden  die  Teilchen  des  Nerven, 
welche  die  festen  Teile  berühren,  eine  andere  Kontiguität  haben  als  diejenigen 
Teilchen  des  Nerven,  welche  mehr  im  Innern  des  Nerven  und  von  der  Berührungs- 
fläche mit  festen  Teilen  entfernt  liegen. 

Die  Wasserleitungen  spielen  nach  Müller  in  der  Physiologie  des  Gehörs 
gar  keine  Rolle.  Sie  enthalten  weder  häutige  Kanäle  noch  Flüssigkeit  oder  Venen- 
stämme und  sind  bloß  Verbindungen  der  Beinhaut  und  Dura  mater  mit  der  inneren 
Beinhaut  des  Labyrinths. 

Seine  Ansicht,  daß  die  Vor  ho  fs  säckchen  sensible  Aufnahms- 
organe der  Schallwellen  und  die  Bogengänge  Kondensatoren  des 
Schalles  seien,  modifizierte  Müller  nach  dem  Bekanntwerden  der 
Flourens'schen  Versuche  dahin,  daß  die  Ampullarnerven  die  eigentüm- 
liche spezifische  Energie  besitzen,  auf  jeden  Reiz  mit  einer  Drehbewegung 
zu  antworten.  Er  versuchte  experimentell  nachzuweisen,  daß  die  Oto- 
lithen  als  feste  Körper  die  in  der  Flüssigkeit  erregten  oder  fortge- 
leiteten Schallwellen  durch  Resonanz  verstärken,  eine  Ansicht,  die  später 
widerlegt  wurde. 

Was  die  Funktion  der  Schnecke  anlangt,  so  kommt  Müller  zur 
Schlußfolgerung,  daß  ..die  Spiralplatte  der  Schnecke  als  eine  die  Nerven- 
fasern tragende  Platte  betrachtet  werden  müsse,  auf  der  alle  Schnecken- 
nervenfäsern  fast  gleichzeitig  die  Stoßwelle  empfangen  und  gleichzeitig 
in  das  Maximum  der  Verdichtung  und  dann  wieder  in  das  Maximum  der 
Verdünnung  eintreten. " 

Bezugnehmend  auf  die  Arbeiten  E.  H.  Webers*)  führt  Müller 
aus,  daß  die  Verbindung  der  Spiralplatte  mit  den  Wänden  des  Labyrinths, 
die  Schnecke  vorzüglich  für  Schallperzeption  durch  die  Kopfknochen 
befähige. 

Aus  dem  letzten  Kapitel  der  Hörphysiologie  Johannes  Müllers, 
in  welchem  er  das  Unterscheiden  und  die  Harmonie  der  Töne,  die  Nach- 
empfindung und  die  Schärfe  des  Gehörs  bespricht,  ist  seine  Ansicht 
über  die  Paracusis  Willisii  hervorzuheben.  Er  führt  sie  auf  eine  Er- 
schlaffung (Torpor)  des  Hörnerven  zurück,  der  zur  Schärfung  seiner 
Tätigkeit  durch  Erschütterung  erregt  werden  müsse.  Diese  irrige  Ansicht 
wird  noch  jetzt  von  manchen  Otologen  vertreten. 

Die  subjektiven  Töne  erklärt  Müller  als  einen  Reizzustand  des 
Hörnerven  bei  Hirnkranken,  Nervenschwachen  und  bei  solchen,  deren 
Hörnerv  selbst  krank  ist.  Von  den  rein  subjektiven  Tönen  unterscheidet 
er  diejenigen,    wo  der  Schall  im  Gehörorgane  selbst  erzeugt  wird.     Als 


*)  Annotationes  anatomicae  et  nhysiologicae.     Lip.  1834. 


408  Savart. 

solche  erwähnt  er  aneurysmatische  Ausdehnung  der  Gefäße,  das  Knacken 
bei  Kontraktion  der  Binnenmuskeln  des  Ohres,  das  Rauschen  bei  Zu- 
sammenziehung  der  oberen  Gaumenmuskeln  und  beim  Gähnen.  —  Schließ- 
lich zitiert  Müller  die  von  Heule  beobachtete  individuelle  Eigentümlich- 
keit,  daß  bei  leisem  Hinüberfahren  des  Fingers  über  die  Wange  ein 
Rauschen  im  Ohre  entsteht.  Müller  führt  dieses  Symptom  auf  eine 
Reflexwirkung  vom  Facialis  auf  das  Gehirn  und  den  Acusticus  oder  auf 
die  Muskeln  der  Gehörknöchelchen  zurück. 

Die  Annahme,  daß  die  Ohrmuschel  in  schwingende  Bewegung  gerät  und 
den  Schall  in  den  Gehörgang  fortpflanzt,  wurde  von  manchen  Physiologen  wie 
Savart*)  und  Lincke**)  verteidigt,  von  anderen  wie  Henle***)  bestritten.  Die 
Deutung  der  zur  Beweisführung  angewendeten  Stimmgabelversuche  ist  insofern  eine 
irrige,  als  die  Reflexion  der  Schallwellen  von  der  Ohrmuschel  in  den  Gehörgang 
nicht  durch  die  Vibration  des  Knorpels,  sondern  durch  die  Konfiguration  der  vorderen 
Fläche  der  Muschel  bewirkt  wird.  Esserf)  fand  durch  Ausfüllen  einzelner  Ver- 
tiefungen der  Ohrmuschel  mit  weichem  Wachs,  daß  es  vornehmlich  die  Concha 
ist,  die  den  größeren  Teil  der  Schallwellen  in  den  Gehörgang  reflektiere.  Nach 
Lincke  (1.  c.)  kommt  dem  Tragus  und  Antitragus  bei  der  Reflexion  von  der  Concha 
eine  wichtige  Bedeutung  zu. 

Savart  (1791 — 1841).  Der  französische  Physiker  Savart-j-f)  versuchte  nach 
dem  Prinzipe  der  Chladni sehen  Figuren  die  Trommelfellschwingungen  zu  erklären. 
Er  fand  am  anatomischen  Präparate,  daß  der  auf  das  Trommelfell  gestreute  feine 
Sand  bei  Einwirkung  von  Tönen  erst  dann  in  Bewegung  gerate,  wenn  nach  Eröffnung 
der  Trommelhöhle  der  Trommelfellspanner  erschlafft  wurde.  Savart  bewies  hier- 
durch, daß  durch  die  stärkere  Spannung  des  Trommelfells  die  Intensität  der 
Schwingungen  abnimmt  und  daß  das  Ohr  durch  den  Trommelfellspanner  vor  der 
schädlichen  Wirkung  heftiger  Töne  geschützt  wird.  Er  unternahm  es,  den  Einfluß 
der  Spannung  des  Trommelfells  auf  die  Schwingungsfähigkeit  dieser  Membran  und 
die  Funktion  des  runden  Fensters  experimentell  zu  erforschen  777)  und  fand ,  daß 
die  Größe,  Dicke,  Elastizität  und  der  Spannungsgrad  einer  Membran  die  Perzeptions- 
grenze  tiefer  und  hoher  Töne  wesentlich  beeinflusse.  Eine  große  Membran  überträgt 
leicht  tiefe  Töne,  nicht  aber  hohe;  umgekehrt  kann  eine  kleine  Membran  nur 
hohe  Töne  übertragen.  Savarts  Versuch,  diese  Resultate  auf  das  Trommelfell  zu 
überleiten,  muß  als  mißglückt  angesehen  werden.  Auch  der  Einfluß  des  äußeren 
Gehörgangs  auf  die  Verstärkung  des  Schalles  wurde  von  Savart  experimentell 
untersucht.  An  einem  Ende  eines  trichterförmigen  Rohres  wurde  eine  gespannte 
Membran  befestigt.  Der  auf  diese  gestreute  Sand  geriet  kaum  in  Bewegung,  wenn 
der  tönende  Körper  sich  gegenüber  der  freien  Fläche  der  Membran  befand,  hingegen 
waren  lebhafte  Schwingungen  zu  konstatieren,  wenn  die  Tonquelle  vor  die  trichter- 


*)  Annales  d.  Chim.  et  de  physiol.  T.  26. 
**)  1.  c.  Bd.  I.  p.  437. 

***)  Encyklop.  Wörterb.  d.  med.  Wies.   Bd.  14.    Berlin  1*36. 
7)  Kastner's  Arch.  f.  d.  ges.  Naturlehre.  Bd.  12. 

77)  Recherches  rar  les  usages  de  la  membrane  du  tympan  et  de  Toreille  externe. 
Journ.  d.  Physiol.  T.  IX.  1824. 

777)  In  v.  Steins    „Die  Lehren   von  den  Funkt,  d.  einz.  Teile  des  Labyr."  sind 
diese  Versuche  ausführlich  geschildert,   p.  61 — 63. 


Flourens.  409 

förmige  Oeffnung  gehalten  wurde.  Savarts  Lehre  von  der  Funktion  des  Trommel- 
fells wurde  außer  von  Magendie  noch  von  vielen  anderen  Forschern,  wie  Rudolphi. 
Joh.  Müller.  Tourtual,  Steifensand  und  Henle  akzeptiert.  Ablehnend  gegen 
seine  Theorien  verhielten  sich  Autenrieth  und  Kerner,  Itard  und  Bonnafont. 

Itard*)  versuchte  die  Vibrationen  des  Trommelfells  dadurch  nachzuweisen, 
daß  er  eine  Schweinsborste  auf  die  Mitte  des  Trommelfells  aufsetzte  und  nun  tiefe 
und  hohe  Töne  auf  das  Ohr  einwirken  ließ.  Die  Borste  zeigte  nicht  die  geringste 
Bewegung,  obwohl  die  Versuchsperson  alle  Töne  genau  perzipierte.  Dieses  Ergebnis 
erscheint  uns  jetzt  nicht  befremdlich,  da  wir  wissen,  daß  die  Trommelfellvibrationen 
nur  mit  Hilfe  mikroskopischer  Vorrichtungen  zur  Anschauung  gebracht  werden  können. 

Die  alte  Streitfrage,  ob  die  Schalleitung  zum  Labyrinth  durch  die  Ge- 
hörknöchelchen oder  dui'ch  die  Luft  der  Trommelhöhle  zum  Schneckenfenster  ge- 
schehe, blieb  noch  bis  über  diese  Periode  hinaus  auf  der  Tagesordnung.  Während 
Magendie.  Savart,  Itard,  Home,  Henle,  Esser  und  Muncke  die  Schalleitung 
durch  die  Knöchelchen  für  das  Essentielle  erklärten,  war  Treviranus  der  Ansicht, 
die  Gehörknöchelchen  seien  zur  Schalleitung  nicht  geeignet.  Die  Mehrheit  der  Physio- 
logen neigte  jedoch  zu  der  Auffassung,  daß  sowohl  die  Gehörknöchelchen,  als  auch 
die  Luft  den  Schall  vom  Trommelfell  zum  Labyrinthe  leiten. 

Daß  der  Streit  über  die  Wirkung  der  Binnenmuskeln  des  Ohres  endgültig 
dahin  entschieden  wurde,  daß  Tensor  tymp.  und  M.  stapedius  Antagonisten  sind, 
wurde  schon  früher  erwähnt;  desgleichen,  daß  die  Kontraktion  beider  Muskeln  sich 
reflektorisch  vollzieht  und  daß  die  Möglichkeit  einer  willkürlichen  Bewegung  dieser 
Muskeln  zugegeben  wurde. 

Flourens  (1704 — 18(37),  Professor  der  vergleichenden  Anatomie 
in  Paris,  der  Begründer  der  modernen  Physiologie  des  Bogengangapparates, 
trat  mit  seinen  neuen  experimentellen  Untersuchungen  über  die  Funktionen 
des  inneren  Obres  1824  vor  die  Oeffentlichkeit**).  Trotz  der  günstigen 
Beurteilung  durch  Cuvier  fanden  die  Arbeiten  Flourens'  nicht  die 
gebührende  Berücksichtigung.  Erst  nach  späteren  Publikationen  Flourens' 
1842***)  und  1861f)  wurde  die  fundamentale  Kenntnis  von  der  Funktion 
der  Bogengänge  für  immer  sichergestellt. 

Von  seinen  Versuchen  zitieren  wir  folgende: 

Zerstörung  beider  Trommelfelle  bei  Tauben  schwächt  das  Gehör  des  Tieres 
nicht  merklich,  hingegen  wird  das  Gehör  bedeutend  herabgesetzt  durch  Extraktion 
der  Columella  (Stapes)  aus  dem  Vorhofsfenster,  wobei  die  Labyrinthflüssigkeit  ab- 
fließt. Zerstörung  des  Nervus  vestibularis  und  der  Lagena  (Schnecke)  bewirkt  totale 
Taubheit1). 


*)  Die  Krankheiten  des  Ohres  und  des  Gehörs.    Deutsch.     Weimar  1822.    Vor- 
rede S.  G. 

i  Memoires   presentcs  ä  lAcademie  royale  des  sciences.     27.  Decembre  1824. 
i  Recherche«   experimentales  sur   lea   proprietes   et   les  fonctions  du  Systeme 
nerveux  etc.  1842. 

7)  Nouvelles  experiences  sur  l'independance  respective  des  fonctions  cerebralem 
Comptes  rendus.     T.  LH,  1861. 

Vergl.  ferner  L.  W.  Sterns  vollständige  Literaturangabe  über  die  nicht  akusti- 
schen Funktionen  des  inneren  Ohres.     (A.  f.  O.  Bd.  39.) 


410  Flourens. 

Verletzung  der  häutigen  Bogengänge  bewirkt  eine  schmerzhafte  Empfind- 
lichkeit gegen  Töne  und  ist  von  jähen,  heftigen  Kopf bewegungen  begleitet*). 
Diese  wiederholen  sich  sogleich,  wenn  man  den  häutigen  Bogengang  mit  einer  Nadel 
berührt.  Nach  Durchschneidung  der  horizontalen  Kanäle  dreht  sich  das  Tier  um 
die  vertikale  Achse,  nach  Durchschneidung  der  hinteren,  vertikalen  überkugelt  es 
sich  nach  rückwärts,  nach  Durchschneidung  der  vorderen  Vertikalkanäle  nach  vor- 
wärts. Bei  den  Vögeln,  die  mehr  fliegen  als  gehen,  zeigen  sich  die  Phänomene 
mehr  im  Fliegen,  bei  den  anderen  beim  Gehen.  In  der  Ruhe  schwinden  sie, 
um  bei  Bewegungen  sofort  wieder  aufzutreten.  Durchschneidung  zweier  vertikaler 
Kanäle  (rechts  und  links)  ruft  vertikale  Kopfbewegungen  hervor,  Durchschneidung 
der  horizontalen  und  vertikalen  Kanäle  bewirkt  horizontale  und  vertikale  Kopf- 
bewegungen. Durchschneidung  eines  Kanals  einer  Seite  verursacht  viel  schwächere 
Störungen. 

Bei  diesen  Versuchen  wurde  eine  Verletzung  des  Kleinhirns  vermieden. 

Nicht  ganz  konform  waren  die  Ergebnisse  bei  den  Versuchen  an  jungen 
Kaninchen.  Bei  Durchschneidung  des  horizontalen  Bogengangs  traten  langdauernde 
horizontale  Kopfbewegungen  und  heftige  Bewegung  der  Bulbi  und  Lider  auf.  Nach 
Durchschneidung  der  (hinteren)  Vertikalbogengänge  erfolgten  Kopfbewegungen  von 
unten  nach  oben  und  Ueberstürzen  nach  rückwärts ;  Verletzung  des  vorderen  Bogen- 
gangs bewirkte  Ueberstürzen  nach  vorwärts2). 

Aus  diesen  Versuchen  schließt  Flourens,  daß  die  Tätigkeit  der  Bogengänge 
resp.  der  Bogengangsnerven  in  der  Hemmung  der  Bewegungen  bestehe  (Forces 
moderatrices). 

Ckevreuil**)  war  es,  der  zuerst  Flourens  aufmerksam  machte,  daß  es  sich 
bei  den  Bewegungsstörungen ,  die  nach  Verletzung  der  Bogengänge  auftreten,  nicht 
um  Reiz-,  sondern  um  Ausfallserscheinungen  handle.  Diese  Deutung  der  Phänomene 
durch  den  Ausfall  der  von  den  Bogengängen  ausgehenden  Impulse  (Hemmungs-  oder 
Lähmungstheorie)  wurde  von  Flourens  akzeptiert. 

Aus  der  Beobachtung ,  daß  nach  der  Durchschneidung  von  Längsfasern  des 
Pons,  der  Fasern  des  Processus  cerebelli  ad  corp.  quadrig.  und  von  Fasern,  die  vom 
Kleinhirn  zum  verlängerten  Mark  verlaufen,  ähnliche  Bewegungen  des  Tieres  auf- 
treten wie  nach  Durchschneidung  der  Bogengänge,  schloß  Flourens,  daß  diese 
Fasern  mit  den  Nerven  des  Bogengangapparates  in  Verbindung  stehen. 

Das  wichtigste  Ergebnis  der  Experimente  Flourens'  ist  die  Erkenntnis,  daß 
der  Vorhofs-  und  Bogengangapparat  keine  Hörperzeptionsorgane  sind,  und  daß  die 
Tonempfindung  nur  durch  die  Schnecke  vermittelt  wird. 

Die  zahlreichen  Nachprüfungen  und  Ergänzungen  der  Flourensschen  Ver- 
suche fallen  bereits  in  die  zweite  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts. 

J)  La  destruction  de  la  membrane  du  tympan ,  ainsi  que  des  osselets,  retrief 
excepte ,  n'apporte  qu'une  legere  perturbation  dans  l'oui'e;  mais  apres  l'ablation  de 
l'etrier,  cette  fonction  est  beaucoup  plus  sensiblement  diminuee,  et  eile  disparait 
peu  de  temps  apres.  „Une  remarque  particuliere ,  et  que  je  ne  dois  pas  omettre, 
c'est  que  la  destruction  des  parois  du  vestibule,  de  la  membrane  des  fenetres  ronde 
et  ovale,    bien   qu'elle   n'abolisse  pas  sur-le-champ  l'audition ,   finit  toujours  au  bout 

*)  Die  Ansicht,  daß  es  sich  hierum  reine  Gleichgewichtsstörungen  handelt, 
und  daß  die  Bogengänge  Gleichgewichtsorgane  seien,  wurde  zuerst  von  Goltz  aus- 
gesprochen. 

**)  Experiences  sur  les  c.  s.-c.  de  l'oreille,  dans  les  oiseaux  et  les  mammiferes. 
Joum.  des  Savants  1831,  p.  9—11. 


Tafel  XXV 


M.  J.  P.  FLOURENS 


Purkinje.  411 

d'un  temps  plus  ou  moins  long  par  la  detruire.  L'etrier  est  de  toutes  ces  parties 
celle  dont  la  perte  entrame  le  plus  tard  la  perte  de  l'audition."  —  2)  La  section 
des  canaux  horizontaux  est  suivie  d'un  mouvement  horizontal,  et  la  section  des  canaux 
verticaux ,  d'un  mouvement  vertical  de  la  tete.  p.  480.  La  section  du  'canal  hori- 
zontal est  suivie  d'un  tournoiement  de  l'animal  sur  lui-meme ;  celle  du  canal  vertical 
posterieur,  d'un  mouvement  de  culbute  en  arriere;  et  celle  du  canal  vertical  anterieur, 
d'un  mouvement  de  culbute  en  avant.  Les  mouvements  singuliers  que  determine  la 
section  des  canaux  semi-circulaires  se  reproduisent  donc  dans  les  rnammiferes  comme 
dans  les  oiseaux. 

Anschließend  sollen  hier  einige  experimentelle  Arbeiten  über  den 
Drehschwindel  kurz  besprochen  werden.  Zunächst  die  interessanten, 
mit  den  einfachsten  Mitteln  ausgeführten  Versuche  Purkinjes*). 

Daß  Scheinbewegungen  nach  plötzlicher  Aenderung  der  Kopfhaltung  (Augen- 
schwindel) auftreten,  wurde  schon  vom  älteren  Darwin  in  seiner  Zootomie  erwähnt. 
Purkinje  beobachtete  als  der  erste,  an  sich  selbst  und  an  Wahnsinnigen,  die  im 
Drehstuhl  gedreht  wurden ,  daß  während  des  Drehens  und  beim  Aufhören  der 
Drehung  eine  unwillkürliche,  konvulsivische,  äußerst  schnelle  Bewegung  beider  Augen 
auftritt.  Er  vertrat  die  Ansicht,  daß  diese  „bewußtlose,  subjektive  Bewegung,  aufs 
Objekt  übertragen,  der  Grund  der  Scheinbewegung  sei."  Purkinje  konstatierte 
ferner,  daß  die  Richtung  der  Scheinbewegung  bestimmte  Abänderungen  erfährt, 
wenn  beim  Drehen  des  Körpers  die  Lage  des  Kopfes  verändert  wird.  Als  Ursache 
des  Drehschwindels  betrachtet  er  eine  Zerrung  des  Gehirns  während  der  Drehung. 
Auch  der  galvanische  Schwindel,  wie  er  bei  Durchleiten  eines  galvanischen  Stromes 
durch  beide  Ohren  entsteht,  war  Purkinje  bekannt.  Er  verglich  diese  Beobach- 
tungen mit  den  Versuchen  Flourens'  über  die  Bedeutung  des  Kleinhirns  und  sprach 
die  Ansicht  aus,  daß  bei  Verletzung  und  Wegnahme  verschiedener  Teile  des  großen 
und  kleinen  Gehirns  verschiedene  Formen  von  Richtungsschwindel  erregt  werden, 
die  jene  scheinbar  konvulsivischen  Bewegungen  des  Körpers  als  Versuche,  das  ver- 
lorene Gleichgewicht  wieder  zu  erlangen,  zur  Folge  haben. 

Purkinje  war  daher  der  Zusammenhang  des  Drehschwindels  und  des  hierbei 
auftretenden  Nystagmus  mit  den  bei  raschen  Drehbewegungen  im  Vestibular- 
apparate  ausgelösten  Reizen  unbekannt.  Erst  Mach**)  sprach  sich  klar  dahin 
aus,  daß  der  Drehschwindel  sich  nach  den  bei  den  Fl  oure  ns sehen  Experimenten 
auftretenden  Phänomenen  deuten  lasse.  Im  übrigen  sei  auf  die  Ansicht  Johannes 
Müllers  hingewiesen***),  daß  die  Ampullennerven  die  eigentümliche  spezifische 
Energie  besitzen,  auf  jeden  Reiz  mit  einer  Drehempfindung  zu  antworten. 

Marcus  Herz  vertritt  in  seiner  Schrift  „Versuch  über  den  Schwindel"  (Berlin 
1786,  1791)  die  Ansicht,  daß  der  Schwindel  durch  eine  rasche  Aufeinanderfolge  der 
Vorstellungen  entstehe,  da  zwei  aufeinanderfolgende  Sinneserscheinungen  einen  ge- 
wissen Zwischenraum  erfordern  (vergl.  v.  Stein,  1.  c).    Mach,    der   sich  das  Buch 


*)  Med.  Jahrb.  d.  öst.  St,  Bd.  6,  H.  2 ,  Jahrg.  1820.  -  -  Bulletins  d.  schles. 
Gesellsch.  Breslau  1825  u.  1826.  —  Ein  Referat  findet  sich  auch  in  Rusts  Magazin 
1827,  und  eine  besonders  ausführliche  Darstellung  der  Versuche  in  v.  Steins  „Ohr- 
labyrinth ". 

**)  Physika!.  Versuche   über  den  Gleichgewichtssinn  d.  Menschen.     68.  Bd.  der 
Sitzb.  d.  k.  Akad.  d.  Wiss.  1873. 
***)  1.  c.  4.  Aufl.  1841  —  1844. 


412  Wollaston. 

in  der  Meinung  verschaffte,  er  werde  den  Purk inj  eschen  Versuchen  ähnliche  wert- 
volle Daten  finden,  fand  sich  enttäuscht;  er  sagt:  rK<  enthält  nicht  einen  einzigen 
Versuch  und  ist  überhaupt  ganz  naturphilosophisch  gehalten.  Die  Erklärungen  des 
Verfassers  sind  rein  psychologisch  und  die  Theorie  der  unbewußten  Schlüsse,  welche 
bei  ihm  schon  in  der  Blüte  steht,  kann  geradezu  als  abschreckendes  Beispiel  dienen." 

Johann  Willi.  Ritter  war  der  erste,  der  auf  den  galvanischen  Ohrschwindel 
hinwies,  wobei  er  eine  Tonempfindung  beobachtete,  deren  Hübe  er  auf  g4  bestimmte1). 
Volta  hatte  nur  eine  akustische  Wirkung  bei  der  Einschaltung  der  Ohren  in  seinem 
Vierzigplattenelemente  enthaltenden  Apparat  wahrgenommen.  Purkinje,  der  an- 
läßlich seiner  Drehschwindelversuche  auch  den  galvanischen  Schwindel  studierte,  hatte 
bei  der  Durchleitung  des  elektrischen  Stromes  von  Ohr  zu  Ohr  das  Gefühl ,  als  ob 
er  sich  in  der  Richtung  vom  Kupfer-  zum  Zinkpole  bewegen  würde.  Wurde  der 
.Strom  unterbrochen,  so  trat  der  Schwindel  in  entgegengesetzter  Richtung  auf. 

Franz  v.  P  a  u  1  a  G  r  u  i  t  h  u  i  s  e  n  **)  meinte,  daß  der  „ Muskelsinn "  die  Empfin- 
dungen der  Lage  vermittle  und  daß  auch  das  Schwindelgefühl  auf  diesen  Sinn 
zurückzuführen  sei. 


Untersuchungen  über  Perzeption  hoher  und  tiefer  Töne  und  über 
Schulleitung  durch  die  Kopfknochen. 

Der  Physiker  Wollaston  (1766 — 1828)  machte  die  Beobachtung,  daß  manche 
Schwerhörige  hohe  Töne  besser  perzipieren  als  tiefe.  Er  konnte  auch  an  sich  selbst 
wahrnehmen,  daß  sein  Ohr  bei  Vorhandensein  eines  Schalleitungshindernisses  für 
tiefe  Töne  unempfindlicher  war  als  für  hohe.  Ein  normales  Ohr  jedoch  scheint  nach 
seinen  Untersuchungen  keine  scharfe  Grenze  für  das  Unterscheiden  tiefer  Töne  zu 
haben.  Anders  steht  es  hingegen  mit  den  hohen  Tönen.  Wollaston  bemerkte 
nämlich  bei  einem  Bekannten,  der  sonst  sehr  gut  hörte  und  musikalisch  war,  daß 
dieser  für  den  Ton  einer  kleinen  Pfeife,  der  sich  weit  innerhalb  der  Wahrnehmungs- 
fähigkeit seines  eigenen  Ohres  befand ,  unempfänglich  war.  Er  fand  bei  einer 
normalhörenden  Verwandten .  daß  sie  das  Zirpen  der  Feldgrillen  nie  hören  konnte, 
und  ferner  bei  einem  Manne  mit  normalem  Gehör,  daß  er  sogar  das  Zwitschern  des 
Sperlings  nie  gehört  hatte.  Nach  eingehenden  Untersuchungen  über  die  Perzeption 
hoher  Töne  gelangte  Wollaston  zu  dem  Resultate,  daß  man  plötzlich  eine  höhere 
Note  nicht  zu  hören  vermöge,  während  man  die  vorhergehende  noch  deutlich  gehört 
hat  und  daß  es  sicherlich  Töne  von  großen  Schwingungszahlen  gebe,  für  die  alle 
Ohren  unempfänglich  sind,  eine  Tatsache,  die  auch  durch  neuere  Untersuchungen 
(zuckende  Flammen)  ihre  Bestätigung  erhielt***). 

Er  fand  ferner,  daß  bei  Luftverdünnung  in  der  Trommelhöhle  nach  einem 
Schlingakte  bei  geschlossenen  Nasenöffnungen  (Toynbee'scher  Versuch)  infolge  der 
stärkeren  Spannung  des  Trommelfells  die  Empfindlichkeit  für  tiefe  Töne,  nicht  aber 
für  hohe  Töne  abnahm  j). 


*)  Ueber    die   Anwendung    der    Vo Itaischen    Säule.     Hufelands    Journ.    f. 
prakt.  Heilk.  Bd.  XVII,  1803. 

|  Anthropologie  oder  von  d.  Natur  d.  menschl.  Leb.  und  Denk.  f.  angehende 
Philosoph,  u.  Aerzte.     München  1810. 

**)  On  Sounds  inaudible  by  certains  ears.  Philosoph.  Transact.  p.  306.  1820. 
(Ueber  Töne,  welche  durch  einige  Ohren  nicht  vernommen  werden.  Meckels  Archiv 
Bd.  VIII.  1823.) 

t)  Vergl.  Frorieps  Notiz.  1823. 


Wheatstone.  413 

Was  die  Grenze  anlangt,  bei  der  die  Perzeption  hoher  Töne  erlischt,  so  stellte 
Wollaston  fest,  daß  die  Fähigkeit,  hohe  Töne  zu  hören,  plötzlich  aufhört;  man 
vernimmt  von  zwei  bestimmten,  in  der  Tonleiter  nebeneinander  liegenden  Tönen 
den  einen  noch  und  den  anderen  nicht  mehr.  Nach  Wollaston  erstreckt  sich  der 
Gehörsinn  des  Menschen  auf  ca.  9  Oktaven  (30 — 18000  Schwingungen  in  der  Sekunde). 
Eine  feste  Grenze  für  die  tiefen  Töne  ist  schwer  zu  ermitteln,  da  ein  völlig  nor- 
males Ohr  die  schwingenden  Bewegungen  (z.  B.  einer  Stimmgabel)  selbst  dann 
noch  empfindet,  wenn  die  Vibrationen  zu  einem  bloßen  Zittern  geworden  sind,  die 
sich  beinahe  zählen  lassen. 

Die  Ansichten  anderer  Autoren  über  die  Grenzen  der  wahrnehmbaren  Töne 
divergieren  vielfach.  Nach  C h  1  a d n i  beträgt  die  unterste  Perzeptionsgrenze  30, 
nach  Biot  32,  nach  Savart  16  einfache  Schwingungen.  Als  höchste  Perzeptions- 
grenze ermittelten  Sauveur  12400.  Chladni  48000  einfache  Schwingungen.  Nach 
Despretz  liege  die  Grenze  der  wahrnehmbaren  und  vergleichbaren  Töne  zwischen 
32  und  73000. 

Von  Interesse  ist  der  Vorschlag  Despretz',  die  hohen  Stimmgabeln  von  c4 
bis  c9  zur  Feststellung  der  Zu-  oder  Abnahme  der  Empfindlichkeit  des  Gehörs  bei 
Schwerhörigen  zu  verwenden*). 

Bonnafont  fand,  wahrscheinlich  der  Anregung  Despretz'  folgend,  daß 
bei  Abnahme  der  Sensibilität  des  Hörnerven  das  Ohr  die  Fähigkeit  verliert,  hohe 
Töne  der  Stimmgabel  zu  perzipieren,  während  die  tiefen  Töne  deutlich  gehört 
werden ,  gleichviel  ob  die  Stimmgabel  in  die  Nähe  des  Ohres  oder  bei  stärkerer 
Taubheit  an  verschiedenen  Stellen  des  Schädels  appliziert  wird  **).  Dieser  Stimm- 
gabelversuch bildet  jetzt  noch  ein  wichtiges  diagnostisches  Hilfsmittel  bei  Störungen 
des  Hörnervenapparates. 

Besondere  Beachtung  verdienen  die  physiologischen  Versuche  und 
Beobachtungen  derjenigen  Autoren,  die  sich  eingehend  mit  der  Schall- 
leitung durch  die  Kopfknochen  befaßten. 

Von  dem  Engländer  Wheatstone  erschien  in  dem  „Quarterly 
Journal  of  science"  (1827,  p.  67)***)  eine  kurze  Abhandlung  über  einige 
von  ihm  ausgeführte,  die  Physiologie  des  Hörens  betreffende,  sehr  inter- 
essante Versuche,  der  wir  folgendes  entnehmen. 

Verschließt  man  die  Oeffnung  des  Gehörgangs  mit  dem  Finger,  so 
wird  die  Perzeption  der  von  außen  kommenden  Töne  bedeutend  ver- 
mindert, während  die  eigene  Stimme  um  vieles  lauter  gehört  wird  1). 

Besonderes  Interesse  jedoch  verdient  folgendes  Phänomen ,  weil  in 
ihm  die  Idee  des  Web  ersehen  Versuches  bereits  klar  ausgesprochen 
erscheint,  wenn  auch  Weber  unstreitig  das  Verdienst  gebührt,  als  erster 
auf  die  Verwendung  dieses  Versuches  zur  Diagnose  der  Gehörerkran- 
kungen hingewiesen  zu  haben:  Wird  der  Stiel  einer  klingenden  Stimm- 
gabel an  irgend  einen  Teil  des  Kopfes  angesetzt,  während  die  Ohr- 
öffnungen verschlossen  sind,  so  wird  die  Perzeption  des  Stiinmgabeltones 


*)  Acad.  des  sciences  1846. 

**)  Im  Courrier  francais  7.  mai  1845.    Vergl.  Frorieps  Notizen,  Jahrg.  1*45. 
Prorieps  Notizen  Nr.  6  des  XIX.  Bds.,  1827. 


4 1  |  E.  H.  Weber. 

bedeutend  verstärkt.  Wird  nur  eine  Ohröffnung  mit  dem  Finger  ver- 
schlossen, so  glaubt  man  den  Ton  vorzugsweise  mit  dem  ver- 
schlossenen Ohre  zu  hören2).  Wheatstone  erklärt  diese  Ver- 
stärkung der  Tonempfindung  dadurch,  daß  die  im  äußeren  Gehörgange 
eingeschlossene  Luft  ihre  Schwingungen  lange  fortsetze.  Endlich  er- 
wähnt Wheatstone,  daß  man  beim  Vorwärtsbewegen  der  Ohrmuschel 
die  hohen  Töne  intensiver  höre,  während  die  Perzeption  der  tiefen  Töne 
hierbei  unverändert  bleibt. 

])  If  the  band  be  placed  so  as  to  cover  the  ear,  or  if  the  entrance  of  the  meatus 
auditorius  be  closed  by  the  finger  without  pressure,  the  pereeption  of  external  sounds 
will  be  considerably  ditninished ,  but  the  sounds  of  the  voiee  produced  internally 
will  be  greatly  augmented.  —  2)  Placing  the  eondueting  stem  of  a  sounding  tuning- 
fork  on  any  part  of  the  head,  when  the  ears  are  closed  as  above  described,  a 
siniular  augmentation  of  sound  will  always  be  observed.  When  one  ear  remains 
open,  the  sound  will  always  be  referred  to  the  closed  ear. 

Im  selben  Jahre,  wie  die  Abhandlung  Wheatstones,  erschien  ein  Aufsatz 
Tourtuals*),  der  zu  demselben  Resultate  gelangt.  Tourtual  benützte  zu  seinen 
Versuchen  anstatt  der  Stimmgabel  die  Taschenuhr.  Er  äußert  sich  hierüber  folgen- 
dermaßen:  „Man  lege  eine  Taschenuhr  in  die  Mundhöhle,  so  daß  sie  mit  beiden 
Zahnreihen  in  Berührung  tritt,  bemerke  sich  nun  die  Stärke  des  hörbaren  Schlages 
und  bringe  alsdann  beide  Zeigefinger  in  die  äußeren  Gehörgänge,  so  wird  der  Schlag 
der  Uhr  viel  lauter  gehört.  Zieht  man  jetzt  beide  Zeigefinger  zurück  und  führt  bloß 
den  einen  in  das  rechte  Ohr.  so  scheint  der  Schlag  der  Uhr  sich  allmählich  zu  diesem 
Ohre  hinzuziehen,  und  dies  umsomehr,  je  tiefer  der  Finger  in  den  äußeren  Gehör- 
gang eindringt,  so  daß  nun  der  Schall  mehr  in  der  Richtung  rechtsher  vernommen 
wird.  Der  umgekehrte  Fall  tritt  bei  Verstopfung  des  linken  Gehörgangs  ein." 
(Zitiert  nach  v.  Steins  Literatur  der  Anatomie  und  Physiologie  d.  Ohres.  Moskau 
1890,  p.  23.) 

Ernst  Heinrich  Weber,  am  24.  Juni  1795  zu  Wittenberg  geboren, 
1815  daselbst  zum  Doktor  promoviert,  habilitierte  sich  1817  zu  Leipzig, 
wo  er  1818  die  außerordentliche  Professur  für  vergleichende  Anatomie, 
1821  die  ordentliche  Professur  der  Anatomie  und  Physiologie  erhielt. 
Im  Jahre  1866  verzichtete  er  auf  die  Professur  der  Physiologie,  im 
Jahre  1871  auch  auf  die  der  Anatomie  und  starb  am  26.  Juni  1878. 

Aus  seinen  zahlreichen  anatomischen  und  physiologischen  Abhand- 
lungen kommen  für  unser  Fach  in  Betracht:  die  grundlegende  Arbeit 
„Wellenlehre  auf  Experimente  gegründet  oder  über  die  Wellen  tropf- 
barer Flüssigkeiten  mit  Anwendung  auf  die  Schall-  und  Luftwellen'' 
(Leipzig  1825)  im  Verein  mit  Ed.  Weber.  Ferner  „Annotation es  ana- 
tomicae  et  physiologicae ;  programmata  collecta"  **),  und  die  Abhandlung 


*)  Die  Sinne   des  Menschen  u.  d.  wechseis.  Beziehungen  ihres  phys.  u.  organ. 
Lebens  etc.     Münster  1827. 

**)  Prol.  IV,  1829  und  De  pulsu,  resorptione,  auditu  et  tactu.  Lipsiae  1834.  p.  25. 


Tafel  XXVI 


ERNST  HEINRICH  WEBER 


E.H.Weber.  415 

-De  utilitate  Cochleae  in  organo  auditus".  Seine  Anatomie  des  Gehör- 
organs in  dem  Hildebrandschen  Handbuch  der  Anatomie  des  Menschen. 
1832,  kann  noch  jetzt  mit  Nutzen  gelesen  werden. 

In  dem  Schriftchen  „De  utilitate  Cochleae  in  organo  auditus"  gerät  E.  H.  Weber 
bezüglich  der  Funktion  der  Schnecke  sowohl  mit  den  älteren  als  auch  mit  den  modernen 
Anschauungen  in  Widerspruch.  Er  bestritt  die  Ansicht  Autenrieths  und  Kerner-, 
die  die  Schnecke  als  Organ  zur  Perzeption  der  Klangfarbe  bezeichneten  (S.  401). 
und  ebenso  die  Anschauung  Valsalvas  (S.  238),  der  die  Perzeptionsfähigkeit  der 
einzelnen  Windungen  der  Schnecke  für  verschiedene  Töne  abgrenzt,  und  kommt 
zu  dem  irrigen  Schlüsse,  daß  die  durch  den  äußeren  Gehörgang  durch  die  Luft 
zugeleiteten  Schallwellen  von  den  membranösen  Gebilden  des  Vorhofs  und  der 
Bogengänge  perzipiert  werden,  während  die  Schnecke  vorzugsweise  der  Perzeption 
der  dem  Ohre  durch  die  Kopfknochen  zugeleiteten  Schallwellen  diene. 

Studebo  igitur  probare,  sonos  per  ossa  capitis  ad  auditum  propagatos  potis- 
simum  Cochleae  ope  audiri,  sonos  autem  per  meatum  auditorium  externum  ad  auditum 
perductos  a  vestibulo  membranaceo  et  a  canalibus  semicircularibus  membranaceis 
vestibulo  adiunctis  facilius  quam  a  Cochlea  percipi.     1.  c.  p.  9. 

Was  den  in  der  Otiatrie  eingebürgerten  „Weberschen  Versuch"  anlangt,  so 
stimmen  die  von  AVeber  angestellten  Untersuchungen  mit  denen  Wheatstones 
überein,  doch  muß  als  bestimmt  angenommen  werden,  daß  die  Arbeit  des  letzteren 
Weber  unbekannt  war.  Webers  Angaben  über  diesen  Versuch  lassen  sich  im 
folgenden  zusammenfassen. 

Versehließt  man  beide  Ohren  fest  mit  den  Händen,  so  wird  die  eigene  Stimme 
stärker  gehört  als  bei  offenen  Ohren.  Wird  bloß  ein  Ohr  verschlossen,  so  hört  man 
die  eigene  Stimme  auf  diesem  Ohre  viel  stärker  als  auf  dem  offenen.  Dasselbe 
Resultat  erhält  man,  wenn  man  eine  schwingende  Stimmgabel  auf  den  Scheitel  auf- 
setzt, wobei  der  Ton  ausschließlich  in  dem  Ohr  perzipiert  wird,  dessen  äußere  Ohr- 
öffnung mit  dem  Finger  verschlossen  wird. 

Si  vero  alterutram  aurem  manu  firmiter  occludimus,  vocemque  emittimus. 
certissime,  sentimus  vocem  ab  aure  occlusa  multo  melius  et  fortius  audiri  quam  ab 
aure  aperta. 

Si  styluni  furcae  musicae  oscillantis,  sonum  non  nimis  acutum  edentis,  ad 
dentes  apprimimus  et  os  quantum  id  fieri  potest,  labiis  et  lingua  occludimus,  aures- 
que  simul  vel  manibus  ad  aures  appressis,  vel  digito  in  meatum  auditorium  immisso 
claudimus,  furcae  sono  vehementius  percellimur  quam  auribus  apertis.  Si  altera 
auris  clausa,  altex-a  aperta  est,  sonum  in  aure  clausa  fortiorem  quam  in  aure  aperta 
audimus.  Idem  tum  adeo  observamus,  si  dextram  aurem  claudimus  et  styluni  furcae 
musicae  oscillantis  ad  cutim  tempora  sinistra  tegentem  apprimimus;  sie  enim,  etsi 
furca  musica  oscillans  auriculae  sinistrae  et  meatui  auditorio  proxima,  ab  aure 
dextra  vero  valde  remota  est,  tarnen  effectum  multo  vehementiorem  hac  aure,  quam 
in  aure  sinistra  habet,  et  vice  versa.  Apparet  vero  sonum  in  hoc  experimento  neque 
per  meatum  auditorium,  neque  per  tubam  Eustachii,  sed  tantum  per  ossa  capitis  ad 
labyrinthum  perferri,  et  tum  vehementius  audiri,  si  meatus  auditorius  aurium  clausus 
est.  Hie  effectus  vehementior  in  clausas  aures  admirationem  quidem  movet,  quia 
facile  crederes,  fore  ut  vis  soni  per  ossa  capitis  reeepti  augeatur,  si  idem  sonus 
simul  per  meatum  auditorium  aditum  habet,  at  tarnen  non  plane  repugnat,  suspicari 
enim  licet  meatu  auditorio  clauso  aut  mutationem  aliquam  auris  fieri,  qua  labyrinthus 
aptior  reddetur  ad  sonos  per  ossa  cranii  propagatos  reeipiendos,  aut  duos  sonos 
diversa  via,  per  ossa  cranii  scilicet  et  per  meatum  auditorium,  ad  labyrinthum  per- 


41ti  Polansky 

venientes  se  invicem  tollere.  Quod  illani  explicationem  attinet  soni  vis  v.  c.  per 
resonantiam,  forsitan  ab  ue're  in  tympano  et  in  meatu  auditorio  contento  profeetam, 
ri  fortasse  potest,  si  auris  clausa  est. 
Weiter  meint  also,  durch  Verschluß  des  äußeren  Gehörgangs  gehe  eint-  Ver- 
änderung des  Ohres  in  der  Weise  vor  sich,  daß  das  Labyrinth  zur  Wahrnehmung 
der  durch  Knochenleitung  fortgepflanzten  Töne  geeigneter  wird,  oder  daß  vielleicht 
zwei  Töne,  die  auf  verschiedenen  Wegen  (Knochen-  und  Luftleitung)  zürn  Labyrinth 
gelangen,  sich  gegenseitig  schwächen.  Er  gibt  aber  auch  zu,  daß  der  Stinimgabelton 
durch  die  Resonanz  im  Gehörgange  und  der  Trommelhöhle  verstärkt  wird. 

Weber  war  ein  Gegner  der  Hypothese  von  den  Schneckensaiten,  da  er  diese 
in  der  Lamina  spiralis  nicht  auffinden  konnte.  Er  hielt  die  Spiralplatte  vielmehr 
für  ein  kompaktes  Gebilde  und  verglich  sie  mit  dem  Resonanzboden  eines  Klavi- 
chords, der  ohne  jede  Formveränderung  bei  allen  Tönen  in  Schwingungen  gerät 
und  dadurch  die  Töne  verstärkt. 

Die  Beobachtung,  daß  manche  Schwerhörige  eine  auf  den  Schädel 
aufgesetzte  Stimmgabel  auf  dem  schwerhörigen  Ohr  stärker  perzipieren 
als  auf  dem  normalen,  erweckte  in  Weber  die  Ueberzeugung,  die  Stimm- 
gabel werde  in  Zukunft  zur  Diagnose  gewisser  Höraffektionen  angewendet 
werden.  Zu  diagnostischen  Zwecken  finden  wir  diesen  Versuch  bereits 
bei  Bonnafont*)  und  Schmalz**). 

Der  Wiener  Arzt  Pol  ansky :;:::::;:)  bediente  sich  in  allen  Fällen  von  hoch- 
gradiger Schwerhörigkeit  der  Taschenuhr  als  „Akuometer",  die  er  auf  den  Warzen- 
fortsatz ,  die  Stirne  oder  Zähne  des  Patienten  auflegte .  um  den  Grad  der  Empfind- 
lichkeit des  Hörnerven  für  „Kopfknockenschallwellen"  zu  bestimmen.  Bei  leicht- 
gradiger  Hörstörung  verwendete  er  einen  Stab,  an  dem  eine  verschiebbare  Taschen- 
uhr angebracht  war  und  an  dem  eine  Marke  die  Entfernung  bezeichnete,  von  der 
ein  Normalhörender  die  Uhr  perzipieren  konnte,  wenn  er  bei  verstopften  Gehör- 
gängen das  eine  Imde  des  Stabes  mit  den  Zähnen  gefaßt  hatte. 

Die  gefundene  Entfernung  diente  ihm  als  Maßstab  der  verminderten  Hör- 
fähigkeit für  „ Kopfknochenschallwellen''.  Er  verglich  auch  den  Grad  der  Empfind- 
lichkeit gegen  „Kopfknochenschallwellen"  mit  dem  gegen  „Luftschallwellen'',  ob  beide 
relativ  vermindert  wären  oder  ob  nicht  der  eine  weiter  vom  normalen  Zustande  ab- 
stehe als  der  andere.  In  diesen  Ausführungen  Po  1  ansky s  ist  somit  die  Idee  des 
sogenannten  Rinn  eschen  Versuches  enthalten. 

Hier  wären  noch  einige  auf  die  Kopfknochenleitung  bezügliche,  interessante 
Beobachtungen  zu  erwähnen.  Perierf)  beobachtete  an  Patienten,  deren  Schädel 
trepaniert  worden  war.  daß  sie  bei  hermetisch  verschlossenen  Ohren  vermittels  der 
Trepanationsnarbe  das  Gesprochene  verstehen  konnten.  Waren  die  Ohren  ver- 
schlossen und  wurde  die  Trepanationsnarbe  mit  der  Hand  bedeckt,  so  hörten  die 
Kranken  nicht. 


;j  Emploi  du  diapason  dans  le  traitement  des  AfFections  de  l'organe  de  l'oüie. 
Coinpt.  rend.  d.  l'Acad.  d.  Sciences  1845,  T.   XX. 

|  Erf.  üb.  d.  Krankh.  d.  Gehörs  u.  ihre  Heilung,  1846,  u.  Ueber  Benützung 
d.  Stimmgabel  z.  Unterscheid,  d.  nervösen  Schwerhörigkeit  von  einer  durch  Verstopfung 
herrührenden.     Beitr.  z.  Gehör-  u.  Sprachheilk.     Leipzig  1848,  III,  p.  32. 

i  Grundriß  zu  einer  Lehre  von  den  Ohrenkrankheiten.     Wien  1842. 
f)  Ref.  in  Frorieps  Notizen,  Jahrg.  1834. 


Literatur.  417 

Swan*)  beschreibt  einen  Fall  von  beiderseitiger  angeborener  Mißbildung  der 
Ohrmuschel  und  Atresie  beider  Gehörgänge  bei  einer  36jährigen  Patientin.  Das  Mädchen 
fing  erst  mit  8  Jahren  zu  sprechen  an  und  sprach  mit  12  Jahren  gut.  Hörweite  für 
Konversationssprache  6 — 7  Fuß.  Uhr  durch  Knochenleitung  gehört.  Die  Annahme 
Swans,  daß  in  diesem  Falle  das  Hören  durch  den  N.  facialis  vermittelt  wurde,  ist 
eine  irrige,  da  hier  offenbar  bei  intaktem  Mittelohr  und  Labyrinth  der  Schall  durch 
die  Kopfknochen,  zum  Teil  auch  durch  die  Ohrtrompete  zum  Perzeptionsorgan  gelangte. 

Bellinge ri,  Physiologische  Reflexionen  über  die  Struktur  und  Lage  der 
Gehör-  und  Gesichtsorgane.  In  den  Denkschr.  d.  Akad.  d.  Wissensch.  in  Turin  1839. 
—  Biot,  Precis  elementaire  de  physique  experimentale.  Paris  1824.  T.  I.  —  Le 
Baron  Cagniard  de  la  Tour,  Sur  la  Sirene,  nouvelle  machine  d'acoustique  destinee 
ä  mesurer  les  vibrations  de  l'air  qui  constituent  le  son.  Ann.  de  Chim.  et  de  Phys. 
1819,  T.  XII.  —  Chladni,  Die  Akustik.  Leipzig  1802.  —  Derselbe,  Ueber  Töne 
bloß  durch  schnell  aufeinander  folgende  Stöße,  ohne  einen  klingenden  Körper. 
Poggendorfs  Ann.  d.  Phys.  u.  Chem.  1826,  Bd.  VIII.  —  Derselbe,  Neue  Beiträge 
zur  Akustik.  Leipzig  1817.  —  Derselbe,  Bemerkungen  über  die  Töne  einer  Pfeife 
in  verschiedenen  Gasarten.  Voigts  Magazin  1798,  Bd.  I.  —  Derselbe,  Ueber 
Longitudinalschwingungen  der  Saiten  und  Stäbe.  Nebst  beigefügten  Bemerkungen 
über  die  Fortleitung  des  Schalles  durch  feste  Körper  Voigts  Magazin  f.  den  neuest. 
Zust.  der  Naturk.  Jena  1797,  Bd.  I  —  Derselbe,  Remarques  concernant  le  Memoire 
de  M.  Savart  sur  la  Communication  des  mouvements  vibratoires  entre  les  corps 
solides,  imprime  dans  les  Ann.  d.  Ch.  et  d.  Ph.  1820,  T.  IV.  Annal.  de  Chim.  et  de 
Physique  1822,  T.  XX.  ■ —  Derselbe,  Resultats  des  experiences  faites,  par  ordre  du 
Bureau  des  Longitudes,  pour  la  determination  de  la  vitesse  du  son  dans  Fatmosphere. 
Ann.  de  Chim.  et  de  Physique  1822,  T.  XX.  —  Cordier.  Sur  la  possibilite  d'imprimer 
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opere  chez  Rodolphe  Grivel  et  chez  plusieurs  autres  enfans  sourds-muets  de  naissance. 
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1804.  —  Derselbe,  Bemerkungen  über  die  Fortpflanzung  des  Schalles.  Ann.  de 
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*)  Med.  chir.  Transactions,  Vol.  XI,  p.  330.  Ref.  in  Meckels  Archiv  1822,  Bd.  7. 
Politzer,  Geschichte  der  Ohrenheilkunde.    I.  2"i 


418  Literatur. 

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Untersuchungen  über  Schall  und  Licht.  Bearbeitet  von  Vieth  f.  Gilberts  Annalen 
d.  Physik  1806,  Bd.  XXII. 

Uebersicht  der  pathologisch-anatomischen  Befunde 
im  Gehörorgane  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts. 

Die  pathologische  Anatomie,  die  sich  erst  gegen  Ende  dieser 
Periode  als  selbständige  Disziplin  entwickelt,  läßt  eine  zusammenfassende 
Bearbeitung  der  pathologischen  Anatomie  des  Gehörorgans  vollständig 
vermissen. 

Selbst  die  grundlegenden  Werke  Cruveilhiers  und  Rokitanskys 
enthalten  nichts  Bemerkenswertes  über  das  Gehörorgan.  Wir  können 
daher  nur  über  eine  Anzahl  pathologisch-anatomischer  Einzelbefunde  be- 


Pathologische  Anatomie  des  Ohres  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts.     419 

richten,  die  sich  in  der  Literatur  dieses  Zeitraumes  zerstreut  finden.  Am 
zahlreichsten  sind  auch  hier  wieder  Mitteilungen  über  Bildungsano- 
malien  des  äußeren  Ohres. 

So  beschreibt  Puskal1)  den  vollständigen  Mangel  der  Ohrmuschel  und  des 
Processus  mastoideus  bei  einem  neugeborenen  Kinde,  Löffler  (s.  S.  316)  eine  Spalt- 
bildung in  der  Ohrmuschel  (Coloboma  auriculae) ;  Heusinger2)  einen  Fall  mit  voll- 
ständig fehlendem  äußeren  Ohr  und  mannigfach  mißbildeten  Schläfebeinen  bei  einem 
nach  der  Geburt  verstorbenen  Mädchen.  Steinmetz3)  sah  einen  Fall  von  gänz- 
lichem Mangel  des  äußeren  Ohres  bei  einem  18  Monate  alten  Knaben,  Wiedemeyer  ') 
ein  Rudiment  eines  äußeren  Ohres  und  Gehörgangs  bei  einem  18jährigen  Jüngling. 
Cooper5)  berichtet  von  einem  Kinde,  bei  dem  beiderseits  keine  Spur  eines  äußeren 
Ohres  vorhanden  war.  Mussey6)  beobachtete  einen  27jährigen  Mann  mit  kongeni- 
taler Mißbildung  beider  Ohrmuscheln  und  vollkommenem  Mangel  der  äußeren  Gehör- 
gänge. Die  Sondierung  der  Tuba  Eustachii  mißlang.  Trotz  dieser  Mißbildung  soll 
das  Gehör  angeblich  durch  Vermittlung  der  Kopfknochen  erhalten  gewesen  sein. 
Ueber  Defekte  der  Ohrmuschel  oder  des  Gehörgangs  mit  erhaltenem  Gehör  berichten 
ferner:  Hohl7),  Vannoni8),  Lincke9),  Cooper10),  Walther11),  Jäger12). 

Distopie  der  Ohrmuschel  beschreiben  Dzondi 13)  und  Meckel14).  Bram- 
ley15)  erwähnt  eine  eigentümliche,  nur  in  Nepal  vorkommende  Geschwulst  des  Ohr- 
läppchens (Atherom). 

Das  ganze  Gehörorgan  betreffende  Mißbildungen  schildert  ausführlich  Carl 
Langer16).  Seine  Untersuchungen  betreffen  die  Synotie  bei  Doppelmißbildungen 
und  die  Verdoppelung  der  Schläfenbeine  bei  einköpfigen  Doppelmißgeburten. 

Andere  Mitteilungen  über  Verschmelzung  der  Gehörorgane  doppelköpfiger 
Mißgeburten  bringen  Heyland17),  Zschokke18).  Schilderungen  über  hochgradige 
Verbildung  der  Gehörorgane  bei  Monstren  finden  sich  bei  Hesselbach 19),  Tiede- 
mann20)  und  Hyrtl  (S.  392). 

Ueber  pathologisch-anatomische  Veränderungen  des  Trommelfells  liegen 
nur  spärliche  Mitteilungen  vor.  Rosental21)  fand  bei  der  Sektion  eines  Taubstummen 
das  Trommelfell  getrübt  und  verdickt.  Den  von  Elsässer22)  mitgeteilten  Fall 
von  kongenitalem  Defekt  beider  Trommelfelle  deutet  Schwartze*)  als  einen  durch 
Krankheit  verursachten  Verlust  des  Trommelfells.  Pseudomembranen  im  äußeren 
Gehörgange  beobachteten  Köhler23),  Saunders24),  Stevenson25),  Maunoir26), 
üaillie27).  Bernard28)  sah  einen  Fall  von  Pseudogehörgang,  der  hinter  dem 
natürlichen  Gehörgang  in  der  Gegend  des  Warzenfortsatzes  lag. 

Die  Beobachtungen  über  pathologische  Anatomie  des  Mittelohrs  beschränken 
sich  im  wesentlichen  auf  zufällige  bei  den  Sektionen  erhobene  Befunde.  Zu  den 
häufigeren  zählt  die  Ankylose  der  Gehörknöchelchen.  Huschke29)  schildert  die 
Verwachsung  des  Hammerkopfes  mit  dem  Trommelhöhlendach.  Ankylose  des 
Steigbügels  im  Vorhofsfenster  wird  von  Bonnafont30)  in  der  Einleitung 
zu  seinem  Werke  erwähnt.  Zwei  ähnliche  Fälle  bei  Taubstummen  beobachtete 
Huschke31),  einen  weiteren  Hyrtl 32).  Erwähnenswert  sind  auch  die  Beobachtungen 
Ottos33)  und  Hyrtls34)  über  die  Verschmelzung  der  Gehörknöchelchen  bei  der 
Synotie  der  Doppelmißbildungen.  Mangel  aller  oder  einzelner  Gehörknöchelchen 
finden  sich  öfter  verzeichnet;  Mangel  aller  Gehörknöchelchen  bei  Otto  (a.  a.  0.), 
Fehlen  des  Stapes  bei  Deleau35),  des  Os  lenticulare  bei  Bochdalek3")  (a.  a.  O.) 
und  Hyrtl.    Ueber  den  Verlust  aller  Gehörknöchelchen  durch  Karies  berichten 


*)  Patholog.  Anatomie  des  Ohres  im  Handbuch  d.  pathol.  Anatomie  von  Klebs. 


420     Pathologische  Anatomie  des  Ohres  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts. 


Wolf37)  und  Vlodorp S8),  über  den  des  Amboßes  allein  Blosfeld39).  Fehlen 
aller  Binnenmuskeln  des  Ohres  fand  Hesselba  eh.  Fehlen  des  M.  stapedius 
in  zwei  Fällen  und  des  Tensor  tympani  in  einem  Falle  Hyrtl  (a.  a.  0.). 

Nicht  selten  wurde  Verengerung  oder  gänzlicher  Verschluß  des  runden  Fensters 
beobachtet,  so  von  Vieussens 40),  Nuhn41),  Scha  llgr  über 42),  Ribes43), 
Huschke44),  C'ock45).  Meniere46).  Hierher  ist  vielleicht  auch  der  von  Fleisch- 
mann47) beschriebene  Fall  von  Osteosklerose  des  Schläfebeins  bei  einem  Taub- 
stummen zu  rechnen. 

Die  Kenntnis  der  Karies  und  Nekrose  des  Felsenbeins  wurde  seit 
Petit  (S.  322)  nicht  wesentlich  gefördert.  Schmalz4*)  fand  bei  zwei  Präparaten 
mit  Karies  „eine  außerordentliche  Dichtheit  des  Warzenfortsatzes ".  Hamernjk*) 
beobachtete  intra  vitam  Fälle  von  Fazialisparalyse  oder  Parese  im  Verlaufe  von  Tuber- 
kulose, bei  denen  sich  post  mortem  der  Fazialkanal  in  größerer  oder  geringerer 
Ausdehnung  durch  Karies  zerstört  fand. 

Die  am  Warz  enf  ortsatze  beschriebenen  Veränderungen  sind  entweder 
kariöser  Natur  (s.  o.)  oder  es  handelt  sich  um  den  sklerotischen  Warzenfortsatz, 
der  nach  unserer  jetzigen  Kenntnis  häufig  als  anatomische  Varietät  vorkommt. 
Meckel49)  beschreibt  einen  vom  Schläfebein  vollständig  getrennten  Warzenfortsatz, 
offenbar  entstanden  durch  Ausbleiben  der  Verschmelzung  mit  den  anderen  Ossifika- 
tionszentren des  Schläfebeins. 

Spärlich  sind  die  Berichte  über  pathologisch-anatomische  Veränderungen  des 
Tubenknorpels.  Otto50)  beschreibt  einen  Fall  von  totaler  Verwachsung  der 
Pharyngealrnündung  der  Tube  ohne  weitere  Begründung.  Die  häufigste  Ursache  der 
Tubenerkrankung  will  er  in  der  Verstopfung  derselben  mit  Schleim  und  in  der  An- 
sammlung einer  dicklichen,  klaren,  gallertartigen  Masse  in  der  Paukenhöhle  und  im 
Labyrinth  gefunden  haben51).  Lincke52)  zitiert  einen  von  Lusardi  beschriebenen 
Fall,  betreffend  eine  große,  die  Tubenmündung  verschließende  Exostose  der  Nasen- 
scheidewand. Ferner  wurden  bei  alten  Leuten  Verkalkungen53)  und  Verknöche- 
rungen54) des  Tubenknorpels  gefunden. 

Die  pathologische  Anatomie  des  Labyrinthes,  deren  weitere  Ausgestaltung 
eist  in  die  zweite  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  fällt,  umfaßte  hauptsächlich  eine  Reihe 
makroskopischer  Befunde,  welche  meist  an  den  Leichen  Taubstummer  erhoben 
wurden,  lieferte  doch  das  Gehörorgan  Taubstummer  das  hauptsächlichste  Material 
für  die  pathologisch-anatomische  Untersuchung  bis  über  die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts. 
In  dem  von  Meniere  (s.  o.)  mitgeteilten  Falle  von  Taubstummheit  bestand 
neben  Verschluß  des  runden  Fensters  eine  hochgradige  Mißbildung  der  Schnecke,  in 
der  die  Lamina  spiralis  nur  l*/a  Windungen  machte.  Er  fand  ferner  in  zwei  Fällen 
das  Vestibulum,  in  dem  die  Labyrinthflüssigkeit  fehlte,  auf  die  Hälfte  seiner  normalen 
Größe  reduziert ;  in  einem  anderen  Falle  den  oberen  Bogengang  obliteriert,  bei  einem 
weiteren  den  Acusticus  atrophisch. 

Mürer55)  beschreibt  das  Gehörorgan  eines  11jährigen  Knaben,  der  infolge 
einer  fieberhaften  purulenten  Otitis  im  zweiten  Lebensjahre  das  Gehör  verlor.  Die 
Sektion  ergab:  Die  halbzirkelförmigen  Kanäle  fehlten,  nur  ihre  Mündungen  waren 
vorhanden.  Die  Stelle  der  Bogengänge  wurde  durch  pneumatische  Zellen  einge- 
nommen. Mürer  glaubt,  daß  es  sich  hier  um  kongenitale  Veränderungen  und 
durch  sie  verursachte  Taubstummheit  handle.  Platner60),  der  diesen  Fall  ebenfalls 
erwähnt,  glaubt,  daß  die  pathologischen  Veränderungen  durch  eine  vorhergegangene 
Labyrintheiterung   bedingt  gewesen   seien.     Thurnam56)  fand  bei  der  Sektion  des 


")  Zeitschr.  d.  Gesellsch.  d.  Aerzte  zu  Wien.     I.  Jahrg.,  6.  Heft,  1841. 


Pathologische  Anatomie  des  Ohres  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts.     421 


Gehörorgans  eines  Taubstummen  den  horizontalen  Bogengang  an  einer  Stelle  unter- 
brochen und  im  Vorhofe  eine  kleine  kalkartige  Inkrustation.  Eine  genauere  Unter- 
suchung des  Gehörorgans  eines  taubstummen  Mädchens  lieferte  Dr.  Mansf  el  d  :'7). 
Das  Trommelfell  verlief  nahezu  horizontal  und  war  mit  einer  dicken  geröteten 
Schleimhaut  bedeckt.  Der  Steigbügel  war  mißbildet,  seine  Platte  mit  dem  Rande 
der  Fenestra  vestibuli  verwachsen.  Die  Tube  war  verengt,  der  Steigbügelmuskel 
von  sehniger  Beschaffenheit,  der  Tensor  tympani  war  nicht  vorhanden.  Die  beiden 
Säckchen  mit  den  häutigen  Bogengängen  fehlten  vollständig.  Die  Scala  tympani 
öffnete  sich  in  den  Vorhof. 

Defekte  der  Bogengänge  werden  häufig  beschrieben,  so  von  Cock  (1.  c.) 
zwei  Fälle  von  partiellem  Defekt  zweier  Bogengänge.  Aehnliche  Befunde  bei  Taub- 
stummen liefern  S  c  h  a  1 1  g  r  u  b  e  r 58)  und  Bochdalek  (1.  c).  In  Bochdaleks  Falle 
fehlten  rechts  alle  drei  Bogengänge ;  ihre  Mündungen  waren  durch  seichte  Grübchen 
angedeutet.  Links  waren  die  Schenkel  des  oberen  und  hinteren  Bogengangs  nicht 
zum  Crus  commune  vereinigt,  sondern  endigten  blind  als  zwei  enge  Röhrchen. 

Cock*)  faßt  das  Ergebnis  seiner  Untersuchungen  an  den  Gehörorganen  der 
im  Asylum  for  Deaf  and  Dumb  verstorbenen  taubstummen  Kinder  folgendermaßen 
zusammen  :  1.  Granulationen,  welche  die  Trommelhöhle  mehr  oder  minder  vollkommen 
ausfüllten,  die  Gehörknöchelchen  einhüllten  und  in  die  Eustachische  Trompete,  die 
Cellulae  mastoideae  und  die  Fenestra  Cochleae  hineinwucherten.  2.  Mangel  der 
Fenestra  Cochleae.  3.  Partieller  oder  vollkommener  Mangel  der  Spiralkanäle  der 
Cochlea.  4.  Ungewöhnliche  Erweiterung  des  Aquaeductus  vestibuli.  5.  Mangel  der 
halbzirkelförmigen  Kanäle.     6.  Abnorme  Festigkeit  und  Härte  des  Schläfebeins. 

In  einem  anderen  von  Bochdaleks**)  Fällen  zeigte  das  Labyrinth  außer 
vollständigem  Mangel  der  beiden  Wasserleitungen  keine  Anomalie.  Bochdalek 
erwähnt  noch  besonders  die  Atrophie  des  Acusticus  bei  Taubstummen  und  will  in 
den  meisten  Fällen  eine  besondere  Stärke  des  N.  intermedius  beobachtet  haben.  Auch 
Römer***)  und  besonders  Hyrtlf)  brachten  sehr  genaue  Sektionsbefunde  Taub- 
stummer, die  sich  im  wesentlichen  mit  den  angeführten  Resultaten  decken.  Beson- 
deres Interesse  beanspruchen  die  Befunde  über  Labyrinth eiterung. 

Biechy  und  Batissier59)  beschreiben  eine  klinisch  beobachtete  primäre 
akute  Labyrinthentzündung,  die  auch  durch  einen  nicht  klar  geschilderten  Sektions- 
befund festgestellt  worden  sein  soll. 

Ueber  Labyrintheiterung  finden  sich  in  der  Literatur  zwei  nicht  zu  be- 
zweifelnde Fälle  beschrieben,  der  eine  von  Platner00),  den  ich  bereits  in  meiner 
Arbeit  „ Labyrinthbefunde  bei  chronischen  Mittelohreiterungen"  (A.  f.  ().  Bd.  LXY)  zitiert 
habe,  der  andere  von  Willemi  er 61),  der  im  Sektionsbericht  kurz  und  eindeutig 
sagt:  „Meatus  auditorius  internus  pus  continet.  Item  canalis  semieircularis  et  superior 
et  horizontalis  sicuti  pars  Cochleae  inferior  pure  impleta.  Membrana  fenestrae  ovalis 
deleta  et  membrana  tympani  perforata  cernitur". 

Hier  wäre  auch  ein  von  Grisolle02)  beobachteter  Fall  zu  erwähnen.  Nach 
3  Jahre  dauernder  Mittelohreiterung  trat  zugleich  mit  dem  Sistieren  der  Eiterung, 
Kopfschmerz,  Gesichtslähmung  ohne  Beteiligung  des  Gaumensegels  und  vollständige 
Taubheit  des  erkrankten  Ohres  ein.  Patient  erkrankte  später  an  Variola  und  starb. 
Bei    der  Sektion   fand   man  einen  Tuberkel  (Cholesteatom?)  im  Felsenbein,   der  bis 


*)  Frorieps  Notizen  1839,  Nr.  230.     Nr.  10  des  XI.  Bds. 
**)  Schmalz,  Beiträge  zur  Gehör-  und  Sprachheilkunde.    Heft  II  u.  III.  184^. 
***)  Ibid.  Heft  III,  p.  6!>— 72. 
f)  Ibid.  Heft  III,  p.  73  ff.  (s.  auch  S.  391). 


422     Pathologische  Anatomie  des  Ohres  in  der  ersten  Eälfte  des  19.  Jahrhunderts. 


an  die  Dura  niater  reichte,  in  den  Vorhof  eingehrochen  war  und  den  Facialis  frei- 
st hatte. 

Einen  Fall  traumatischer  Labyrintheiterung  zitiert  "Williams*): 
Ein  junger  Mann  stieß  sich  eine  Nadel  ins  Ohr,  worauf  eine  Ohreiterung  eintrat. 
Am  vierten  Tage  erfolgte  unter  zerebralen  Symptomen  der  Tod.  Bei  der  Sektion  fand 
man  die  Platte  und  einen  Schenkel  des  Stapes  im  Vestibulum,  und  als  Todesursache 
Meningitis. 

Von  intrakraniellen  Komplikationen  ist  der  Himabszess  des  öfteren 
erwähnt ,  doch  wird  er  meistens  immer  noch  als  die  Ursache  der  Ohreiterung  an- 
ehen,  so  von  Otto  in  vier  Fällen,  während  der  otitische  Ursprung  als  selten  gilt, 
so  von  Otto  (1.  c.)  in  einem  Falle. 

Bricheteau63)  fand  bei  der  Sektion  einer  Frau,  die  20  Jahre  an  einer  link- 
seitigen  Ohreiterung  gelitten  hatte  und  unter  Versiegen  des  Flusses  an  zerebralen  Er- 
scheinungen letal  endete,  neben  einer  diffusen  Konvexitätsmeningitis  der  linken  Hemi- 
sphäre einen  walnußgroßen  Schläfelappenabszeß.  Das  Tegmen  tympani,  die  Gebilde 
der  Trommelhöhle  und  des  inneren  Ohres  waren  durch  Karies  vollständig  zerstört. 
Einen  ausführlichen  Sektionsbericht  über  einen  Fall  von  otitischem  Kleinhirnabszeß 
liefert  Willemi  er  (1.  c). 

In  einem  Falle  von  Holst,  bei  dem  der  Tod  durch  eine  diffuse  eitrige  Menin- 
gitis erfolgte,  ist  die  große  Zerstörung  im  Schläfenbein  und  die  Mitbeteiligung  des 
Acusticus  bemerkenswert64).  Am  Schläfebeine  eines  an  Hirnabszeß  und  Meningitis 
verstorbenen  Knaben  konnte  Will  ein i  er  eine  beginnende  Sequestration  der  ganzen 
Pyramide  konstatieren65).  Bichot66)  teilt  einen  Fall  von  eitriger  Otitis  mit,  in 
deren  Verlaufe  Hirnsymjjtome  auftraten,  die  am  30.  Tage  der  Erkrankung  zum 
Tode  führten.  Es  dürfte  sich  aber  hier  um  eine  chronische  Mittelohreiterung  ge- 
handelt haben,  da  Bichot  das  Vorhandensein  von  Polypen  im  Ohre  erwähnt.  Bei 
der  Sektion  fand  sich  ein  Hirnabszeß,  ohne  daß  der  Induktionsweg  vom  primären 
Eiterherde  nachgewiesen  werden  konnte. 

Ueber  zentral  bedingte  Hörstörungen  und  über  deren  anatomische  Grundlagen 
war  man  in  dieser  Periode  noch  ganz  im  Dunklen.  Das  Bestreben,  eine  einheitliche 
anatomische  Ursache  der  Taubstummheit  zu  finden,  mochte  wohl  den  Streit  ver- 
ursacht haben,  ob  das  Fehlen  bezw.  die  mangelhafte  Ausbildung  der  von  Soemm er- 
ring entdeckten,  im  vierten  Hirnventrikel  entspringenden  Striae  acusticae  die  Ursache 
der  Taubstummheit  sein  könnten.  Rudolfi67)  führt  gegen  Ackermann63),  der 
diese  Genese  der  Taubstummheit  verficht,  einen  Fall  an,  in  dem  er  die  Striae  auf 
der  einen  Seite  viel  weniger  entwickelt  fand  als  auf  der  anderen,  trotzdem  die  Person 
auf  beiden  Ohren  taub  war.  Auch  will  er  an  den  Leichen  Normalhörender  häufig 
die  Striae  sehr  verschieden  entwickelt  gefunden  haben. 

Die  histologische  Untersuchung  des  Gehörorgans ,  der  später  in  der 
Otologie  eine  so  große  Rolle  zufiel,  fand  nur  wenig  Bearbeiter.  Pappenheim 
fand  bei  Ohreiterungen  nach  Typhus  und  Pneumonie  entzündliche  Veränderungen 
in  der  Trommelhöhlenscbleimhaut:  „Entzündungskugeln  kleinerer  Art,  viele  blasse 
Kugeln,  viele  Nuclei  von  Eiterkörperchen".  Pappenheim  war  auch  der  erste,  der 
Polypen  und  Balggeschwülste  histologisch  untersuchte**). 

2)  Oesterr.  med.  Wochenschr.  1834,  29.  April,  Nr.  18.  —  2)  Specimen  malae 
conformationis    organorum    auditus   humani    rarissimum    et    memoratu    dignissimum. 


*)  Nuovo  Mercurio  delle  Scienze.  June  1829.  —  Ospedale  di  Parma.  S.  Lancet 
1828—1829.  p.  190.  —  Zit.  bei  Will  iams:  „Treatise  on  the  ear".  London  1840.  p.  127. 
**)  Die  spezielle  Gewebelehre  des  Gehörorgans.     Breslau  1840.     p.  145  ff. 


Literatur.  423 

Jena  1n24.  (Der  zitierte  Fall  findet  sich  bei  Lincke,  Bd.  I,  p.  599  ausführlich  be- 
schrieben.) —  3)  Gräfe  u.  Walthers  Journ.  d.  Chirurgie  u.  Augenheilkunde.  Bd. XIX. 

—  *)  Gräfe    u.   Walthers    Journ.    d.    Chirurgie    u.    Augenheilkunde.    Bd.  IX.    — 
Neuestes   Handbuch   der  Chirurgie   etc..    übers,  von  Froriep.    Weimar  1820.  — 

6)  Angeborener  Mangel  des  Gehörgangs  auf  beiden  Seiten  ohne  sehr  beträchtliche 
Verminderung  des  Gehörs.  American  Journal  1838.  —  7)Meckels  Archiv  1828, 
p.  180.  —  8)  Di  una  sorditä  congenita  guarita  dal  professore  G.  Battista  Mazzoni, 
e  di  un  nuovo  strumento  per  traforare  la  membrana  del  timpano.  Memoria  di 
Pietro  Vannoni.  Firenze  1830,  p.  4.  —  9)  Das  Gehörorgan,  p.  614.  —  10)  Neuest. 
Handb.  d.  Chirurgie  etc.  Aus  d.  Engl,  übers,  u.  durchges.  v.  Froriep.  Weimar 
1820,  Bd.  II,  p.  156.  —  n)  Ceber  die  angeborenen  Fetthautgeschwülste  und  andere 
Bildungsfehler.  Landshut  1814.  —  12)  Ammons  Zeitschr.  f.  Ophthalmologie,  1837, 
Bd.  V.  —  I3)  „Aeskulap".  Leipzig  1821,  Bd.  I.  —  ,4)  Anatomisch-physiologische 
Beobachtungen  und  Untersuchungen.  Halle  1822.  -  -  15)  Transact.  of  the  med.  and 
physical.  Society  of  Calcutta,  Vol.  VII.  —  16)  Zur  Anatomie  des  Gehörorgans  doppel- 
leibiger  Mißgeburten.  Oesterr.  med.  Wochenschr.  1846,  Nr.  21.  —  17)  Monstri  has- 
siaci  disquisitio  medica.  Giessae  1664.  —  ls)  De  ianis.  Dissert.  anat.  physiol.  Berol. 
1  ^ J 7 .  —  19i  Beschreibung  der  pathologischen  Präparate,  welche  in  der  königl.  ana- 
tomischen Anstalt  zu  Würzburg  aufbewahrt  werden.  Gießen  1824.  —  20)  Zeitschr. 
f.  Physiologie,  Bd.  I.  —  21)  Ho  ms,  Nasses  u.  Henk  es  Arch.  f.  med.  Erfahrungen. 
Jahrg.  1819,  Juli  u.  Aug.,  p.  17.  —  22)  Hufeland,  Journ.  d.  prakt.  Heilkunde  1828, 
St.  1,  p.  123,  Not.  —  23)  M eckeis  Handb.  d.  pathol.  Anatomie.  Leipzig  1812.  Bd.  I. 

—  '-'■')  The  anatomy  of  the  human  ear  etc.  London  1829,  p.  49.  —  25)  Die  Ursachen, 
Verhütung  und  Heilung  der  Taubheit.  A.  d.  Engl.  Hamm  1832.  —  26)  Himlys 
Bibliothek  f.  Ophthalmologie  1816,  Bd.  I.  —  2T)  Beiträge  zur  praktischen  Arznei- 
wissenschaft und  pathologischen  Anatomie.  A.  d.  Engl,  von  Lengfeld.  Halber- 
stadt 1829.  —  28)  Magendie,  Journal  de  physiologie  experim.  1824,  Bd.  IV.  — 
29)  Soemmerring,  Lehre  von  den  Eingeweiden  und  Sinnesorganen  des  menschlichen 
Körpers,  1844,  p.  908.  —  30)  Traite  theoretique  et  pratique  des  maladies  de  l'oreille, 
1860.  —  ")  1.  c  p.  909.  —  32)  Oesterr.  Jahrb.  XI.  p.  423.  —  33)  Seltene  Beobach- 
tungen. I.  Bd.,  X.  u.  XI.  —  31)  Oesterr.  Jahrb.  XL  —  35)  Introduction  ä  des  recherches 
pratiques  sur  les  maladies  de  Toreille,  qui  occasionnent  la  surdite  etc.  Paris  1834, 
I.  Teil ,  p.  39.  —  :ifi)  Mücke.  Vortrag  über  die  wahrscheinliche  Anzahl  der  Taub- 
stummen in  Böhmen,  nebst  der  Angabe  der  Zeit  und  der  Ursache  des  Eintritts  der 
Gehörlosigkeit  bei  165  Kindern,  und  der  anatomischen  Untersuchung  der  Gehörwerk- 
zeuge von  vier  verstorbenen  Taubstummen.  Prag  1836.  —  37)  Graefe  u.  Walthers 
Journ.  f.  Chirurg,  u.  Augenheilk.  1826,  Bd.  VII,  H.  2.  p.  297.  —  38)  Van  der  Hoeven, 
Diss.  pathol.  de  morbis  aurium  auditusque.  Lugd.  Batav.  1824,  p.  50.  —  S9J  Schmidts 
Jahrbücher  1840,  Bd.  VII,  p.  30.  —  40)  Cru  veilhier,  Essai  sur  l'anat.  pathol.  Paris 
1816.  —  41)  Commentat.  de  vitiis  quae  surdomutitati  subesse  solent.    Heidelb.  1841. 

—  42)  Abhandlungen  im  Fache  der  Gerichtsarzneikunde.  Grätz  1823.  —  43)  Revue 
med.  1823.  —  44)  1.  c.  p.  911.  —  4ä)  Medic.  Chirurgie,  transactions.  Vol.  XIX. 
p.  156—157.  —  46)  Gaz.  med.  16.  Juli  1842.  —  4;)  Leichenöffnungen.  Erlangen 
1815.  Zitiert  bei  Schwartze  1.  c.  —  43)  Pathologische  Präparate  des  Gehörorgans, 
angefertigt  von  Dr.  Ambrogio  Gherini,  und  vorhanden  in  dem  Kabinette  des 
Zivilspitales  in  Mailand.  In  den  Beiträgen  zur  Gehör-  und  Sprachheilkunde  von 
Schmalz,  Heft  III.  —  49)  Anatomisch-physiologische  Beobachtungen  und  Unter- 
suchungen. Halle  1822.  —  50)  Pathologische  Anatomie  1824.  —  51)  Seltene  Beob- 
achtungen zur  Anatomie.  Physiologie  und  Pathologie  gehörig.  Breslau  1816,  Heft  I. 
Zit.  bei  Schwartze  1.  c.  —  5L>)  Bd.  II,  p.  470.  —  :'3)  H.  Meyer  im  Arch.  f.  Physiol. 


424         Diagnostische  Hilfsmittel  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts. 

1844.  —  54)  Schytz  im  Arch.  f.  Physiol.  1844.  H.  Meyer  1.  c.  -  ')  Frorieps 
Notizen  1825.  —  56)  Frorieps  Notizen  183^.  —  :'7)  Monatsschr.  f.  Med.,  Augenheil- 
kunde u.  Chirurgie   von  Amnion  1839.     Vergl.  Frorieps  Notizen  1840.  —  58)  i.  c. 

—  59)  Revue  des  special,  etc.  med.  Chirurg.  Juillet.  Revue  med.  p.  587.  Heidenreich  in 
Cannstatts  Jahresbericht  pro  1846.  Zit.  bei  Schwartze  I.e.  —  60)  De  auribus  defecti- 
vis.  Diss.  inaug.  anatomico-pathologica  et  physiologica  etc.  Marburg  1838.  —  B1)  Spe- 
eimen  anatomico-pathol.  de  otorrhoea.  Trajecti  1835,  p.  29.  —  e2)  Presse  med.  32. 
Vergl.  auch  Frorieps  Notizen  1837.  —  °3)  Schmidts  Jahrb.  1839.  Bd.  VI,  p.  283.  — 
64)  „Nervus  acusticus  infiammatus.  et  canalis  nervorum  communis  pure  impletus 
cernitur.  Ossis  temporum  diversae  partes  carie  perforatae  sunt. "  Frorieps  Notizen, 
Bd.  XI,  p.  138.  —  65)  „Os  petrosum  necrosi  ita  affectum,  ut  libere  moveri  posset, 
parte  tantum  postica  interna,  versus  partem  basilarem  adhuc  integra."  Will  emier 
1.  c.  p.  24—26.  —  66)  Frorieps  Notizen  1826,  Nr.  295,  p.  127  (Nr.  9  d.  XIV.  Bds.). 

—  67)  Grundriß  der  Physiologie.  Berlin  1824,  Bd.  II,  Abt.  II,  p.  140.  —  68)  Klinische 
Annalen.     Jena  1805.  §  96. 


Uebersicht  der  diagnostischen  Hilfsmittel  in  der  ersten  Hälfte 
des  19.  Jahrhunderts. 

Der  erste  Schritt  zur  Anbahnung  der  Diagnostik  der  Ohrerkrankungen  war 
durch  die  Erfindung  des  Ohrenspiegels  getan,  durch  den  die  direkte  Besichtigung 
des  Trommelfells  ermöglicht  -wurde.  Wie  erwähnt,  gehen  die  Versuche,  ein  Ohr- 
spekulum  zu  konstruieren,  auf  Guy  de  Chauliac  (S.  153)  und  Fabricius 
Hildanus  zurück.  Das  zangenförmige  Spekulum  von  Hildanus  wurde  später 
von  Conrad  v.  Solingen1),  Perret2),  Neuburg3),  Schmalz4),  Weiß5)  und 
Kramer  modifiziert.  Das  zangenförmige  Spekulum  des  letzteren  hatte  sich  am 
längsten  behauptet.  Komplizierter  waren  die  Spekula  von  Hoffmann6),  Lincke7), 
Robbi8)  und  Spangenberg9). 

Neuburg  hat  das  Verdienst,  das  erste  ungespaltene  Spekulum  angegeben  zu 
haben,  während  gewöhnlich  Ignaz  Grub  er10)  als  der  Erfinder  desselben  be- 
zeichnet wird. 

Hand  in  Hand  mit  der  Anwendung  des  Spekulums  gingen  die  Versuche,  einen 
zweckmäßigen  Beleuchtungsapparat  zu  ersinnen.  Man  hatte  bereits  die  Wichtig- 
keit des  Trommelfellbefundes  für  die  Diagnose  der  Ohrerkrankungen  erkannt  und  war 
daher  bestrebt,  sich  durch  eine  günstige  Beleuchtung  von  den  Launen  des  Wetters 
unabhängig  zu  machen.  Der  erste,  der  sich  eines  primitiven  künstlichen  Beleuch- 
tungsapparates bediente,  war  Fabricius  ab  Aquapendente  (S.  115).  Seinem 
Versuche,  die  tieferen  Partien  des  Gehörganges  zu  beleuchten,  folgten  Cleland"), 
Bozzini12),  Deleau13),  Buchanan  und  Kramer,  Grauvogl14),  Warden15), 
Jordan1"),  Schmalz17),  Polansky18)  mit  mehr  oder  minder  komplizierten 
Apparaten. 

Hoffmann19)  in  Burgsteinfurt  gebührt  das  Verdienst,  die  Beleuchtung 
mittels  eines  zentral  durchbohrten  Hohlspiegels  in  die  Praxis 
eingeführt  zu  haben. 

Trotz  des  Fortschrittes  in  der  Technik  der  Untersuchung  des  äußeren  Gehör- 
gangs und  des  Trommelfells  wurde  bis  gegen  Ende  dieser  Periode  der  Bedeutung 
der  Trommelfellbefunde  für  die  Diagnostik  nicht  die  gebührende  Beachtung  zu- 
gewendet.    Dennoch    zeigt   sich  auch  hier  schon  ein  Fortschritt,    indem  Lincke   in 


Diagnostische  Hilfsmittel  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts.         425 

zwei  Fällen  von  Totaldefekt  des  Trommelfells  in  der  Lage  war,  das  Stapesköpfchen 
in  der  granulierenden  Schleimhaut  zu  erkennen. 

Die  früher  hei  ungenügender  Beleuchtung  zu  diagnostischen  Zwecken  an- 
gewendete Sondierung  des  Trommelfells  und  der  Trommelhöhle  wurde  von  den 
späteren  Ohrenärzten  als  eine  unzuverlässige  und  gefährliche  Untersuchungsmethode 
verworfen.  Erst  die  Einführung  des  Reflektors  und  Spekulums  machte  die  Sonde 
zu  einem  Instrument,  das  unter  Leitung  des  Auges  vollkommen  ungefährlich,  die 
Diagnose  in  vielen  Fällen  wesentlich  erleichtert. 

Die  Anwendung  des  Valsalvaschen  Versuchs  zur  Feststellung  der  Weg- 
samkeit  der  Ohrtrompete  ergah  nur  bei  Perforation  des  Trommelfells  ein  positives 
Resultat.  Bei  intaktem  Trommelfelle  war  sie  wegen  des  Mangels  einer  Kontrolle  durch 
den  Arzt  resultatlos.  Laennec.  der  Erfinder  des  Stethoskops,  warder  erste,  der  die 
Auskultation  des  Ohrs  als  diagnostisches  Mittel  empfahl20).  Curtis21)  brachte  ein 
Otoskop  (Cephaloskop)  in  Vorschlag,  welches  die  ganze  Ohrmuschel  umfaßte;  mit 
diesem  will  er  ein  Rauschen  der  Luft  in  der  Trommelhöhle  deutlich  vernommen 
haben,  wenn  der  Patient  durch  das  entsprechende  Nasenloch  bei  Verschluß  des  ent- 
gegengesetzten kräftig  atmete.  Die  Erfindung  des  jetzt  gebräuchlichen  Otoskops 
von  Toynbee  fällt  knapp  vor  die  Wende  dieser  Periode.  Deleaus'  Versuch,  auf 
Grund  der  bei  der  Auskultation  wahrgenommenen  Geräusche  ein  diagnostisches  System 
aufzubauen,  ist  als  mißlungen  anzusehen. 

Der  Katheterismus  der  Ohrtrompete  wurde  nach  mancher  Richtung  hin 
modifiziert  und  verbessert.  Die  silbernen  Katheter  wurden  in  Bezug  auf  Form 
und  Krümmung  des  Schnabels  von  Itard,  Kramer,  Gairal,  Lincke,  Kuh 
(Doppelkatheter),  Möller  u.  a.  vielfach  verändert.  Der  elastische  Katheter 
Deleaus23)  wurde  später  vollkommen  aufgegeben.  Gairal  schlug  als  Hilfsmittel 
zur  Erleichterung  des  Katheterismus  das  Palatometer  vor.  das  gleichfalls  keinen 
Eingang  in  die  Praxis  fand.  Die  zum  Fixieren  des  Katheters  in  der  Nase  von  Itard, 
Kramer,  Deleau,  Möller,  Bonnafont  u.  a.  ersonnenen  Klammem  und 
Stirnbinden,  kamen  nach  dieser  Periode  außer  Gebrauch. 

Für  die  Diagnose  der  Tubenerkrankungen  war  ferner  die  Erfindung  der 
Sondierung  und  Bougierung  der  Ohrtrompete  von  Bedeutung.  Letztere 
scheint  zuerst  von  Saissy  und  Deleau  (1.  c.)  in  die  Praxis  eingeführt  worden  zu 
sein.  Sie  benützten  vorzugsweise  Darmsaiten,  Lincke  Sonden  aus  Silber,  Fabrizi 
Fischbeinsonden. 

Zur  Diagnose  der  Trommelfellperforation  bediente  man  sich  der 
Auskultation  beim  Valsalvaschen  Versuch  und  des  Durchpressens  von  Tabakrauch 
aus  dem  Ohre.  Itard  schlug  vor,  bei  seitlicher  Kopfstellung  den  äußeren  Gehörgang 
mit  Wasser  zu  füllen  und  das  Aufsteigen  von  Luftblasen  beim  Katheterismus  zu  beob- 
achten. Die  von  Fabrizi  (1.  c.)  propagierte  künstliche  Perforation  des  Trommelfells 
zu  diagnostischen  Zwecken  wurde  von  den  zeitgenössischen  Spezialisten  kaum  beachtet. 

Zur  Feststellung  des  Grades  der  Schwerhörigkeit  bediente  man  sich 
verschiedener  Hörmesser.  Die  Methode  Pfingstens24),  der  die  Buchstaben  des 
Alphabets  je  nach  ihrer  Lautstärke  in  drei  Klassen  einteilte  und  nach  dem  Ver- 
stehen dieser  Klassen  verschiedene  Grade  von  Schwerhörigkeit  unterschied,  wurde 
bald  durch  die  wiederholt  modifizierten  Akuometer  verdrängt,  die  von  Wolke  -' ')• 
Itard  (I.e.),  Schmalz26),  Blanchet27)  u.  a.  empfohlen  wurden.  Am  häufigsten 
wurde  der  einfachste  Gehörmesser,  die  Taschenuhr,  verwendet;  daneben  überzeugte 
man  sich  auch  durch  das  Vorsprechen  von  Sätzen  von  der  Gehörschärfe  des  Patienten 
(Lincke).  M.  Frank28)  wußte  bereits,  daß  die  Hörfähigkeit  für  die  menschliche 
Stimme   in   keinem  bestimmten  Verhältnisse  zur  Hörfähigkeit  der  Taschenuhr  steht. 


426  Prothesen. 

i  Wird  von  Lincke  abgebildet  Bd.  II,  Tab.  I,  Fig.  2.  —  '-')  L'art  du  cou- 
telier  expert  en  instruments  de  Chirurgie.  Premiere  section.  Paris  1772.  P.  II, 
]).  340.  —  3)  Mem.  et  observ.  sur  la  Perforation  de  la  membrane  du  tympan. 
Bruxelles  1827,  p.  35.  —  4)  v.  Walthersund  Amnions  Journ.  1844,   Bd.  3,  p.  48. 

—  5)  Abgebildet  bei  Lincke  Bd.  II,  T.  I,  Fig.  7a  u.  b.  —  e)  Caspers  Wochen- 
schrift 1841,  Nr.  1.  —  7)  1.  c.  p.  174.  —  s)  Abgeb.  b.  Lincke  Bd.  II,  T.  I,  Fig.  6. 

—  9)  Graefes  u.  Walthers  Journ.  Bd.  29,  H.  2.  —  10)  Haas,  Examen  auris 
aegrotantis.    Vienn.  1841.  —  ")  Philos.  Trans.  Vol.  XXI.  P.  II.  London  1744,  p.  848. 

—  12)  Der  Lichtleiter  etc.  Weimar  1807.  —  1:i)  Description  d'un  instrument  pour  retablir 
l'ouie  dans  plusieurs  cas  de  surdite.  Paris  1823.  —  14)  Griesingers  med.  Sechs- 
wochenschrift 1848,  H.  2  u.  3.  —  15)  Lond.  and  Edinb.  monthly  Journ.  1844.  — 
ie)  Illuminative  instrument.  Med.  Times  and  Gaz.  1845.  —  17)  Beschreibg.  eines  sehr 
einfach.  Lichtleiters  zur  Untersuchg.  d.  Ohrs.  In  Oppenheims  Zeitschr.  1849.  — 
1S)  Grund r.  z.  einer  Lehre  v.  d.  Ohrenkrankh.  Wien  1842.  —  ,9)  Caspers  Wochen- 
schrift 1841,  Nr.  1.  —  20)  De  l'auscultation  mediate  ou  Traite  du  diagnostic  des 
maladies  des  poumons  et  du  coeur,  fonde  principalement  sur  ce  nouveau  moyen 
d'exploration.  Paris  1819.  2  Bde.  —  21)  The  cephaloscope,  and  its  use  in  the  dis- 
crirnination  of  the  normal  and  abnorm  sounds  in  the  organ  of  hearing.  London 
1842.  —  22)  Lond.  med.  Gaz.  Febr.  1849.  —  23)  Essai  sur  les  maladies  de  l'oreille 
interne.  1827  —  24)  Gehörmesser  zur  Untersuchung  der  Gehörfähigkeit  galvanisierter 
Taubstummer,  in  besonderer  Rücksicht  auf  die  Erlernung  der  artikulierten  Ton- 
sprache und  auf  deren  Elemente  gegründet.  Kiel  1804.  —  25)  Nachricht  von  den 
zu  Jever  durch  die  Galvani- Voltais  che  Gehörgebekunst  beglückten  Taub- 
stummen. Oldenburg  1802.  —  26)  Walthers  und  Amnions  Journal  1844.  Bd.  3, 
H.  1.  und  Erfahrungen  etc.  —  27)  La  surdi-mutite.  Traite  phil.  et  med.  Paris 
1850.  28)  Ueber  den  gegenwärtigen  Standpunkt  der  objektiven  otiatrischen  Dia- 
gnostik.    München  1849. 

Das  Bestreben,  bei  hochgradigeren  Hörstörungen  zur  Verbesserung  des  Gehörs 
Prothesen  zu  konstruieren,  reicht  bis  in  die  älteste  Zeit  zurück.  Ausführliches 
hierüber  findet  sich  bei  Vidus  Vidius1),   Beck2)  und  Itard3). 

In  Spanien  waren  schon  lange  unter  der  Bezeichnung  „Sarbatana"  me- 
tallene Schallfänger  in  Gebrauch.  Wie  Nicius  Erythraeus  mitteilt,  benützte  der 
schwerhörige  Dichter  Lallius  Nursinus  ein  silbernes  Hörrohr,  das  ihm  von  Eustachio, 
den  er  besungen  hatte,  geschenkt  worden  sein  dürfte'). 

Die  mannigfaltige  oft  abenteuerliche  Gestalt,  die  den  Hörrohren  gegeben 
wurde,  war  nicht  eben  dazu  angetan,  ihre  Wirkung  zu  erhöhen.  Im  Gegenteil  haben 
sich  die  einfachsten  Hörrohre  als  die  brauchbarsten  erwiesen.  Die  Hörrohre  von 
Nuck  (S.  225),  Riolan  (S.  279),  Le  Cat  (S.  279)  wurden  bereits  früher  erwähnt. 
Als  das  praktischste  Hörrohr  dieser  Zeit  kann  das  von  Curtis5)  angegebene  be- 
zeichnet werden,  welches  nach  dem  Prinzip  des  auf  hoher  See  benützten  Sprach- 
rohrs konstruiert  ist.  Ebenso  einfach  ist  das  von  Bernstein1)  angegebene  bieg- 
-ame  Hörrohr  und  der  elastische  Schlauch  Dunkers7),  den  Krame  r  als 
zweckmäßig  empfiehlt. 

Die  komplizierten  Hörmaschinen  von  Du  QuetR),  Nollet9).  Amuel10), 
Schmalz11),  Itard12)  u.  a.  sind  bald  als  unbrauchbar  erkannt  worden.  Das  von 
Jorissen13)  empfohlene,  von  Itard  modifizierte  pyramidenförmige  Sprachrohr  sollte 
durch  Vermittlung  der  Kopf  knochen  das  Gehör  verbessern.  Als  Ersatz  bei  Total- 
verlust der  Ohrmuschel  wurden  künstliche  Ohren  aus  Pappe,  gepreßtem  Leder 
(s.  Pare  S.  150),  Silber  oder  aus  Muscheln  empfohlen. 


Stand  des  Taubstummenunterrichts  bis  zum  Ende  des  18.  Jahrhunderts.     427 

')  Opera,  tom.  2.  Francof.  ad  M.  1626.  —  2)  Die  Krankheiten  des  Gehörorgans. 
Leipzig  1827.  Abschn.  IV.  —  3)  Itard  a.  a.  0.  —  4)  Wenceslai  Trnka  de 
Krzowitz,  Historia  cophoseos  et  Baryecoiae.  Vindob.  1778,  p.  207  f.  —  5)  Abhand- 
lungen über  den  gesunden  und  kranken  Zustand  des  Ohrs.  Leipzig  1819,  p.  43, 
84.  mit  Tafel  —  6)  Bernsteins  Kupfertafeln  mit  Erklärungen  und  Zusätzen  zur 
systematischen  Darstellung  des  chirurgischen  Verbandes.  Jena  1802.  —  7j  Kramer 
p.  868.  —  s)  Machines  et  Inventions  approuvees  par  l'Academie  d.  sc.  publ.  par 
Gallon.  Paris  1735,  Nr.  110—116,  2.  Teil,  S.  119—129.  —  9)  Kunst  physikalische 
Versuche  anzustellen.  Leipzig  1771.  3  Bde.,  S.  46.  Zitiert  nach  Beck,  Die  Krank- 
heiten des  Gehörorgans  Heidelberg  und  Leipzig  1827,  p.  70.  —  10)  Frank,  Prak- 
tische Anleitung  zur  Erkenntnis  und  Behandlung  der  Ohrkrankheiten.  Erlangen  1845, 
p.  198.  -    ")  Frank  1.  c.  p.  194.  —  12)  Itard  a.  a.  O.  —  13)  Dissertat.  Halae  1757. 


Stand  des  Taubstummenunterrichts  bis  zum  Ende  des 
18.  Jahrhunderts. 

Bis  zur  Mitte  des  10.  Jahrhunderts  liegen  nur  vereinzelte  Versuche 
vor,  Taubstummen  den  Verkehr  mit  Normalhörenden  zu  ermöglichen. 
Die  Taubstummen  wurden  als  lästige  Parias  betrachtet,  für  die  man 
eigene  Rechte  und  Gesetze  zu  schaffen  sich  berechtigt  glaubte.  Diese 
inhumane  Auffassung  wird  einigermaßen  erklärlich,  wenn  man  bedenkt, 
daß  den  Unglücklichen  beim  Mangel  einer  entsprechenden  Lehrmethode 
jede  Möglichkeit  benommen  wurde,  auch  nur  den  geringsten  Grad  von 
Bildung  zu  erlangen. 

Erst  der  genialen  Idee  des  spanischen  Benediktinermönches  Pedro 
Po  nee  de  Leon  war  es  vorbehalten,  die  Taubstummen  der  menschlichen 
Gesellschaft  als  nützliche  Mitglieder  zuzuführen. 

Pedro  Po  nee  de  Leon,  geboren  1520  zu  Valladolid,  lebte  als  Benediktiner- 
mönch im  Konvent  San  Salvador  de  Oha  in  der  Provinz  Burgos.  In  einer  Aufzeich- 
nung dieses  Klosters  findet  sich  das  Jahr  1584  als  sein  Todesjahr  angegeben. 

Beseelt  von  edler  Menschenliebe  erfand  er  eine  Methode,  die  Taubstummen 
durch  Unterricht  aus  ihrem  tiefen  Elend  zu  erheben.  Er  genoß  bald  einen  solchen 
Ruf.  daß  er  unter  seine  Schüler  auch  Taubstumme  von  hoher  Geburt  zählte,  so 
Gaspar  de  Gurrea,  den  Sohn  des  Gouverneurs  von  Aragonien,  und  Pedro  Tovar 
Enriquez,  den  Bruder  des  Connetable  von  Kastilien. 

Von  den  zahlreichen  Zeugnissen,  die  uns  über  Po  nee  von  seinen  Zeitgenossen 
vorliegen,  wollen  wir  nur  das  seines  Mitbruders  im  Stifte  zu  Ofia,  des  Juan  de 
Castahiza  anführen,  der  in  seiner  Vida  de  San  Benito,  Salamanca  158S,  über  Ponce 
sagt:  Pedro  Ponce,  monje  profeso  de  Sahagün,  por  industria  y  sagaeidad  espe- 
ciales,  enseha  ä  hablar  ä  los  mudos;  por  verdadera  filosofia  demuestra  la  posibilidad 
y  razones  que  hay  para  ello ,  y  asi  lo  dejarä  bien  probado  en  im  libro  que  tiene 
escrito;  pero  lo  que  mas  admira  es  que,  no  pudiendo  oir  lnunanamente,  los  hace  oir, 
hablar  y  aprender  la  lengua  latina.  con  otras,  escribir.  pintar  y  otras  muchas  cosas, 
como  es  buen  testigo  D.  Gaspar  de  Gurrea  y  otros  varios  diseipulos*). 


*)  cit.  Dr.  D.  Eloy  Bejarano:  La  Espana  y  los  sordo-mudos.     Kevista  de  Espe- 
cialidades, del.  Dr.  Forns.  VIII.  Nr.  150. 


428     Stand  des  Taubstummenunterrichts  bis  zum  Ende  des  18.  Jahrhunderts. 


Die  Methode  Ponces  scheint,  wie  aus  der  Feberlieferung  seines  Freundes 
Vallesius  ersichtlich  ist.  der  später  von  Hei  nicke  inaugurierten  sehr  nahe 
gekommen  zu  sein.  Die  betreffende  Stelle  findet  sich  in  dem  Werke  des  Vallesius, 
„De  eis.  quae  scripta  sunt  physice  in  libris  sacris,  sive  de  sacra  philosophia."  3.  editio 
Lugduni  1652  und  lautet:  .  .  . 

Petrus  Pontius,  Monachus  Sancti  Benedicti.  amicus  meus,  qui  (res  mira- 
bilis)  natos  surdos  docebat  loqui,  non  alia  arte,  quam  docens  primum  scribere,  res 
ipsos  digito  indicando ,  quae  characteribus  illis  significarentur ,  deinde  ad  motus 
linguae  qui  characteribus  responderent,  provocando.     Cap.  III.  p.  78. 

Seine  Unterrichtsmethode  bestand  somit  darin ,  daß  er  die  Zöglinge  zuerst 
-fhreiben  und  lesen  lehrte,  die  einzelnen  Wörter  an  die  Tafel  schrieb  und  ihnen 
die  Gegenstände  zeigte,  die  durch  die  Wörter  bezeichnet  werden.  Dann  machte  er 
ihnen  die  Mundstellung  vor.  die  das  Aussprechen  der  einzelnen  Buchstaben  bedingt, 
und  lehrte  sie  so  Gesprochenes  vom  Munde  ablesen  und  selbst  artikulierend  sprechen. 
Hier  ist  also  schon  der  Kern  der  deutschen  Methode  enthalten,  aber  auch  die 
französische  verdankt  ihm  die  Erfindung  ihres  wichtigsten  Hilfsmittels,  des  Hand- 
alphabets. 

Ponce  hatte  das  Glück,  in  Spanien  zahlreiche  Schüler  zu  finden,  welche  das 
edle  Werk  ihres  Meisters  fortsetzten.  Der  hervorragendste  unter  ihnen  ist  Juan 
Pablo  Bonnet,  der  unter  dem  Titel:  „Reduccion  de  las  letras,  y  arte  para  enseiias 
a  hablar  a  los  mudos."  Madrid  1620,  das  erste  Werk  über  Taubstummenunterricht 
geschrieben  hat.  Bonnet,  ein  gebürtiger  Aragonier,  war  Sekretär  des  Connetable 
Velasco.  In  dessen  Hause  kam  er  mit  Ponce  zusammen,  der  die  taubstummen 
Geschwister  des  Connetable  unterrichtete.  Die  zwischen  Bonnet  und  Ponce  als- 
bald sich  entwickelnde  Freundschaft  läßt  Lincke  vermuten,  daß  das  Werk  Bonnets 
nichts  anderes  sei,  als  das  von  ihm  herausgegebene  Manuskript  Ponces. 

Gleichzeitig  mit  Bonnet  versuchte  sich  Emanuel  Ramire z  de  Carrion 
im  Taubstummenunterrichte.  Er  war  Lehrer  des  taubstummen  Marquis  de  Priego 
und  scheint  allerdings,  wie  sein  Biograph  D'Ab  laincourt  berichtet,  einigen 
Krfolg  gehabt  zu  haben.  Wir  sind  jedoch  geneigt,  diesen  Erfolg  mehr  dem  uns 
nicht  überlieferten  Kern  seiner  Methode  zuzuschreiben,  als  dem  Wust  von  Medika- 
menten und  Prozeduren,  durch  die  er  seine  Methode  ausschmückte,  vielleicht  aus 
Furcht  vor  Nachahmung  oder  vielleicht,  wie  Schmalz  meint,  aus  Furcht  vor  der 
Inquisition,  um  nicht  für  einen  Hexenmeister  gehalten  zu  werden. 

Während  nun  der  Taubstummenunterricht  in  Spanien  bis  zu  Beginn  des 
19.  Jahrhunderts  im  wesentlichen  auf  der  Stufe  der  Entwicklung  stehen  blieb,  zu  der 
ihn  Ponce  und  Bonnet  erhoben  hatten,  sehen  wir  ihn  in  Holland  wesentliche 
Fortschritte  machen,  die  er  vornehmlich  dem  in  Wahrmund  bei  Leyden  lebenden 
schweizerischen  Arzte  Amman  zu  danken  hatte. 

Johann  Conrad  Am  m  an,  1669  in  Schaffhausen  geboren,  studierte  in  Basel 
Medizin  und  ging  später  nach  Holland,  wo  er  sich  mit  dem  Taubstummenunterrichte 
beschäftigte.  Seine  Methode  bezeichnet  gegen  die  Ponces  insoferne  einen  Fort- 
schritt, als  er  dem  Handalphabet  eine  viel  geringere  Rolle  einräumte,  dagegen 
größeren  Wert  auf  die  Erlernung  der  Lautsprache  legte.  Um  aber  die  Zöglinge  im 
Ablesen  und  Nachahmen  der  den  einzelnen  Lauten  entsprechenden  Mundstellungen 
noch  zu  unterstützen ,  ließ  er  sie,  während  er  ihnen  die  Mundstellung  zeigte  und 
die  Laute  aussprach ,  ihre  Finger  auf  deinen  Kehlkopf  legen.  Auf  diese  Weise  ge- 
lang es  ihm ,  den  Zöglingen  die  feinen  Unterschiede  in  den  Vibrationen  des  Kehl- 
kopfes durch  den  Tastsinn  begreiflich  zu  machen. 

Auch    in  England    tauchte   im  17.  Jahrhundert   unabhängig  von    den    übrigen 


Pereira.  429 

Ländern  der  Gedanke  des  Taubstummenunterrichts  auf.  J  ohn  Wallis  (1616 — 1703), 
Kaplan  Königs  Karl  IL,  ein  hervorragender  Gelehrter,  Mathematiker.  Sprachforscher 
und  Verfasser  einer  englischen  Grammatik  in  lateinischer  Sprache,  widmete  sich  ein- 
gehend dem  Taubstummenunterrichte  und  teilt  im  Anhang  zu  dieser  Grammatik,  be- 
titelt „Tractatus  Grammatico-physicus  de  Loquela"  seine  Methode  mit:;:). 

Nach  dem  Tode  Wallis  geriet  in  England  der  Taubstummenunterricht  in 
"V  ergessenheit.  Erst  ein  Jahrhundert  später  finden  wir  wieder  einige  englische  Ver- 
treter der  Disziplin.  Von  diesen  sind  zu  nennen:  William  Holder,  George 
Sibscota,  George  Dalgarno,  Henry  Baker**),  dann  Thomas  Braidwood, 
ein  Taubstummenlehrer,  der  anfänglich  in  Edinburg,  später  in  Hackney  in  der  Nähe 
von  London  eine  Taubstummenschule  leitete,  ferner  sein  Neffe  Dr.  Watson,  der 
Leiter  des  Deaf  and  Dumb  Asylum  in  Bermondsey,  der  auch  ein  Werk  unter  dem 
Titel  „Instruction  of  the  Deaf  and  Dumb",  London  1809.  schrieb. 

Am  spätesten  entwickelte  sich  der  Taubstummenunterricht  in  den  beiden  Län- 
dern .  in  denen  er  seine  höchste  Entwicklung  erreichen  sollte ,  in  Frankreich  und 
Deutschland. 

In  Frankreich  tauchen  erst  zu  Anfang  des  18.  Jahrhundert  die  ersten  Ver- 
suche des  Taubstummenunterrichtes  auf.  Abbe  de  l'Epee  nennt  M.  Ernaud,  Per- 
reire  und  Madame  de  la  Croix  duFauxbourg  Saint  Antoine  als  die  ersten, 
die  sich  mit  dem  Taubstummenunterrichte  befaßten,  allerdings  „sans  avoir  concerte 
ensemble  le  plan  de  leurs  Operations"  ***).  Ueber  Madame  de  la  Croix  wissen  wir 
nichts  Näheres. 

Ernaud  beschäftigte  sich  um  das  Jahr  1756  in  Bordeaux  mit  dem  Taub- 
stummenunterricht und  scheint  sich  vorwiegend  der  Am  man  sehen  Methode  bedient 
zu  haben.  Um  dieselbe  Zeit  lehrte  auch  P.  Duchamp  in  Orleans  Taubstumme 
schreiben  und  sprechen. 

Eine  eingehendere  Würdigung  verdient  Johannes  Rodriguez  Pereira,  ein 
portugiesischer  Jude,  der  sich  1745  in  la  Rochelle  mit  dem  Taubstummenunterrichte 
befaßte.  1749  und  1751  stellte  er  wiederholt  Zöglinge,  die  ausgezeichnete  Fortschritte 
auch  im  Sprechen  gemacht  hatten,  der  Akademie  zu  Paris  vor,  die  ihm  auch  ihre 
Anerkennung  zollte.  Diese  Erfolge  müssen  jedoch  mehr  seinem  Talente  und  seiner 
unüberwindlichen  Ausdauer,  als  seiner  Methode  zugeschrieben  werden.  Das  beste 
Zeugnis  stellt  ihm  sein  Gegner  Abbe  de  l'Epee  in  zwei  1749  und  1751  der  könig- 
lichen Akademie  der  Wissenschaften  zu  Paris  erstatteten  Gutachten f)  aus.  welche 
in  der  schmeichelhaftesten  und  anerkennendsten  Weise  von  Pereiras  Erfolgen 
sprechen.  Er  sagt  in  dem  Schlußworte  des  zweiten  Gutachtens:  „Cela  suffit  con- 
flrmer  le  jugement  que  nous  fimes  de  M.  Perreire.  dans  notre  rapport  du  mois 
de  Juillet  1749,  et  pour  faire  sentir  que  sa  maniere  d'instruire  les  Muets  ne  peut 
etre  que  tres-ingenieuse;  que  son  usage  interesse  le  bien  public;  et  qu'on  ne  scauroit 
trop  encourager  celui  qui  s'en  fert  avec  tant  de  succesjf). 


*)  Lawrence  Turnbull:  On  deaf-mutism  and  the  method  of  educating 
the  deaf  and  dumb.  (Transact.  of  the  med.  Soc.  of  the  State  of  Pennsylvania.)  Sep- 
Abdr.  ohne  Jahreszahl. 

j   Vgl.  Schmalz:   Ueber   die  Taubstummen  und    ihre  Bildung  etc.     Dresden 
und  Leipzig  1838. 

;  ::::)  Abbe  de  l'Epee:    Institution  des  sourds  et  muets.    par  la  voie  des  signes 
methodiques.     Paris  1776  bei  Nyon. 
7)  1.  c.  pag.  15  ff. 
tf)  1.  c.  pag.  21. 


430  A-kbt-  de  l'Epee. 


Das  größte  Verdienst  um  den  Taubstummenunterricht  erwarb  sich  jedoch  der 
Abbe  Charles  Michel  de  l'Epee.  1712  zu  Versailles  als  der  Sohn  eines  Archi- 
tekten geboren,  wandte  er  sich  dem  geistlichen  Stande  zu.  Mitleid  und  religiöse 
Gründe  bewogen  ihn,  1752  den  Unterricht  zweier  taubstummer  Schwestern  zu  über- 
nehmen, die  ihren  Lehrer,  den  Pater  Vanin,  durch  den  Tod  verloren  hatten'). 
Sein  sehnlichster  Wunsch,  eine  öffentliche  Taubstummenanstalt  zu  gründen,  wurde 
allerdings  von  der  Regierung  nicht  erfüllt,  aber  mit  Aufopferung  seines  ganzen  Ver- 
mögens brachte  er  es  doch  so  weit,  eine  große  Anzahl  taubstummer  Kinder  zu  unter- 
richten und  viele  tüchtige  Schüler  heranzubilden,  die  sein  edles  Werk  fortsetzen 
konnten. 

In  seinen  Hauptwerken:  „La  veritable  maniere  d'instruire  les  sourds  et 
muets,  conprirnee  par  une  longue  experience",  Paris  1784  und  „Institution  des 
sourds  et  muets  par  la  voie  des  signes  metbodiques",  Paris,  1776  legt  er  seine 
Methode  dar  und  verficht  sie  gegen  Pereira.  Von  seiner  Bescheidenheit  zeugt 
jene  Stelle,  in  der  er  ausdrücklich  das  Verdienst  ablehnt,  eine  neue  Methode  gleich 
Wallis,  Bonnet  oder  Amman  gefunden  zu  haben:  ne  m'ayant  point  mis  a 
portee  de  connaitre  aucun  de  ce  illustres  Auteurs,  je  ne  pensai  pas  meine  a  de- 
sirer,  et  encore  moins  ä  entreprendre  de  faire  parier  mes  deux  Kleves.  La  veritable 
maniere  etc.  .  .  .  pag.  8.  Sein  Verdienst  besteht  darin,  den  ausgedehnten  Gebrauch 
der  Daktylologie  eingeschränkt  und  das  Hauptgewicht  des  Unterrichts  auf  die  Aus- 
bildung der  natürlichen  Zeichensprache  gelegt  zu  haben.  Die  Daktylologie  verwendet 
er  hauptsächlich  im  Beginne  des  Unterrichts  zur  Erlernung  der  Schrift.  Sobald  die 
Taubstummen  über  den  elementarsten  Unterricht  hinaus  sind,  wird  die  Daktylologie 
nicht  mehr  verwendet,  dagegen  in  ausgedehntestem  Maße  die  Zeichensprache,  um  die 
Taubstummen  auf  diese  Weise  nicht  nur  mit  den  Worten,  sondern  auch  mit  deren 
Inhalt  bekannt  zu  machen,  ein  Ziel,  das  jeder  Unterricht  anstrebt  und  das  Hein  icke 
später  in  so  vollkommener  Weise  erreichen  sollte. 

Der  würdige  Nachfolger  des  Abbe  de  l'Epee  war  der  Abbe  Roche  Am- 
broise  Sieard,  geb.  1742  zu  Fousseret  bei  Toulouse.  Seine  Lebenszeit  fällt  in 
die  große  französische  Revolution  und  die  Jahre  1792 — 1799  waren  deshalb  für  ihn 
wie  für  so  viele  andere  nur  Schreckensjahre.  Mehrere  Male  aus  seinem  Institut 
vertrieben,  nahm  er  mit  einer  Zähigkeit  und  einem  Mute,  wie  sie  nur  der  edle 
Eifer  für  eine  gute  Sache  verleihen  kann,  mit  eigener  Lebensgefahr  seine  Lehr- 
tätigkeit immer  wieder  auf.  Erst  an  seinem  Lebensabend  wurde  ihm  die  verdiente 
Anerkennung  zu  teil.    Hochbetagt  und  mit  Ehren  überhäuft  starb  er  im  Jahre  1822. 

Der  Taubstummenunterricht  in  Deutschland  beschränkt  sich  bis  zum  Auf- 
treten Heinickes  auf  die  Versuche  einzelner  Männer,  die  meist  dem  geistlichen 
Stande  angehörten,  taubstumme  Verwandte  oder  Bekannte  zu  unterrichten.  Von 
diesen  Männern  wäre  zu  nennen:  Joachim  Pascha,  der  Hofprediger  des  Kur- 
fürsten Joachim  IL  von  Brandenburg,  von  dem  erzählt  wird,  daß  er  seine  taub- 
stumme Tochter  durch  Kupferstiche  unterrichtete;  ferner  Jakob  Wild,  der  sich 
einer  Sprachmaschine  bediente  und  Georg  Raphel,  der  seine  eigenen  drei  taub- 
stummen Kinder  sprechen  lehrte. 

Erst  mit  Heinicke  beginnt  in  Deutschland  die  Periode  des  zielbewußten 
systematischen  Taubstummenunterrichts. 

Samuel  Heinicke  wurde  am  10.  April  1729  als  der  Sohn  eines  Bauers  im 
Dorfe  Nautschitz   an   der  Saale   geboren.     Als  ihn  sein  Vater  zu  einer  Ehe  zwingen 


,l  Croyant  donc  que  ces  deux  enfans  vivroient  et  nourroient  dans  l'ignorance 
de  leur  religion  .  .  .  1.  c.  pag.  8. 


Tafel  XXVII 


ABBE  DE  L'EPEE 


Heinicke.  431 

•wollte,  die  seiner  Neigung  nicht  entsprach,  verließ  er  seine  Eltern  und  wandte  sich 
nach  Dresden,  wo  er,  um  sich  seinen  Lebensunterhalt  zu  verschaffen,  Unterricht  erteilen 
mußte.  Der  Zufall  wollte  es,  daß  unter  seinen  Schülern  auch  ein  taubstummer 
Knabe  war,  den  er  nach  der  Methode  Ammans  mit  sehr  gutem  Erfolg  unterrichtete. 
Später  ging  er  nach  Hamburg,  wo  er  1768 — 1778  in  dem  Klosterdorf  Eppendorf 
eine  Lehrstelle  bekleidete.  Da  unter  seinen  Zöglingen  abermals  taubstumme  Kinder 
waren,  trat  er  wieder  der  Frage  des  Taubstummenunterrichts  näher,  die  ihn  von  jetzt 
ab  bis  zu  seinem  Lebensende  beschäftigen  sollte.  Er  gründete  1778  in  Leipzig  die 
erste  Taubstummenanstalt  und  leitete  diese  bis  zu  seinem  Tode  im  Jahre  1790. 

Ohne  die  Verdienste  Heinickes  schmälern  zu  wollen,  ist  doch  nicht  zu  ver- 
kennen, daß  der  Kern  seiner  Methode  nicht  nur  bei  Amman,  sondern  sogar  schon 
in  der  Methode  Ponces  zu  finden  ist. 

Auch  Schmalz*)  und  Meissner**)  berichten,  daß  Heinicke  den  Unter- 
richt anfangs  nur  nach  der  Methode  Ammans  leitete  und  daß  der  Erfolg  ein 
ausgezeichneter  war.  Umso  weniger  können  wir  die  heftigen  persönlichen  Ver- 
dächtigungen und  Angriffe  Heinickes  gegen  seine  Vorgänger  begreifen.  So  sagt 
er  in  seiner  Schrift  „Ueber  die  Denkart  der  Taubstummen",  Leipzig  1780,  p.  43 
u.  f.  unter  anderem***):  „Aelteren  und  Vorgesetzte  solcher  unglücklichen  Kinder, 
denen  es  nun  nicht  gleichgültig  ist ,  sie ,  wie  Instrumente ,  worauf  man  Lehr- 
jungen lernen  läßt,  unwissenden  Männern  preiszugegeben,  die,  entweder  aus  Un- 
wissenheit oder  Habsucht,  sich  mit  einem  solchen  Unterrichte  befassen,  müssen  sich 
daher  wohl  vorsehen,  wenn  sie  der  Prellerey  entgehen  und  ihre  Kinder  nicht  ins 
Verderben  stürzen  wollen"  .  .  . 

Heinickes  Verdienst  besteht  darin,  besonderen  Wert  darauf  gelegt  zu 
haben,  daß  der  Unterricht  mit  der  Tonsprache  begonnen  werde.  Die  Tonsprache 
selbst  hat  nicht  er  in  die  Unterrichtstechnik  eingeführt ;  vielmehr  finden  wir  sie  in 
ihren  Anfängen  bereits  bei  Po  nee  und  schon  ziemlich  ausgebildet  bei  Amman. 
Heinicke  ist  es  allerdings  gelungen,  den  Taubstummen  in  ausgedehntem  Maße  ab- 
strakte Begriffe  beizubringen,  allein  schon  alle  seine  Vorgänger  hatten  sich  dieses 
Ziel  gesteckt  und  waren  ihm,  wenn  sie  es  auch  noch  nicht  erreichten,  doch  zum  Teil 
schon  nahe  gekommen. 

Die  von  Heinicke  angewandten,  schon  vor  ihm  von  dem  livländischen  Pro- 
fessor Jakob  Wild  versuchten  Sprachmaschinen,  haben  sich  beim  Taubstummen- 
unterricht nicht  bewährt.  Heinicke  gibt  übrigens  in  seinen  Werken  keine  genaue 
Angabe  über  seine  Methode,  er  ergeht  sich  vielmehr  in  allgemeine  Betrachtungen, 
die  keine  genügenden  Anhaltspunkte  für  den  Unterricht  bieten.  Ohne  ihm  selbst- 
süchtige Motive  unterschieben  zu  wollen,  muß  doch  zugestanden  werden,  daß  der 
Leser  in  seinen  Werken  nicht  das  findet,  was  er  sucht,  und  man  wird  wohl  auch 
die  Selbstkritik  berechtigt  finden,  die  er  im  Schlußwort  der  „Denkart  der  Taub- 
stummen" übt,  wenn  er  sagt:  „Meine  Schreibart  ist  daher  kaum  erträglich". 

Unter  den  Schülern  Heinickes  wäre  vor  allem  Eschke,  der  Leiter  des 
Taubstummeninstituts  in  Berlin  und  Petschke,  der  Direktor  der  Taubstummen- 
anstalt in  Leipzig  zu  erwähnen. 

*)  Schmalz:  Kurze  Geschichte  und  Statistik  der  Taubstummenanstalten 
und  des  Taubstummenunterrichts.     Dresden  1830,  pag.   127. 

i    Meissner:     Taubstummheit    und    Taubstummenbildung.      Leipzig    und 
Heidelberg  1856,  pag.  226. 

***)  „Ich  rechne  unter  diese  mir  bekannten  schädlichen  Lehrarten  die  von 
Wallis,  Amman,  Raphel,  Perreire,  de  i'Epee,  Deschamps  und  alle 
anderen  von  diesem  Zuschnitt." 


Pathologie  u.  Therapie  der  Ohrerkrankungen  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrh. 


Pathologie  und  Therapie  der  Ohrerkrankungen  in  der  ersten 
Hälfte  des  19.  Jahrhunderts. 

Die  im  Beginne  des  19.  Jahrhunderts  veröffentlichten  Werke  über 
Ohrenheilkunde  stehen  großenteils  noch  auf  der  früheren  Stufe,  da 
weder  die  pathologische  Anatomie  noch  die  Untersuchungsmethodik  eine 
genügende  Grundlage  für  die  Diagnostik  der  Ohrerkrankungren  bot. 
Immerhin  wurden  durch  die  Spezialisierung  des  Faches  nicht  zu  unter- 
schätzende Iiesultate  erzielt  und  durch  Teilnahme  einer  größeren  Zahl 
von  Mitarbeitern  ein  rascherer  Fortschritt  angebahnt. 

Den  sinnfälligsten  Ausdruck  erhielt  der  regere  Eifer  für  die  Er- 
weiterung des  Faches  in  der  Gründung  von  Ambulatorien  oder  Heil- 
anstalten für  Ohrenkranke.  Hierzu  ging  von  England  die  erste  An- 
regung aus,  wo  John  Cunningham  Saunders  (1773 — 1810)  1804  den 
ersten  Plan  für  eine  derartige,  wissenschaftlichen  und  praktischen  Zwecken 
dienende  Anstalt  entwarf. 

Dank  dem  Wohltätigkeitssinne  des  englischen  Volkes  konnte  bereits 
im  März  1805  das  durch  private  Beiträge  gestiftete  Institut  unter  dem 
Namen  London  Dispensary  for  curing  diseases  of  the  Eye  and  Ear  er- 
öffnet werden.  Leider  waren  die  Erfolge  aus  äußerlichen  Gründen  nicht 
entsprechend,  so  daß  späterhin  die  Anstalt  bloß  auf  die  Aufnahme  von 
Augenkranken  beschränkt  wurde.  Im  Jahre  1816  jedoch  erhielt  ein 
Schüler  Saunders,  John  Harrison  Curtis,  das  Privilegium,  eine 
Anstalt  für  Ohrenkranke  zu  gründen,  die  in  ihrem  Bestände  besser  ge- 
sichert war.  Ebenso  gewährten  andernorts  Dispensarien  für  Augenkrank- 
heiten der  Otiatrie  Gastfreundschaft,  wie  in  Hüll  und  seit  1820  in  New 
York.  In  Frankreich  waren  es  die  Taubstummeninstitute,  von  wo  die 
wissenschaftliche  Otiatrie  ihren  Ausgang  nahm.  Dagegen  blieb  namentlich 
Deutschland  mit  der  Gründung  öffentlicher  Institute  für  Ohrenkranke  bis 
zur  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  zurück,  ein  Umstand,  welcher  der  wissen- 
schaftlichen Entwicklung  sehr  hinderlich  war.  Das  Verdienst,  den  wissen- 
schaftlichen Aufschwung  der  Otiatrie  in  dieser  Periode  gefördert  zu  haben, 
gebührt  in  erster  Linie  den  Franzosen,  während  Deutsche  erst  später  an  dem 
Wettkampf  mit  Erfolg  teilnahmen.  Die  otologische  Literatur  Englands, 
die  zunächst  besprochen  werden  soll,  hat  bis  zum  Auftreten  Wildes  und 
Toynbees  nur  wenig  zum  Fortschritte  unseres  Spezialfaches  beigetragen. 

England. 

Im  Jahre  1806  erschien  ein  Werkchen  \)  John  Cunningham 
Saunders',  welches  trotz  seiner  großen  Mängel  manche  Anregungen  für 
die  weitere  Ausbildung  der  praktischen  Otiatrie  enthält.    Wenn  auch  der 


Tafel  XXVIII 


JOHN   CUNNINGHAM  SAUNDERS 


Saunders.  43;', 

Umkreis  seiner  Beobachtungen  noch  ein  beschränkter  ist  und  die  Lücken- 
haftigkeit in  jedem  Abschnitte  hervortritt,  so  zeigt  das  Buch  doch  schon 
eine  modernere  Richtung. 

Die  Diagnostik  beruht  noch  ganz  auf  der  mangelhaften  Okularinspektion 
des  Trommelfells  im  Sonnenlichte,  auf  dem  Valsal vaschen  Versuch  und  auf  der 
subjektiven  Symptomatologie.  Die  Therapie,  soweit  sie  nicht  intern  war,  beschränkte 
sich  auf  Ausspritzungen  des  Gehörgangs,  Anwendung  von  ätzenden  Mitteln  wie  Ar- 
gentuni nitricum,  Zinkvitriol  etc.  und  die  mit  Vorliebe  verwendete  Paracentese.  Die 
Pathologie  umfaßt  die  Krankheiten  des  äußeren  und  mittleren  Ohres;  alle  anderen 
Ohraffektionen  werden  kurzweg  als  „nervöse"  bezeichnet.  Von  Einzelheiten,  die  durch 
eine  beigegebene  kleine  Kasuistik  illustriert  sind,  heben  wir  folgendes  hervor.  Ent- 
zündungen  des  äußeren  Gehörgangs  erfordern  antiphlogistisches  Regime,  eventuell  bei 
starken  Eiterungen  Inzision  zwischen  Warzenfortsatz  und  Ohrmuschel  (der  spätere 
Wildesche  Schnitt).  Ulzeröse  Prozesse  im  äußeren  Gehörgang  werden  als  „Herpetic 
ulcerous  eruption"  bezeichnet.  Den  Gehörgang  verschließende  Membranen  bedingen 
Schwerhörigkeit  verschiedenen  Grades.  Der  Beseitigung  der  Polypen  soll  stets  eine 
Aetzung  an  der  Basis  nachfolgen. 

Unter  den  Affektionen  der  Trommelhöhle  wird  der  eitrige  Ausfluß  („the 
puriform  discharge  from  the  tympanum")  besonders  nach  Scarlatina  eingehender 
besprochen.  Er  unterscheidet  sich  von  dem  durch  eine  Entzündung  des  äußeren  Ge- 
hörgangs verursachten  dadurch,  daß  nach  Sistierung  der  Eiterung  die  Hörstörung 
nicht  schwindet,  weil  das  Trommelfell  zum  großen  Teile  zerstört  und  manchmal 
auch  die  Gehörknöchelchen  exfoliiert  werden.  Zur  Differentialdiagnose  wird  der 
Valsalva  sehe  Versuch  herangezogen,  hei  welchem  das  hörbare  Ausströmen  der  Luft 
durch  den  äußeren  Gehörgang  eine  Perforation  des  Trommelfells  erkennen  läßt2). 

Die  Behandlung  müsse  antiphlogistisch  sein.  Hingegen  bekämpft  er  die 
Anwendung  der  damals  gebräuchlichen  Einträufelungen  scharfer  und  spirituöser  Mittel 
ins  <>hr  („an  error  that  unquestionably  tends  to  produce  the  worst  catastrophe"). 
Vermute  man  bei  akuten  Entzündungen  Eiter  in  der  Trommelhöhle,  so  empfehle 
sich  Paracentese  des  Trommelfells3).  Saunders  unterscheidet  drei  Stadien  der 
eitrigen  Entzündung  der  Trommelhöhle:  1.  einfach  eitriger  Ausfluß;  2.  eitriger  Aus- 
fluß und  „Fungus"  oder  „Polyp"  ;  3.  eitriger  Ausfluß  und  Karies  der  Trommelhöhle. 
Die  ersten  beiden  sind  heilbar,  das  letztere  nicht.  Als  nicht  seltene  Ursache  der 
Taubheit  erklärt  er  die  Obstruktion  der  Tuba  Eustachii,  in  welchem  Falle  die  Luft 
der  Trommelhöhle  absorbiert  und  durch  Schleim  ersetzt  werde.  Am  häufigsten  wird 
dieser  Verschluß  durch  syphilitische  Geschwüre  oder  durch  maligne  Neubildungen 
in  der  Nase  bedingt.  Beim  Vals  al  vaschen  Versuch  habe  der  Patient  nicht  das 
charakteristische  Gefühl  („which  arises  from  the  inflation  of  the  Tympanum").  Die 
beste  Behandlungsweise  bestehe  in  der  Durchbohrung  des  Trommelfells  im  Verein 
mit  antiluetischer  Kur.  Die  Labyrinth  er  kr  ankungen  faßt  Saunders  als 
„nervous  deafness"   zusammen4). 

Ungeachtet  ihrer  Lückenhaftigkeit  verdient  die  Schrift  als  eine  nicht  zu  unter- 
schätzende Leistung  bezeichnet  zu  werden,  da  sie  gerade  die  weniger  bekannten 
Formen  der  Entzündung,  den  Verlauf  und  die  Stadien  des  Prozesses  genauer  ver- 
folgt und  ausführlicher  als  bisher  behandelt. 

*)  The    anatomy   of   the   human    ear,    illustrated  by  a  series  of  engravings  of 

the  natural  size,  with  a  treatise  on  the  diseases  of  that  organ,  the  causes  of  deafness 

their  proper  treatment.    London  1806,  1817,  1829.  —  2)  In  general.  when  the  patient 

blows  strongly  with  the  nose  and  mouth  closed.  aire  will  be  expelled  at  the  Meatus 

Politzer,  Geschichte  der  Ohrenheilkunde.    I.  28 


434  Curtis. 

Externus.  Wherever  this  circumstance  is  observed,  it  is  clear  that  the  discharge 
proceeds  from,  or  is  connected  with  an  injury  or  destruction  of  the  Membrana  Tym- 
pani.  —  3)  If  I  could  be  assured  by  any  symptom  that  suppuration  has  taken  place, 
I  should  not  hesitate  to  make  a  small  Perforation  of  the  Membrana  Tympani.  — 
4)  In  this  sense  it  is  a  generic  term ,  and  signifies  every  disease  the  seat  of  which 
is  in  the  nerve  or  parts  containing  the  nerve. 

Geringeren  Wert  besitzt  die  Abhandlung  von  John  Harrison  Curtis, 
der  trotz  langjähriger  Erfahrung  auch  nicht  das  Geringste  von  eigener, 
originärer  Auffassungsgabe  durchblicken  läßt.  Stellenweise  sind  Absätze 
aus  dem  Saund ersehen  Buche  wörtlich  abgeschrieben.  Die  Kritik  der 
Zeitgenossen  über  seine  Arbeiten  war  nichts  weniger  als  schmeichelhaft*). 
Immerhin  war  seine  Schrift  dadurch  von  Nutzen,  daß  sie  weitere  ärzt- 
liche Kreise  mit  der  Notwendigkeit  otiatrischer  Therapie  bekannt  machte, 
zu^  einer  Zeit,  in  welcher  man  sich  auf  Grund  humoralpathologischer, 
auf  das  Heilwirken  der  Natur  gestützter  Ansichten  scheute,  jene  Ohr- 
erkrankungen zu  bekämpfen,  die  mit  eitrigem  Ausfluß  verbunden  waren. 
Es  bedurfte  auch  des  Appells  an  das  in  Vorurteilen  befangene  Laien- 
publikum, um  den  Aerzten  ein  Wirkungsgebiet  zu  schaffen,  und  in 
diesem  Sinne  erfüllte  die  populär  geschriebene  Abhandlung  Curtis'  a) 
ihren  Zweck. 

Die  Einteilung  und  Behandlung  der  einzelnen  Ohrkrankheiten  ist  dieselbe  wie 
bei  Saun  der  s.  Auch  er  empfiehlt  bei  Ohrenfluß  jeder  Art  adstringierende  Mittel, 
bei  Verstopfung  der  Tuba  die  Paracentese. 

Gleich  geringen  Wert  für  die  Otologie  bekunden  alle  anderen  zahlreichen 
Publikationen  Curtis'.  Es  genügt  hier  zu  erwähnen,  daß  er  sich  in  seinem  zweiten 
Werke2)  zu  der  kühnen  Behauptung  versteigt,  man  müsse  bei  zweifelhaften 
Fällen  von  Schwerhörigkeit  sein  Hauptaugenmerk  darauf  richten,  zu  erkennen,  ob 
die  Cotunnische  Feuchtigkeit  ganz  oder  zum  Teile  vertrocknet  sei,  oder  ob  sich  ver- 
härtetes Ohrenschmalz  im  Gehörgange  vorfinde. 

Die  Krankheiten  des  inneren  Ohres  zerfallen  nach  Curtis  in  konstitutionelle 
(angeborene,  zerebrale,  sympathische  etc.)  und  lokale,  welch  letztere  er,  trotzdem 
er  ihre  nicht  seltene  Abhängigkeit  von  Strukturveränderungen  erkennt,  als  nervöse 
bezeichnet.  Ihr  charakteristisches  Symptom  ist  die  besondere  Art  der  subjektiven 
Geräusche ,  welche  mit  dem  Tosen  der  Meereswogen  oder  mit  dem  Aufbrausen  des 
siedenden  Wassers,  dem  Rauschen  der  durch  den  Wind  bewegten  Blätter  u.  s.  w. 
Aehnlichkeit  haben.  Zur  Illustration  des  damaligen  Standes  der  Ohrtherapie  wollen 
wir  Curtis  über  seine  Behandlung  der  „Nerventaubheit"  sprechen  lassen.  Es  handelte 
sich  um  einen  22jährigen  Mann,  der  einige  Jahre  an  hartnäckiger  Nerventaubheit 
litt,  und  der  durch  Aderlaß,  Haarseil,  Vesicans  hinter  dem  Ohre  und  innerliche 
Quecksilberkur  nach  6  Wochen  von  seiner  Taubheit  geheilt  wurde:  „As  he  was  a 
robust  man,  of  a  plethoric  habit ,  and  was  very  desirous  of  obtaining  bis  hearing, 
I  took  twelve  ounces  of  blood  from  the  arm,  put  a  seton  (Haarseil)  in  the  nape  of 
his  neck,  and  applied  a  blister  behind  each  ear,  which  were  kept  open  for  a  fort- 
night,  he  took  five  grains  of  the  submuriate  of  mercury  every  night,  and  an  ounce 


;)  Vergl    Frorieps  Notizen,  Jahrg.  1822. 


Buchanan.  435 

and  a  half  of  the  sulphate  of  magnesia  twice  a  week;  at  the  same  time  adopting  a 
stiüct  antiphlogistic  regimen." 

Die  Untersuchungsmethode  bestand  in  der  oberflächlichen  Okularinspektion. 
Die  Diagnose,  ob  das  Trommelfell  intakt  oder  perforiert  sei,  wurde  meist  durch  die 
stumpfe  Sonde  gemacht,  wozu  freilich  ein  sehr  ausgebildeter  „tactus  eruditus" 
gehörte. 

])  Treatise  on  the  physiology  and  diseases  of  the  ear;  containing  a  compara- 
tive  view  of  its  structure  and  function  and  of  its  various  diseases  arranged  according 
to  the  anatomy  of  the  organ ,  or  as  they  affect  the  external ,  the  intermediate  and 
the  internal  ear.  London  1817,  1818,  1836.  —  2)  Cases  illustrative  of  the  treatment 
of  the  diseases  of  the  ear,  both  local  and  constitutional.  London  1818.  Ins  Deutsche 
übersetzt  von  Robbi.     Leipzig  1819,  1823. 

Außer  den  bereits  zitierten  Schriften  Curtis'  erwähnen  wir  noch:  An  essay  on 
the  deaf  and  dumb ,  showing  the  necessity  of  treatment  in  early  infancy,  with 
observations  on  congenital  deafness.  London,  2.  Edit.,  1834.  Uebersetzt  von  Wiese. 
Leipzig  1830.  —  Observations  on  the  Preservation  of  hearing.  Der  gegenwärtige 
Stand  der  Ohrenheilkunde.  (The  present  state  of  aural  surgery.)  Aus  dem  Eng- 
lischen.    Leipzig  1840. 

Thomas  Buchanan.  Der  bedeutende  Aufschwung,  den  die  Ohren- 
heilkunde in  Frankreich  durch  Itard  und  Saissy  nahm,  konnte  auch 
die  Otiatrie  in  England  und  Deutschland  nicht  unbeeinflußt  lassen.  Wir 
sahen,  daß  die  englischen  Aerzte  die  Durchbohrung  des  Trommelfells  mit 
großem  Eifer  betrieben,  dagegen  den  Katheterismus  der  Ohrtrompete 
gänzlich  außer  acht  ließen.  Der  erste,  der  in  Anlehnung  an  die  fran- 
zösische Schule  hierin  einen  Wandel  schuf,  war  der  Arzt  am  Dispensary 
für  Augen-  und  Ohrenkrankheiten  in  Hüll,  Thomas  Buchanan 
(1782 — 1853).  Seine  Leistungen  reichten  aber  an  die  der  Franzosen 
nicht  heran. 

Der  sein  Werk*)  einleitende  anatomisch-physiologische  Teil  ist  als  ganz  wertlos 
zu  bezeichnen.  So  legt  er  der  Formation  des  Ohrknorpels  und  der  qualitativen  und 
quantitativen  Beschaffenheit  des  Cerumens  eine  ihr  nicht  zukommende  Bedeutung 
für  das  Hören  bei.  Im  Gegensatz  zur  Ansicht  Itards  u.  a. ,  die  den  Verlust  des 
Ohrknorpels  für  die  Gehörfunktion  völlig  gleichgültig  hielten,  glaubt  er  aus  der 
Gestalt,  Anheftungsstelle  und  Tiefe  der  Ohrmuschel  wertvolle  Anhaltspunkte  für  die 
Hörperzeption  zu  finden.  Die  beste  Bedingung  für  ein  scharfes  Gehör  werde  gegeben, 
wenn  die  Ohrmuschel  weit  und  tief  geformt  sei,  das  Ohrläppchen  in  der  Diagonale 
vorwärts  gerichtet  stehe  und  der  Anheftungswinkel  des  Ohrknorpels  25 — 45  °  betrage. 

Zum  Beweise  seiner  Ansicht  bringt  Buchanan  zwei  Krankengeschichten,  die 
erweisen  sollten ,  daß  man  eine  Verbesserung  des  Gehörs  erwirken  könne ,  wenn 
der  Ohrknorpel  in  eine  Richtung  von  45°  zum  Schläfebein  gebracht  wird.  In  dem 
einen  der  Fälle  durchschnitt  sich  der  Patient  zufällig  die  Ohrmuschel.  Nach  erfolgter 
Heilung  bildete  der  Ohrknorpel  mit  dem  Schädel  einen  Winkel  von  45  °.  Nun  zeigte 
sich  die  überraschende  Erscheinung,  daß  der  Patient  auf  diesem  Ohre  besser  hörte 
als   auf  dem  unverletzten,    das  nur  in  einem  Winkel  von  ca.  10°  abstand.     Ebenso- 


*)  An  engraved  representation  of  the  anatomy  of  the  human  ear  etc.  Hüll  1823. 


436  Wright. 

wenig  beweisend  wie  diese  Krankengeschichte  sind  seine  mit  außerordentlicher 
Sorgfalt  angestellten  Messungen  (an  luO  lebenden  Individuen)  des  Durchmessers  des 
Ohrknorpels,  der  Ohrmuschel,  des  Gehörgangs  und  des  Insertionswinkels,  da  er 
nur  kurz  angibt,  ob  die  Personen  scharf-  oder  i]  ig  waren,  ohne  ein  Mali  für 

die  Hörweite  anzuführen  oder  über  seine  Untersuchungsergebnisse  des  inneren  Ohres 
zu  berichten.  Noch  übertriebener  sind  seine  Bemerkungen  über  den  Einfluß  des 
Ohrenschmalzes  auf  die  Gehörfunktion.  Er  schätzt  die  Zahl  der  Drüsen  auf  tausend 
bis  zweitausend  und  nennt  die  Auskleidung  des  Gehörgangs  mit  Ohrenschmalz 
„ceruminous  tubulär  circle".  Sie  soll  den  Zweck  haben,  die  Schallschwingungen 
durch  die  Raumverengerung  zusammenzudrängen,  die  Rauhheit  des  Gehörgangs  zu 
mildern  etc.  Bei  Ermangelung  dieses  Ohrenschmalzes  käme  es  zu  unregelmäßiger 
Schallbrechung  und  Schallzerstreuung.  Es  entspricht  dalier  auch  ganz  dieser  Denk- 
ise,  daß  Buchanan  besonders  darauf  bedacht  war.  durch  eine  Ohrensalbe  die 
Trockenheit  des  Gehörgangs  zu  beseitigen  und  hiedurch  zur  Hörverbesserung 
wesentlich  beizutragen.  Eür  eines  der  besten  Mittel  zur  Behandlung  der  Ohrenflüsse 
erklärt  er  das  Acid.  pyrolignosuni. 

Abgesehen  von  den  irrigen  physiologischen  Ansichten  enthalten  die  Arbeiten  *) 
Buchanans  doch  einige  praktische  Anleitungen  zur  Behandlung  der  Ohrenkrank- 
heiten. Bei  der  objektiven  Untersuchung  des  Trommelfells  schlug  er  zuerst  vor,  den 
äußeren  Gehörgang  durch  Abziehung  der  Ohrmuschel  nach  oben  und  hinten  gerade 
zu  strecken,  um  den  größeren  Teil  der  Membran  übersehen  zu  können.  Er  bediente 
sich  bei  künstlicher  Beleuchtung  eines  von  ihm  konstruierten  „Inspector  auris".  Zur 
Entfernung  von  verhärtetem  Ohrenschmalz  und  von  Fremdkörpern  verwendete  er  mit 
Vorliebe  eine  Spritze  mit  dünner  langer  Spitze,  die  genügend  Raum  für  das  ab- 
fließende ^\'asser  ließ.  Daß  er  bei  Tuben-  und  Trommelhöhlenkatarrhen  den  Kathete- 
rismus tubae  anwendete,  wurde  schon  früher  besprochen. 

Neben  den  bekanntesten  Otologen  dieser  Periode  war  noch  eine 
Reihe  von  Spezialärzten  von  geringerem  Rufe  schriftstellerisch  tätig. 
Von  ihnen  seien  J.   Swan**)  und  J.  Kennedv***)  erwähnt. 

William  Wright.  Das  mit  kritischer  Auswahl  geschriebene,  von 
großer  Literaturkenntnis  zeugende  Buch  des  Verfassers  „On  the  varieties 
of  deafness,  and  diseases  of  the  ear  with  proposed  methods  of  relieving 
them",  London  1829,  sollte  seiner  Form  und  seinem  Inhalte  nach  dem 
Praktiker  als  Leitfaden  dienen. 

Wright  tritt  energisch  gegen  die  Behandlung  der  Ohrerkrankungen  durch 
Apotheker  und  Wundärzte  auf,  warnt  vor  dem  Mißbrauch  der  Paracentese,  bei  der 
er  allerdings  die  Gefahr  der  Carotisverletzung  übertreibt,  und  erklärt  sich  als  Gegner 
reizender  Instillationen.  Die  Anwendung  von  Salben  im  äußeren  Gehörgang  solle 
nur  auf  geringe  Mengen  beschränkt  werden.  Er  nimmt  entschieden  Stellung  gegen 
die  um  diese  Zeit  angewendete  energische  Quecksilberbehandlung,  von  der  er  in  den 
meisten  Fällen    üble  Folgen   gesehen  haben  will.     Der  Autor  zieht  so  ziemlich  alles 

*)  Illustrations  of  acoustic  surgery.  London  1825.  Uebersetzt  ins  Deutsche  in 
Linckes  Sammlung,  Bd.il. —  Physiological  illustrations  of  the  organ  of  hearing  etc. 
London  1828.     Vergl.  in  Linckes  Sammlung,  Bd.  1. 

**)  Observation  on  some  points  relatings  to  Ihe  physiology  and  pathology  of 
the  ear.     Medico-chir.  transact.  for  the  year  1818,  T.  IX. 

**)  A  treatise  on  the  Eye  and  on  some  of  the  diseases  of  the  ear.   London  1813. 


Pilcher.  437 

zu  seiner  Zeit  bekannte ,  den  Praktiker  interessierende  in  Betracht  und  widmet 
mehrere  Kapitel  hygienischen  Ratschlägen.  Erwähnenswert  ist  auch  die  reiche 
Kasuistik,  die  er  allerdings  zum  Teil  seinen  anderen  Werken  entlehnt:  „An  essay 
on  the  ear,  its  anatomical  structure  and  incidental  complaints."  London  1818. 
„An  Address  to  Persons  afflicted  with  nervous  deafness."  J  »bservations  on  the 
improper  Öse  of  Mercury  in  Nervous  deafness."  „Piain  Advice  to  the  deaf."  „The 
Aurist.  or  JMedical  Guide  for  the  deaf."     London  1826. 

„A  new  and  familiär  Treatise  on  the  Structure  of  the  ear  and  on  deafness" 
von  Webster,  London  1836,  ist  ein  durchaus  populär  geschriebenes,  jedoch  wissen- 
schaftlich ganz  unbedeutendes  Buch,  das  manchmal  sogar  der  Popularität  zuliebe 
der  Wissenschaft  Gewalt  antut,  so  wenn  Webster  den  Mechanismus  des  Ohres  mit 
dem  einer  Dampfmaschine  vergleicht  (p.  70).  Das  letzte  Kapitel  ist  dem  von  ihm 
erfundenen  Otaphone  gewidmet. 

Der  Praktiker  A.  Turnbull  hat  in  seinem  Werke  „A  treatise  on  painful  and 
nervous  diseases",  London  1837,  auch  den  Ohrerkrankungen  ein  allerdings  nur  sechs 
Seiten  umfassendes  Kapitel  eingeräumt.  Seine  Kenntnisse  in  der  Ohrenheilkunde 
und  ihrer  Literatur  sind  so  gering,  daß  man  sich  nicht  wundern  darf,  wenn  er  mit 
seiner  in  dem  genannten  Werke  förmlich  als  Panacee  gepriesenen  Veratria  neur- 
algische Ohrenschmerzen,  subjektive  Geräusche,  Ohrenschmerzen  der  Kinder,  kurz  alle 
Ohrerkrankungen,  deren  er  allerdings  nur  wenige  kennt,  heilen  will. 

Seine  abenteuerliche  Phantasie  geht  so  weit,  daß  er  behauptet,  die  durch  Ver- 
größerung der  Tonsillen  entstandene  Schwerhörigkeit  durch  äußere  Applikation  einer 
Veratriasalbe  geheilt  zu  haben.  Von  allen  zeitgenössischen  Publikationen  scheint 
kaum  mehr  als  die  Coopersche  Perforation  des  Trommelfells  zu  ihm  gedrungen  zu 
sein,  die  ihn  offenbar  veranlaßte,  einen  plumpen,  zwecklosen,  von  ihm  „Aurexsektor" 
genannten  Trepan  zu  ersinnen  und  in  dem  genannten  Werke  abzubilden. 

Was  den  in  der  Literatur  des  öfteren  zitierten  plötzlichen  Todesfall  beim 
Katheterismus  tubae  durch  Turnbull  anlangt,  so  entnehmen  wir  Frorieps  Notizen 
1839,  Nr.  223  folgende  Daten.  Turnbull  ließ  einem  Kranken  von  seinem  Assistenten 
eine  Lufteintreibung  in  die  Trommelhöhle  durch  den  Katheter  mittels  einer  Luft- 
pumpe machen.  Der  Assistent  führte  den  Katheter  abwechselnd  in  die  rechte  und 
linke  Nasenhälfte  ein,  während  der  Kranke  selbst  die  Pumpe  handhabte.  Dabei 
trat  unter  dem  Bilde  eines  apoplektischen  Insultes  der  Tod  plötzlich  ein.  Bei  der 
gerichtlichen  Untersuchung  neigten  die  sehr  zurückhaltenden  Gutachten  der  Sach- 
verständigen allerdings  der  Annahme  eines  apoplektischen  Insultes  als  Todesursache 
zu,  allein  der  Sektionsbericht  läßt  uns  wohl  kaum  einen  Zweifel  über  die  wahr«' 
Todesursache.  Es  fanden  sich  Blutungen  und  Luftbläschen  unter  der  Dura,  Luft- 
embolie in  den  Duravenen  und  eine  Hämorrhagie  in  der  Trommelhöhle. 

Das  von  der  Medical  Society  of  London  preisgekrönte  Werk:  „A  treatise  on 
the  Structure,  economy  and  diseases  of  the  ear",  London  1838,  George  Pilchers 
wird  man  höher  schätzen,  wenn  man  sich  erinnert,  daß  es  nur  1  Jahr  später  er- 
schienen ist.  als  das  eben  besprochene  Buch  Turnbulls.  Pilchers  Buch  enthält 
wohl  nichts  Neues.  Aber  der  mit  guten  Abbildungen  übersichtlicher  Ohrpräparate 
versehene  kurze  Abriß  der  vergleichenden  und  deskriptiven  Anatomie  des  Gehörorgan-, 
der  die  ersten  zwei  Kapitel  des  Buches  füllt,  macht  durchaus  den  Eindruck  eigener 
Studien.  So  leugnet  er  auf  Grund  selbständiger  Präparation  die  von  Everard  Homo 
(S.  362)  beschriebenen  Muskelfasern  im  Trommelfell.  Dem  Abschnitte  über  Trommel- 
fellperforationen  ist  eine  Tafel  mit  mehreren  roh  ausgeführten  .  augenscheinlich  er- 
dachten Trommelfellbildern  beigegeben,  die  Pilcher  der  Abhandlung  AstleyCoopers 
entlehnt  hat. 


438  Yearsl.y. 

Das  Kapitel  über  Mißbildungen  enthält  nur  eine  Zusammenstellung  schon  be- 
kannten Materials,  mit  einer  für  einen  Ausländer  jedenfalls  anerkennenswerten  Be- 
rücksichtigung deutscher  Autoren. 

John  Stevenson,  Augen-  und  Ohrenarzt  in  London,  schrieb  außer  zahl- 
reichen Artikeln  in  englischen  Fachzeitschriften  ein  anspruchloses,  populär  gehaltenes 
Büchlein  betitelt  „Deafness,  its  causes  prevention  and  eure",  London  1839,  das  außer 
einigen  kasuistischen  Mitteilungen  des  Autors  nichts  Neues  enthält. 

Joseph  Williams  von  der  Universität  zu  Edinburgh  preisgekröntes  Buch: 
„Treatise  on  the  ear",  London  1840.  ist  keine  Originalarbeit,  enthält  aber  einige 
interessante  kasuistische  Mitteilungen. 

Ein  Büchlein,  das  höchstens  den  Wert  eines  Leitfadens  für  den  Studierenden 
beanspruchen  kann,  ist  William  Duftons  »The  Nature  and  treatment  of  deafness 
and  diseases  of  the  ear".     London  1844. 

Mehr  Beachtung  verdient  das  Werk  James  Yearsleys  » Deafness  practically 
illustrated,  being  an  exposition  of  the  nature,  causes  and  treatment  of  the  diseases 
of  the  ear".  London  1839.  In  dieser  sowie  in  mehreren  kleineren  Schriften*)  zeigt 
sich  Yearsley  im  Gegensatze  zu  seinen  englischen  Kollegen  in  der  zeitgenössischen 
deutschen  und  französischen  Literatur  bewandert. 

Die  von  Yearsley  verfaßten,  unter  verschiedenem  Titel  herausgegebenen 
Halbjahrsberichte  der  »Institution  for  curing  diseases  of  the  ear"  enthalten  außer 
statistischen  Daten  manche  instruktive  kasuistische  Mitteilungen  und  in  jedem  Hefte 
eine  größere  Abhandlung  aus  der  Pathologie  und  Therapie  der  Ohrenkrankheiten. 
Erwähnenswert  ist  die  von  ihm  zuerst  aufgestellte  Indikation  der  künstlichen  Perfo- 
ration des  Trommelfells  in  Fällen,  bei  denen  nach  narbigem  Verschluß  einer  durch 
Kiterung  entstandenen  Perforationsöffnung  eine  Hörverschlimmerung  eintritt.  Durch 
die  Wiederherstellung  der  Oeffnung  im  Trommelfell  wird  den  Schallwellen  ein  Weg 
zum  runden  Fenster  gebahnt,  dessen  Bedeutung  für  die  Schallperzeption  in  der 
»Schnecke  schon  durch  die  Arbeiten  Scarpas  und  Johannes  Müllers  besonders 
hervorgehoben  wurde. 

Sein  „Auriskop"  genannter  Beleuchtungsapparat,  sowie  sein  kompendiöser 
Apparat  zur  Einleitung  medikamentöser  Dämpfe  per  tubam  in  die  Trommelhöhle 
sind  bereits  vergessen.  Hingegen  knüpft  sich  der  Name  Yearsleys  an  seine  Erfindung 
des  künstlichen  Trommelfells,  das  er  in  Form  eines  Wattekügelchens  angab**).  Anlaß 
hierzu  bot  ein  Patient  mit  Perforation  des  Trommelfells,  der  durch  Einschieben  eines 
erweichten  Papierstückchens  in  die  Tiefe  des  Gehörgangs  sein  Gehör  zeitweilig  ver- 
bessern konnte.  Es  darf  jedoch  nicht  unerwähnt  bleiben,  daß  gleichzeitig  und  un- 
abhängig von  ihm  Erhard  in  Berlin  in  seiner  Dissertation  die  Einführung  des 
Wattekügelchens  bis  zum  perforierten  Trommelfell  als  hörverbesserndes  Mittel 
empfiehlt 

Die  Förderung,  die  die  Ohrenheilkunde  den  englischen  Forschern 
in  dieser  Periode  zu  danken  hat,  ist  nur  unbedeutend  gegenüber 
dem  anerkannten  Fortschritte  der  deutschen  und  französischen  Otiatrie 
dieser  Periode. 


*)  Practical  Observation   on   the  catheterism  of  the  Eustachian  passages  etc. 
London  1839. 

i  The  Lancet  1848. 
**)  De  auditu  quodam  dif'ficili  nondum  observato.     Berlin  1849. 


Itard.  439 

Der  tiefe  Stand  der  Otiatrie  in  England  wird  am  besten  gekenn- 
zeichnet durch  die  Worte  Yearsleys: 

„It  must  further  be  observed,  that  in  no  department  of  medical 
science  are  we  so  much  behind  our  Continental  neighbours ,  as  in  the 
treatment  of  aural  disease.  The  explanation  of  this  fact  may  be  found 
in  the  statement  just  made,  that,  in  this  country,  the  subject  has  hitherto 
been  treated  only  by  non-professional  persons ;  whereas,  on  the  continent, 
we  find  such  men  as  Kramer,  Itard,  Deleau,  Saissy,  and  others. 
devoting  their  best  energies  to  its  improvement.  And  with  what  success, 
is  evidenced  in  their  works.  Most  of  the  British  practitioners,  indeed, 
in  this  branch,  are  still  blundering  on,  amidst  the  same  unsuccessful 
results,  as  have  for  ages  past  attended  the  practice  of  aural  surgery. 
The  remedial  measures  are  still  limited  to  syringing,  blisters,  irritating 
ointments,  purgatives,  acoustic  oils,  stimulating  ear-drops,  acrid  injections, 
emetics,  gargles  etc.  over  and  over  again  employed,  and  that,  in  all 
cases,  without  any  discrimination  or  judgment.  Wherever  the  disease 
of  the  ear  may  be,  whether  external  or  internal  to  the  membrane  of 
the  drum ,  the  same  senseless  and  generally  inefficient  means  are  pres- 
cribed"*). 

Frankreich. 

Einen  ungleich  größeren  Umfang  erreichte  die  praktische  Ohren- 
heilkunde in  Frankreich,  wo  die  Diagnostik  und  Therapie  der  Ohren- 
krankheiten auf  rationellerer  Grundlage  entwickelt  wurde ,  als  bei  den 
englischen  Vertretern  des  Faches.  In  erster  Reihe  sind  Itard  und 
Saissy  zu  nennen,  die  im  Beginne  des  Jahrhunderts  den  ersten  Anstoß 
zu  einer  exakteren  Forschungsmethode  gaben. 

Jean  Marie  Gaspard  Itard,  1775  zu  Oraison  in  der  Provence 
geboren,  ergriff'  nach  Absolvierung  seiner  Studien  die  kaufmännische 
Laufbahn  und  wurde  nur  durch  einen  eigentümlichen  Zufall  gezwungen, 
sich  der  Medizin  zuzuwenden.  Als  er  nämlich  in  der  Absicht,  sich  der 
Anwerbung  zum  Militärdienst  zu  entziehen,  vorgab,  Mediziner  zu  sein, 
wurde  er  trotz  seiner  gänzlichen  Unkenntnis  auf  medizinischem  Gebiete 
als  Unterarzt  an  das  Militärspital  in  Saliers  gewiesen.  Rasch  fand  er 
sich  in  dem  neuen  Beruf  zurecht  und  wurde  in  kurzer  Aufeinander- 
folge „Chirurgien  interne"  am  Hospital  d'instruction  zu  Paris,  dann 
„Chirurgien  aide-major"  des  Val-de-Gräce  und  endlich  Arzt  des  Pariser 
Taubstummeninstitutes.     Er  starb  am  5.  Juli  1838  in  Paris. 

Seine  Schrift  „Traite  des  maladies  de  Toreille  et  de  l'audition" 
(Paris    1821)    enthält    in     origineller    Darstellung    die    Resultate    seiner 

*)  Deaf'ness  successfully  treated,  through  the  passages  leading  from  the  throat 
to  the  ear.  Report  of  the  medical  proceedings  of  the  „Institution  for  curing  disease 
of  the  eara.     London  1841. 


440  Itard. 

zwanzigjährigen  Tätigkeit  (am  königlichen  Pariser  Taubsturnmeninstitut) 
und  bildet  durch  die  heigegebene,  sorgfältig  gewählte  instruktive  Kasuistik 
eine  Fundgrube  ausgezeichneter,  mit  kritischem  Blicke  klargestellter  Be- 
obachtungen. Was  diesem  Buche  einen  besonderen  Wert  verleiht,  ist 
die  seltene  Aufrichtigkeit,  mit  der  es  sogar  die  Mängel  und  Schatten- 
seiten der  angewandten  therapeutischen  Methoden  hervorkehrt.  Itard s 
Einfluß  ist  es  in  erster  Linie  zu  danken,  daß  auch  in  Deutschland  und 
England  endlich  mit  dem  alten  Schlendrian  gebrochen  wurde.  Wenn 
man  den  tiefen  Stand  der  Ohrenheilkunde  vor  ihm  bedenkt,  so  ist  es 
erklärlich,  daß  auch  Itard  sich  von  vielen  Irrtümern  seiner  Vorgänger 
nicht  ganz  frei  machen  konnte. 

Das  Werk  zerfällt  in  zwei  Teile,  von  denen  der  erste  die  Abschnitte  über 
Anatomie  und  Physiologie  und  über  Pathologie  umfaßt,  während  der  zweite  Teil 
ausschließlich  den  Öhrenkrankheiten  gewidmet  ist.  Der  anatomisch-physiologische 
Teil  enthält  in  gedrängter  Kürze  nur  bereits  Bekanntes.  Der  pathologische  Teil 
bringt  172  Krankengeschichten,  zum  großen  Teile  selbst  beobachteter  Fälle. 

Befremdend  wirkt  in  Itards  Monographie  die  doppelte  Betrachtungsweise  der 
Ohrenkrankheiten,  die  er  einmal  nach  der  anatomischen  Lokalisation  beschreibt, 
dann  wieder  unter  dem  funktionellen  Begriff  „ Krankheiten  des  Gehörs"  noch- 
mals subsumiert,  eine  Darstellung,  die  auf  den  ersten  Blick  etwas  verwirrend  wirkt. 

Das  System,  in  das  Itard  die  Krankheiten  des  Gehörorgans  zu  bringen 
versucht,  steht  nach  keiner  Richtung  mit  unseren  heutigen  Anschauungen  in  Ein- 
klang. Bei  ihm  wie  bei  seinen  Zeitgenossen  macht  sich  bei  der  Darstellung  der 
Ohrerkrankungen  der  Mangel  pathologisch-anatomischer  Kenntnisse  in  auffälliger 
Weise  geltend. 

Itard  behandelt  im  ersten  Buche,  das  von  anatomischer  Lokalisation  geleitet 
ist :  a)  Krankheiten ,  die  dem  inneren  und  äußeren  Ohr  gemeinsam  sind ,  Ohrenent- 
zündung (Otitis).  Ohrenfluß  (Otorrhoea),  Ohrenschmerz  (Otalgia).  Fremdkörper  (Würmer, 
Insekten) ;  b)  Krankheiten  des  äußeren  Ohres  (Imperforation.  Verengerung  des  Gehör- 
gangs, Polypen,  Verstopfung  durch  Ohrenschmalz,  Fremdkörper,  krankhafte  Erweiterung 
des  Gehörgangs);  c)  Krankheiten  des  inneren  Ohres  (Ruptur  des  Trommelfells,  Ver- 
dickung, Erschlaffung  und  Anspannung  des  Trommelfells,  Obstruktion  der  Trommel- 
höhle, Entzündung.  Verschließung  der  Tuba,  Atrophie  des  Acusticus,  Mangel  an 
Cotunnischer  Feuchtigkeit).  Im  zweiten  Buche  finden  sich  unter  dem  Gesamt- 
begriff Krankheiten  des  Gehörs  folgende  Abschnitte :  1.  Erhöhung  des  Gehörs;  2.  Ver- 
dorbenheit des  Gehörs  (Ohrtönen  und  andere  akustische  Anomalien) ;  3.  Verminderung 
oder  Vernichtung  des  Gehörs  (Dysecoia,  Cophosis),  die  letzte  Gruppe  zerfällt  in 
achtzehn  Unterabteilungen.  Die  Taubheit  könne  nämlich  bedingt  sein  durch  schlei- 
migen, eiterförmigen  Ausfluß,  Ulzeration  und  Karies,  Gehörgangsexkreszenzen,  Kon- 
kretionen im  Gehörgange,  Verschließung,  Erweiterung  des  Gehörgangs,  Verdickung, 
Perforation  des  Trommelfells,  Kontinuitätstrennung  der  Gehörknöchelchen,  Ver- 
schließung der  Tuba,  Verstopfung,  Blutkongestion  des  inneren  Ohres,  Kompression. 
Paralyse  des  Gehörnerven*);  endlich  kennt  der  Verfasser  Taubheit  durch  Plethora, 
Metastase,  Diathese  oder  Bilduncrsanomalien. 


*)  Die  bereits  von  Sylvius  und  Hoff  mann  beobachtete  Atrophie  des  Hör- 
nerven bei  Taubstummen  konstatierte  auch  Itard;  doch  sah  er  sie  nicht  als  die 
Ursache,  sondern  als  die  Folge  der  Taubheit  an. 


ltard.  441 

Itartl  subsumiert  unter  den  Begriff  „0  titisu  die  Entzündungen  des  äußeren 
und  inneren  (mittleren)  Ohres.  Er  teilt  die  Entzündungen  ein  in  die  katarrhalische 
äußere ,  eiterhafte  äußere ,  katarrhalische  innere  und  eiterhafte  innere  Otitis.  Die 
chronischen  Entzündungen  erscheinen  unter  dem  Sammelbegriff  Otorrhoea,  die  wieder 
in  schleimige  und  eitrige,  lokal  bedingte  oder  sympathische  (durch  Karies  der  um- 
gebenden Knochen,  Parotitiden,  Zerebralotorrhoen)  zerfiel.  Zu  tadeln  ist,  daß  ltard 
für  die  Diagnostik  der  Otitiden  lediglich  auf  die  Intensität  der  subjektiven  Symptome 
und  auf  die  Art  und  den  Ausflußort  des  Eiters  (Gehörgang  oder  Rachen)  verwies, 
dagegen  die  Okularinspektion  sehr  vernachlässigte.  Zu  tadeln  ist  ferner  die  Trennung 
der  Otitis  von  ihren  Folgezuständen,  indem  er  die  Verengerung  des  Gehörgangs,  die 
Polypen  etc.  als  selbständige  Erkrankungen  abhandelt.  Dagegen  ließ  er  andere  will- 
kürlich konstruierte,  pathologische  Folgezustände  wie  die  Erschlaffung  und  An- 
spannung des  Trommelfells,  die  Trennung  und  Verwachsung  der  Gehörknöchelchen, 
die  hypothetische  Lähmung  und  Konvulsion  der  inneren  Muskeln  des  Ohres,  gänzlich 
fallen.  Befremdend  wirkt  seine  Angabe  über  den  Mangel  oder  die  Verminderung 
der  Cotunnischen  Flüssigkeit. 

Das  Kapitel  über  Erkrankungen  des  Labyrinths  bietet,  mangels  einer 
pathologischanatomischen  Grundlage,  wenig  Interesse.  Immerhin  widmet  er  der 
durch  Paralyse  des  Hörnerven  hervorgerufenen  Taubheit  ein  umfangreiches 
Kapitel.  In  einem  besonderen  Abschnitt  behandelt  er  die  Taubheit  infolge  Kom- 
pression des  Hörnervenstammes  durch  Hirntumoren.  Als  diagnostisch  wichtige 
Symptome  dieser  zerebralen  Hörstörung  führt  ltard.  an:  Kopfschmerz.  Schwindel, 
Gedächtnisschwäche  und  peripher  wahrnehmbare  Störungen  anderer  Hirnnerven. 
ltard  beschreibt  auch  einen  Fall  von  zweifelloser  Labyrintheiterung  (Beobachtung  22), 
Jen  er  aber  irrtümlich  als  Otorrhoea  cerebralis  deutet. 

Bezüglich  der  Therapie  stand  ltard  zum  Teil  noch  unter  dem  Einflüsse 
seiner  Vorgänger,  indem  noch  Aderlässe,  Blutegel,  Haarseile,  Brech-  und  Abführ- 
mittel, Tonika.  Quecksilberpräparate  bei  ihm  eine  große  Rolle  spielen.  Ein  beson- 
deres Verdienst  erwarb  er  sich  aber  durch  die  Vereinfachung  des  Katheterismus 
tubae,  durch  die  rationellere  Anwendung  von  Injektionen  per  Katheter  und  durch 
sein  energisches  Auftreten  gegen  die  planlose  Durchbohrung  des  Warzenfortsatzes. 
Hier  geht  ltard  zu  weit,  wenn  er  diese  Operation  auch  bei  Abszeß  und  Karies  des 
Warzenfortsatzes  verwirft  und  den  spontanen  Durchbruch  abzuwarten  empfiehlt. 

Ungleich  größeren  Wert  mißt  ltard  der  Trommelfellperforation  bei, 
die  er  zur  Entleerung  von  eitrigem  Sekrete  aus  der  Trommelhöhle  anwendet.  Um 
das  Sekret  gründlich  zu  entfernen  empfiehlt  er  Injektionen  von  auflösenden  und 
reinigenden  Flüssigkeiten  durch  die  Perforation  in  die  Trommelhöhle.  Diese  sind  be- 
sonders dann  indiziert,  wenn  nach  der  Paracentese  keine  Hörverbesserung  eintritt. 
unrationell  erscheint  uns  der  Vorschlag  Itards,  die  Injektionen  in  den  Gehörgang 
10 — 12mal  täglich  zu  wiederholen  und  bei  andauerndem  Schmerz,  Schwindel,  Sausen 
durch  luftdichtes  Einfügen  des  Spritzenansatzes  in  den  Gehörgang  die  Flüssigkeit, 
bis  zum  Abfließen  durch  den  Schlund,  durch  das  Mittelohr  zu  pressen.  Er  bemerkt 
aber  ausdrücklich,  daß  durch  diese  Methode  (die  wir  jetzt  nur  bei  chronischen 
Mittelohreiterungen  anwenden)  zuweilen  starker  Schwindel,  Kopfschmerz  und  Ohren- 
sausen hervorgerufen  wird  und  daß  er  in  den  meisten  Fällen  der  Injektion  per  tubam 
vermittels  des  Katheters  den  Vorzug  gebe.  Das  Instrumentarium  Itards  besteht  aus 
einer  Injektionsspritze ,  einem  Katheter  aus  Silber,  einer  Bougie  von  elastischem 
Harz  und  einem  mit  einer  Pinzette  verbundenen  metallenen  Stirnband  zur  Fixation 
des  Katheters. 

Zur  Injektion  in  die  Tube  wendete  ltard  nur  selten  laues  Wasser  an,  sondern 


142  Itard. 

Meerwasser ,  Lösungen  von  salzsaurer  Soda ,  Eisenoxyd  etc.  oder  Abkochungen  ad- 
stringierender  Pflanzen,  Dekokt  von  Tabaksblättern,  ätherische  Tinkturen  von  Arniku  etc. 

Statt  der  Flüssigkeiten  brachte  er  auch  gasförmige  Vaporisationen  und  Furni- 
gationen  wie  Rauch  von  Tabak,  von  geröstetem  Kaffee,  von  getrockneter  Raute  oder 
endlich  Aetherdämpfe  in  Anwendung,  letztere  sollten  bei  „nervöser"  Taubheit  von 
besonderem  Nutzen  sein. 

Itard  bediente  sieh  hierzu  einer  Phiole,  deren  Hals  in  eine  kupferne,  mit 
einem  Hahn  versehene,  genau  in  die  Kathetermündung  passende  Röhre  endigte.  In 
diese  Phiole  goß  er  Essigäther,  stellte  sie,  durch  den  Hahn  wohlverschlossen,  eine 
Minute  lang  in  heißes  Wasser,  nahm  sie  dann  heraus  und  öffnete,  nach  dem  Einfügen 
in  den  Katheter,  rasch  den  Hahn.  Diese  Prozedur  wurde  mehrmals  hintereinander 
wiederholt. 

Hervorzuheben  ist,  daß  Itard  den  Lufteintreibungen  in  die  Trommelhöhle 
durch  den  Katheter,  denen  später  eine  so  große  Rolle  in  der  Behandlung  der  Mittel- 
oh raffektionen  zufiel  und  die  er  durch  8  Jahre  in  238  Fällen  anwendete,  jeden 
therapeutischen  Wert  abspricht  *). 

In  seiner  Eigenschaft  als  langjähriger  Arzt  der  „Institution  des  sourds  et 
muets"  in  Paris  widmete  sich  Itard  auch  eingehend  dem  Studium  der  Taub- 
stummheit. In  dem  betreffenden  Abschnitte  seines  Werkes  spricht  er  sich  dahin 
aus,  daß  die  die  Taubstummheit  bedingenden  anatomischen  Veränderungen  im 
Gehörorgane,  sofern  die  Taubstummheit  nicht  angeboren  ist,  dieselben  sein  können 
wie  die  bei  der  erworbenen  Taubheit,  und  daß  die  Stummheit  nur  dann  eintritt, 
wenn  Taubheit  im  frühen  Kindesalter  entsteht.  Als  pathologische  Veränderungen 
führt  er  an:  Anfüllung  der  Trommelhöhle  mit  kreidigen  Massen,  Neubildungen,  de- 
struktive Prozesse  im  Gehörorgan,  schleimige  Degeneration  des  Hörnerven  etc. 

Er  teilt  die  Taubstummen  in  Gruppen  ein.  Die  erste  hört  noch  die  Sprache, 
die  zweite  die  Stimme,  die  dritte  noch  die  Töne,  die  vierte  nur  mehr  Lärm,  die 
fünfte  endlich  ist  gegen  Töne  und  Geräusche  vollkommen  taub.  Interessant  sind 
seine  Beobachtungen  über  den  Geistes-  und  Gemütszustand  der  Taubstummen.  In 
zahlreichen  Krankengeschichten  teilt  er  die  mannigfaltigen  Heilungsversuche  mit, 
die  von  ihm  und  anderen  Aerzten  bei  Taubstummen  versucht  wurden.  Unter  diesen 
Versuchen  ist  besonders  die  Durchbohrung  des  Trommelfells  zu  nennen,  die  er  in 
13  Fällen  ausführte,  ohne  sich  auch  nur  eines  einzigen  Erfolges  rühmen  zu  können. 
Gelegentlich  eines  Besuches  bei  Abbe  Sicard  im  Jahre  1802,  der  sich  mit  dem 
Unterrichte  der  Taubstummen  befaßte,  will  Itard  bemerkt  haben,  daß  die  taub- 
stummen Kinder  umso  leisere  Töne  zu  vernehmen  im  stände  waren,  je  länger  sie 
mit  Instrumenten  geprüft  wurden.  Dies  war  ihm  „ein  Lichtstrahl,  der  ihm  auf  dem 
Wege,  einen  schon  bei  der  Geburt  gelähmten  Sinn  wieder  zu  beleben,  leuchten  sollte". 

Dies  brachte  Itard  auf  den  Gedanken,  das  Gehör  bei  Taubstummen  durch 
Hör  Übungen  zu  verbessern.  Es  spricht  für  seine  rationelle  Denkungsart ,  daß  er, 
die  schweren  pathologischen  Veränderungen  im  Gehörorgane  berücksichtigend,  die 
total  tauben  Zöglinge  von  den  Hörübungen  ausschloß.  Seine  Methode  machte 
im  Laufe  seiner  Lehrtätigkeit  viele  Modifikationen  durch.  Anfangs  suchte  er  das 
Gehör  durch  den  Ton  einer  großen  Turmglocke  zu  üben,  die  er  von  Tag  zu  Tag 
schwächer  anschlug.  Er  kam  jedoch  bald  auf  die  Idee,  statt  der  Schallstärke  die 
Entfernung  der  Schallquelle  zu  variieren. 

Er  stellte  seine  Zöglinge  (ausgenommen  die  der  fünften  Kategorie)  in  einem 
langen   fensterlosen  Gange   in    einer  Reihe    auf,    entfernte  sich  mit  einer  Stutz-Uhr- 


I    Mem.  de  l'Acad.  Roy.  de  med.    Paris  1836.  T.  V. 


Tafel  XXIX 


J.  M.  GASPARD  ITARD 


Itard.  443 

glocke  von  ihnen  und  merkte  die  Entfernung  an ,  in  der  jeder  von  ihnen  zu  hören 
aufhörte.  Bei  diesen  Uebungen  machte  Itard  die  Beobachtung,  daß  die  Verbesserung 
der  Hörweite  für  einzelne  Töne  nur  bis  zu  einer  bestimmten  Grenze  geht.  Ist  diese 
Grenze  erreicht,  dann  ist  auch  jede  weitere  Mühe  umsonst.  Erzielt  man  dann  doch 
noch  eine  Hörverbesserung  für  Töne,  so  geht  sie  meist  schon  innerhalb  24  Stunden 
wieder  verloren.  Alle  diese  mühevollen  Uebungen  „ hatten  nur  den  Zweck,  die 
Empfindlichkeit  der  Gehörorgane  zu  vermehren'1  *). 

Weit  schwieriger  war  die  Aufgabe,  sie  „zu  den  verschiedenen  Arten  der  Per- 
zeption  geschickt  zu  machen".  Die  Kinder  mußten  den  Unterschied  zwischen  starken 
und  schwachen  Tönen,  ihre  Richtung  und  ihre  Verschiedenheit  bei  den  einzelnen 
Instrumenten  kennen  lernen.  Mit  den  erzielten  Resultaten  gab  sich  Itard  nicht 
zufrieden.  Es  galt  noch  den  Taubstummen  die  Sprache  durch  das  Gehör  verständlich 
zu  machen.  Der  Schwierigkeit  dieser  Aufgabe  war  er  sich  wohl  bewußt,  da  er 
die  Beobachtung  machte,  „daß  ein  stumpfes  Ohr  die  Töne  und  halben  Töne  der 
musikalischen  Tonleiter  weit  leichter  deutlich  unterscheidet,  als  die  verschiedenen 
Vokale".  Die  Methode,  die  er  nun  anzuwenden  versuchte,  bestand  darin,  daß  er 
sich  hinter  die  Kinder  stellte  und  die  Vokale  laut  aussprach.  Auf  diese  Weise 
konnte  er  jedoch  keinen  Erfolg  erzielen.  Kein  einziger  seiner  Zöglinge  versuchte  es, 
auch  nur  einen  Laut  nachzusprechen.  Itard  mußte  den  Versuch  aufgeben  und 
ihnen  erst  durch  Zeichen  verständlich  machen ,  daß  sie  sich  bemühen  müßten ,  das 
Vorgesprochene  zu  wiederholen.  Darauf  nahm  er  den  Versuch  von  neuem  vor. 
Allein  er  entlockte  ihnen  so  unartikulierte  Laute,  daß  er  bald  zu  der  Ueberzeugung 
kam,  die  Hörübungen  würden  niemals  zum  Verständnis  der  Sprache  führen.  Er 
ersann  eine  Methode,  die  derjenigen  Heinickes  wohl  sehr  nahe  kommt,  doch  dürfte 
er  Heinickes  Unterrichtsmethode  (S.  430)  nicht  gekannt  haben.  Er  ließ  seine  Zög- 
linge, während  er  die  Laute,  die  er  ihnen  verständlich  machen  wollte,  deutlich  aus- 
sprach, auf  die  Bewegungen  seiner  Sprachorgane  achten.  Dies  hatte  den  Vorteil, 
daß  neben  der  Verwendung  ihrer  Hörreste  und  der  Heranziehung  des  Gesichtssinnes 
zum  Verständnis  des  Gesprochenen,  auch  ihr  Nachahmungstrieb  geweckt  wurde,  der 
sie  veranlaßte,  sich  im  Sprechen  zu  üben. 

Bei  den  Vokalen  ging  dies  noch  verhältnismäßig  leicht.  Eine  unerschütterliche 
Geduld  und  mannigfache  Kunstgriffe  erforderte  es  jedoch ,  die  Taubstummen  zum 
Nachsprechen  der  Konsonanten  zu  bewegen.  So  mußte  er  beispielsweise  bei  einem 
seiner  Zöglinge  jedem  Konsonanten  die  Silbe  ra  voraussetzen ,  um  ihm  den  Konso- 
nanten einzuprägen. 

Itard  wählte  von  den  Zöglingen  seines  Institutes  sechs  aus,  um  sie  persönlich 
nach  dieser  Methode  zu  unterrichten,  während  die  übrigen  Schüler  seines  Institutes 
von  Lehrern  in  der  Zeichensprache  unterrichtet  wurden.  Von  den  sechs  Knaben 
schickte  er  drei  bald  wieder  in  das  Institut  zurück,  angeblich  aus  äußeren  Gründen, 
wahrscheinlich  jedoch,  weil  die  Erfolge  nicht  ermutigend  waren.  Den  anderen  drei 
Knaben  ließ  er  seinen  persönlichen  Unterricht  weiter  angedeihen,  bis  er  sie  für  ge- 
nügend ausgebildet  hielt.  Aber  das  erzielte  Resultat  war  auch  hier  sehr  ungleich- 
artig, denn  nur  einer  scheint  den  gehegten  Erwartungen  entsprochen  zu  haben. 
Und  dieser  eine  war  gerade  derjenige,  der  das  geringste  Hörvermögen  besaß  und 
dessen  Taubheit  nach  Itards  eigenen  Worten  „von  der  Art  war,  daß  sein  Gehör 
nie  sehr  weit  entwickelt  werden  konnte".  Diese  Tatsache  ist  wohl  ein  Beweis  dafür, 
daß  die  optimistischen  Hoffnungen,  die  Itard  an  die  Hörübungen  knüpfte,  nicht 
in  Erfüllung  gegangen  waren  und  auch  der  geringe  Erfolg  nur  auf  die  Fortschritte 

*)  p.  523. 


|  |  |  >;ihs\  , 

im  Ablesen  des  Gesprochenen  vom  Munde  und  auf  die  Entwicklung  der  Intelligenz 
zurückgeführt  werden  konnte. 

Die  von  ltard  versuchte  Unterrichtsmethode  sollte  vor  der  Zeichensprache 
den  Vorteil  haben,  die  Taubstummen  in  den  Stand  zu  setzen,  nicht  nur  untereinander, 
sondern  auch  in  der  Gesellschaft  Vollsinniger  zu  verkehren.  Mit  dem  im  Vergleich 
zu  der  aufgewendeten  Midie  und  Zeit  kaum  nennenswerten  Resultate,  stimmt  es 
überein,  daß  ltard  am  Schlüsse  dieses  Kapitels  doch  die  Zeichensprache  mit  den 
AVorten :  „ Diese  hat  die  Natur  den  Taubstummen  angewiesen  und  gewährt  den  Vorteil, 
daß  sie  durch  dieselbe  miteinander  verkehren  können,"  als  souveräne  Unterrichts- 
methode empfiehlt. 

Trotz  der  wenig  ermunternden  Anregungen  Itards  wurden  die  Hörübungen 
in  verschiedenen  Taubstummenanstalten  versucht,  um  nach  längeren  resultatlosen 
Bemühungen  wieder  aufgegeben  zu  werden.  Umso  erstaunlicher  ist  es.  daß  diese 
aussichtslosen  Bemühungen  in  den  Dreißigerjahren  von  Dr.  Baries  in  Berlin,  zu 
Ende  der  Achtzigerjahre  von  Abbe  Verrier  in  Bourg  la  Reine  und  im  letzten 
Dezennium  des  vorigen  Jahrhunderts  von  Urbantschitsch  in  Wien  wieder  auf- 
genommen wurden.  Die  zahlreichen  Nachprüfungen  durch  hervorragende  Autoritäten 
wie  Bezold,  Passow,  Treitel,  Kessel,  Heimann,  Gutzmann  u.a.  haben  er- 
wiesen, daß  durch  Hörübungen  bei  Taubstummen  von  einer  Erweiterung  des  Gehörs 
keine  Rede  sein  kann. 

Antoine  Saissy,  1756  in  Mongin  (Provence)  geboren,  von  den 
Eltern  zum  Landmann  bestimmt,  genoß  bis  zum  22.  Jahre  nur  elemen- 
tarsten Unterricht.  Der  Zufall  führte  medizinische  Bücher  in  seine 
Hände.  Mit  erstaunlicher  Raschheit  übersprang  er  die  Stufen  der  nötigen 
Vorbildung,  um  sich  in  voller  Begeisterung  der  Heilwissenschaft  zu 
widmen.  Vom  Jahre  1777 — 1782  findtm  wir  ihn  zu  Paris,  wo  er  mit 
großem  Eifer  dem  medizinischen  Unterrichte  folgte.  1783  trat  er  als 
Chirurg  in  die  Praxis,  verließ  1786  Frankreich,  um  als  Chirurgien-major 
der  königlichen  Handelsgesellschaft  drei  Jahre  unter  den  Barbaresken 
zu  verweilen.  Zurückgekehrt,  lenkte  er  durch  seine  preisgekrönte  Schrift 
über  den  Winterschlaf  der  Tiere  die  Aufmerksamkeit  der  Gelehrten 
auf  sich.  Erst  im  vorgerückten  Alter  wandte  er  sich  der  Ohren- 
heilkunde zu  und  überreichte  1814  der  medizinischen  Gesellschaft  zu 
Bordeaux  als  Frucht  seiner  eingehenden  Studien  seine  mit  großem  Bei- 
fall aufgenommene  Abhandlung  über  die  inneren  Krankheiten  des  Ohres. 
Bis  zu  seinem  1822  erfolgten  Tode  bemühte  er  sich,  diese  Schrift  zu 
erweitern  und  zu  verbessern. 

Saissys  Werk")  über  die  Krankheiten  des  inneren  Ohres  gehört 
unstreitig  zu  den  besten  dieser  Periode,  da  es  trotz  seiner  großen 
Mängel  eine  genauere  Kenntnis  einiger  Krankheitsformen  des  Mittel- 
ohrs  und  der  Eustachischen  Röhre  vorbereitete.  Es  zerfällt  in  sechs 
Abschnitte,  welche  die  Krankheiten   des  Trommelfells,  der  Trommelhöhle 


*)  Essai   sur    les   maladies    de    l'oreille   interne.     Pari.-,  Lyon  1827.     Deutsche 
Ausgabe:  Ilmenau  1829,  übers,  von  C.  Fitzler. 


SaissJ-  __ '_  445 

und   des    Proc.    mastoideus,    der    Eustachischen    Röhre,     der    Teile    die 
letztere  umgeben,  des  Labyrinths  und  des  Gehörnerven  behandeln. 

In  dem  Abschnitt  von  den  Krankheiten  des  Trommelfells  wird  als 
selbständige  Form  die  schwammige  Haut,  welche  das  Trommelfell  des  Neu- 
geborenen bedeckt  („De  la  membrane  fongueuse  qui  recouvre  celle  du  tyrnpan") 
beschrieben.  Auf  Grund  mehrerer  in  der  Literatur  angeführter  Fälle  mißt  er  dieser 
im  Normalen  vorkommenden,  dicken  Epidermislage  bei  Neugeborenen  eine  ihr  keines- 
wegs zukommende  Bedeutung  für  die  Pathologie  (z.  B.  der  Taubstummheit)  bei. 

Saissy  behauptet,  zuerst  vom  Trommelfell  entspringende  Polypen  be- 
obachtet zu  haben,  da  er  in  der  Literatur  keinen  hierauf  bezüglichen  Fall  gefunden 
hätte.  Er  beschreibt  nur  einen  Fall .  bei  dem  er  nach  Entfernung  des  Polypen 
einen  rötlichen  Fleck  am  Trommelfelle  sah.  den  er  als  die  Stelle  deutete,  wo  der 
Stiel  des  Polygen  aufgesessen  sei. 

Was  Saissy  über  die  Erschlaf fung  des  Trommelfells,  die  er  otoskopisch 
nicht  beobachtet  hat,  mitteilt,  beruht  auf  theoretischer  Spekulation.  Die  weitläufig 
aus  der  Literatur  herbeigezogene  Aetiologie  dieser  Erkrankung  ist  so  verworren  und 
phantastisch,  daß  wir  auf  eine  nähere  Wiedergabe  seiner  Ansichten  verzichten  können. 
Interesse  verdient  ein  von  Saissy  geschilderter  Fall,  bei  dem  otoskopisch 
das  Trommelfell  „hinabgedrückt"  war  und  eine  zitzenähnliche  Vertiefung  in  die 
Trommelhöhle  (eul  de  lampe)  bildete.  Er  warnt  in  solchen  Fä.llen  vor  Einsjjritzungen 
in  den  äußeren  Gehörgang,  empfiehlt  dagegen  anstatt  der  einfachen  Luftdusche  mit 
dem  Katheter  die  jetzt  als  schädlich  angesehenen  Injektionen  per  tubam. 

Was  Saissy  als  Entzündung  des  Trommelfells,  ohne  den  Trommelfell- 
befund  zu  erwähnen,  beschreibt,  kann  nach  den  Symptomen  zu  schließen  eher  als 
akute  eitrige  Otitis  gedeutet  werden. 

Bei  Besprechung  der  Verdickung  des  Trommelfells,  die  er  irr- 
tümlich als  primäre  Erkrankung  und  ohne  Trommelfellbefund  schildert,  unterzieht 
er  die  Coopersche  Perforation  des  Trommelfells  einer  scharfen  Kritik, 
erklärt  die  Ausführung  der  Operation  für  unsicher,  nicht  gefahrlos  und  ohne 
die  von  Itard  vorgeschlagene  Injektion  medikamentöser  Flüssigkeiten  für  voll- 
ständig wirkungslos.  Indiziert  sei  die  Perforation  nur  1.  bei  Verkn  orpel  un  g  (?) 
oder  Verknöcherung  des  Trommelfells  bei  sonst  intaktem  Zustande  der  übrigen 
Teile  des  Ohres;  2.  bei  Undurchgängigkeit  der  Eustachischen  Ohrtromjjete  infolge 
von  Bildungsfehlern,  chronischer  Anschwellung  und  bei  Strikturen  des  Kanals.  In 
jedem  anderen  Fall  von  Schwerhörigkeit  sei  sie  absolut  zu  verwerfen.  Das  Instrumen- 
tarium und  die  Technik  der  Co  op  ersehen  Operation  wurden  von  ihm  wesentlich 
modifiziert.  Er  verwendet  eine  elastische  statt  der  silbernen  Troikartkanüle,  einen 
dickeren  und  an  der  Spitze  gekrümmten  Troikartstachel  und  empfiehlt  zur  Offrn- 
haltung  der  künstlichen  Oeffnung  das  Einlegen  einer  befetteten  Darmsaite. 

Die  Ruptur  des  Trommelfells,  unter  welcher  Bezeichnung  er  die  trau- 
matischen und  pathologischen  Perforationen  zusammenfaßt,  erklärt  er  für  spontan 
heilbar.  Als  diagnostische  Zeichen  führt  Saissy  an:  das  hörbare  Durchzischen  der 
Luft  beim  Valsal vaschen  Versuch,  das  Abfließen  der  in  den  Gehörgang  einge- 
spritzten Flüssigkeit  durch  den  Schlund  und  das  Ausfließen  der  per  tubam  injizierten 
Flüssigkeit  durch  den  äußeren  Gehörgang. 

Im  zweiten  Abschnitt  des  Werkes  behandelt  Saissy  den  Katarrh  des 
inneren  Ohres.  In  der  Aetiologie  vertritt  er  noch  den  alten  Standpunkt,  ohne 
die  häufigste  Ursache ,  die  Fortpflanzung  des  Katarrhs  vom  Nasenrachenraum  zum 
Mittelohr,  zu  erwähnen.    Sein  akuter  Katarrh  entspricht  unserer  Otitis  media  acuta. 


446  Saissy. 

In  einem  Falle,  bei  dem,  nach  den  Symptomen  zu  schließen,  ein  einfacher  Mittel- 
ohrkatarrh  bestand,  machte  Saissy  Einspritzungen  mit  lauem  Aetherwasser  (eau 
ötheree),  worauf  eine  akute  Mittelohrentzündung  mit  serös-schleimigem  Ausfluß  aus 
dem  Ohre  folgte.  Saissy  zieht  hieraus  keineswegs  den  Schluß,  daß  bei  einfachen 
sekretorischen  Mittelohrkatarrhen  Injektionen  in  die  Trommelhöhle  per  tubam 
schädlich  sind. 

Durchaus  zutreffend  ist  seine  Schilderung  des  Symptomenkomplexes  bei  der 
mit  Mastoiditis  komplizierten  akuten  Mittelohrentzündung. 

Saissy s  innerer  chronischer  Katarrh  ist,  nach  den  mitgeteilten 
Fällen  zu  urteilen,  identisch  mit  der  chronischen  Mittelohreiterung,  doch  führt  er 
in  dieser  Gruppe  wieder  einen  Fall  ohne  Perforation  des  Trommelfells  an,  den  er 
durch  Injektionen  per  tubam  gebessert  haben  will.  Interessant  ist  die  Bemerkung 
Saissys,  daß  durch  die  ausschließliche  Behandlung  des  rechten  Ohres  das  Fort- 
schreiten der  Taubheit  auf  dem  linken  Ohre  hintangehalten  wurde,  was  unwider- 
leglich die  Sympathie  zwischen  beiden  Ohren  beweise. 

Die  Therapie  des  akuten  Katarrhs  besteht  in  passender  Diät,  Klistieren,  Fuß- 
bädern, Blasenpflastern  im  Nacken  oder  zwischen  den  Schultern  und  Vermeidung 
von  kalter  und  feuchter  Luft.  Die  von  Alard  zur  Entleerung  des  Exsudates  vor- 
geschlagene Punktion  des  Trommelfells  sei  nur  dann  ausführbar,  wenn  der  Kathete- 
rismus  tubae  und  die  Injektion  lauen  Wassers  in  die  Trommelhöhle  ohne  Erfolg 
versucht  wurden. 

Bei  chronischer  Mittelohreiterung  wendet  er  Ausspritzungen  des  Gehörgangs 
mit  lauem  Brunnenwasser  mit  oder  ohne  medikamentöse  Zusätze,  oder  endlich  die 
Durchspülung  des  Mittelohrs  mittels  des  Katheters  durch  die  Tube  an.  Befangen  in 
den  Anschauungen  seiner  Zeit  rät  er  die  Heilung  des  Ausflusses  nur  bei  jugendlichen 
Personen  und  nur  unter  gleichzeitiger  Etablierung  eines  Fontanells  zu  versuchen,  da 
die  Unterdrückung  des  Ohrenflusses  leicht  den  Tod  nach  sich  ziehen  könne.  Ohren- 
flüsse, die  durch  Suppression  von  Hämorrhoidalblutungen  oder  der  Menstruation  ent- 
standen, sistieren,  wenn  die  Blutungen  wieder  eintreten. 

Saissy  beschreibt  ziemlich  gut  das  klinische  Bild  der  Otitis  media  supp.  acuta, 
die  bei  Scarlatina,  Morbillen,  Variola  auftritt  und  empfiehlt  zur  Bekämpfung  der 
Eiterung  vor  dem  Durchbruche  des  Trommelfells  neben  Abführmitteln  und  Blutegeln 
die  Punktion  des  Trommelfells,  nach  Eintritt  der  Eiterung  Durchspülung  des  Mittel- 
ohres per  tubam. 

Die  Eröffnung  des  Warzenfortsatzes  hält  er  nur  bei  Karies  und  Abszeß  im 
Warzenfortsatze  für  berechtigt,  verwirft  aber  alle  anderen  von  Arnemann  aufge- 
stellten Indikationen  für  diese  Operation, 

Den  sekretorischen  Mittelohrkatarrh  mit  Ausscheidung  serösen  oder  schleimigen 
Exsudates  bezeichnet  Saissy  als  Wassersucht  der  Trommelhöhle  und  der 
Zellen  des  Warzenfortsatzes.  Er  empfiehlt  auch  hier  die  jetzt  als  schädlich  erkannten 
Injektionen  in  die  Trommelhöhle  per  tubam ,  und  erst  wenn  diese  resultatlos  ange- 
wendet wurden ,  die  Paracentese  des  Trommelfells.  Dieselbe  Behandlung  rät  er 
bei  Bluterguß  in  die  Trommelhöhle,  den  er  besonders  bei  Traumen  am  Schädel 
beobachtet  haben  will.  Schleimansammlung  in  der  Trommelhöhle  diagnostiziert 
Saissy  dann,  wenn  beim  Valsalvaschen  Versuch  die  Luft  nicht  in  das  Mittelohr 
eindringt  oder  die  Injektionen  durch  die  Tube  auf  starken  Widerstand  stoßen.  Die 
Behandlung  besteht  in  Injektionen  per  Katheter  in  die  Trommelhöhle. 

Nach  Saissy  sind  die  Sekrete  in  der  Trommelhöhle  der  Verdichtung  fähig. 
Indem  der  dünnere  Teil  der  Feuchtigkeit  resorbiert  wird,  bleibt  der  dichtere  als 
geronnen    zurück    und    veranlaßt    Schwerhörigkeit.     Hier    dürften    wohl    die    durch 


Deleau.  447 

Katarrhe  bedingten  Bindegewebsneubildungen  gemeint  sein,  über  deren  Natur  und 
Entstehung  Saissy  eine  falsche  Vorstellung  hatte. 

Das  Kapitel  „Von  dem  Ohrbrausen"  behandelt  weitläufig  die  Ansichten  der 
älteren  und  zeitgenössischen  Autoren  über  die  Aetiologie  der  subjektiven  Geräusche, 
ohne  neue  Gesichtspunkte  zu  enthalten.  In  der  Therapie  steht  er  noch  auf  dem 
Standpunkte  der  alten  Aerzte. 

Ausführlich  behandelt  S aissy  im  dritten  Abschnitte  seines  Werkes  die  Krank- 
heiten der  Eustachischen  Ohrtrompete.  Der  Verschluß  oder  die  Verengerung 
derselben  kann  entweder  angeboren  oder  durch  Geschwüre  (infolge  Syphilis,  Variola  etc.) 
im  Nasenrachenräume  und  im  Tubenkanal  erworben  sein.  Zur  Beseitigung  der  Strik- 
turen  schlägt  Saissy  folgende  Operation  vor.  Er  durchsticht  mit  einem  durch  einen 
Katheter  vorgeschobenen  Stilett  die  den  Verschluß  verursachende  Membran  und  legt 
dann  eine  Darmsaite  ein,  um  die  gemachte  Oeffnung  bleibend  zu  erhalten.  Saissy 
empfiehlt,  den  Katheter  behutsam  zu  entfernen,  die  Darmsaite  aber  im  Tubenkanale 
liegen  zu  lassen,  indem  man  ihr  äußeres  Ende  nahe  der  Nase  abschneidet  und  mit 
Watte  in  der  Nasenöffnung  fixiert.  Es  entspricht  dies  der  modernen  „Bougie  ä 
demeure".  Der  geringe  Wert  dieser  Operation  ergibt  sich  aus  der  Tatsache,  daß 
sie  von  Saissy  nur  einmal  und  ohne  Erfolg  ausgeführt  wurde,  und  daß  in  der 
Folgezeit,  offenbar  wegen  der  großen  Gefahr  einer  Verletzung  der  benachbarten 
Karotis    dieser  operative  Eingriff  nicht  mehr  versucht  wurde. 

Zur  Beseitigung  der  Verstopfung  der  Ohrtrompete,  durch  Schwellung  der 
Schleimhaut,  durch  Ansammlung  von  Schleim,  Blut  oder  eine  kreideähnliche  Masse  (?) 
empfiehlt  Saissy  Injektionen  durch  den  Katheter  mittels  der  von  ihm  verbesserten 
Instrumente. 

Erwähnenswert  ist  seine  Bemerkung,  daß  langdauernde  chronische  Eiterungen 
das  runde  oder  ovale  Fenster  durchbrechen  können,  worauf  bereits  Hofmeister 
(S.  342)  hingewiesen  hat.  Ueber  eigene,  die  Labyrintheiterung  beweisende  Befunde 
verfügt  Saissy  nicht,  er  teilt  nur  zwei  Beobachtungen  seines  Kollegen  Viricel 
mit ,  der  bei  der  Sektion  eines  Falles  braunrötlichen  Eiter ,  bei  der  eines  anderen 
eine  „seröse  Materie"  im  Labyrinthe  fand. 

Zu  den  verdienstvollen  Nachfolgern  Itards  und  Saissys  zählt 
der  jüngere  Deleau,  dem  die  praktische  Ohrenheilkunde  wesentliche 
Verbesserungen  in  der  Technik  des  Catheterismus  tubae  und  die  Ein- 
führung der  Luftdusche  durch  den  Katheter  verdankt. 

Nie.  Deleau  jeune,  am  21.  April  1797  geboren,  war  zuerst  als 
praktischer  Arzt  in  Commercy  tätig  und  erhielt  später  eine  Stelle  am 
Hospice  des  orphelins  zu  Paris,  wo  er  die  Abteilung  für  Ohrenkranke 
leitete.     Er  starb  im  Jahre   1862. 

Deleau  trug  sich,  offenbar  in  Unkenntnis  der  der  Taubstummheit  zu  Grunde 
liegenden  anatomischen  Veränderungen,  anfangs  mit  dem  hochfliegenden  Probleme, 
durch  die  Trommelfellperfoiation  Taubstummheit  zu  heilen.  Er  berichtet  in  seinem 
„Memoire  sur  la  Perforation  de  la  membrane  du  tympan"  über  18  Fälle,  in  denen 
er  durch  die  Trommelfelloperation  wohl  keine  Heilung  der  Taubheit,  doch  eine 
merkliche  Hörverbesserung  erzielt  haben  will.  Später  wandte  sich  Deleau  fast  aus- 
schließlich den  Krankheiten  des  Mittelohrs  und  vornehmlich  der  Vervollkommnung 
des  Catheterismus  tubae  zu.  Er  bediente  sich  elastischer  Katheter,  die  jedoch  keinen 
Eingang  in  die  Praxis  fanden.    Er  verwirft  als  schädlich  die  von  Itard  und  Saissy 


L48 


Deleau. 


bei  Mittelohrkatarrhen  bevorzugten  [njektionen  von  Flüssigkeit  per  tubam  und 
empfiehl!  als  viel  wirksamer  die  Luftdusche  (douche  d'air)  mittels  des  Katheters, 
die.  er  entweder  mit  dem  .Munde  oder  mit  einer  Kautschukblase  oder  mit  Hilfe  einer 
Luftpumpe  ausführte.  Die  Injektionen  per  tubam  will  er  nur  zur  Plntfernung  von 
Fremdkörpern  bei  defektem  Trommelfell  angewendet  wissen. 

Angeregt  durch  Laennecs  Untersuchungen  über  die  Auskultation  des  Proc. 
mastoid.  suchte  Deleau  die  Auskultation  des  Ohres  während  der  Luftdusche  dia- 
gnostisch zu  verwerten.  Er  auskultiert  noch  durch  Anlegen  seines  Ohres  an  das  des 
Patienten.  Ist  die  Trommelhöhle  normal  lufthaltig  und  die  Tube  wegsam,  so  ver- 
nimmt man  ein  Geräusch,  das  dem  Kauschen  eines  Wasserfalls  oder  eines  im  .Walde 
niederprasselnden  Regens  zu  vergleichen  ist  („bruit  sec  de  la  caisse");  oft  hört  man 
gleichzeitig  mit  diesem  Geräusche  ein  Schwirren,  das  von  den  Schwingungen  der 
Trompetenmündung  herrührt  (bruit  du  pavillon).  Ist  jedoch  die  Tube  verengt,  so 
bewegt  sich  der  Luftstrom  rückwärts  und  es  entsteht  ein  trockener  Ton,  der,  mit 
dem  Geräusche  des  normalen  Ohres  verglichen,  gleichsam  in  der  Ferne  vernehmlich 
ist.  Ist  Sekret  in  der  Trommelhöhle  vorhanden,  so  hört  man  ein  Rasseln  dem  ähnlich, 
welches  entsteht,  wenn  man  durch  eine  Röhre  in  schleimiges  Wasser  bläst.  Deleau 
nennt  es  das  Schleimgeräusch  der  Trommelhöhle  („bruit  miiqueuse"). 

Deleau  o-ing  von  der  schon  früher  anerkannten  Idee  aus,  daß  das  normale 
Gehör  von  der  normalen  Wegsamkeit  der  Ohrtrompete  abhängig  sei  und  deutete  die 
durch  katarrhalischen  Verschluß  der  Tube  hervorgerufene  Schwerhörigkeit  bereits  in 
der  noch  heute  unbestrittenen  Weise  durch  die  veränderte  Spannung,  welche  das 
Trommelfell  infolge  der  Resorption  der  Luft  in  der  Trommelhöhle  erleidet. 

Die  nervöse  Taubheit  galt  ihm  als  unheilbar.  Das  für  die  Diagnose  charakte- 
ristische Merkmal  derselben  ist  nach  Deleau  das  freie  Einströmen  der  Luft  in  die 
Trommelhöhle.  Jetzt  wissen  wir,  daß  dieses  Merkmal  diagnostisch  nicht  verwertbar 
ist,  da  auch  bei  der  Steigbügelankylose  (Otosklerose)  der  Tubenkanal  normal  wegsam 
sein  kann. 

Die  künstliche  Perforation  des  Trommelfells  führte  Deleau  in  der  ersten 
Periode  seiner  ärztlichen  Tätigkeit  nicht  nur  bei  Verdickung  des  Trommelfells  und 
Unwegsamkeit  des  Tubenkanals  aus,  sondern  auch  bei  Verstopfungen  des  Tuben- 
kanals im  Kindesalter,  wo  aus  äußeren  Gründen  die  Luftdusche  durch  den  Katheter 
unausführbar  ist. 

Zur  Erweiterung  von  Tubenstrikturen  wendet  Deleau  anstatt  der  von  Itard 
und  Saissy  empfohlenen  Bougies,  längliche,  dünne  Preßschwammstückchen  durch 
den  Katheter  an,  wobei  er  aber  hervorhebt,  daß  schon  die  Einblasung  von  kom- 
primierter Luft  in  das  Mittelohr  eine  Erweiterung  des  Tubenkanals  bewirke.  Eine 
solche  Wirkung  der  Luftdusche  können  wir  jetzt  nur  für  Schwellungstrikturen.  nicht 
aber  für  bindegewebige  Verengerungen  gelten  lassen. 

Deleau  will  durch  die  Luftdusche  mittels  des  Katheters  bei  Taubstummen 
günstige  Erfolge  erzielt  haben.  Seine  Berichte  hierüber  waren  so  glänzend,  daß  ihm 
das  Institut  de  France  jährlich  die  Summe  von  6000  Franken  für  die  Behandlung 
von  vier  Taubstummen  bewilligte.  Es  ist  klar,  daß  es  sich  —  vorausgesetzt  Deleau 
habe  wirklich  eine  Besserung  erzielt  —  nicht  um  Taubstumme  mit  schweren  Läsionen 
im  Labyrinthe  oder  im  Gehirne  handelte,  sondern  am  Kinder,  die  infolge  katarrhali- 
scher Schleimansammlung  im  Mittelohre  das  Sprechen  nicht  erlernen  konnten. 

Trotz  der  zahlreichen  Irrtümer,  denen  wir  in  den  Schriften  Deleaus  begegnen, 
muß  ihm  doch  das  Verdienst  zugesprochen  werden,  daß  er  zuerst  den  Catheterismus 
tubae  für  die  Diagnose  der  Mittelohrerkrankungen  heranzog  und  daß  er  die  Therapie 
der  Ohrerkrankun<ren  durch  die  Aufnahme  der  Luftdusche  wesentlich  erweiterte. 


Tafel  XXX 


NIC.  DELEAU  JEUNE 


Deleau.  449 

Von  den  zahlreichen  Schriften  Deleau's  seien  hier  folgende  erwähnt. 

Tableau  de  guerisons  de  surdites  operees  par  le  catheterisme  de  la  trompe 
d'Eustache  suivi  d'une  lettre  adressee  ä  FAcadernie  de  medecine.  Paris  1827.  — 
Recherches  physiologiques  et  pathologiques  sur  la  presence  de  Fair  atmospherique 
dans  l'oreille  moyenne.  (Journal  des  connaissances  medicales  1835.)  —  Traite  du 
catheterisme  de  la  trompe  d'Eustache  et  de  Femploi  de  l'air  atmospherique  dans  les 
maladies  de  l'oreille  moyenne.  Paris  1838.  —  Extrait  d'un  Memoire  sur  l'emploi 
de  Fair  atmospherique  dans  le  diagnostic,  le  prognostic  et  le  traitment  de  la  surdite. 
in  Magendie's  Journal  de  physiologie  experiment.  et  pathologique.  Paris  1829,  T.  IX, 
p.  311 — 340.  —  L'ouie  et  la  parole  rendues  ä  Honore  Trezel,  sourd-muet  de  naissance. 
Paris  1825. 

Im  Anschlüsse  wären  noch  einige  interessante,  das  Gebiet  der  Otologie  streifende 
Arbeiten  über  den  serösen  Ausfluß  aus  dem  Ohre  infolge  von  Schädelbasis- 
frakturen  zu  erwähnen.  Die  Ansichten  über  die  Quelle  des  serösen  Ausflusses  gehen 
vielfach  auseinander.  Nach  Guthrie  rührt  er  von  einer  vermehrten  FJxhalation  der 
Arachnoidealhöhle,  nach  Robert*)  von  der  Cotugnoschen  Lymphe  im  Labyrinthe 
her.  Laugier  glaubt,  daß  die  frakturierte  Stelle  selbst  die  Flüssigkeit  sezerniere, 
während  Chassaignac**)  den  Ausfluß  als  das  aus  dem  zerrissenen  Sinus  austretende 
Blutserum  erklärt.  Die  allein  richtige,  allgemein  akzeptierte  Ansicht,  daß  es  sich 
bei  Schädelbasisfrakturen  fast  immer  um  den  Abfluß  von  Cerebrospinalflüssig- 
k e  i t  handle,  wurde  von  B  o d i n  e r  und  Berard  vertreten,  denen  sich  später  Robert, 
gestützt  auf  zwei  Fälle  von  Bruch  der  Schädelbasis  mit  Abfluß  von  Liquor  durch  die 
Nase,  anschloß. 

Die  Abhandlung  des  französischen  Arztes  Dr.  Philippe  „Ueber 
Geistes-  und  Gehörgymnastik,  als  unerläßliche  Ergänzung  der 
Kur  der  Taubheit"***),  bietet  einen  Beweis  dafür,  daß  manche  theo- 
retisch ersonnenen  Heilmethoden  immer  wieder  von  neuem  auftauchen, 
um  aufs  neue  als  nutzlos  der  Vergessenheit  anheimzufallen. 

Philippe  will  den  Schwerhörigen  und  Tauben  dadurch  zum  Hören  zwingen, 
daß  er  seine  Aufmerksamkeit  zu  wecken  sucht.  Dazu  müsse  man  zunächst  den 
Kranken  vorbereitende  Töne  hören  lassen,  die  seinen  Gehörsinn  auffordern,  in  Tätig- 
keit zu  treten.  Am  besten  sei  es,  ihn  häufig  bei  seinem  Namen  anzurufen.  Auch 
lautes  Lesen  sei  als  eines  der  ersten  Mittel  anzuwenden.  Diese  kontinuierliche  Ein- 
führung von  Tonwellen  versetze  das  Nervensystem  in  einen  Zustand  andauernder 
Erregung,  der  es  aus  seiner  Atonie  erwecke.  Beim  Aussprechen  der  Worte 
möge  man  die  Stimme  nicht  allzusehr  erheben,  damit  die  Perzeption  auch  mit 
schwachen  Hilfsmitteln  stattfinde  und  das  Nervensystem  hierdurch  an  Aktivität 
zunehme.  Als  weiteres  mächtiges  Hilfsmittel  empfiehlt  Philippe  häufige  und 
anhaltende  Konversation.  „Verwandte,  Freunde,  alle  Angehörigen  des  Kranken 
müssen  viel  mit  ihm  sprechen  und  ihn  von  Gegenständen  unterhalten,  welche  ihm 
angenehm  sind."  Es  sei  auffallend,  wie  ein  Kranker,  der  zu  Beginn  des  Gespräches 
sehr  wenig  hörte,  später  weit  leichter  hörte,  weil  seine  Aufmerksamkeit  gespannt 
und  sein  Interesse  für  die  Sache  gefesselt  war.  Auch  die  Beschäftigung  mit  der 
Musik  hält  Philippe  für  eine  gymnastische  Uebung  des  Gehörs,  mit  einem  Worte 


*)  Froriep,  Neue  Notizen  1846,  Nr.  806,  p.  215. 
**)  Froriep,  Neue  Notizen  1846,  Nr.  842,  p.  91. 

***)  Journal  de  Medecine  de  Bordeaux  1846  und  Frorieps  Notizen  Bd.  38,  1846. 
Politzer,  Geschichte  der  Ohrenheilkunde.    I.  *rd 


450  Gairal. 

alle  Arten  von  Geräuschen,  mit  Ausnahme  derjenigen,  die  durch  allzu  große  Intensität 
den  Gehörsinn  belästigen  und  daher  die  Grenzen  für  das  normale  Hören  noch  weiter 
hinausrücken  würden.  Bekanntlich  wurde  ganz  dieselbe  Methode  der  Hörübungen 
bei  erwachsenen  Schwerhörigen  in  der  Neuzeit  als  „neue  Methode"  empfohlen,  um 
nach  mehrjährigen  Versuchen  von  den  Praktikern  als  nutzlos  aufgegeben  zu  werden. 

Die  zahlreichen  zeitgenössischen  Schriften  und  Kompendien  über  Ohrenheil- 
kunde in  Frankreich  enthalten  mehr  oder  minder  gelungene  Auszüge  aus  den  Werken 
der  vorerwähnten  Autoren.  Was  in  ihnen  als  neu  vorgebracht  wird,  beschränkt  sich 
auf  Modifikationen  von  Instrumenten  und  Apparaten  und  auf  Behandlungsmethoden, 
die  alle  bereits  verschollen  sind.  Erwähnt  seien  nur  Gairal*),  dessen  Katheter 
am  Schnabelende  mit  einem  Wulste  versehen  ist;  Bonnet**)  aus  Lyon,  der  den 
Katheterismus  durch  Aetzungen  der  Pharynxschleimhaut  mit  Quecksilber-  oder  Silber- 
nitrat  ersetzen  will;  Petrequin***),  der  mit  seiner  „Methode  speciale  aluminee" 
die  Mittelohrkatarrhe  durch  Alaungurgelungen  und  Bestäuben  des  Pharynx  mit  Alaun- 
pulver zu  heilen  angab;  endlich  Ducros-j-),  der  mit  Recht  bei  Mittelohrkatarrhen 
auf  die  Behandlung  der  Nasenrachenschleimhaut  besonderes  Gewicht  legt. 

Die  Hauptarbeiten  Bonnafonts  und  Meniere's  gehören  bereits  der  zweiten 
Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  an. 

Zu  erwähnen  wären  noch  aus  dieser  Periode:  Alard,  Essai  sur  le  catarrhe 
de  l'oreille.  Paris  1807.  Eine  kleine  von  Itard  und  Saissy  unabhängige  Schrift 
von  geringem  Wert.  —  Trucy,  Considerations  sur  la  Perforation  de  la  membrane 
du  tympan.  Paris  1802.  —  Monfalcon.  Art.  Maladies  de  l'oreille  externe  in  T.  38 
des  Diction.  des  scienc.  medic.  ■ —  Lacrey,  Notice  sur  une  cause  particuliere  de  surdite. 
inconnue  jusqu'ä  ce  jour ,  suivie  d'observations.  Im  Journ.  compl.  du  Diction.  des 
scienc.  medic.  Paris  1822,  T.  XIII.  —  Pinel,  Recherches  sur  les  causes  de  la  surdite 
chez  les  vieillards.  In  Journ.  complem.  du  Diction.  des  scienc.  medic.  Paris  1824, 
T.  XX.  —  Goze,  Dissertation  sur  Ja  surdite  causee  par  l'engouement  et  l'obturation 
de  la  trompe  d'Eustache.  Paris  1827.  —  Maurice-Mene,  Entdeckungen  über  die 
Natur  und  den  Sitz  der  Migräne  und  der  Taubheit,  nebst  einer  neuen  Behandlung 
derselben.  Uebersetzung  nach  der  2.  Auflage.  Leipzig  1837.  —  Hubert-Valleroux, 
Essai  theorique  et  pratique  sur  les  maladies  de  l'oreille.     Paris  1846. 


Deutschland. 

Während  in  Frankreich  durch  die  Arbeiten  Itards  und  Saissys 
ein  namhafter  Fortschritt  in  der  praktischen  Ohrenheilkunde  angebahnt 
Avurde,  erfuhr  die  Otiatrie  in  Deutschland  im  selben  Zeiträume  fast  gar 
keine  Förderung.  Man  beschränkte  sich  hier  darauf,  das  von  den  Eng- 
ländern und  Franzosen  überlieferte  Material  zu  sichten  und  kritisch  zu 
ordnen.  Einen  namhaften  Umfang  erreichte  in  dieser  Periode  die  Ueber- 
setzungsliteratur   französischer  und   englischer   Autoren.     Später    folgten 


*)  Recherches  sur  la  surdite,  considere  sous  le  rapport  de  ses  causes  et  de  son 
traitement  et  de  nouvelle  metbode  pour  le  catheterisme  de  la  trompe  d'Eustache. 
Paria  1836. 

**)  Bulletin  gencral  de  therap.  med.  et  Chirurg.     Paris  1837,  T.  XIII. 
***)  Gaz.  med.  de  Paris  1839. 
f)  Seance  de  l'Academie  des  Sciences.  8  Nov.  1841. 


Karl  Joseph  Beck.  451 


Publikationen,  die  mit  Berücksichtigung  der  Werke  fremder  Autoren 
auch  eigene  Erfahrungen  enthielten  und  eine  Uebersicht  über  den  Stand 
der  Otiatrie  gewährten.  Neben  diesen  gibt  es  zahlreiche  wertlose  populäre 
Schriften,  in  denen  man  die  leichte  Darstellung  und  Verständlichkeit  der 
französischen  und  englischen  Pamphlete  vermißt. 

K.  J.  Beck.  Zu  den  deutschen  Autoren,  die  sich  in  den  ersten  Dezennien 
des  19.  Jahrhunderts  eines  besonderen  Rufes  erfreuten,  zählt  in  erster  Reihe  Karl 
Joseph  Beck,  der  in  seinem  Werke  „Die  Krankheiten  des  Gehörorgans",  Heidelberg 
und  Leipzig  1827,  nicht  ohne  Kritik  die  Leistungen  der  bekannteren  französischen, 
englischen  und  deutschen  Aerzte  verwertet  und  auch  die  ältere  Literatur  berück- 
sichtigt. Das  Buch  enthält  neben  großen  Mängeln  manches  Gute.  Tadelnswert  ist 
die  geringe  Verwendung  des  Ohrenspiegels  und  des  Katheters  zu  diagnostischen 
Zwecken.  Becks  Einteilung  der  Ohraffektionen  krankt  noch  an  dem  Einfluß  der 
damals  zur  Neige  gehenden  naturphilosophischen  Richtung  in  der  Medizin.  Die  uns 
heute  undenkbar  scheinende  Einteilung  der  Ohraffektionen  nach  einzelnen  Symptomen 
als  Krankheitsgruppen,  muß  um  so  mehr  befremden,  als  die  Monographie  Becks 
in  eine  Periode  fällt,  in  der  sich  bereits  realere  Anschauungen  in  der  Medizin  geltend 
machten.  Des  historischen  Interesses  halber  lassen  wir  eine  Skizze  der  Klassifikation 
Becks  folgen. 

Die  Monographie  zerfällt  in  drei  Bücher.  Das  erste  umfaßt  die  Untersuchungs- 
lehre, Heilmittellehre  und  Operationslehre,  Prothesis  und  Kosmetik.  Der  zweite 
pathologische  Teil  besteht  aus  der  Pathogenie  und  pathologischen  Anatomie,  das 
dritte  Buch  ist  der  speziellen  Darstellung  der  Ohrenkrankheiten  gewidmet.  Diese 
teilt  Beck  wieder  in  zwei  Hauptabteilungen,  nämlich  in  die  „dynamisch-organischen 
und  in  die  mechanischen  Störungen".  In  die  erste  Klasse  reiht  er  die  Krankheiten 
des  p  1  a  s t i s c h e n  Apparates,  die  des  i  r  r i t a b  1  e n  Apparates  und  die  des  sensiblen 
Apparates. 

Zur  ersten  Gruppe  zählen:  a)  Die  Entzündungen  (Otitis  externa.  Otitis 
interna.  Myringitis,  Syringitis  Eustachiana).  b)  Fehlerhafte  Sekretionen  (abnorme 
Ceruminalabsonderung,  Otorrhoea  externa,  Otorrhoea  interna,  abnorme  Sekretion  der 
Labyrinthflüssigkeit),  c)  Mangelhafte  und  perverse  Nutrition  (Geschwüre,  Fisteln, 
Caries,  Phthisis  und  Atrophie  des  Trommelfells,  Atrophie  des  Gehörnerven),  e)  Neue 
Bildungen  (Polypen,  Pseudomembranen,  Konkretionen  und  Säfteanhäufungen  im  Ohre). 

Die  Krankheiten  des  irr  it ab  len  Apparates  zerfallen  in  K  rampf  (Spannung 
des  Trommelfells)  und  Lähmung  (Erschlaffung  der  Ohrmuschel  und  des  Trommelfells). 

Zu  den  Krankheiten  des  sensiblen  Apparates  gehören:  a)  Schmerz  (Otalgia). 
h\  Verändertes  Empfindungsvermögen  (Hyperacusis ,  Cophosis,  Dysecoia,  Baryecoia, 
Paracusis). 

Die  mechanischen  Störungen  teilt  Beck  ein  in:  abnorme  Kohäsion 
(Verengerung  und  Imperforation  des  Gehörganges,  Verschließung  der  Eustachischen 
Ohrtrompete);  abnorme  Trennung  (Wunden);  fremde  Körper  (mit  und  ohne 
Verwundung). 

Joseph  Frank  bespricht  im  zweiten  Teile  seiner  „Praxeos  med.  universae 
praecepta  1821 "  (Vol.  II,  Sect.  I,  p.  877)  ausführlich  die  Krankheiten  des  Ohres.  Ohne 
Rücksicht  auf  die  wertvollen  Leistungen  der  französischen  Aerzte,  artet  seine  Dar- 
stellung in  subtile  Systemsucht  aus.  So  teilt  er  die  Entzündungen  ein  in  traumatische, 
katarrhalische,  metastatische,  konsensuale,  artbritische,  skrofulöse,  venerische,  von 
denen  jede  eine  spezielle  Behandlungsmethode  erfordere.  Als  Krankheiten  der 
Membr.     tymp.     finden     neben     Exkreszenzen,     Verdickung,     Entzündung,     Ruptur, 


452  Joseph  Frank. 

Erosion,  auch  zu  große  Spannung  und  Erschlaffung,  und  Prolaps  Erwähnung.  Des- 
gleichen werden  als  eigene  Krankheitstypen  „vitia  ossiculorum  auditus  nee  non 
foraminis  tum  ovalis  tum  rotundi",  „Hydrops  acutus",  „Suppuratio  et  caries  cavi 
tympani"  beschrieben.  Otalgie  und  Ohrentönen  gelten  als  selbständige  Krankheits- 
formen. Fast  nirgends  finden  wir  in  Franks  Darstellung  diagnostische  Anhalts- 
punkte zur  Erkenntnis  der  von  ihm  aufgestellten  Krankheitsformen. 

Auf  einer  recht  niedrigen  Stufe  stehen  auch  die  „Aphorismen  über  Ohren- 
krankheiten" von  Joseph  Ritter  v.  Vering*).  Allerdings  macht  das  Schriftchen 
keinen  Anspruch  auf  Originalität,  doch  sind  auch  die  für  die  Praxis  mit  Nutzen 
verwertbaren  Erfahrungen  anderer  nicht  berücksichtigt.  Von  einer  objektiven  Dia- 
gnostik ist  keine  Spur.  Der  Ohrenspiegel  wird  kaum  erwähnt,  dagegen  empfiehlt 
v.  Vering  den  unpraktischen  dreifach  gekrümmten  Katheter  Saissys,  trotzdem 
der  praktisch  anerkannte  Katheter  Itards  länger  als  ein  Dezennium  bekannt  war. 
Von  dem  Werte  der  Aphorismen  v.  Ve rings  möge  folgende  Stichprobe  zeugen.  So 
heifit  es  p.  40:  „Die  Leber  steht  zur  Gehörfähigkeit  in  einem  wichtigen  Wechsel- 
verhältnisse, demnach  auch  bei  Leberleiden  und  Krankheiten  der  Gallenblase  Schwer- 
hörigkeit häufig  beobachtet  wird."  Und  p.  48:  „Kranke,  welche  mit  Leber-  oder 
Milzanschoppung  behaftet  sind,  werden  auf  dem  rechten  oder  linken  Ohre  schwer- 
hörig." 

Von  den  um  diese  Zeit  erschienenen  zahlreichen  Dissertationen  und  Abhandlungen 
sind  zu  erwähnen:  Kranz1),  May2),  Wilpert3),  Ball4),  Eschke5),  Heilmaier6), 
Meißner7),  Mürer8),  Ehrharter9),  Reye10),  Sanocki11),  Ohlhauth12), 
Mischke13),  Lobethal14),  Wever15),  Würl16)  und  Schleip17). 

')  Jo.  Gust.  Kranz,  Diss.  inaug.  med.  de  surditate  in  genere  et  de  methodis 
medendi  operationibusque,  quibus  medicina  et  chirurgia  auditum  deficientem  restituere 
valet.  Halae  1810.  —  2)  Jos.  May,  Diss.  inaug.  med.  de  cophosi  et  baryecoia. 
Vindob.  1812.  —  3)  Diss.  de  morbis  quibusdam  organi  auditus.  Dorpati.  —  4)  Diss. 
de  aure  humana  et  ejus  morbis.  Edinb.  1815.  —  5)  Carl  Adolph  Eschke,  Diss. 
inaug.  med.  de  auditus  vitiis.  Berolini  1819.  —  6)  Diss.  de  morbis  quibusdam  organi 
auditus.  Landishuti  1824.  —  7)  Diss.  de  auditus  diminutione  et  abolutione.  Bero- 
lini 1825.  —  8)  J.  C.  Mürer,  De  causis  cophoseos  surdo-mutorum  indagatu  difficilibus. 
Hafn.  1825.  —  fl)  Diss.  inaug.  med.  de  morbis  organorum  auditus.  Vindob.  1825. 
—  ,0)  Ed.  The  od.  Reye,  De  auditus  diminutione.  Gott.  1826.  —  ")  Diss.  de 
morbis  auditus.  Cracoviae  1829.  —  12)  Chr.  Ohlhauth.  De  organi  acustici  vitiis. 
Wirceburgi  1829.  —  13)  Diss.  sistens  historiam  baryecoiae  cura  Louvriana  sanatae, 
adnexa  contemplatione  baryecoiae  epicritica.  Prag  1830.  —  14)  Conspectus  morborum 
auris  humanae.  Berol.  1833.  —  15)  Diss.  inaug.  med.  chir.  sistens  observationes  de 
cophosi  et  baryecoia  congenita,  annexis.  notaminibus  physiologicis  de  funetione  tubae 
Eustachianae.  Friburgi  Brisgoviae  1835.  —  16)  Alfred  Würl,  Diss.  inaug.  med. 
sistens  synopsin  nosologicam  dyseeoiarum  juxta  Swediauri  tatpwrjv  dispositam.  Prag 
1835.  —  17)  Inauguralabhandlung  über  einige  krankhafte  Zustände  des  Gehörs.  Er- 
langen 1832.  Selbständige  Abhandlungen  lieferten:  J.  Heller,  Verhandeling  over  de 
Doofheid.  Amsterdam  1805  und  Ernst  Adolf  Eschke,  Kleine  Bemerkungen  über 
die  Taubheit.     Berlin  1806. 

Von  den  populären  Schriften,  die  in  den  meisten  Fällen  dem  Zwecke  nichts 
weniger  als  entsprachen,  wären  zu  erwähnen:  C.  J.  B.  Ettmü  1  ler,  Von  den  Krank- 
heiten  des    Ohres   und    damit   verbundener   Harthörigkeit.     Eine   Haustafel   für   alle 

*)  Jos.  Ritter  v.  Vering,  Aphorismen  über  die  Ohrenkrankheiten,  Wien  1834. 


Literatur  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts. 


Stände.  Lübben  1802.  —  Jos.  Malfatti.  Ueber  die  Pflege  des  Gehörorgans.  Im 
Gesundheits-Taschenbuch  für  das  Jahr  1802.  Wien  1802.  —  G.W.Pfingsten,  Be- 
merkungen und  Beobachtungen  über  Gehör.  Gefühl,  Taubheit,  deren  Abweichungen 
voneinander  und  über  einige  Ursachen  und  Heilmittel  der  letzteren.  Altona  1811. 
-  Ludw.  Meiner,  Die  Krankheiten  des  Ohres  und  Gehörs  oder  Hilfe  und  Rat  für 
alle  diejenigen,  welche  sich  ein  gutes  und  feines  Gehör  und  Fehler  derselben  in  Zeiten 
vorbeugen  wollen.  Leipzig  1823.  —  Gfr.  Wilh.  Becker,  Guter  Rat  für  Taube 
und  Schwerhörige.  Leip.  1827.  —  Joh.  Chr.  Lud.  Riedel,  Ueber  die  Krankheiten 
des  Ohres  und  Gehöres  etc.  Ein  Not-  und  Hilfsbüchlein  für  alle  Gehörkranke. 
Leip.  1832.  Guter  Rat  für  Schwerhörige  und  Taube,  oder  die  Ursache  und  Be- 
handlung der  Taubheit  nebst  einem  neuen  Verfahren,  bestehend  in  der  Anwendung 
des  Katheters  bei  der  Eustachischen  Trompete.  —  Eduard  Schmalz,  Ueber  die 
Erhaltung  des  Gehörs,  oder  das  Wichtigste  über  den  Bau  und  die  Verrichtung  des 
Gehörorgans,  über  die  Krankheiten  des  Ohres  und  Gehörs,  über  die  Verhütung  der- 
selben, über  das  dabei  zu  beobachtende  Verhalten  und  über  die  vorzüglichen  Hör- 
maschinen. Für  Gebildete  bearbeitet.  Dresden  und  Leipzig  1837.  —  Kurze  Geschichte 
und  Statistik  der  Taubstummenanstalten  und  des  Taubstummenunterrichtes  nebst 
ärztlichen  Bemerkungen.  Dresden  1830.  —  Faßliche  Anleitung,  die  Taubstummheit 
in  den  ersten  Lebensjahren  zu  erkennen  und  möglichst  zu  verhüten.  Dresden  und 
Leipzig  1840.  —  Erfahrungen  über  die  Krankheiten  des  Gehörs  und  ihre  Heilung. 
Leipzig  1846.  —  Ueber  den  Wert  ohrenärztlicher  Erfahrungen.  Dresden  1847.  — 
Beiträge  zur  Gehör-  und  Sprachheilkunde.     Leipzig  1848. 

Ziemlich  umfangreich  ist  die  Literatur,  welche  bestimmte  Abschnitte 
des  Gehörorgans  in  Spezialschriften  behandelt.  Ein  großer  Teil  derselben  findet 
sich  zerstreut  in  den  zeitgenössischen  Zeitschriften  und  Pmzyklopädien.  So  schrieben : 
Ueber  Ohrentzündungen:  Baehrens,  Lud.  Carol.  Henr.,  Diss.  inaug. 
med.  de  otorrhoea.  Halae  1817.  —  Schlegtendal,  Joh.  Ferd.,  Diss.  inaug.  med. 
de  otitide.  Halae  1831.  —  Malatides  Daniel,  Tractatus  de  otalgia,  singula 
doloris  aurium  genera.  etc.  Viennae  1820.  —  Kruckenberg,  Die  Ohrenentzün- 
dungen. (Linck es  Sammlung)  1824. —  Schwarz,  Ueber  die  Ohrenentzündung  der 
Kinder.  (Linck es  Sammlung)  1825.  —  Hoffmann,  Heinr.,  Otorrhoea  cerebralis 
primaria.  (Linck es  Sammlung)  1827.  —  Willem  i  er,  Guil.  Aug.  Felix  Quarin., 
Specimen  anat.  pathol.  inaug.  de  otorrhoea  atque  de  variis  modis,  quibus  pus  effluere 
et  quorsum  delabi  soleat.  Traj.  ad  Rhen.  1835.  —  Albers,  J.  F.  H.,  Die  Otorrhoea 
cerebralis.     Journal  der  Chir.  und  Augenheilkunde,  Bd.  25.     Berl.  1837. 

Ueber  Krankheiten  des  äußern  Ohres:  Löffler,  Fr.,  Von  den  Krank- 
heiten des  äußern  Ohres.  (Linckes  Sammlung.)  —  Monfalcon,  Oreille.  Diction. 
des  scienc.  med.  Tom.  38,  1.  c.  —  Fischer,  Christ.  Ernst,  Abhandlung  vom 
Krebse  des  Ohrs.  Lüneburg  1804.  —  Krügelstein,  Ueber  den  Krebs  am  Ohre. 
Allgem.  mediz.  Annalen  1827.  —  Rauch,  Ueber  die  Krankheiten  des  Gehörgangs 
und  des  Trommelfells.  Verm.  Abhandl.  aus  d.  Gebiet  d.  Heilkunde.  Petersb.  1829. 
—  Froriep,  Robert,  Die  neueren  Leistungen  auf  dem  Felde  der  Gehörkrankheiten. 
C aspers  Wochenschr.  1833.  —  Earle,  Henry,  Ueber  Leiden  des  Gehörgangs  (Med. 
chir.  Trans.  Vol.  X.,  p.  410).     Lond.  1839. 

Ueber  Krankheiten  des  Mittelohrs:  Goze,  Anton  Michael,  Dissert. 
sur  la  surdite  causee  par  1'engouement  et  obturation  de  la  trompe  d'Eustache.  Paris 
1827.  —  Adler,  Ign.,  Diss.  inaug.  de  morb.  tub.  P^ustach.  Pest  1833.  —  Schramm, 
Fried.,  Diss.  inaug.  med.  chir.  de  morb.  tub.  Eust.  Berol.  1835.  —  Wolf,  Ver- 
eiterung des  inneren  Ohres  mit  Abgang  der  Gehörknöchelchen  ohne  Verminderung 
des  Gehörs.    Berlin  1835.  —  Kuh,  De  infiammatione  auris  mediae.    Vratislaviae  1842. 


454 


Breßler. 


üeber  nervöse  Taubheit:  Frener,  Pet.  Aug.,  Ueber  nervöse  Taubheit. 
Würzb.  1323.  —  Riedel,  Theoph.  Guil. ,  Diss.  inaug.  med.  sistens  surditatia 
paralyticae  nosologiam.    Jena  1826. 

Ueber  Gehörstäuschungen:  Sommer,  Carol.  Ed.,  Diss.  de  syrigmo. 
Viteberg  1814.  —  Dann,  Edm. ,  Cominent.  de  paracusi  sive  de  auditus  halluci- 
nationibus.  Berl.  1830.  —  Jacobs,  Petr.,  Diss.  de  auditus  fallaciis.  Bonn  1832. 
— ■  Hagen,  Fried.  Wilh.,  Die  Sinnestäuschungen  etc.     Leipzig  1837. 

Ueber  0  p  e  r  a  t  i  o  n  e n :  W e  g  e  1  e  r ,  J  u  1  i  u  s,  De  aurium  chirurgia.  Berol.  1829. 

—  Dieffenbach,  J.  F.,  Von  dem  Wiederersatz  des  äußeren  Ohres.  Chir.  Er- 
fahrungen,  Abt.    II.     Berl.    1830.   —  Neuß,    Diss.    de   perforatione   tympani.      Gott. 

1801.  Gott.  Anz.  1802,  p.  2085.  — Tro siener,  Job.  Emanuel,  Ueber  die  Taub- 
heit und  ihre  Heilung  mittels  Durchstechung  des  Trommelfells.  Berl.  1806.  — 
Beck,  J.  S.,  Diss.  de  tympani  perforatione  in  surditatis  cura  cautius  rariusque 
adhibenda.  Erlang.  1806.  Salzb.  med.-chir.  Ztg.  1807,  II,  p.  218.  —  Ka  ver z,  J.  H., 
Diss.  inaug.  de  perforatione  tympani.  Argent.  1807.  —  Nasse,  Bemerkungen  über 
A.  Coopers  Durchbohrung  des  Trommelfells.  Hufelands  Journ.  der  prakt.  Heilkunde. 
Berl.  1807.  —  Himly,  C,  De  perforatione  membranae  tympani.  Gott.  1808.  — 
Nieuwenhuis,  Luc.  Cornel. ,  Diss.  med.  inaug.  sistens  momenta  quaedam  de 
surditate  per  puncturam  membranae  tympani  curanda.  Traj.  ad  Rhen.  1807.  — 
Fuchs,  Jo.  Fried.,  Diss.  anat.  chir.  de  perforatione  membranae  tympani  praecipue 
de  vera  hujus  operationis  indicatione  exhibens.  Jena  1809.  —  Hunold,  Ueber 
die  Durchbohrung  des  Trommelfells.  Rudolst.  1810.  —  Kern,  Vinc.  v.,  Bemer- 
kungen über  die  Durchbohrung  des  Trommelfells.  Med.  Jahrb.  d.  k.  k.  öster.  Staates. 
Wien  1813.  —  Harles,  Ch.  Tr.,  De  membranae  tympani  perforatione  in  surditatis 
cura  rariusque  cautiusque  adhibenda.  Op.  minor,  acad.  Lips.  1815.  —  Neu- 
bourg,  J.  A.  de,  Memoire  et  observations  sur  la  Perforation  de  la  membrane  du 
tympan.  Bruxelles  1827.  —  Fabrizi,  P.,  Neues  Verfahren  bei  der  Perforation  der 
Membrana  tympani.  Uebers.  in  Frorieps  Notizen  1878.  —  Hendriksz,  Ment. 
Anton,  Diss.  de  perfor.  membr.  tymp.  Groning.  1828.  —  Weber,  Geschichte 
einer  durch  Perforation  des  Warzenfortsatzes  bewerkstelligten  Entleerung  einer  Eiter- 
ablagerung im  Innern  des  Ohres  etc.  In  Friedreichs  und  Haselbachs  Beiträgen  zur 
Natur-  und  Heilkunde.  Würzb.  1825.  —  Westrumb,  Aug.  Heinr.  Lud.,  Ueber 
den  Katheterismus  der  Eustachischen  Trompeten.  Rusts  Magazin  für  die  ge- 
samte Heilkunde.  Berl.  1831.  —  Kuh,  Bemerkungen  über  die  zum  Katheterismu3 
der  Eustachischen  Röhre  erforderlichen  Instrumente  und  Handgriffe.     Berl.  1832. 

—  Troschel,  Maxim  iL,  De  tubae  Eustachianae  catheterismo  commentatio.  Berol. 
1833.  —  Möller,  Georg  Herrn.,  Diss.  de  tub.  Eust.  catheterismo.  Casselis  1836.  — 
Schikolla,  Joannes,  Diss.  de  Baryecoia.  Vindobona  1831.  —  Pfaff,  C.  H., 
Versuch  über  die  Anwendung  der  Vo Itaischen  Säule  bei  Taubstummen.    Kopenhagen 

1802.  —  Pfingsten,  G.  W.,  Beobacht.  und  Erfahrungen  über  d.  Gehörfehler  d. 
Taubstummen  etc.  Kiel  1802.  — Pfingsten,  G.  W.,  Gehörmesser  zur  Untersuchung 
der  Gehörfähigkeit  galvanisierter  Taubstummer.  Kiel  1804.  —  Wolke,  C.  H., 
Nachricht  von  den  zu  Jever  durch  die  Galvani-Voltaische  Gehörgebekunst  be- 
glückten Taubstummen.     Oldenburg  1802. 


Kaum  mehr  als  bloß  didaktische  Bedeutung  läßt  sich  den  ohren- 
ärztlichen Komjjendien  von  H.  Breßler,  Gust.  v.  Gaal  und  Martell 
Frank  zuerkennen. 

H.  Breßler.     Die    Schrift   Breßlers,    „Die  Krankheiten    des  Seh- 


Gaal.     Martell  Frank.  455 


und  Gehörorgans",  Berlin  1840,  erweist  sich  als  eine  nach  englischen, 
französischen  und  deutschen  Vorlagen  zusammengestoppelte  Kompi- 
lation, in  der  der  Verfasser  auch  nicht  den  geringsten  Versuch  macht, 
eine  eigene  Ansicht  zu  vertreten.  Die  Ohraffektionen  werden  in  vier 
Gruppen  eingeteilt,  nämlich  Entzündungen,  Ohrflüsse,  nervöse  Leiden 
und  mechanische  Störungen.  Von  Entzündungen  werden  beschrieben: 
die  katarrhalische  und  „phlegmonöse"  innere  Ohrentzündung,  die  Myringitis, 
die  Syringitis,  die  erysipelatöse  und  phlegmonöse  Otitis  externa,  die  Ent- 
zündung der  drüsigen  Haut  und  der  Knochenhaut  des  Gehörganges,  die 
erysipelatöse,  skirrhöse  und  Zellgewebsentzündung  der  Ohrmuschel.  Der 
„Ohrenfluß"  zerfällt  in  die  äußere  und  innere  Otorrhöe.  Als  Nerven- 
affektionen  werden  Otalgie,  „nervöse  Schwerhörigkeit"  und  Paracusis 
aufgezählt.  Zu  den  „organischen"  Krankheiten  rechnet  Breßler  die 
Verengerung  und  Verschließung,  die  krankhafte  Erweiterung  und  Polypen 
des  Gehörganges,  die  Verdickung,  Zerreißung  und  Polypen  des  Trommel- 
fells, die  Verstopfung,  Verengerung  und  Verwachsung  der  Tuba  Eust. 
Ganz  flüchtig  wird  der  pathologischen  Zustände  des  Labyrinths  gedacht, 
mit  der  Motivierung,  daß  dieselben  zwar  anatomische  aber  keine  prak- 
tische klinische  Bedeutung  besäßen.  Zur  Gruppe  der  „mechanischen. 
Störungen"  gehören  endlich  Anhäufung  von  Cerumen  und  Fremdkörper. 
Die  Vermengung  rein  symptomatischer  Begriffe  mit  oberflächlichen, 
großenteils  willkürlichen  anatomischen,  wie  sie  in  der  erwähnten  Einteilung 
hervortreten,  benimmt  der  Schrift  jeden  Wert. 

Gustav  v.  Gaal.  Etwas  höher  ist  jedenfalls  der  Wiener  Arzt 
Gustav  v.  Gaal  zu  stellen,  der  in  seinem  Lehrbuch  „Die  Krank- 
heiten des  Ohres  und  deren  Behandlung",  Wien  1844,  die  Anatomie 
weit  mehr  berücksichtigt  und  den  Untersuchungsmethoden  größeren 
Raum  zuweist.  Es  erklärt  sich  dies  daraus,  daß  v.  Gaal  seine  Kompi- 
lation mit  einer  gewissen  Auswahl  nach  den  besten  französischen,  eng- 
lischen und  deutschen  Quellen  verfaßte  und  insbesondere  Whart 011  Jones 
zum  Wegweiser  nahm.  Eine  gewisse  Selbständigkeit  verrät  er  darin, 
daß  er  auch  eigene  Krankengeschichten  mitteilt  und  auf  Grund  dieser 
hie  und  da  zu  Urteilen  gelangt,  welche  von  denjenigen  der  Vorgänger 
abweichen.  Die  Zahl  der  Krankheitsbilder,  welche  v.  Gaal  nach  ana- 
tomischen Gesichtspunkten  vorführt,  ist  viel  größer  als  bei  Breßler, 
doch  teilt  er  mit  diesem  die  äußerst  lückenhafte  Darstellung  der  Labyrinth- 
affektionen, von  denen  er  nur  die  Paracusis  (Ohrtönen,  Doppelthören), 
die  Hyperacusis  und  nervöse  Taubheit  kennt.  Hinsichtlich  der  Taub- 
stummheit zählt  er  eine  Reihe  von  pathologisch-anatomischen  Befunden 
auf,  welche  mit  derselben  in  Zusammenhang  gebracht  worden  sind. 

Martell  Frank.  Das  ein  Jahr  später  erschienene  Werk  des  Würz- 
burger  Arztes   Martell   Frank    „Praktische    Anleitung  zur    Erkenntnis 


456  Kramer. 

und  Behandlung  der  Ohrenkrankheiten"  (Erlangen  1845)  zeigt  manche 
Vorteile,  sowohl  was  die  Gruppierung  des  Stoffes,  als  auch  was  die  Dar- 
stellung anlangt.  Für  die  damalige  Zeit  war  es,  soweit  die  Bedürfnisse 
des  praktischen  Arztes  in  Betracht  kamen,  jedenfalls  ein  guter  Leit- 
faden. Der  Verfasser  stützte  sich  zwar  größtenteils  auf  Kramer  und 
die  französischen  Autoren,  verwertete  aber  auch  die  neueren  anatomi- 
schen Erkenntnisse,  z.  B.  Toynbees  erste  Arbeiten  und  läßt  an  vielen 
Stellen  durchblicken,  daß  ihm  eigene  Erfahrung  keineswegs  fehle;  wegen 
der  zahlreichen  Zitate  besitzt  das  Buch  noch  heute  einigen  literarhistori- 
schen Wert.  Es  zerfällt  in  einen  allgemeinen  und  in  einen  speziellen 
Teil.  In  dem  ersteren  wird  zusammenhängend,  in  sehr  übersichtlicher 
und  leichtfaßlicher  Weise  die  Symptomatologie ,  Aetiologie ,  Diagnostik, 
Prognostik  und  otiatrische  Therapie  besprochen.  Im  speziellen  Teile 
finden  die  einzelnen  Ohraffektionen  eine  dem  damaligen  Standpunkt  ent- 
sprechende Darstellung  nach  anatomischen  Gesichtspunkten.  Unter  den 
therapeutischen  Methoden  ist  der  Indikation  der  Perforation  noch  ein 
weiter  Spielraum  eingeräumt.  Die  zahlreichen  Abbildungen,  welche 
dem  Buche  beigegeben  sind ,  beleben  die  Darstellung  in  hohem  Maße. 
Daß  die  Labyrinthaffektionen  verhältnismäßig  sehr  stiefmütterlich  be- 
dacht sind,  kann  nicht  überraschen,  wenn  man  erwägt,  daß  noch  recht 
spärliche  pathologisch-anatomische  Grundlagen  bekannt  waren,  und  der 
Verfasser  daran  festhielt,  seine  Ausführungen  mit  Hintansetzung  jeder 
Spekulation  nur  auf  sicher  erwiesene  empirische  Fakten  zu  stützen. 

Wilhelm  Kramer  *).  Eine  Sonderstellung  in  der  deutschen  otiatri- 
schen  Literatur  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  nehmen  die 
Schriften  W.  Kram  er  s  ein.  Ohne  Anlehnung  an  seine  Vorgänger,  ja 
im  scharfen  Gegensatze  zu  diesen  ist  er,  gestützt  auf  langjährige  Er- 
fahrung, bestrebt,  die  Ohrenheilkunde  nach  eigenen  Gesichtspunkten  auf- 
zubauen. Die  Schärfe  und  Konsequenz,  mit  der  er  seine  Ansichten  ver- 
focht, trugen  dazu  bei,  seinen  Lehren  nicht  nur  in  Deutschland,  sondern 
auch  in  England  und  Frankreich,  durch  nahezu  vier  Dezennien  autori- 
tative Geltung  zu  verschaffen.  Ein  heftiger  Gegner  der  pathologischen 
Anatomie,  mußte  aber  sein  auf  symptomatischer  Grundlage  aufgebautes 
System  mit  dem  Aufblühen  der  modernen  Otiatrie  zusammenbrechen, 
und  mit  Bedauern  sehen  wir,  wie  Kr  am  er  noch  zu  Beginn  der  Sech- 
zigerjahre gegen  die  auf  anatomischer  Basis  sich  neu  reformierende 
Otiatrie  in  heftigen  Wutausbrüchen  zu  Felde  zieht.  Trotz  der  großen 
Mängel,  die  das  Werk  Kramers  aufweist,  muß  doch  zugestanden  werden, 
daß  es  an  Wertvollem  vieles  enthält,  was  wir  bei  den  Vorgängern 
Kramers   vermissen.     Insbesondere   ist    es   seine    Symptomatologie,    die 


*)  Geboren  in  Halberstadt  1801.     Gestorben  in  Berlin  1875. 


Kram  er.  4  ,",7 

seinem  Werke  einen  bleibenden  Wert  verleiht,  trotzdem  er  oft  die  Krank- 
heitserscheinungen für  die  Diagnose  unrichtig  verwertet.  Wir  dürfen 
nur  auf  die  klassische  Schilderung  des  klinischen  Bildes  unserer  jetzigen 
Otosklerose  hinweisen,  die  Kram  er  in  die  Gruppe  der  nervösen  Schwer- 
hörigkeit einreiht.  Als  besonderes  Verdienst  muß  es  Kram  er  ange- 
rechnet werden,  daß  er  in  Bezug  auf  die  Therapie  rücksichtslos  und 
offen  mit  allen  Traditionen  der  Vergangenheit  brach  und  dadurch  eine 
nüchterne  Beurteilung    der  Behandlung    der  Ohrenkrankheiten  anbahnte. 

In  der  Einleitung  seines  Hauptwerkes*)  unterwirft  Kr  am  er  die  Leistungen 
seiner  Vorgänger  und  Zeitgenossen  in  scharfer  Polemik  einer  herben  oft  ungerechten 
Kritik.  Er  versucht  den  Nachweis  zu  erbringen,  daß  die  Kenntnis  der  Anatomie 
und  Physiologie  und  noch  mehr  der  pathologischen  Anatomie  des  Ohres  zu  lücken- 
haft sei  und  daß  sie  dem  Praktiker  zu  geringe  Anhaltspunkte  für  sein  therapeutisches 
Wirken  liefere. 

Die  beiden  Kapitel  über  Prophylaxe  und  Symptomatologie  enthalten 
manche  auf  Erfahrung  basierende,  nützliche  Winke. 

Hingegen  ist  der  Abschnitt  über  die  Prüfung  der  Hörfähigkeit  sehr 
mangelhaft,  indem  er  als  einzig  zuverlässigen  Hörmesser  eine  nicht  zu  schwach 
tickende  Taschenuhr  empfiehlt,  ohne  sich  der  jetzt  so  wichtigen  Stimmgabel- 
prüfung  zu  diagnostischen  Zwecken  zu  bedienen. 

Nach  einem  kurzen,  nicht  wesentlich  Neues  enthaltenden  Exkurs  über  das 
,,  Ohrentönen "  wendet  sich  Kramer  der  Besprechung  der  Häufigkeit  der  Ohrer- 
krankungen und  ihrer  Aetiologie  zu.  Die  Häufigkeit  der  Ohraffektionen  sei  in 
dem  schutzlosen  Bau  des  Ohres  und  in  der  geringen  Blutversorgung  des  Organs  zu 
suchen.  Bezüglich  der  Aetiologie  sagt  Kr  am  er,  daß  er  sich  nach  langjähriger 
Praxis  „von  der  Unmöglichkeit  überzeugt  habe,  in  den  bei  weitem  meisten  Fällen 
von  Ohrenkrankheiten  deren  wahre  Ursachen  aufzufinden,  und  selbst  die  wirklich 
aufgefundenen  Ursachen  mit  Erfolg  zur  Begründung  von  vernünftigen  Heilanzeigen 
zu  benutzen".  Mit  Unrecht  tadelt  er  die  Aerzte,  die  gewisse  Ohrenkrankheiten 
als  Resultat  allgemeiner  Erkrankungen  (Lues,  etc.)  ansehen.  Er  hält  sich  vielmehr 
berechtigt,  in  der  bei  weitem  größten  Mehrzahl  der  Fälle  von  Ohrenkrankheiten  die 
sog.  Kr  ankheitsu  r sachen,  als  unserer  Erkenntnis  ganz  unzugänglich,  nicht  zum 
Gegenstande  ängstlicher  Nachforschung  zu  machen,  und  selbst  da,  wo  die  Veran- 
lassung, z.  B.  Erkältung,  ganz  unzweifelhaft  feststeht,  nicht  sie  selbst,  sondern  un- 
organisches Produkt,  Entzündung  des  Trommelfells  u.  dgl.,  zur  Basis  der  Heilanzeigen 
zu  machen.  Kr  am  er  ist  geneigt,  als  unzweifelhaftes  ätiologisches  Moment  eine 
Heredität  bei  Ohrenkrankheiten  anzunehmen,  da  die  Anlage  sich  vererben  könne, 
was  insofern  von  prognostischer  Bedeutung  sei,  als  sie  auf  ungewöhnliche  Hartnäckigkeit 
der  jedesmaligen  Ohrenkrankheit  schließen  lasse. 

Nach  Besprechung  des  Verlaufs  und  der  Prognose  der  Ohrenkrankheiten, 
die  er  im  allgemeinen  als  eine  ungünstige  bezeichnet,  wendet  sich  Krämer  der 
Behandlung  der  Ohraffektionen  zu.  Er  empfiehlt  diejenige  Therapie  als  einzig 
richtige,  welche  sich  nach  dem  jeweiligen,  durch  Ohrenspiegel,  Uhr,  Katheter  etc. 
eruierten  Ohrenbefund  richtet  und  erst  in  zweiter  Linie  event.  Allgemeinerkrankungen 
berücksichtigt.  Er  tadelt  streng  die  zu  seiner  Zeit  übliche  Allgemeinbehandlung, 
welche    die   lokale   Untersuchung   des   Ohres   vernachlässigt    und   gibt    eine   ziemlich 


H)  Die  Erkenntnis  und  Heilung  der  Ohrenkrankheiten.     Berlin   1S49. 


458  Kramer. 

ausführliche  kritische  Uebersicht  der  zu  seiner  Zeit  gebräuchlichen  örtlich  allgemein 
wirkenden  Heilmittel  (Elektrizität,  Galvanismus,  Moxen,  Vesikantien,  Glüheisen,  Fon- 
tanellen), die  er  bis  auf  wenige  Ausnahmen  verwirft.  Blutegel  empfiehlt  er  nur  bei 
den  entzündlichen  Affektionen. 

Dem  scharf  betonten  Standpunkt  entsprechend,  daß  die  Ohrenaffektionen 
durchaus  lokaler  Natur  seien,  verschmähte  Kr  am  er  den  Gesamtorganismus  mit 
„ allgemein"  wirkenden  Heilmitteln  zu  belasten  und  bediente  sich  ihrer  höchstens 
als  Adjuvantien.  Zu  der  zeitgenössischen  Therapie  zählten  die  russischen  Bader, 
See-,  Fluß-  und  Wellenbäder,  warme  Bäder,  Schwefel-,  Stahl-,  Kräuter-,  Laugen-, 
Salzbäder  etc.,  ferner  Brech-  und  Abführmittel,  Hunger-,  Speichel-,  Schmierkuren 
und  andere  Mittel,  welche  vom  Zentrum  aus  wirken  sollten,  wie  Valeriana,  Arnika, 
Ambra,  Cupr.  sulf.  u.  s.  w.  Mit  all  diesen  Heilschätzen  räumte  er  in  radikalster 
Weise  auf,  um  sich  ganz  und  gar  einer  nüchternen  lokalen  Therapie  zu  widmen. 

Im  klinischen  Teile  des  Kramerschen  Werkes  wird  zuerst  eine  Anzahl 
Krankengeschichten  mitgeteilt  und  dann  die  betreffende  Krankheitsform  zusammen- 
fassend besprochen. 

Der  spezielle  Teil  des  Buches  behandelt  im  ersten  Kapitel  die  Krank- 
heiten des  äußeren  Ohres,  die  Kramer  wieder  in  die  Krankheiten  des  Ohr- 
knorpels, des  äußeren  Gehörgangs  und  des  Trommelfells  einteilt.  Während  ei- 
serne Pathologie  auf  klinische  Symptome  gründen  will ,  sehen  wir  hier  im  Gegen- 
teile die  Krankheiten  der  Ohrmuschel  und  des  äußeren  Gehörgangs  ganz  ungerecht- 
fertigterweise auf  anatomischer  Basis  eingeteilt.  Nach  Krämer  unterscheidet  man 
eine  Entzündung  1.  der  Oberhaut;  2.  der  Lederhaut;  3.  der  Zellhaut  und  4.  der 
Knorpelhaut.  Jede  einzelne  dieser  Abteilungen  wird  wieder  in  eine  akute  und  in 
eine  chronische  Form  geteilt. 

Was  die  Erkrankungen  des  Ohr knorpels  anlangt,  so  ergibt  der  geschilderte 
Befund,  daß  die  Entzündung  der  Lederhaut  Kramers  identisch  ist  mit 
unserem  Erysipel  und  die  chronische  Entzündung  mit  unserem  chronischen  nässenden 
und  schuppenden  Ekzem  der  Ohrmuschel. 

Als  Entzündung  der  Knorpelhaut  wird  die  Perichondritis  auriculae 
und  das  Othämatom  beschrieben.  Das  letztere  hat  Kr  am  er  merkwürdigerweise 
während  einer  mehr  als  46jährigen  Praxis  kein  einziges  Mal  beobachtet.  Seine 
Darstellung  entnimmt  er  den  Arbeiten  des  Psychiaters  Franz  Fischer*).  Da  dieser 
in  der  Ohrblutgeschwulst  neugebildeten  Knorpel  und  Knochenplättchen  gefunden  hatte, 
nahm  Kramer  an,  daß  es  sich  um  einen  entzündlichen  Prozeß  handle,  weshalb  er 
die  Erkrankung  auch  als  Entzündung  der  Knorpelhaut  des  Ohres  beschrieb. 

Zur  Besprechung  der  Krankheiten  des  äußeren  Gehörgangs  über- 
gehend, gibt  er  eine  Beschreibung  seines  Ohrenspiegels,  der  nur  eine  Modifikation 
des  Spekulums  des  Fabricius  Hildanus  darstellt.  Alle  anderen  zur  Unter- 
suchung des  Gehörgangs  und  des  Trommelfells  empfohlenen  Spekula  werden  als 
unbrauchbar  verworfen.  Das  Spekulum  Kramers  ist  ein  seiner  Länge  nach  in 
zwei  Arme  gespaltener  metallener  Trichter.  Beide  Hälften  sind  an  ihrem  oberen 
Rande  mit  zwei  durch  ein  Schloß  vereinigten  Zangenarmen  verbunden.  Sonnenlicht 
wird  der  künstlichen  Beleuchtung  vorgezogen.  Für  letztere  bedient  er  sich  einer 
Arg  and  sehen  Lampe  mit  einer  abgeblendeten  Oeffnung  im  Glaszylinder,  von  der 
aus  das  Licht  durch  einen  Hohlspiegel  in  den  Gehörgang  reflektiert  wird.  Zur  Kon- 
zentration des  Lichtes  dient  eine  in  einem  Rohr  angebrachte  Sammellinse.  Die  An- 
wendung der  Sonde  zu  diagnostischen  Zwecken  wird  verworfen. 


*)  Die  Ohrblutgeschwulst  der  Seelengestörten.     Allgm.  Zeitschr.    f.  Psychiatrie 
1847  u.  a. 


Tafel  XXXI 


WILHELM  KRAMER 


Kramer.  459 

Von  den  Krankheiten  des  äußeren  Gehörgangs  wird  die  Ent- 
zündung der  Oberhaut  erwähnt.  Als  ihr  Produkt  betrachtet  er  die  patho- 
logische Anhäufung  von  Cerumen.  Die  Therapie  stimmt  im  wesentlichen  mit 
unserer  jetzigen  überein.  „Das  Wesen  unserer  Krankheitsform,"  sagt  Kr  am  er, 
„ist  unzweifelhaft  eine  entzündliche  Reizung,  von  welcher  die  Oberhaut  des  Gehör- 
ganges ergriffen  wird,  wodurch  die  darunter  liegenden  Ohrenschmalzdrüsen  sympa- 
thisch zu  vermehrter  Absonderung  eines  entarteten  Ohrenschmalzes  angeregt  werden." 
Als  Ursache  der  Entzündung  bezeichnet  er  Erkältung  hauptsächlich  nach  kalten  Bädern. 

Die  „Entzündung  der  Leder  haut"  des  Gehörganges  ist  unsere  Otitis  ex- 
terna diffusa  acuta,  während  das  Bild  der  chronischen  Entzündung  unserem 
chronischen  juckenden  Ekzem  des  äußeren  Gehörgangs  entspricht.  Hieran  schließt 
sich  eine  Besprechung  der  Fremdkörper  im  Ohre,  von  denen  er  behauptet,  daß 
ihre  Entfernung  stets  durch  bloßes  Ausspritzen  gelingt.  „Niemals  aber  sind  mecha- 
nische, noch  so  sinnreich  ausgedachte  Hilfsmittel  zur  Entfernung  fremder  Körper 
aus  dem  Gehörgange  zu  rechtfertigen."  Unsere  Otitis  externa  furunculosa 
nennt  er  Entzündung  der  Zellhaut  des  Gehörganges  und  behandelt  sie  mit  heißen 
Breiumschlägen  von  Hafergrütze,  Oel,  Speck,  Blutegel  etc.,  ohne  die  wirksame  In- 
zision  des  Furunkels  zu  empfehlen.  Endlich  beschreibt  er  unter  dem  Titel  Entzün- 
dung der  Knochenhaut  des  Gehörganges  einige  Fälle  von  Caries,  Polypen  und 
Fisteln,  sowie  Stenosen  und  Atresien  des  äußeren  Gehörgangs,  ohne  ihr 
häufigstes  Grundleiden,  die  chronische  Mittelohreiterung,  zu  erkennen. 

Im  dritten  Abschnitte  des  ersten  Kapitels  beschreibt  Kram  er  die  Krank- 
heiten des  Trommelfells.  Unter  diese  subsumiert  er  irrtümlich  alle  Erkran- 
kungen, welche  nach  moderner  Auffassung  sowohl  die  primären  als  auch  die  häufigeren 
sekundären,  durch  Entzündungsprozesse  des  Mittelohrs  bedingten  Veränderungen  der 
Membran  betreffen.  Er  rangiert  somit  eine  große  Gruppe  akuter  und  chronischer 
Mittelohrentzündungen  unter  den  Begriff  „Entzündung  des  Trommelfells". 

In  der  Rubrik  „Akute  Entzündung  des  Trommelfells"  beschreibt  Kr  am  er 
Krankheitsbilder,  die  wir  heute  als  milde  Formen  der  Otitis  med.  acuta  simpl.  und 
suppurativa  deuten  müssen.  Auch  die  in  vielen  Fällen  im  Anschlüsse  an  traumatische 
Perforationen  entstehende  Entzündung  faßt  er  als  isolierte  Erkrankung  des  Trommel- 
fells auf.  Mit  der  ihm  eigenen  Heftigkeit  wendet  er  sich  gegen  die  Behauptung 
Wildes,  daß  an  der  eitrigen  Entzündung  stets  auch  die  Trommelhöhle  und  die 
Warzenfortsatzzellen  beteiligt  seien.  Geschwüre  des  Trommelfells,  die  vor  ihm  von 
zahlreichen  Autoren  beschrieben  wurden,  hat  Kr  am  er  nie  gesehen  und  er  betont 
mit  Recht,  daß  in  den  Fällen  mit  Substanzverlust  stets  alle  drei  Schichten  des 
Trommelfells  durchbrochen  seien. 

Zur  Behandlung  empfiehlt  er  antiphlogistische  und  zerteilende  Mittel  (Um- 
schläge, Oel,  Blutegel  etc.). 

Der  zweite  Abschnitt  „Chronische  Entzündung  des  Trommelfells" 
enthält  die  verschiedenen  Formen  der  Otitis  med.  suppur.  chron.  Er  unterscheidet 
die  einfache  chronische  Entzündung,  die  Entzündung  mit  Polypenbildung,  die  Ent- 
zündung mit  Perforation  und  die  mit  Erkrankung  der  Trommelhöhle,  der  Hirnhäute 
und  Hirnsubstanz  komplizierte  Entzündung.  Kr  am  er  ist  in  dem  Irrtum  befangen, 
daß  auch  in  diesen  Fällen  das  Trommelfell  der  Ausgangspunkt  der  Erkrankung  sei. 
Er  spricht  seine  Ansicht  so  dezidiert  aus,  daß  wir  uns  nicht  versagen  können,  seine 
eigenen  Worte  zu  zitieren:  „Leidet  die  Schleimhaut  der  Trommelhöhle  bei  durch- 
löchertem Trommelfelle  mit,  so  ist  dies  die  natürliche,  wenn  auch  nicht  immer  not- 
wendige Folge  der  durch  das  Loch  im  Trommelfell  zur  Trommelhöhle  eindringenden 
kalten,  reizenden,  atmosphärischen  Luft." 


460  Kramer. 

lieber  die  einfache  chronische  Entzündung  des  Trommelfells  (d.  h.  die  un- 
komplizierten Formen  der  chronischen  Mittelohreiterung)  bringt  Kr  am  er  nichts 
Neues.  Er  betont  das  häufige  Zurückbleiben  von  Verdickungen  des  Trommelfells 
und  wendet  sich  gegen  die  in  diesen  Fällen  häufig  angewendete  Durchbohrung  des- 
selben. Irrtümlich  hält  er  die  Perforation  des  verdickten  Trommelfells  für  technisch 
unausführbar. 

In  dem  Abschnitte  über  die  chronische  Entzündung  des  Trommelfells 
mit  Polypenbildung  bespricht  er  ausführlich  die  verschiedenen  Formen  der  Polypen, 
die  er  nur  nach  ihrer  Konsistenz  unterscheidet,  während  er  in  der  Annahme,  daß 
sie  sämtlich  vom  Trommelfelle  ausgehen,  ihren  Sitz  vollständig  unberücksichtigt  läßt. 
Das  so  häufige  Vorhandensein  von  Cholesteatom  bei  den  mit  Polypenbildung  einher- 
gehenden Ohreiterungen  ist  ihm  vollständig  unbekannt.  Die  Entfernung  der  Polypen 
geschieht  durch  Wegätzen  mittels  des  von  ihm  angegebenen  und  in  seinem  Buche 
(Fig.  3)  abgebildeten  Aetzsteinträgers  (befestigte  Lapisstifte),  oder  durch  Abschnüren, 
oder  endlich  durch  Abschneiden  mit  dem  ebenfalls  von  ihm  angegebenen  und  abge- 
bildeten Messerchen  (Fig.  5  a,  b). 

Die  dritte  Abteilung  (chronische  mit  Perforation  verlaufende  Entzündung  des 
Trommelfells)  enthält  die  schon  in  der  ersten  Gruppe  beschriebenen  unkomplizierten 
Fälle  von  chronischer  Mittelohreiterung,  bei  denen  eine  deutliche,  scharf  abgegrenzte 
Perforation  im  Trommelfell  besteht.  Als  vierte  Gruppe  der  chronischen  Entzündung 
des  Trommelfells  endlich  werden  alle  komplizierten  Formen  von  Otitis  med.  supp. 
chron. ,  die  Caries  des  Schläfebeins,  sowie  die  cerebralen  Erkrankungen  otitischen 
Ursprunges:  die  Meningitis  purulenta,  der  Kleinhirn-  und  Schläfelappenabszeß  zu- 
sammengefaßt. Angaben  über  Diagnose  und  Diflerentialdiagnose  dieser  Prozesse  ver- 
missen wir  in  dem  Buche  Kramers.  Ganz  unbekannt  scheint  ihm  das  klinische 
Bild  der  typischen  otogenen  Sinusthrombose  und  Pyämie  gewesen  zu  sein.  Die 
Ursachen  der  otitischen  Komplikationen  sind  nach  ihm  in  der  Perforation  des 
Trommelfells  zu  suchen,  durch  die  äußere  Schädlichkeiten  gegen  die  tieferen  Teile 
eindringen  können. 

Die  von  Kr  am  er  angegebene  Behandlung  der  eitrigen  Ohrprozesse  ist  selbst  in 
den  schweren,  mit  Abszeß  im  Warzenfortsatz  kombinierten  Fällen  eine  konservative. 
Sehr  richtig  ist  die  am  Schluß  dieses  Kapitels  angefügte  Bemerkung  Kramers, 
daß  der  Ohrenfluß  nur  als  ein  Symptom,  nicht  aber  als  selbständige  Krankheitsform 
im  Sinne  „Itards  samt  allen  seinen  Vorgängern  und  Nachfolgern"  aufgefaßt  wer- 
den dürfe. 

Das  zweite  Kapitel  des  Kr  am  ersehen  Werkes  enthält  die  Krankheiten 
des  mittleren  Ohres,  d.  i.  der  Ohrtrompete  und  Trommelhöhle  mit  allen  im 
Mittelohre  enthaltenen  Organteilen.  Die  Schilderung  der  einzelnen  Abschnitte  dieses 
Kapitels  umfaßt:  die  Entzündung  der  Trommelhöhlenschleimhaut  mit  krankhafter 
Schleimansammlung  oder  mit  Verengerung  oder  Verwachsung  der  Tube;  die  Er- 
krankung der  sensiblen  Nerven  der  Trommelhöhle  und  den  nervösen  Obrenschmerz. 

Wie  geringschätzig  Kram  er  pathologisch-anatomische  Befunde  für  die  Ent- 
wicklung unseres  Faches  wertete,  beweist  folgender  Ausspruch:  „Verwachsung  des 
Steigbügels  in  der  Fenestra  ovalis,  Verknorpelung,  Entartung  der  Haut  des  runden 
Fensters  und  ähnliche  Raritäten  gehören  in  die  anatomische  Pathologie,  doch  nicht 
in  die  Ohrenheilkunde,  da  solche  Strukturveränderungen  am  Lebenden  weder 
erkannt  noch  behandelt  werden  können." 

Die  Besprechung  der  „Entzündung  der  Schleimhaut  des  mittleren 
Ohres"  wird  mit  der  Darstellung  des  Katheterismus  tubae  eingeleitet.  Kram  er 
gibt   eine   noch  jetzt  vielfach  gebräuchliche  Methode  an.     Seine  Silberkatheter  sind 


Kramer.  4(31 

den  jetzt  benüzten  ähnlich.  Als  anatomischen  Anhaltspunkt  benützt  er  den  hinteren 
Tubenwulst,  über  den  er  den  nach  außen  leicht  gedrehten  Katheterschnabel  zurück- 
zieht, worauf  dieser  meist  von  selbst  in  die  Tubenmündung  einschnappt.  Die  richtige 
Lage  des  Instrumentes  erkennt  er  daraus,  daß  die  mit  dem  Munde  eingeblasene  Luft 
leicht  bis  ans  Trommelfell  durchströmt.  Man  hört  dieses  Einströmen  deutlich,  „rein, 
frei  und  leicht  ohne  Schleimbrodeln".  Klingt  der  Luftstrom  aber  „matt"  und  gelingt 
es  nur  mit  Anstrengung,  Luft  durch  den  Katheter  zu  blasen,  so  hat  man  sich 
noch  mittels  der  Luft  presse  von  der  Durchlässigkeit  oder  Undurchlässigkeit  der 
Tube  zu  überzeugen.  Ist  diese  frei,  hört  man  bei  direkter  Anlegung  des  eigenen 
Ohres  an  das  Ohr  des  Patienten  beim  Oeffnen  der  Luftpresse  die  Luft  brausend  und 
rauschend  einströmen.  Hört  man  nichts,  so  liegt  entweder  der  Katheter  nicht  in 
der  Tubenmündung  oder  der  Tubenkanal  ist  undurchgängig.  Zur  genaueren  Fest- 
stellung des  mechanischen  Hindernisses  bediente  sich  Kr  am  er  der  Einführung 
von  Darmsaiten  durch  den  Katheter  bis  in  die  Trommelhöhle,  ja  sogar  bis  an  die 
innere  Fläche  des  Trommelfelles.  Er  empfiehlt,  möglichst  enge  Katheter  anzuwenden, 
um  ein  Umbiegen  der  Bougie  bei  ihrem  Heraustreten  aus  dem  Katheter  unmöglich 
zu  machen.  An  der  Darmsaite  wird  die  Länge  des  Katheters  markiert  und  13/V 
hinter  dieser  Marke  eine  zweite  angebracht,  die  die  Länge  des  Katheters  und  der 
K asthenischen  Röhre  angibt. 

Unter  der  Ueberschrift  „Entzündung  der  Schleimhaut  des  mittleren 
Ohres  mit  krankhafter  Absonderung  und  Anhäufung  des  Schleimes" 
beschreibt  Kr  am  er  nicht  nur  Fälle,  die  wir  jetzt  als  sekretorische  oder  exsudative 
Mittelohrkatarrhe  bezeichnen,  sondern  auch  Adhäsivprozesse  nach  abgelaufenen  Mittel- 
ohreiterungen. Die  Diagnose  wird  ohne  Rücksicht  auf  Trommelfellbefund  und  Funk- 
tionsprüfung aus  dem  Auskultationsgeräusche  beim  Katheterismus  gestellt,  wie  über- 
haupt detaillierte  Befunde  über  Narben,  Kalkflecke  am  Trommelfelle  in  dem  Buche 
Kramers  fehlen.  Nur  stellenweise  finden  sich  Angaben  über  Abweichungen  der 
Farbe,  des  Glanzes  und  der  Durchsichtigkeit  der  Membran.  Bei  der  Auskultation 
hört  man  die  Luft  entweder  mit  schwach  feuchtem,  schleimig  brodelndem  Tone, 
oder  mit  entschiedenem  Schleimrasseln  nach  dem  Ohre  strömen. 

Die  Therapie  dieser  Krankheitsgruppe  besteht  in  Katheterismus  der  Ohr- 
trompete, wobei  die  Luft  mit  dem  Munde  oder  mittels  einer  Luftpumpe  in  das  Mittel- 
ohr gepreßt  wird.  Mit  dieser  Behandlungsmethode  will  Kram  er  selbst  in  ver- 
alteten Fällen,  nicht  nur  eine  vollkommen  normale  Hörweite,  sondern  auch  Beseitigung 
des  lästigen  Ohrentönens  erzielt  haben.  Der  schon  damals  vielfach  vertretenen 
Annahme  eines  häufigen  Zusammenhanges  der  Mittelohraffektionen  mit  Erkrankungen 
des  Nasenrachenraumes  wird  von  Kr  am  er  entschieden  widersprochen. 

Unter  dem  Titel  „Entzündung  der  Schleimhaut  des  mittleren  Ohres  mit  An- 
schwellung derselben",  die  wir  jetzt  als  katarrhalische  Adhäsivprozesse  im  Mittelohre 
bezeichnen,  beschreibt  er  Fälle  von  chronischer  hochgradiger  Schwerhörigkeit,  bei 
denen  eine  starke,  durch  Bougierung  schwer  zu  überwindende  Tubenstenose  besteht. 
Die  Diagnose  wird  aus  den  bei  der  Tubenstenose  wahrnehmbaren  abnormen  Aus- 
kultationsgeräuschen gestellt.  Die  Prognose  bezüglich  des  Gehörs  ist  meist  ungünstig. 
Als  Therapie  empfiehlt  Kramer  Injektionen  von  1 — 2  Tropfen  einer  Jodkalilösung 
in  die  Ohrtrompete.  Gerade  in  diesen  Fällen,  bei  denen  die  Bougierung  angezeigt 
ist,  wird  sie  von  Kr  am  er  entschieden  widerraten. 

Den  Schluß  der  Krankheiten  des  Mittelohrs  bildet  das  Kapitel  „Entzündung 
der  Schleimhaut  des  mittleren  Ohres  mit  Verwachsung  der  Eustachischen  Ohrtrompete", 
in  welchem  er  gegen  die  bei  Tubenatresie  empfohlene  Durchbohrung  des  Trommelfells 
polemisiert. 


462  Kramer. 

Der  zweite  Abschnitt  des  zweiten  Kapitels  behandelt  die  „Reizung  der 
sensiblen  Nerven  des  mittleren  Ohres  (Otalgie)".  Kramer  schildert 
hier  nur  den  bei  Zahncaries  öfters  auftretenden  Ohrenschmerz,  ohne  andere  Formen 
der  Otalgie  zu  erwähnen. 

Das  dritte  Kapitel  enthält  „Die  Krankheiten  des  inneren  Ohres". 
Nach  Schilderung  eines  Falles  von  akuter  Entzündung  des  Labyrinths,  der 
infolge  eines  Traumas  mit  einer  Stricknadel  durch  purulente  Menigitis  letal  endete, 
und  Mitteilung  des  Sektionsbefundes,  wendet  sich  Kramer  der  nervösen  Schwer- 
hörigkeit und  Taubheit"  zu. 

Sehr  anschaulich  schildert  Kr  am  er  in  diesem  Kapitel  Krankheitsbilder  plötz- 
licher Taubheit  und  progressiver  Schwerhörigkeit,  rechnet  aber,  wie  aus  den 
Krankengeschichten  ersichtlich,  außer  wirklichen  Erkrankungen  des  Hörnerven  auch 
Fälle  von  Otosklerose ,  hysterischer  Taubheit  und  traumatischer  Affektion  des  Hör- 
nerven und  des  Labyrinthes  zur  Nerventaubheit.  Namentlich  weisen  die  Fälle,  bei 
denen  er  erbliche  Anlage  annimmt,  auf  Otosklerose  hin.  Kr  am  er  faßt  diese  von 
ihm  als  „Nervöse  Schwerhörigkeit  und  Taubheit"  bezeichnete  Krankheitsform  als 
p r im  äre  Erkrankung  des  Hörnerven  auf.  Es  ergibt  sich  hieraus,  daß  Kram  er  von 
der  schon  zu  seiner  Zeit  durch  Toynbee  bekannt  gewordenen  Tatsache,  daß  viele 
als  nervös  bezeichnete  Hörstörungen  auf  Ankylose  des  Stapes  beruhen,  keine  Notiz 
genommen  hat.  In  vorgerückten  Stadien  dieser  „nervösen  Schwerhörigkeit"  tritt  als 
häufige  und  für  den  Kranken  sehr  lästige  Begleiterscheinung  Ohrentönen  hinzu.  Das 
Ohrentönen  steigert  sich  gewöhnlich  mit  der  zunehmenden  Schwerhörigkeit  und 
hält  meist  kontinuierlich  an.  Die  Diagnose  wird  jedoch  nicht  aus  diesen  subjektiven 
Symptomen,  sondern  per  exclusionem  gestellt,  wenn  bei  plötzlicher  oder  progressiver 
Schwerhörigkeit  bei  der  Untersuchung  das  Trommelfell  normal  und  die  Ohrtrompete 
wegsam  gefunden  wird.  Charakteristisch  für  diese  Fälle  sei,  daß  nach  einer  Luftein- 
treibung in  das  Mittelohr  Schwerhörigkeit  und  subjektive  Geräusche  zunehmen. 

Für  das  Wesen  dieser  Erkankung  hält  Kr  am  er  die  erhöhte  Reizbarkeit  und 
Schwäche  eines  oder  beider  Hörnerven. 

Das  Prinzip ,  auf  welchem  die  Behandlung  der  nervösen  Schwerhörigkeit 
beruht,  besteht  nach  Kr  am  er  darin,  die  erhöhte  Reizbarkeit  der  Hörnerven  zu 
beruhigen.  Er  versucht  dies  in  Einleitung  von  Dämpfen  (von  Haferschleim,  Gummi 
arabic.  etc.)  durch  den  Katheter  in  das  Mittelohr  mittels  eines  von  ihm  konstruierten 
Apparates  und  behauptet,  einige  Fälle  nach  dieser  Methode  geheilt  zu  haben,  doch 
gibt  er  zu.  daß  die  Therapie  meist  aussichtslos  sei.  Im  Anhange  zu  diesem  Kapitel 
beschreibt  Kr  am  er  noch  mehrere  Fälle  von  „nervösem  Ohrentönen  ohne 
Schwerhörigkeit". 

In  einem  vierten  Abschnitt  des  dritten  Kapitels  gibt  Kr  am  er  eine  umfassende 
und  klinisch  gut  beobachtete  Darstellung  der  Taubstummheit,  in  der  er  mit 
scharfer  Kritik  alle  Angaben  über  angebliche  Heilung  der  Taubstummheit  als  Täu- 
schung hinstellt. 

Im  fünften  Abschnitte  werden  zwei  Fälle  von  „akuter  Entzündung  des  N. 
facialis  innerhalb  des  Fallop.  Kanals"  geschildert,  deren  Deutung  jedoch  wegen 
mangelhafter  Beobachtung  schwer  ist.  Der  letzte  Abschnitt  enthält  die  Kranken- 
geschichte eines  Falles  von  „Tuberkelbildung  im  Felsenbein",  deren  Darstellung  es 
kaum  zweifelhaft  erscheinen  läßt,  daß  hier  ein  typisches  Cholesteatom  vorgelegen  hat. 

Das  vierte  Kapitel  „Aftergebilde  in  der  Schädelhöhle,  welche  den  Bau  des 
Gehörorgans  zerstören",  enthält  einige  Fälle  von  malignen  Tumoren  in  der  Schädel- 
höhle, welche  auf  das  Gehörorgan  übergegriffen  haben.  Die  klinische  Analyse  dieser 
nach  anderen  Autoren  zitierten  Krankengeschichten  ist  sehr  mangelhaft. 


Lincke.  £(33 

Das  fünfte  und  letzte  Kapitel  beschäftigt  sich  endlich  mit  den  „Hörmaschinen". 
Er  zählt  die  große  Anzahl  der  damals  üblichen  Hörapparate  auf  und  teilt  sie  ein 
in  solche,  die  durch  ihre  Größe  den  Schall  verstärken,  und  in  solche,  die  durch  die 
eigentümlich  vibrierende  Eigenschaft  des  verwendeten  Materials  den  durchgehenden 
Schallwellen  eine  größere  Schärfe  verleihen.  Das  künstliche  Trommelfell  wird  von 
Krämer  nirgends  erwähnt *). 

Gustav  Lincke**).  In  scharfem  Gegensatz  zu  Kramer  steht  Karl 
Gustav  Lincke,  der  bei  Anerkennung  der  neuen  Errungenschaften  die 
Leistungen  der  Alten  sorgfältig  sammelte  und  in  seinem  umfassenden 
Werke  bestrebt  war,  die  Erfahrungen  der  Vorgänger  der  Vergessenheit 
zu  entreißen.  Gerade  in  der  Zeit,  in  welcher  die  Beschäftigung  mit 
geschichtlich-medizinischen  Studien  als  überflüssig  erachtet  wurde  und 
Kr  am  er  mit  seiner  ganzen  Autorität  die  pathologische  Anatomie  des 
Ohres  für  nutzlos  erklärte,  ist  der  rastlose  Eifer,  den  Lincke  dem  Studium 
der  alten  Literatur  widmete,  rühmend  anzuerkennen. 

Der  zweite  Band  von  Linckes  „Handbuch  der  theoretischen  und 
praktischen  Ohrenheilkunde"  enthält  in  kurzen  Umrissen  das  Ergebnis 
der  gesamten  älteren  und  zeitgenössischen  otiatrischen  Literatur.  Trotz 
der  nicht  geringen  Zahl  irrtümlicher  Daten  und  Zitate  und  der  weit- 
schweifigen Darstellung,  die  er  häufig  ganz  wertlosen  Arbeiten  einräumt, 
wird  das  Werk  Linckes  dem  Geschichtsforscher  stets  ein  wertvoller 
Führer  bleiben. 

Von  dem  zur  Herausgabe  gelangten  dreibändigen  Werke  Linckes 
sind  nur  die  zwei  ersten  Bände  Originalarbeit.  Durch  Krankheit  außer 
stände  gesetzt,  die  Darstellung  der  Acusticus-  und  Labyrintherkrankungen, 
der  Taubstummheit  und  der  wichtigsten  Ohroperationen  zu  bearbeiten, 
war  er  genötigt,  die  Abfassung  des  den  dritten  Band  bildenden  Ab- 
schnittes der  Ohrerkrankungen  dem  Berliner  Arzt  Phil.  Heinrich  Wolf 
zu  übertragen. 

Nach  einer  sehr  ausführlichen  Darstellung  der  Geschichte  und  Literatur  der 
Ohrenheilkunde,  sowie  einer  allgemeinen  Anweisung  zur  Untersuchung  des  kranken 
Gehörorgans  wendet  sich  Lincke  zur  speziellen  Besprechung  der  Ohrenkrank- 
heiten. Der  Haupteinteilung  der  entzündlichen  Affektionen  des  Ohres  liegen  folgende 
Gesichtspunkte  zu  Grunde:  1.  die  einfachen  Ohrentzündungen,  die  ihre  Entstehung 
einer  lokalen  Ursache  verdanken;  2.  die  gemischten  Ohrentzündungen,  die  der  Aus- 
druck einer  Allgemeinerkrankung  sind.  Jede  Ohrentzündung,  ob  einfach  oder  ge- 
mischt, ist  akut  oder  chronisch. 

Ueber  die  Erkrankungen  des  äußeren  Ohres  bringt  Lincke  nichts  Nein •-. 
Hervorzuheben  ist  aber,  daß  er  die  Scheu  seiner  Vorgänger,  das  Ekzem  zu  beseitigen, 


*)  Vgl.  Magnus,  Nekrolog  Krämers  im  Arch.  f.  Ohrenheilk.  Bd.  XI,  S.  25, 
und  Lucae,  Biographisches  Lexikon  der  hervorragenden  Aerzte  von  Gurlt  und 
Hirsch,  Bd.  III,  S.  541. 

**)  Geboren  1804  in  Kosmin,  l'rov.  Posen.     Gestorben  in  Leipzig  1849. 


464  Lincke. 

abgelegt  hat  und  in  einer  rationellen  Behandlung  desselben  keinen  Nachteil  für  den 
Organismus  erblickt.  An  der  Ohrmuschel  und  im  äußeren  Gehörgange  unterscheidet 
er  folgende  Krankheitszustände :  Entzündungen ,  Störungen  durch  normwidrige 
Trennung,  Störungen  durch  abnorme  Kohärenz,  durch  veränderte  Lage  der  Teile, 
durch  veränderte  Form  der  Teile,  Hypertrophien.  Aftergebilde,  abnorme  Sekretionen, 
Fremdkörper. 

Zu  den  Erkrankungen  des  äußeren  Ohres  und  Gehörgangs  rechnet  er 
auch  die  Inflammatio  membranae  tympani  sive  Myringitis. 

Er  ist  der  Ansicht,  daß  bei  der  Myringitis  die  Entzündung  primär  im 
Trommelfelle  entsteht  und  entweder  glatt  in  Heilung  übergeht  oder  zum  Geschwür 
und  schließlich  zur  Perforation  mit  Eitererguß  in  die  Trommelhöhle  oder  in  den 
äußeren  Gehörgang  führt.  Dagegen  liege  der  Otitis  interna  (damit  meint  Lincke 
die  jetzt  als  Otitis  media  bezeichnete  Krankheitsform)  eine  Entzündung  der  Trommel- 
höhlenschleimhaut  zu  Grunde. 

Der  Trommelfellbefund  und  der  Symptomenkomplex  der  heute  als  Myringitis 
bezeichneten  Erkrankung  waren  Lincke  nicht  bekannt,  und  so  imponierte  ihm 
eine  große  Zahl  von  akuten  und  chronischen  Otitiden  als  primäre  Trommelfellent 
zündung.  Man  gewinnt  den  Eindruck,  daß  er  die  leichteren  Otitiden  zur  Myringitis, 
die  schwereren  zur  Otitis  interna  rechne. 

Die  Otitis  interna  teilt  er  in  eine  primäre  und  sekundäre  ein.  Unter  der 
sekundären  versteht  er  die  Otorrhoea  cerebralis.  Er  gibt  zwar  zu,  daß  „die  Fälle 
die  häufigsten  sind ,  wo  dem  Gehirnleiden  die  Otitis  vorausgeht"  (IL  p.  292) ,  hält 
aber  die  Möglichkeit  einer  cerebralen  Otorrhoe  aufrecht.  Sowohl  die  primäre  als 
sekundäre  Otitis  interna  kann  akut  oder  chronisch  sein.  Die  chronische  entwickelt 
sich  wohl  meist  aus  der  akuten ,  kann  sich  aber  auch  selbständig  schleichend 
entwickeln. 

Eine  sehr  ausführliche  Schilderung  widmet  der  Verf.  den  pathologisch-anato- 
mischen Befunden  bei  Otit.  univers.  int.  Bei  Eiterung  im  Warzenfortsatze  befür- 
wortet er  die  baldige  Inzision  der  Weichteile  und  die  Trepanation,  warnt  aber  bis 
zum  Spontandurchbruch  zu  warten. 

Im  allgemeinen  huldigt  er  dem  Prinzipe,  neben  der  Lokalbehandlung  auch 
die  allgemeine  nicht  zu  vernachlässigen.  Er  perhorresziert  den  Gebrauch  von  reizen- 
den Substanzen  (Brechweinsteinsalbe  etc.)  in  unmittelbarer  Nähe  des  Ohres,  sondern 
wendet  sie  stets  an  entfernteren  Stellen  (Nacken ,  Oberarm .  Wade)  an.  Der  Rat 
Linckes,  zur  Entleerung  des  Eiters  aus  der  Trommelhöhle  dem  Patienten  den 
Valsalvaschen  Versuch  zu  empfehlen,  ist  als  schädlich  zu  verwerfen;  widersinnig 
ist  es  ferner,  den  Kranken  bei  verschlossenem  Munde  und  zugehaltener  Nase  Inspi- 
rationsbewegungen machen  zu  lassen,  indem  „hierdurch  der  Eiter  in  der  Trommel- 
höhle durch  die  Eustachische  Röhre  herausgeholt  wird."     IL  p.  313. 

Unter  Otitis  erysipelatosa  versteht  Lincke  das  typ.  Erysipel  der  Ohrmuschel 
und  ihrer  Umgebung,  mit  eventuell  eintretender  sekundärer  Otit.  m.  suppur.  ac;  unter 
Otitis  catharrhalis  die  akute  und  chronische  Mittelohreiterung  mit  vorwiegend 
schleimig-eitriger  Sekretion.  Diese  tritt  meist  im  Gefolge  von  Erkrankungen  des 
Nasenrachenraumes  auf.  Die  gonorrhoische  Otitis  kann  entweder  als  Metastase 
eines  Trippers  oder  durch  direkte  Infektion  des  Ohres  mit  Trippersekret  ent- 
stehen. Bei  der  Diagnose  ist  neben  dem  ätiologischen  Moment  hauptsächlich  die 
Beschaffenheit  des  Eiters  zu  berücksichtigen.  Für  die  übrigen  genannten  Formen 
von  Otitis  kann  Lincke  keine  markanten  Symptome  anführen.  Die  Diagnose  stützt 
sich  daher  hauptsächlich  auf  das  ätiologische  Moment.  Therapeutisch  kommt  in 
erster  Linie  die  Behandlung  der  Grundkrankheit  in  Betracht. 


Lincke.  4(35 

Zu  den  gemischten  Entzündungen  zählt  Lincke  die  erysipelatöse,  katarrha- 
lische, gonorrhoische,  rheumatische,  gichtische,  skrophulöse,  syphilitische,  morbillöse, 
skarlatinöse,  variolöse,  ekzematöse  und  die  herpetische  Ohrentzündung. 

Die  Entzündung  der  Eustachischen  Röhre,  Inflammatio  tubae  Eust. 
sive  Syringitis  entspricht  unserem  Tubentrommelköhlenkatarrh.  Als  höchsten  Grad 
nimmt  Lincke  eine  eitrige  Entzündung  der  Tube  mit  Einbruch  des  Eiters  in  die 
Trommelhöhle  und  Perforation  des  Trommelfelles  an. 

Einen  eigenen  Abschnitt  bilden  die  „Störungen  durch  normwidrige 
Trennung".  Die  Behandlung  geschieht  im  wesentlichen  nach  den  bekannten  da- 
mals geübten  chirurgischen  Grundsätzen.  Bei  Besprechung  der  Trommelfellrupturen 
legt  Lincke  zu  großes  Gewicht  auf  die  direkte  Gewalteinwirkung  als  ätiologischen 
Faktor,  während  er  den  durch  Kompression  der  Luft  im  äußeren  Gehörgange  (durch 
Ohrfeige,  Schlag,  Stoß  etc.)  entstandenen  Rupturen  geringe  Bedeutung  beimißt. 
Was  die  Therapie  anlangt,  steht  Lincke  auf  dem  noch  heute  uneingeschränkt 
geltenden  Standpunkt,  jede  medikamentöse  Behandlung  zu  unterlassen. 

Was  die  Fraktur  der  Ohrmuschel  betrifft,  so  hielt  er  den  Vorgang,  wie 
er  von  alten  Aerzten  (Hippokrates,  Celsus,  Aetius,  Paul  v.  A  e  gina,  Vesa  1, 
Vidus)  geschildert  wird,  für  unmöglich  und  erwähnt  ihn  nur. aus  „historischer1' 
Rücksicht.  Als  Coloboma  auriculae  bezeichnet  Lincke  jene  Bildungsanomalie,  bei 
der  die  Ohrmuschel  oder  das  Ohrläppchen  eine  Spalte  zeigt,  in  die  sich  die  äußeren 
Bedeckungen  fortsetzen.  Bei  dem  angeborenen  Kolobom  des  Ohres  sind  die  Spalt- 
ränder glatt  und  von  der  äußeren  Haut  überzogen,  bei  dem  erworbenen  mehr  oder 
minder  unregelmäßig  und  schwielig. 

Unter  Störungen  durch  abnorme  Kohärenz  versteht  Lincke  die  Erwei- 
terung und  Verengerung,  die  Kompression  und  den  Kollaps  des  Gehörganges  und  die 
Atresie  desselben,  ferner  die  Erweiterung  und  Verengerung,  die  Obturation,  den 
Kollaps  und  die  Atresie  der  Eustachischen  Ohrtrompete.  Die  Erweiterung  des 
Gehörgangs  führt  Lincke  auf  den  Schwund  des  subkutanen  Fettgewebes  zurück, 
wie  dies  vornehmlich  bei  kachektischen  und  marantischen  Individuen  vorkommt. 
Die  Verengerung  des  Gehörgangs  kann  eine  temporäre  oder  bleibende  sein.  Sie 
ist  entweder  durch  Veränderungen  der  Weichteile  oder  des  Knochens  bedingt.  Zur 
Entscheidung  dieser  Frage  empfiehlt  Lincke  stets  die  Untersuchung  mit  der  Sonde. 
Die  Kompression  des  Gehörgangs,  gewöhnlich  eine  Folge  in  der  Umgebung  des 
Ohres  wuchernder  Geschwülste,  kann  durch  Einlegen  der  von  ihm  angegebenen 
Röhrchen  behoben  werden;  ebenso  der  Kollaps  des  Gehörganges. 

Die  Atresie  kann  die  ganze  Länge  des  Gehörgangs  betreffen,  oder  nur  durch 
eine  Membran  an  irgend  einer  Stelle  bedingt  sein.  Solche  Membranen  können  näher 
oder  weiter  entfernt  vom  Trommelfelle  liegen.  Die  nahe  am  Trommelfelle  befind- 
lichen Membranen  hält  Lincke  für  die  abgehobene  Cutisschichte  des  Trommelfells. 

Anschaulich  geschildert  sind  die  subjektiven  und  objektiven  Symptome  der 
Verengerung  der  Eustachischen  Ohrtrompete.  So  beschreibt  er  das  Geräusch 
bei  der  Luftdusche,  wenn  die  Verengerung  durch  eine  chronische  Blennorrhoe  der 
Eustachischen  Ohrtrompete  und  der  Trommelhöhle  —  womit  er  offenbar  den  sekre- 
torischen Katarrh  meint  —  bedingt  ist,  „von  der  Art,  als  wenn  man  ein  Stäbchen 
oder  einen  Löffel  in  steif  gekochte  Stärke  einsinkt  und  dann  etwas  schnell  wieder 
herauszieht".  Bei  der  Behandlung  dieser  Zustände  legt  Lincke  großen  Werl  auf 
die  allgemeine  interne  Medikation,  empfiehlt  aber,  wenn  diese  nicht  zum  Ziele  führt, 
adstringierende  Injektionen  und  Bougierung  der  Ohrtrompete. 

In  den  Kapiteln  über  Störungen  durch  veränderte  Lage  und  Form 
der  Teile  behandelt  Lincke  mit  ermüdender  Weitschweifigkeit  ganz  unbedeutende 
Politzer,  Geschichte  der  Ohrenheilkunde.    I.  30 


4(i6  Lincke. 

Anomalien  des  äußeren  Ohres,  z.  B.  das  abstehende  Ohr  als  eigene  Krankheitsforrn. 
Die  in  dem  Abschnitt  „Hypertrophien"  aufgestellten  Krankheitsbilder  wie  Hirsuties 
meatus  auditorii ,  Pannus  des  Trommelfelles  etc.  entsprechen  noch  weniger  einem 
praktischen  Bedürfnis.  Zu  den  Hypertrophien  rechnet  er  auch  die  Exostosen,  über 
die  er  jedoch  nichts  Neues  bringt. 

Die  Polypen  teilt  Lincke  hinsichtlich  ihrer  Konsistenz  in  weiche  und  harte, 
hinsichtlich  ihres  Sitzes  in  Polypen  des  Gehörganges,  des  Trommelfells,  der  Trommel- 
höhle und  der  Eustachischen  Röhre.  Er  betont,  daß  die  Polypen  des  Gehörganges 
im  hinteren  Teil  desselben  entspringen  und  führt  dies  auf  die  zartere  Beschaffenheit 
oder,  wie  er  sich  ausdrückt,  „schleimhäutige  Natur"  dieses  Teiles  zurück.  Außer 
den  Polypen  zählt  er  noch  die  Warzen,  Condylome,  Balggeschwülste,  Krebs  und 
Markschwamm  als  Aftergebilde  des  Ohres  auf. 

Zur  Entfernung  von  Fremdkörpern  empfiehlt  er  mehrere  in  seinem 
Werke  abgebildete  Instrumente,  so  eigene  Pinzetten,  eine  der  Geburtszange  ähnliche 
Zange  mit  getrennt  einlegbaren  Zangenblättern  und  schließlich  ein  hebelartiges 
Instrument. 

Der  dritte  von  P.  H.  Wolff  bearbeitete  Band  behandelt  die  nervösen 
Erkrankungen  des  Ohres,  die  Taubstummheit  und  die  Ohroperationen. 

Nach  einleitenden  physiologischen  Bemerkungen  über  die  Funktion  der  Nerven 
des  Gehörorgans,  geht  er  auf  die  Schilderung  der  eigentlichen  nervösen  Erkran- 
kungen des  Ohres  über.  Er  teilt  diese  in  Gefühlsneurosen  (Neuralgie  und  An- 
ästhesie), Bewegungsneurosen  (Krampf  und  Lähmung),  Ernährungsneurosen  und  Sinnes- 
neurosen. 

Der  ganze  Abschnitt  enthält  nichts  Neues.  Ein  großer  Teil  gehört  überhaupt 
nicht  in  das  Gebiet  der  Ohrenheilkunde,  sondern  hätte  besser  seinen  Platz  in  den 
Lehrbüchern  der  Nervenkrankheiten  behalten,  denen  er  zum  Teil  entnommen  ist. 
Alles  übrige  ist  Kramer,  Itard  u.a.  entlehnt  und  unter  den  oben  angeführten 
Gesichtspunkten  zusammengestellt. 

In  dem  Abschnitte  „Taubstummheit"  erörtert  er  in  ermüdender  Weise  die 
Funktion  der  Sprachorgane  und  ihrer  Teile  und  das  Zustandekommen  der  einzelnen 
Sprachlaute.  Ueber  den  Taubstummenunterricht  fügt  er  dem  bereits  Bekannten 
nichts  Neues  hinzu. 

In  dem  Abschnitt  über  Ohroperationen  erwähnt  Wolff  die  von  ihm  an- 
gegebene subkutane  Durchschneidung  der  äußeren  Ohrmuskeln  zur  Verbesserung 
des  Gehörs  bei  eng  am  Schädel  anliegenden  Ohren. 

Zu  den  Operationen  rechnet  er  auch  das  Stechen  der  Ohrläppchen,  die 
Otoplastik,  die  Durchbohrung  des  Warzenfortsatzes,  die  Entfernung 
von  Ohrenschmalz,  von  Fremdkörpern  und  Polypen.  Behufs  Zerstörung  von  Pseudo- 
membranen im  Gehörgange  empfiehlt  er  einen  Kreuzschnitt  und  die  Exzision  der 
vier  Lappen.  Ausführlich  beschreibt  er  die  Erweiterung  des  verengten,  bezw.  die 
Eröffnung  des  verschlossenen  Gehörgangs,  die  Perforation  des  Trommelfells,  den 
Katheterismus  und  die  Bougierung  der  Ohrtrompete,  ohne  Neues  vorzubringen.  Zur 
Verbesserung  des  Katheterismus  gab  Wolff  einen  Doppelkatheter  an,  der  indes 
keinen  Vorteil  gegenüber  den  einfachen  Kathetern  besitzt  und  den  Katheterismus 
nur  unnützerweise  kompliziert.  Für  den  Katheterismus  durch  die  entgegengesetzte 
Nasenöffnung,  den  schon  Deleau  und  später  Cerutti  für  gewisse  Fälle  angegeben 
hatten,  konstruierte  Wolff  sogar  einen  dreifachen  Katheter.  Er  besteht  aus  drei 
ineinander  passenden  Kathetern,  deren  mittlerer  um  1  Zoll,  deren  innerer  um 
2  Zoll  länger  ist  als  der  äußere.  So  ineinander  geschoben,  daß  am  Schnabelende 
keiner    den    anderen    überragt,    werden    sie   in   die   Nase    eingeführt   und    erst    im 


Lincke.  467 

Nasenrachenraum  der  mittlere  und  innere  vorgeschoben  und  dadurch  eine  größere 
Schnabellänge  erreicht.  Auch  dieser  geistvoll  ersonnene  Katheter  hat  sich  praktisch 
nicht  bewährt. 

Damit  schließt  eine  Epoche,  die  zwar  den  wissenschaftlichen  Aufbau 
der  Otiatrie  durch  mannigfache  Ansätze  vorbereitete,  aber  selbst  noch 
weit  entfernt  von  diesem  Ziele  blieb.  Zu  einer  Zeit,  da  andere  Zweige 
der  Medizin  von  der  anatomischen  Denkweise  bereits  durchdrungen  waren, 
verharrte  die  Ohrenheilkunde  noch  im  wesentlichen  bei  der  symptomati- 
schen Krankheitsauffassung  und  bei  einer  zum  Teile  obsolet  gewordenen 
Therapie.  Rokitansky  und  Skoda  hatten  den  Weg  gewiesen,  der 
allein  zu  einer  Neubegründung  der  Medizin  führen  konnte:  steter  Ver- 
gleich der  klinischen  Phänomene  mit  den  Befunden  an  der  Leiche  und 
nüchterne  Krankenbeobachtung.  Diesen  Weg  mußte  auch  die  Otiatrie 
betreten.  Nur  dadurch  konnte  sie  jene  ergebnisreiche  wissenschaftliche 
Tätigkeit  entfalten,  auf  die  sie  gegenwärtig  mit  voller  Befriedigung  zurück- 
blicken darf.  Es  war  das  Verdienst  Toynbees,  Wildes,  v.  Tröltschs, 
Moos'  und  anderer  Männer  zu  Beginn  der  zweiten  Hälfte  des  19.  Jahr- 
hunderts, die  Aera  der  wissenschaftlichen  Otiatrie  eröffnet  zu  haben. 


Verlag  von  FERDINAND  ENKE  in  Stuttgart. 

Die  anatomische  und  histologische 

Zergliederung1  des  menschlichen  Gehörorgans 

im  normalen  und  kranken  Zustande 

für  Anatomen,  Ohrenärzte  und  Studierende. 
Von  Prof.  Dr.  A.  Politzer. 

Mit  164  Holzschnitten  und  1  in  den  Text  gedruckten  Tafel, 
gr.  8°.     1889.     geh.  M.  10.— 

Lehrbuch  der  Ohrenheilkunde. 

Für  praktische  Ärzte  und  Studierende. 

Von  Prof.  Dr.  A.  Politzer. 

Vierte  gänzlich  umgearbeitete  Auflage.  

Mit  346  Textabbildungen,    gr.  8n.    1901.    geh.  M.  17.—;  in  Leinw.  geb.  M.  18  40. 

Baas,  Prof.  Dr.  J.  H.,  Leitfaden  der  Geschichte  der  Medizin.  Mit  Bild- 
nissen in  Holzschnitt  und  Faksimiles  von  Autographen,  gr.  8°.  1880. 
geh.  M.  3.60. 

Baas,  Prof.  Dr.  J.  H.,  William  Harvey,  der  Entdecker  des  Blut- 
kreislaufes und  dessen  anatomisch-experimentelle  Studie  über  die 
Herz-  und  Blutbewegung  bei  den  Tieren.  Kulturhist.-med.  Abhand- 
lung zur  Feier  des  dreihundertjährigen  Gedenktages  der  Geburt 
Harveys  (1.  April  1578).  Mit  Harveys  Bildnis,  Faksimile  und  den 
Abbildungen  des  Originals  in  Lithographie.  gr.8°.  1878.  geh.  M.  5.20. 

Ebstein,  Geheimrat  Prof.  Dr.  W.,  Charlatanerie  und  Kurpfuscher  im 
Deutschen  Reiche,    gr.  8°.    1905.    geh.  M.  2 .— 

Die  Gicht  des  Chemikers  Jacob  Berzelius  und  anderer  hervor- 
ragender Männer.     Mit  1  Abbildung,     gr.  8°.     1904.     geh.  M.  2.40. 

Die  Krankheiten  im  Feldzuge  gegen  Rußland  (1812).  Einegeschichtl.- 

medizinische   Studie  mit   1  Kärtchen,    gr.  8°.    1902.    geh.  M.  2.40. 

Leben  und  Streben  in  der  inneren  Medizin.    Klinische  Vorlesung, 

gehalten  am  9.  November  1899.     gr.  8°.     1899.     geh.  M.  1.— 

Die  Medizin  im  alten  Testament.     8°.     1900.     geh.  M.  5. — 

Die  Medizin  im  neuen  Testament  und  im  Talmud.  8°.  1903.  geh.  M.8. — 

Die  Pest  des  Thukydides.  (Die  Attische  Seuche.)  Eine geschichtl.- 

medizinische  Studie.  Mit  1  Kärtchen,  gr.  8°.  1899.  geh.  M.  2.— 
Rudolf  Virchoiv  als  Arzt.     gr.  8°.     1903.     geh.  M.  2.40. 

Fassender,  Prof.  Dr.  H.,  Entioickclung  sichre ,  Geburt  shälfe  und  Gynä- 
kologie in  den  Hippokratischen  Schriften.  Eine  kritische  Studie, 
gr.  8°.    1895.    geh.  M.  10.— 

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Zweite,  vollständig  neue  Bearbeitung.    Drei  Abteilungen. 

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heiten. Parasitäre  Krankheiten,  infektiöse  Wundkrankheiten 
und  chronische  Ernährungs-Anomalien. gr.8°.  1883.  geh. M.12. — 

III.  Abt. :    Die  Organkrankheiten.    Nebst  einem  Register  über  die 
drei  Abteilungen,    gr.  8°.    1886.    geh.  M.  14.— 


Verlag  von  FERDINAND  ENKE  in  Stuttgart. 


Holländer,  Dr.  E.,  Die  Karikatur  und  Satire  in  der  Medizin.  Mediko- 
kunsthistorische  Studie.  Mit  10  farbigen  Tafeln  und  223  Abbildungen 
im  Text,    bocb  4°.    1905.    kart.  M.  24.—  ;   in  Leinw.  geb.  M.  27.— 

Holländer,  Dr.  E.,  Die  Medizin  in  der  klassischen  Malerei.  Mit  165  Text- 
abbildungen,   boch  4°.    1903.    geh.  M.  16. — ;  in  Leinw.  geb.  M.  18. — 

Marcuse,  Dr.  med.  Jul. ,  Bäder  und  Badewesen  in  Vergangenheit  und 
Gegenwart.    Eine  kulturhistorische  Studie,  gr.  8°.  1903.  geh.  M.  5. — 

Marcuse,  Dr.  med.  Jul.,  Hydrotherapie  im  Altertum.  Eine  historisch- 
medizinische Studie.  Mit  einem  Vorwort  von  Prof.  Dr.  W.  Winternitz. 
8°.     1900.     geh.  M.  2.— 

Müllerheim,  Dr.  R.,  Die  Wochenstube  in  der  Kunst.  Eine  kulturhistorische 
Studie.  Mit  138  Abbildungen,  hoch  4°.  1904.  kart.  M.  16.—  ; 
in  Leinw.  geb.  M.  18. — 

Neuburger,  Prof.  Dr.  M. ,  Geschichte  der  Medizin.  Zwei  Bände. 
I.  Band.     gr.  8°.    1906.    geh.  M.  9.—  ;  in  Leinw.  geb.  M.  10.40. 

Neuburger,  Prof.  Dr.  M.,  Die  historische  Entwickclung  der  experimentellen 
Gehirn-  a.  Bücke umarksphysiologie  vor  Flourens.  8°.  1897.  geh.  M.10. — 

Neuburger,  Prof.  Dr.  M.,  Die  Vorgeschichte  der  antitoxischen  Therapie 
der  akuten  Infektionskrankheiten.  Vortrag,  gehalten  auf  der  73.  Ver- 
sammlung deutscher  Naturforscher  und  Arzte  in  Hamburg.  In  er- 
weiterter Form  herausgegeben.     8°.     1901.     geh.  M.  1.60. 

Opitz,  Dr.  K.,  Die  Medizin  im  Koran.    8°.    1906.    geh.  M.  3  — 

Handwörterbuch  der  gesamten  Medizin. 

Unter  Mitwirkung  zahlreicher  Fachgelehrter  herausgegeben 
von  Dr.  A.  Yillaret,  k.  preuß.  Generalarzt. 

Zweite,  gänzlich  neu  bearbeitete  Auflage.  

Zwei   Bände. 

I.  Band  (A— H).    gr.  8n.  1S99.  68  Bogen.  Geh.  M.  27.—  ;  in  Halbfrz.  geb.  M.  30.— 
II.  Band  (I  —  Z).     gr.8°.  1900.  74Bogen.  Geh.M.29.60;  in  Halbfrz.  geb.  M.  32.60. 

Lehrbuch  der  allgemeinen  Chirurgie 

zum  Gebrauch  für  Ärzte  und  Studierende. 
Von  Prof.  Dr.  E.  Lexer. 

Zweite  umgearbeitete  Auflage.  

Mit  einem  Vorwort  von  Professor  E.  von  Bergmann. 
Zwei  Bände  mit  390  teils  farbigen  Abbildungen  und  2  farbigen  Tafeln, 
gr.  8°.     1906.     geh.  M.  22.60;  in  Leinw.  geb.  M.  25.— 


Lehrbuch  der 

Chirurgischen  Krankheiten  des  Ohres. 

Von  Prof.  Dr.  H.  Schwartze. 

Mit  129  Holzschnitten,     gr.  8°.     1885.    geh.  M.  11.— 
(Sonderausgabe  der  „ Deutschen  Chirurgie"   Lief.  32.) 


Verlag  von  FERDINAND  ENKE  in  Stuttgart. 


Soeben  erschien: 

Handbuch  der  praktischen  Chirurgie. 

In  Verbindung  mit 

Prof.  Dr.  v.  Angerer  in  München,  Prof.  Dr.  Borchardt  in  Berlin,  Prof.  Dr.  v.  Brämann  in 
Halle,  Prof.  Dr.  v.  Eiseisberg  in  Wien,  Prof.  Dr.  Friedrich  in  Greifswald,  Prof.  Dr.  Graft 
in  Bonn,  Prof.  Dr.  Graser  in  Erlangen,  Prof.  Dr.  v.  Hacker  in  Graz,  Prof.  Dr.  Henle  in 
Dortmund,  Prof.  Dr.  Hoffa  in  Berlin,  Prof.  Dr.  Hofmeister  in  Stuttgart,  Prof.  Dr.  Jordan 
in  Heidelberg,  Prof.  Dr.  Kausch  in  Schötteberg-Berlin ,  Prof.  Dr.  Kehr  in  Halberstadt, 
Prof.  Dr.  Körte  in  Berlin,  Prof.  Dr.  F.  Krause  in  Berlin,  Prof.  Dr.  Krönlein  in  Zürich, 
Prof.  Dr.  Kümmel  in  Heidelberg,  Oberarzt  Dr.  Kümmell  in  Hamburg,  Prof.  Dr.  Küttner 
in  Marburg,  Prof.  Dr.  Lexer  in  Königsberg,  Primararzt  Dr.  Lotheißen  in  Wien,  Dr.  Nasse, 
weil.  Prof.  in  Berlin,  Dr.  Nitze,  weil.  Prof.  in  Berlin,  Stabsarzt  Dr.  Rammstedt  in  Münster 
i.  W.,  Oberarzt  Dr.  Reichel  in  Chemnitz,  Prof.  Dr.  Riedinger  in  Würzburg,  Prof.  Dr.  Römer 
in  Straßburg,  Prof.  Dr.  Rotter  in  Berlin,  Dr.  Schede,  weil.  Prof.  in  Bonn,  Prof.  Dr.  Schlange 
in  Hannover,  Prof.  Dr.  Schlatter  in  Zürich,  Oberarzt  Dr.  Schreiber  in  Augsburg,  Prof. 
Dr.  Sonnenburg  in  Berlin.  Prof.  Dr.  Steinthal  in  Stuttgart,  Oberarzt.  Dr.  Wiesmann  in 
Herisau,  Prof.  Dr.  Wilms  in  Leipzig 

Bearbeitet   und    herausgegeben    von 

Prof.  Dr.  E.  von  Bergmann  und  Prof.  Dr.  P.  von  Bruns 

in  Berlin,  in  Tübingen. 

Dritte  umgearbeitete  Auflage. 

Fünf  Bände. 


I.  Band :  Chirurgie  des  Kopfes. 

Mit  167  in  den  Text  gedruckten  Abbildungen,  62  Bogen  Groß-Oktav. 
Preis  geheftet  M.  22. — ,  in  Leinwand  gebunden  M.  24. — 

II.  Band :  Chirurgie  des  Halses,  der  Brust  u.  d.  Wirbelsäule. 

.Mit  265  in  den  Text  gedruckten  Abbildungen,  61  Bogen  Groß-Oktav. 
Preis  geheftet  M.  21.60,  in  Leinwand  gebunden  M.  23.60. 

Y.  Band:  Chirurgie  der  Extremitäten. 

Mit  564  in  den  Text  gedruckten  Abbildungen,  71  Bogen  Groß-Oktav. 
Preis  geheftet  M.  25. — ,  in  Leinwand  gebunden  M.  27. — 


Kaum  drei  Jahre  sind  seit  dem  Erscheinen  der  zweiten  Auflage  des  Hand- 
buches der  praktischen  Chirurgie  verflossen  und  schon  ist  die  Ausgabe  der  dritten 
Auflage  nötig  geworden.  Die  neue  Auflage  erscheint  —  ohne  erhebliche  Ver- 
mehrung des  Umfanges  —  statt  in  vier  in  fünf  Bänden,  um  den  Stoff  gleich- 
mäßiger auf  dieselben  zu  verteilen.  Die  Trennung  der  Chirurgie  des  Bauches 
und  des  Beckens  in  zwei  Bände  war  unerläßlich ,  weil  der  eine  umfangreiche 
Band  zu  wenig  handlich  geworden  wäre,  da  gerade  auf  diesen  Gebieten  die 
Chirurgie  zur  Zeit  schnellere  Fortschritte  als  auf  den  anderen  aufzuweisen  hat. 

Die  Herausgeber  haben  es  sich  angelegen  sein  lassen,  das  ganze  Werk 
immer  gleichmäßiger  und  einheitlicher  zu  gestalten,  und  die  Verfasser  der 
einzelnen  Abschnitte  haben  sich  bemüht,  die  Errungenschaften  des  letzten 
Trienniums  zu  verwerten.  So  stellt  die  neue  Bearbeitung  wiederum  in 
allen  ihren  Teilen  den  Stand  der  gegenwärtigen  Forschung  dar. 

Besondere  Aufmerksamkeit  ist  bei  der  neuen  Auflage  der  Ausstattung 
mit  guten  und  klaren  Abbildungen  geschenkt  worden,  deren  Zahl  erheblich 
vermehrt  wurde  (der  fünfte  Band  ist  mit  564  Abbildungen  ausgestattet). 

Die  dritte  Auflage  des  Handbuchs  der  praktischen  Chirurgie  ist  im  Druck  so  weit 
vorgeschritten,  daß  sie  in  einigen  Monaten  vollständig  erscheinen  wird. 


Yerlag  von  FERDINAND  ENKE  in  Stuttgart. 


In  zweiter,  vollständig  umgearbeiteter  Auflage 

ist  erschienen 

Handbuch  der  praktischen  Medizin. 

Bearbeitet  von 

Geh.  Medizinalrat  Prof.  Dr.  Brieger  in  Berlin ,  Prof.  Dr.  Darnach  in  Göttingen,  Prof.  Dr.  Dehio 
in  Dorpat,  Geh.  Medizinalrat  Prof.  Dr.  Ebstein  in  Göttingen,  Prof.  Dr.  Edinger  in  Frankfurt 
a.  M.,  Prof.  Dr.  Epstein  in  Prag,  Dr.  Fiulay  in  Havanna,  Geh.  Medizinalrat  Prof.  Dr.  Für- 
bringer  in  Berlin,  Prof.  Dr.  E.  Grawitz  in  Charlottenburg,  Geh.  Medizinalrat  Prof.  Dr.  Harnack 
in  Halle  a.  S.,  Prof.  Dr.  Jadassohn  in  Bern,  I.  Oberarzt  Dr.  Kiimmell  in  Hamburg,  Prof.  Dr.  Laache 
in  Christiania,  Prof.  Dr.  Lenhartz  in  Hamburg-Eppendorf ,  Prof.  Dr.  Lorenz  in  Graz,  Stabsarzt 
Prof.  Dr.  Marx  in  Frankfurt  a.  M.,  Prof.  Dr%  Mendel  in  Berlin,  Prof.  Dr.  Nicolaier  in  Berlin,  Prof. 
Dr.  Obersteiner  in  Wien,  Hofrat  Prof.  Dr.  Pribram  in  Prag,  Prof.  Dr.  Redlich  in  Wien,  Oberarzt 
Dr.  Reiche  in  Hamburg-Eppendorf,  Prof.  Dr.  Roniberg  in  Tübingen,  Prof.  Dr.  Rosenstein  in 
Leiden,  Prof.  Dr.  Rumpf  in  Bonn,  Prof.  Dr.  Schwalbe  in  Berlin,  Prof.  Dr.  Sticker  in  Münster 
i.  W.,  Prof.  Dr.  Strübing  in  Greifswald,  Medizinalrat  Prof.  Dr.  Unterricht  in  Magdeburg,  Prof. 
Dr.  Wassermann  in  Berlin,  Geh.  Medizinalrat  Prof.  Dr.  Ziehen  in  Berlin. 

Unter  Redaktion  von 

Dr.  W.  Ebstein       und     Prof.  Dr.  J.  Schwalbe 

Geh.  Medizinalrat,  o.  Professor  in  Göttingen    Herausgeber  der  Deutschen  med.  Wochenschrift 

herausgegeben  von  W.  Ebstein. 

Vier  Bände. 

232  Bogen.     Mit  261  Textabbildungen,     gr.  8°.     1905/06. 
Geh,  M.  77.—,  in  Leinw.  geb.  M.  85.— 

I.  Band:  Krankheiten  der  Atmungs-,  der  Kreislaufsorgane,  des  Blutes  und  der 
Blutdrüsen.  67  Bogen.  Mit  75  Textabbildungen,  gr.  8°.  1905.  Geh.  M.  22.—, 
in  Leinw.  geb.  M.  24. — 

II.  Band:  Krankheiten  der  Verdauungs-,  der  Harnorgane  und  des  männlichen 
Geschlechtsapparates.  Venerische  Krankheiten.  61  Bogen.  Mit  54  Text- 
abbildungen,    gr.  8°.     1905.     Geb.  M.  20.—,  in  Leinw.  geb.  M.  22.— 

III.  Band:  Krankheiten  des  Nervensystems  (mit  Einschluß  der  Psychosen).  Krank- 
heiten der  Bewegungsorgane.  59  Bogen.  Mit  81  Textabbildungen,  gr.  8°. 
1905.     Geh.  M.  20.—.  in  Leinwand  geb.  M.  22.— 

IV.  Band:  Infektionskrankheiten, Zoonosen, Konstitutionskrankheiten, Vergiftungen 
durch  Metalle,  durch  Tier-  und  Fäulnisgifte.  45  Bogen.  Mit  51  Abbildungen, 
gr.  8°.    1906.     Geh.  M.  15.—,  in  Leinw.  geb.  M.  17.— 

Chirurgie  des  praktischen  Arztes. 

Mit  Einschluß  der  Augen-,  Ohren-  und  Zahnkrankheiten. 

Bearbeitet  von  Prof.  Dr.  A.  Fraenkel  in  Wien.  Geh.  Medizinalrat  Prof.  Dr.  K.  Garre  in  Breslau, 
l'rof.  Dr.  H.Hackel  in  Stettin,  Prof.  Dr.  C.Hess  in  Wür/.bui-g,  Geh.  Medizinalrat  Prof.  Dr.  F.  König 
in  Berlin-Grunewald,  Prof.  Dr.  W.  Kümmel  in  Heidelberg,  I.  Oberarzt  Dr.  H.  Kiimmell  in  Ham- 
burg-Eppendorf, Prof.  Dr.  G.  Ledderhose  in  Strassburg  i.  E.,  Prof.  Dr.  E.  Leser  in  Halle  a.  S., 
Prof.  Dr.  W.  Müller  in  Rostock  i.  M.,  Prof.  Dr.  J.  Scheflf  in  Wien,  Prof.  Dr.  O.  Tilmann  in  Köln. 

Mit  171  Abbildungen,     gr.  8°.     1907.    geh.  M.  20.—,  in  Leinw.  geb.  M.  22.— 

(Zugleich   Ergänzungsband  zum  Handbuch  der  praktischen  Medizin,   2.  Auflage.) 

Die  erste  Hälfte  des  I.  Bandes  des  Handbuchs  erschien  im  Harz  1905,  mithin  ist  die 
neue  Auflage  innerhalb  Jahresfrist  vollendet  w-ordeni  Da  auch  jede  Umfang- 
überschreitung vermieden  wurde,  ist  das  „Handbuch  der  praktischen  Medizin"  in  seiner 
neuen  Auflage  unter  ähnlichen  Werken  früherer  und  jetziger  Zeit  tatsächlich  eines  der 
gedrängtesten  und  billigsten  Sammelwerke  über  das  Gesamtgebiet  der  inneren 
Medizin,  und  vermöge  der  letzteren  Eigenschaft  seine  Anschaffung  einem  jeden  Arzte 
ersucht. 


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